Kategorie: Leseprobe-2017

Leseprobe: Daniel Faßbender – „Die weltbeste Geschichte vom Fallen”

Kapitel 1

Fallen ist sterben. Und nein, da fehlt kein wie. Fallen ist nicht wie sterben. Fallen ist sterben. Unter mir pfeifen 320 Meter Tiefe gleichgültig vor sich hin und ich schmecke eine tief hängende Wolke, während ich im Moment des Fallens Luft durch den Mund einsauge. Kein Geschmack von Zuckerwatte oder Zimt, sondern bitteres Industriesalz. Ich weiß nicht, ob die Hand von Ikarus ihren festen Griff um meinen Unterarm halten wird, wenn sie ruckartig der vollen Zugkraft meiner 78 Kilo ausgesetzt sein wird. Meine Hand um seinen Arm könnte er locker abschütteln. Ich habe in der Nacht zuvor sein Mädchen gefickt, weil sie mich an Bojana erinnert hat, vor seinen Augen, einfach so. Jetzt könnte er mich entgleiten lassen, weil er sich an vergangene Nacht erinnert hat, vor meinen Augen, einfach so. Solche Dinge passieren. Auf dem anderen Pfeiler, dem am Festland, ist vor vier Monaten bereits ein Mitglied der Viper Crew beim Versuch, einen Rückwärtssalto zu stehen, abgerutscht und gefallen. Auch er war mit Ikarus allein unterwegs gewesen und vielleicht hatte der rothaarige Junge mit dem schiefen Gesicht und dem Spitznamen Sputnik ebenfalls dessen Mädchen gefickt. Die Polizei stellte nach dem Absturz nur wenige Fragen und ging von einem Unfall aus. Sie interessierte sich nicht für den Tod irgendeines lebensmüden Roofers, und Ikarus stand nie unter Verdacht. Die Bilder der GoPro, die den Salto gefilmt hatte, waren im entscheidenden Moment zu verwackelt, um ausschließen zu können, dass jemand, also Ikarus, dafür gesorgt hatte, dass Sputnik während des Saltos das Gleichgewicht verlor. Auf Youtube hat der Film mehr als acht Millionen Klicks. Wenn es also wirklich ein Mord war, war es der perfekte vor einem Millionenpublikum. Doch ich projiziere meine verfahrene Situation auf Sputnik. Der wäre vermutlich niemals so dumm gewesen, das Ehrgefühl seines Partners in der Nacht vor dem gefährlichsten Ausflug seiner Kletterkarriere zu verletzen und damit das eigene Leben zu riskieren. Er hatte einfach das Pech, während des Saltos in der Phase des Fallens nach seiner Rückwärtsdrehung dem Schicksal auf dem falschen Fuß begegnet zu sein. Das Fallen kennt da nichts. Nun hängt ein Foto von ihm als Schwarz-Weiß-Poster im Gästezimmer der WG. Ob sie mein Bild wohl auch aufhängen würden?
Man fällt 9,81 Meter die Sekunde. Das sind in der ersten Sekunde 35 Stundenkilometer. Bei zwei Sekunden hat man 70 km/h erreicht, bei drei 105 und so weiter. Wohlgemerkt ohne Luftwiderstand. Wie schnell ich gleich noch mit Luftwiderstand werde, weiß ich nicht. Darüber entscheidet das Schicksal. Und eben dieses Schicksal macht aus fallen sterben. Das gilt auf der höchsten Brücke Russlands in 320 Metern Höhe. Das gilt auf der Västerbron-Brücke in Stockholm in 30 Metern. Und das gilt sogar, wenn du einfach nur unglücklich stolperst. Jeder Sturz birgt diesen kurzen Moment der Unsicherheit in sich, in dem völlig unklar ist, was das Schicksal mit dir vorhat. Natürlich ist die Wahrscheinlichkeit höher, bei einem Stunt in ein paar hundert Metern Höhe zu sterben, als bei einem 1,80-Meter-Stolper-Sturz. Aber 100 Prozent todbringende Wahrscheinlichkeit kann nur das Leben vorweisen. Weil leben aber das Gegenteil von sterben ist, kann es beim Sterben gar nicht um 100 Prozent Wahrscheinlichkeit gehen, sondern nur um eine rapide Annäherung an den Tod. Und welche Annäherung ist schon schneller als das Fallen? Felix Baumgartner hat bei seinem Fall aus 39 Kilometern Höhe eine Geschwindigkeit von 1357,6 km/h erreicht.
Ich schaue aus Versehen in das Gesicht von Ikarus und weiß nicht, ob ich daraus Konzentration oder Verachtung lesen soll. Die genaue Betrachtung der Aufnahmen der GoPro, die ich an meiner Stirn befestigt habe, könnte Antworten liefern, aber falls ich die Aufnahmen werde sehen können, weiß ich längst, dass es Konzentration gewesen ist; wenn nicht, könnte es tatsächlich Verachtung, vielleicht auch Wut oder Hass gewesen sein. Sollte ich Ikarus’ Hand entgleiten, bleibt mir auf dem Weg nach unten genug Zeit, über den Begriff nachzudenken, der den Gesichtsausdruck am passendsten beschreibt. Zehn Sekunden, schätze ich. Die Falldauer wird stark davon abhängen, welche Körperhaltung ich währenddessen einnehme und wie viel Luftwiderstand ich so erzeuge. Vielleicht werde ich aber auch darüber nachdenken, warum ich überhaupt mit Ikarus hier hoch bin, obwohl die Spannung zwischen uns deutlich zu spüren gewesen ist. Ganz sicher werde ich für den Fall des Fallens die Zeit nutzen, um an meine Mutter zu denken, meinen Vater als Fallbeispiel nehmen und Bojana, ja, vor allem an Bojana werde ich dann denken.
Wir haben den Stunt bereits auf einem Dach geübt.
Erst auf einem Überbau, ohne jede Gefahr; die Dachpappe befand sich einen halben Meter unter meinen Füßen. Dann am Dachsims in 75 Metern Höhe. Bereits dabei hätte ich sterben können. Aber schon diese Versuche haben gezeigt, dass unsere Griffe um den Unterarm des anderen fest und routiniert sind. Es gibt auch jetzt eigentlich keinen Grund, Angst zu haben. Doch “eigentlich” heißt Ksenia, oder wie auch immer der Name von Ikarus’ Freundin ist. Katarzyna? Keine Ahnung. Und es ist mir auch egal.
Ikarus und ich kennen den Ablauf: Er liegt auf dem Bauch am Rande des Brückenpfeilers, die Beine in einem Stahlgerüst verhakt. Hand um Arm sitze ich zunächst neben ihm am Rand, drehe mich und lasse mich fallen. Geht alles gut, stoppt der Sturz nach einer Armlänge und ich baumle in 320 Metern Höhe und blicke auf die Welt unter mir. Die vier grauen Fahrspuren und die bunten Autos, das Grün, Braun und Grau der Russki-Insel, weiter weg das Festland, Baumaterialien, der türkisgraue Bosporus und meine Sneaker.
Die ganze Aktion ist nur möglich, weil Wartungsarbeiten an einer der beiden Pylone durchgeführt werden und Gerüste nach oben führen. Ikarus und ich haben uns Bauhelme aufgesetzt und niemand auf der Baustelle hat Fragen gestellt. Hier oben sind wir allein. Über das, was gestern Nacht war, haben wir nicht gesprochen. Er hat nur kurze Anweisungen in seinem gebrochenen Englisch gegeben. Viel lief über Handzeichen.
Diese Millisekunden, an deren Ende die Gewissheit über mein weiteres Leben oder meinen baldigen Tod steht, fühlen sich ewig an. Ich lege mein Leben sonst nicht in die Hände anderer und damit meine ich vor allem die Hände des Schicksals. Wenn ich auf einem Dach stehe, möchte ich alleine sein und alleine für mein Leben die Verantwortung tragen. Deshalb mache ich sonst nichts, wobei ich falle (ein Bungeesprung ist eine Horrorvorstellung für mich) und nichts, bei dem andere involviert wären. Dächer sind Einzelveranstaltungen, so viel ist jetzt klar. Ich will nicht sehen, wie irgendjemand stirbt. Und jetzt will vor allem ich nicht sterben. Es ist kein Zufall, dass man bei Soldaten von Fallen spricht und damit ihren Tod meint. Fallen ist sterben.

*

Damals, es war der Sommer, bevor das alles passiert ist, vor dem Fernsehturm, vor Bojana, vor der Sache mit meiner Mutter und lange vor meiner Einladung nach Russland. Damals entdeckte ich dieses kleine seltsame Haus. Ich war gerade erst in meine erste eigene Wohnung nach Hornstull gezogen und verbrachte eine Menge Zeit auf den Dächern Stockholms. Ich kannte sie verdammt gut, vielleicht besser als jeder andere. Ich kannte die Party-Dachterrassen in Södermalm. Ich wusste ganz genau, welche Gemüsesorte es sich wann auf dem Flachdach am Bahnhof zu stibitzen lohnte. Dort verwirklichte eine Öko-Rothaarige mit wechselnden Öko-Freunden ihre Öko-Fantasien. Ich wusste, wo die Dachdecker gerade ein Dach renovierten. Ich kannte die Routinen der Schornsteinfeger. Und ich konnte minutengenau voraussagen, wann der Anzugmann auf das Dach des nördlichen Königsturms kletterte, um eine zu rauchen. Wenn wir uns sahen, ich trieb mich ausschließlich auf dem südlichen Turm herum, grüßten wir uns jedes Mal mit diesem Zeigefingermove, wobei wir uns an den Kopf tippten und dann auf den anderen zeigten. Keine Ahnung, wie es dazu gekommen war und wer damit angefangen hatte, aber jetzt grüßten wir uns halt auf diese Weise, um uns danach zu ignorieren. Roofen und roofen lassen. Ich kannte noch nicht jedes Dach, aber ich kannte jedes Viertel und jeden größeren Wohnblock – und sie alle hatten ihre Eigenheiten. In der verwinkelten Altstadt konnte man problemlos weite Strecken zurücklegen, ohne die Dächer verlassen zu müssen. Kista punktete mit Hochhäusern. Und in Vasastan waren die Dächer gemütlich. Man fühlte sich sofort zuhause dort oben. Der ideale Ort, um zu entspannen.
Ich streifte über ein Dachkarree im Vasa-Viertel, das ich bisher noch nicht erkundet hatte und dabei entdeckte ich zu meiner großen Überraschung besagtes Haus. Ein Haus mitten auf einem Dach. So etwas hatte ich noch nie gesehen. Streng genommen war es gar kein Haus, eher eine Hütte, ganz streng genommen, war die Hütte sogar nur ein Verschlag.
Ich war über ein neues Baugerüst auf das Dachkarree gelangt. Solche Gerüste, generell Baustellen, waren häufig der einfachste Weg, um auf Dächer zu kommen. In meinem Rucksack befanden sich Zimtwecken, kalter Kakao und etwas Gras – also alles, was ich brauchte, um den Tag auf dem Dach gut zu überstehen. Das Karree lag in der Nähe vom Park und von hier oben hatte ich einen schönen Ausblick auf das satte Grün der Anlage und die durcheinander wuselnden Punkte am Boden, die auf dem Heimweg von der Schule ihre beim Lernen angestaute Energie wegtobten. Ich roch die blühenden Bäume auf der Straße und frisch gebratene Fleischbällchen aus einem geöffneten Fenster. Unter mir klapperten Absätze und schnalzten Flip-Flops über das Pflaster. Es war warm und die Sonne schien. Ich rannte nicht, wie ich es sonst oft machte, ich spazierte über die Schindeln, das Bitumen, das Zinkblech. Mir ging es nicht um Bewegung, ich war auf Erkundungstour. Es gab kleine, scheinbar nichtsnutzige Ausbauten, Winkel, Dachstuben und Schornsteine. Kein Dach war wie das andere und wenn man ein Auge dafür hatte, wurde es nie langweilig. Ich kletterte über einen Vorsprung und meinte, auf einem etwas tiefer gelegenen Eckhaus den passenden Platz für die kommenden Stunden gefunden zu haben. Ich näherte mich dem potentiellen Rastplatz und da war es dann plötzlich: Im Schatten der Wand des Nachbarhauses befand sich das schiefe Häuschen Slash die Hütte Slash der Verschlag.
Weglaufen oder inspizieren, war die Frage. Ich versteckte mich hinter einem Kamin, trank meinen Kakao und beobachtete das seltsame Haus. Es schien niemand da zu sein. Vielleicht war es ja unbewohnt. Vielleicht war der Bewohner aber auch nur kurz weg, einkaufen oder so. Oder er hielt sich im Haus auf, machte ein Nickerchen oder las ein Buch. Um sicherzugehen, schmiss ich ein abgebröckeltes Stück Kamin-Mauer auf die blecherne Dachkonstruktion der Hütte. Das machte ordentlich Lärm und wenn der Bewohner des Verschlags zuhause gewesen wäre, hätte ihn dieser Krach mit Sicherheit vor die Tür gelockt. Doch es tat sich nichts.
Der Kakao war leer und ich sprang auf das Dach herab. Der Verschlag bestand aus Blech-, Holz- und Glaselementen, die irgendwie zusammenhielten und drei der vier Wände bildeten. Die vierte Wand bestand aus der Brandmauer des Nachbarhauses, wo sich auch der Kamin befand. Vermutlich heizten die Mieter des Hauses im Winter für den Hüttenbewohner unfreiwillig mit. Die Tür hatte kein Schloss und so trat ich ein. Die Sonne hatte den Raum aufgeheizt. Die warme Luft roch nach Pilzsporen. Ein Geruch wie in Kaufhauseingängen. Ich mochte diese Luft – am allerliebsten im Winter, wenn sie den Frost aus dem Gesicht löste und man ewig im warmen Eingang stehen bleiben wollte, obwohl ein Kaufhauseingang keinerlei Gemütlichkeit versprach. Und ein bisschen so war die Hütte. Es gab dort jede Menge Gerümpel, unter dem man abgenutzte Möbel erahnen konnte. Eine Mehrfachsteckdose, die in einer Kabelrolle endete, deren Kabel in einem Spalt neben der Dachluke verschwand, versorgte die Hütte mit Strom. An den Wänden standen lückenlos Zeitungsstapel, die bis zur niedrigen Decke reichten. Ein Abschnitt bestand aus Büchern, von denen offenbar die wenigsten für Erwachsene geschrieben waren – das ließen die bunten Buchrücken und verspielten Typos vermuten. Ich betrachtete sie genauer und es handelte sich tatsächlich um eine Sammlung gängiger schwedischer Kinderliteratur. Ich kannte die ganzen Bücher aus meiner eigenen Kindheit. Zwischen die Bücher waren vergilbte Bilder geklemmt, naive Kinder-Zeichnungen von Hähnen und Füchsen, die in aller Einsamkeit klein in eine Ecke des jeweiligen Blattes gekritzelt waren. Der Kinderpsychologe, zu dem meine Mutter mich damals ein paar Mal geschickt hatte, hätte seine Freude an dem vielsagenden Anblick gehabt. Ich verließ die Hütte und versuchte, möglichst nichts umzustoßen, um keine Spuren zu hinterlassen. Bei dem Chaos und dem wild aufeinandergestapelten Kram war das aber gar nicht so einfach.
Vor der Hütte stand eine verrottete Campingliege neben einem verwitterten Beistelltisch. Darauf lagen eine Zeitung und eine Sonnenbrille mit nur noch einem Glas. Ich ließ mich in die Liege fallen, setzte die Brille auf und wollte wissen, was der unbekannte Bewohner zuletzt gelesen hatte. Vielleicht konnte ich ja so etwas über ihn herausfinden. Die Seite mit den Todesanzeigen war aufgeschlagen. Zwei der Anzeigen waren rot umkringelt. „Mhhhh“ und „Huiii“ stand in Kinderkrakelschrift neben den markierten Stellen.
Ich schoss aus der Liege, platzierte die Sonnenbrille wieder exakt dorthin, wo sie zuvor gelegen hatte und exakt so, wie sie gelegen hatte und schaute mich verunsichert bis panisch um. War auch wirklich, wirklich niemand in der Nähe? Wurde ich vielleicht beobachtet? Versteckte sich jemand auf einem der umliegenden Dächer? Zielte jemand auf mich? Ich suchte meinen Körper nach roten Lichtpunkten ab, fand keine und das war ja auch logisch. Wäre ich ein achtjähriger Auftragskiller, und alles sprach dafür, dass genau so einer in der Hütte wohnte, würde ich mit dem Laservisier meines Präzisionsgewehrs auch auf die Stirn und nicht auf den Bauch zielen.

Kapitel 2

Mit seinen 155 Metern war der Fernsehturm das höchste Gebäude Stockholms. Die Antenne brachte noch mal zusätzliche 15 Meter. Als Besucher kam man auf eine Höhe von ungefähr 145 Metern. Das zeigte eine Zeichnung unten bei den Aufzügen. Die Aussichtsplattform war komplett von Gittern umgeben – ein Aussichtsgefängnis. Jeder Eindruck, den man dort von der Welt gewann, kam von den Gittern zerhackstückt bei den armen Sightseeing-Gefangen an. Damit wenigstens die Foto-Erinnerungen ungesiebt blieben, befanden sich an den Ecken kleine Foto-Schießscharten.
Als gitterlose Alternative gab es eine Etage tiefer das Café, das sich hochtrabend Skybar nannte. Dort trennten einen schmutzige, die Innenbeleuchtung reflektierende Scheiben von dem Ausblick auf die Stadt. Die Eindrücke kamen vom dicken Glas gebrochen an, der Geruch des Himmels blieb ausgesperrt. Das Café bot also auch keine ernsthafte Option, wollte man Höhe mit allen Sinnen erleben.
Das Restaurant auf Ebene 28 war völlig uninteressant, außer deine Verwandtschaft aus Göteborg kam zu Besuch und wollte an einem besonderen Ort essen gehen.
Ich bestellte bei einem schönen Mädchen, das an diesem Tag in der Skybar arbeitete, Zimtwecken und Kakao und setzte mich an einen der Tische. Es regnete aus tiefhängenden Wolken, weshalb man durch die Scheiben der Skybar nicht viel mehr als eine graue, weiche Wand sah. Vermutlich wegen des Wetters und weil wir uns mitten in der Woche befanden, war ich lange Zeit der einzige Gast. Die schöne Bedienung langweilte sich und begann wohl deshalb ein Gespräch mit mir. Ich hätte mich nicht getraut, sie anzusprechen, aber jetzt, da sie auf mich zugekommen war, stellte ich ihr pseudobeiläufige Fragen zu den Bereichen des Turms, die nicht für Touristen zugänglich waren. Doch weil sie im Fernsehturm nur aushalf, wusste sie auch nicht mehr, als ich selbst durch googeln und ein wenig herumschauen herausgefunden hatte. Sie war nett und obwohl ich ziemlich einsilbig blieb, unterhielt sie sich seltsamerweise gerne mit mir. Ich bemerkte das; auch, dass sie nicht nur schön, sondern vor allem anders war, aber ich war zu sehr mit dem Plan befasst, einen Weg zu der Antenne zu finden, um aus diesen Eindrücken irgendwelche Konsequenzen zu ziehen.
„Ich muss dann mal“, sagte ich.
Sie sagte: „Schade.“
Ich ging.
Wenn man vom Café die Treppen zum 31. Stock mit seiner Aussichtsplattform hochstieg, befand sich dort eine Wand mit vier Türen. Die beiden äußeren führten zu den Aufzugschächten. Mindestens eine der mittleren war also der Weg nach oben. Ich betrachtete die Schlösser und war mir sicher, dass Frederik kein Problem mit ihnen haben würde. Ich befasste mich erst seit kurzem mit Lockpicking, übte abends mit Probeschlössern und schaute mir Youtube-Tutorials an, aber ich war einfach noch zu langsam. Frederik betrieb das schon seit Jahren, hatte sogar einmal an einem Wettbewerb teilgenommen und war Dritter geworden. Er brauchte nur Sekunden für Schlösser, an denen ich minutenlang rumfuhrwerken musste.
Er hatte irgendwann mal seinen Schlüssel verloren und war vom Schlüsseldienst völlig abgezogen worden. Außerdem hatte der Mann vom Notdienst auch das Schloss völlig zerstört, so dass Frederik ein teures neues brauchte. Es machte ihn wütend, für solch eine simple mechanische Herausforderung, wie das Öffnen einer Tür, fremde und zudem stümperhafte Hilfe zu brauchen. Er fühlte sich in seiner Intelligenz beleidigt, also vertiefte er sich in das Thema. Und wenn Frederik sich in ein Thema vertiefte, stand am Ende Expertentum. Er sollte sich die Schlösser also unbedingt vorab mal anschauen, um im entscheidenden Moment keine bösen Überraschungen zu erleben. Ich kannte Frederik seit der Schule, wo wir zunächst viele Klassen aneinander vorbeilebten: Er hörte Metal, ich hörte HipHop; er stammte aus einem Vorzeige-Elternhaus, ich aus einer Trümmerfamilie, er war ein Nerd mit Nerd-Freunden, ich war ein Außenseiter ohne Freunde – das passte alles nicht. Wir entwickelten erst über das Parcours-Laufen während der Abi-Zeit Sympathien füreinander und wurden schließlich Freunde. Ich hatte insgesamt drei Tage eingeplant. Tag 1 wollte ich zum Auskundschaften nutzen. An Tag 2 sollte sich Frederik die Schlösser anschauen. Tag 3: Showtime.
Ich war insgesamt ziemlich nervös. Nicht wegen des Kletterns – das waren ein paar poplige Leitern, die man hoch musste, sondern wegen der Gefahr erwischt und wegen Hausfriedensbruch angeklagt zu werden. Ich ging jedenfalls davon aus, dass ich Hausfriedensbruch beging.
Die Aktion stieg am frühen Abend. Wegen der Lichtstimmung, ich wollte ein paar Fotos machen, und weil zu dieser Zeit hoffentlich keine Techniker mehr unterwegs waren. Die Kellnerin vom ersten Besuch war am Entscheidungstag nicht da.
„Schade.“
Hinterm Tresen stand jetzt eine jener Durchschnittsblondinen, die in ihrem Tinderprofiltext unter Garantie eine banale, emojigarnierte Lebensweisheit stehen hatte und montags und donnerstags nicht konnte, weil sie da beim Zumba war. Wir ignorierten die Blondine und das Café, in dem eine englischsprachige Besuchergruppe an den Scheiben klebte und stiegen die Treppen nach oben. Auf dem Weg zogen wir uns Warnwesten an, die ich im Internet bestellt hatte und die uns wie Techniker aussehen lassen sollten.
Frederik musste sich leicht nach vorne beugen, um Spanner und Pick im richtigen Winkel in das Schloss einzuführen. Weil das ziemlich seltsam aussah, versuchte ich mich so zu stellen, dass ich sein Gefummel möglichst gut verdeckte. Im Aussichts-Gefängnis herrschte Familienbesuchstag. Kinder rannten durcheinander, versuchten durch die Schießscharten zu schauen, waren aber zu klein, rannten weiter und Eltern hetzten irgendetwas rufend hinterher. Die Sprachen konnte ich nicht zuordnen. Frederik stocherte. Ich stand hinter ihm und war gestresst vom nervreibenden Pfeifen der Aufzugschächte. Als ich dann plötzlich eine Hand auf meiner Schulter spürte, quiekte ich vor Schreck wie ein Meerschwein. Ängstlich drehte ich mich um und rechnete damit, in das grimmige Gesicht eines Sicherheitsmannes zu blicken. Frederik schien von all dem nichts zu bemerken und machte unbeirrt weiter.
„Hello, Buddy“, sagte ein großer Mann zu mir, der aus dem Mund nach Bier roch und ein T-Shirt einer amerikanischen Universität trug. Er heiße Ronald und das sei ja ein fantastischer Ort hier, sagte er auf Englisch. Ich dankte ihm für das Kompliment und nickte verlegen.
„Sag mal“, fuhr er lächelnd fort. „Die Tür führt doch sicher zu der großen Antenne da oben. Gibt es eine Chance, dass ich mit hoch darf? Nur für ein paar Fotos. Please, come on.“ Ich war komplett perplex, schließlich bastelte ich seit Tagen an dem Plan, dort hoch zu kommen und dieser dreiste Arsch fragte einfach.
Er unterbrach mein Schweigen mit einem Angebot. „20 Bucks“, sagte er und wedelte mit einem Dollarschein vor meiner Nase herum.
Ich schüttelte den Kopf und stammelte was von Sicherheitsvorschriften, dass es dort oben sehr gefährlich sei, und wir unsere Jobs verlieren würden, wenn wir Touristen hochließen.
Er kramte in seiner Gürteltasche und erhöhte auf 50. Ich wollte ihn einfach nur loswerden und vor allem kein Aufsehen erregen.
„200 each“, schlug ich vor und zeigte dabei auf Frederik und mich. Ronald überlegte zu handeln und drehte sich von mir weg, um in seiner Bauchtasche die Bargeldbestände zu überprüfen. Frederik hatte währenddessen das Schloss geknackt und ich verschwand mit ihm hinter der Tür. Ronald kramte vermutlich immer noch.
Wir hatten Glück, die Treppen dort führten tatsächlich nach oben. Ich schnallte mir die GoPro um den Kopf und schaltete sie ein. Frederik ließ ich hinter der letzten Tür zurück. Er hatte es nicht so mit Höhen.
Wir hatten uns zwar über das Parcours-Laufen erst so richtig kennengelernt, aber schon wenn es auf Baugerüste ging, war ihm das nicht geheuer. Als ich bei einem unserer Ausflüge durch die Stadt dann von einem Gerüst auf ein Dach gelangte, war er raus und ich erst richtig drin – eine ganze Welt ohne andere Menschen, ein riesiger Abenteuerspielplatz nur für mich. Ronald war nicht gut für mein Herz gewesen, mein Puls raste. In 155 Metern kam er wieder zur Ruhe, dort war ich sicher vor all den Ronalds dieser Welt. Ich schritt die quadratische Fläche ab, atmete die süße Sommerluft ein und breitete die Arme aus, um den Wind besser spüren zu können. Ich war frei und auf diese gute Art und Weise alleine mit der Welt. Ich ging an den Rand und schaute auf den umgitterten Besucherknast herab. Ronald musste dort gerade feststellen, dass die Foto-Schießscharten nicht für die Objektive von Spiegelreflex-Kameras ausgelegt waren. Wütend, vielleicht auch auf mich, stapfte er wieder ins Innere.
Das, was Antenne genannt wurde, war nicht wirklich eine. Eher ein Stahlgerüst, an dem viele Antennen angebracht waren. Der Weg an die Spitze des Gerüstes war überraschend komfortabel. Aber warum sollten sich die Techniker ihre Arbeit auch unnötig kompliziert gestalten?
Aus dem Pfeifen des Windes wurde ein Surren. Ich war unsicher, ob das von den Antennen ausging, oder ob der Wind sich im Stahlgerüst verfangen hatte.
Nun stand ich ganz oben. 170 Meter und auf Augenhöhe mit der widerwillig untergehenden Sonne. Vielleicht träumte sie immer noch vom Mittsommer und seinen weißen Nächten. Doch die waren mehr als einen Monat her. Im August bot sich in Stockholm ein anderes Schauspiel: Der Monat war die einzige Zeit im Jahr, in der die Stadt bildschirmhintergrundwürdige Sonnenuntergänge bot.
Ich setzte mich an das äußere Ende des Gerüstes, ließ meine bordeaux-roten Air Max über dem Grün des Ekoparks unter mir baumeln und schaute Richtung Westen auf das bunte Dach-Mosaik der Innenstadt. Rechts von mir blickte ich auf den Freihafen, wo zwei große Kreuzfahrtschiffe vor Anker lagen. Das Meer war neben dem Himmel das andere große Freiheitsversprechen – aber ich hatte meine Wahl getroffen.
Ich nahm die GoPro vom Kopf und schraubte sie an die Selfiestange. Man konnte mit der Kamera echt ganz gute Fotos machen, wenn man sich erst an den 170 Grad Weitwinkel gewöhnt hatte und ihn beim Einrichten des Bildes bedachte. Aus meinem Rucksack holte ich die Sonnenbrille und die Mütze. Ich hatte lange überlegt, wie ich mein Gesicht verdecken sollte – Tiermaske oder Sturmhaube erschienen mir zu albern oder zu theatralisch. Also wurden es eine H&M-Mütze, mit der jeder dritte durch die Stadt rannte und die schwarze Ray Ban Wayfarer, von der auch fast jeder ein Modell zuhause hatte. Massengeschmack, um aus der Masse nicht hervorgezerrt zu werden. Als Sicherheitsextra streifte ich mir auch noch die Kapuze meines Hoodies über den Kopf und schnürte sie zu. Der Handstand am Geländer war ein gutes Gefühl, weil ich mich sicher fühlte, vielleicht sogar sicherer als jemals zuvor. Auf meine Arm-, Schulter- und Rückenmuskulatur war Verlass. Delta, Trizeps und Bizeps im perfekt choreografierten Wechselspiel. Enttäuschungen ausgeschlossen. Die Ellbogen durchgedrückt, der Rumpf fest, der Bauch fest angespannt. Ich war vollkommen autark in dem was ich tat, und niemand konnte mir in 170 Metern Höhe gefährlich werden. Böen spielten mit mir und ich spielte mit.
Die Kamera hatte ich an einer Antennenhalterung befestigt und sie machte ein paar ziemlich gute Bilder. Sie zeigten meinen Handstand aus einer leichten Obersicht vor einer Entfernungs-Miniatur der Altstadt, die im wütenden Feuer einer trotzigen „Ich will noch nicht ins Bett“-Sonne brannte. Ich sah riesig im Vergleich zur restlichen Welt aus. Ich warf meinen Schatten auf sie und nicht umgekehrt. Ich war froh diesen Moment eingefangen zu haben, um mich auch später immer wieder zurückbeamen zu können.
Ich stellte einige der Bilder bei Instagram und Facebook online, die Videos packte ich auf Youtube. Die Momente sollten nicht verloren gehen.
Es dauerte ein paar Tage, dann explodierten plötzlich meine Accounts und die Bilder machten die Runde. Das Handstandbild hatte nach einer Woche eine Million Likes. Mein Aktion war viral und plötzlich nationales Thema. Erst online, dann im Fernsehen und irgendwann stiegen auch die Zeitungen ein. Journalisten stellten mir per Facebook Interview-Anfragen. Ich schlug sie aus, weil ich Angst hatte, dass meine Tarnung auffliegen könnte. Zum Glück hatte ich mein Gesicht verborgen. Einige Stockholmer Behördenvertreter hatten sich in Fernsehberichten nicht gerade erfreut gezeigt und eine Polizeisprecherin sprach von Ermittlungen. Außerdem war mir die Aufmerksamkeit unangenehm.
Die Nachfragen hörten nicht auf und Frederik schlug mir vor, ein universelles und anonymes Antwortvideo zu drehen. Mit dieser maximal distanzierten Online-Aktion konnte ich leben. Im Video saß ich auf den Simsen verschiedener Dächer, hielt jeweils eine der ausgedruckten Fragen in der Hand, zerknüllte sie und ließ die Papierkugel auf die entsprechende Antwort fallen, die Frederik mit Kreide auf den Asphalt gemalt hatte. Die Fragen waren erwartbar, meine Antworten auch: Bist du lebensmüde? (Nein! Ich weiß, was ich tue und trainiere hart.) Hattest du Angst? (Ja! Vor einer Anklage wegen Hausfriedensbruch.) Wie bist du da hoch gekommen? (Durch die Tür und über Treppen.) Warum macht man sowas? (Um der Welt dort unten zu entfliehen.)
Danach war tatsächlich Ruhe und ich war erleichtert. Beachtung für etwas, was man gut konnte oder was man geleistet hatte, die sollte eigentlich angenehm sein. Aber das war sie nicht. Und Beachtung hatte recht wenig mit Bewunderung zu tun, wie ich schnell lernen musste. Viele Kommentare waren extrem negativ – gerade auf Facebook, wo sich anscheinend eine Menge Menschen rumtrieben, die mit ziemlich viel in ihrem Leben ziemlich unzufrieden waren und in Kommentarspalten ihr Ventil gefunden hatten. Warum sonst sollte man einem Fremden, der niemandem etwas getan hatte, nur das Schlechteste wünschen?
„Stirb einfach.“
„Lebensmüdes Arschloch.“
„Tolles Vorbild. Wenn der erste Nachahmer stirbt, hast du ein Leben auf dem Gewissen.“
„Einsperren!“
„Soll er doch verrecken. Ein Irrer weniger.“
„Schade, dass kein Windstoß dem Angeber eine Lektion erteilt hat.“
Natürlich gab es auch positive und sogar bewundernde Reaktionen, einige lobten die Bild- und Farbkomposition des Fotos, andere meine Eier, es gab Anfragen von ein paar Jungs, die bei der nächsten Tour mitkommen wollten und es gab diese Nachricht:
„Hej, deshalb also deine Fragen und dein plötzliches Desinteresse, als ich sie nicht beantworten konnte. Schicke Sneaker übrigens – sieht man nicht so häufig in der Farbe. Auffällig!
Bojana – die aus der Skybar!“
Das „Schade“-Mädchen! Ich schrieb, löschte, schrieb und antwortete einen halben Tag später: „Hej Bojana. Du hast ein gutes Auge für Schuhe – und ich habe leider ein schlechtes Gespür für Gelegenheiten. Wie kann ich verhindern, dass du mich bei deinen Chefs oder den Bullen verpfeifst?“
Sie antworte zehn Minuten später:
„In Anbetracht der Schwere deiner Schuld (und dann kommt ja auch noch das Geklettere hinzu) lege ich hiermit das Strafmaß auf ein Abendessen und so viele Drinks fest, bis meine Wangen glühen (keine Angst, in der Regel reicht dafür ein Glas Wein).“
Ich nach fünf Stunden:
„Nach Rücksprache mit meinem Anwalt verzichte ich auf einen Einspruch und akzeptiere das Strafmaß vollumfänglich. Mein Anwalt rät mir allerdings auch, auf eine zeitnahe Vollstreckung der Strafe zu bestehen.“
Wir verabredeten uns fürs Wochenende in einem Lokal in Södermalm. Ich war ziemlich nervös vor dem Date. Mit meiner Kletteridentität kannte sie ein Geheimnis von mir – ich dagegen wusste kaum etwas über sie. Sie war 24, also drei Jahre älter als ich. Das verriet Facebook. Dort waren einige sehr professionelle Bilder zu finden, auf denen sie ziemlich fantastisch aussah – vermutlich modelte sie. Außerdem teilte sie ziemlich viele Links zu Flüchtlingsthemen – sie schien sich in dem Bereich zu engagieren. Und sie mochte offenbar Sneaker.
Der Smalltalk war beendet, noch bevor das Essen auf dem Tisch stand. Ich hatte viele Dates damals. Tinder machte das selbst schüchternen Jungs wie mir möglich. Wir mussten uns an Freitag- und Samstagabenden nicht mehr auf das Trink-, Hader- und Ansprechspiel einlassen – jetzt reichten ein paar Wischbewegungen, ein paar Nachrichten und das Date stand. Ich hatte im letzten Jahr keine Verabredung gehabt, die nicht online zustande gekommen war. Mit meinen Fotos vom Parcours-Laufen und von Dächern hatte ich ein Alleinstellungsmerkmal, mit dem ich auffiel und mit dem man einfach ein Gespräch starten konnte. Anfangs war das sehr aufregend gewesen, nach ein paar Mal stellte sich Routine ein. Kam es zum Date, tastete man sich die erste halbe Stunde bis Stunde ab, versuchte den Menschen mit seinen Nachrichten zu verknüpfen und redete häufig über das, was man eh schon wusste, nur um während des Redens die Erwartungen zu rejustieren. Bei Bojana war kein Abtasten nötig. Wir hatten von Anfang an eine Vertrautheit, die weit über die halbe Stunde hinaus ging, die wir uns im Fernsehturm unterhalten hatten. Sie stellte ein paar präzise Fragen zu meiner Fernsehturm-Kletterei und erzählte mir, dass sie dort nur den einen Tag für eine Freundin ausgeholfen hatte. Über ihren fremd klingenden Namen kamen wir schnell auf das Thema Herkunft. Sie stammte aus Bosnien und war mit ihrer Mutter ausgewandert, als sie sieben war. Da war der Krieg zwar schon vorbei, aber das Land war noch völlig am Arsch.
„Meine Mama wollte ein besseres Leben für mich.“ Vom Krieg selber hatte sie in dem kleinen Kaff, aus dem sie kam, so gut wie nichts mitbekommen. Ihr Vater fiel zwar, aber den hatte sie auch vorher nie gesehen. Dann lachte sie und ich verstand nicht warum.
„Trotz meiner Geschichte glauben aber viele, dass ich Kriegs-Opfer bin.“
Ich verstand noch weniger, worum es ging. Doch dann streckte sie ihr linkes Bein mit den Air Yeezy Sneakern aus und zog ihre Hose leicht nach oben.
„Kein Unterschenkel. Ein Unfall kurz nachdem ich nach Stockholm gekommen bin. Wie konnte ich auch ahnen, dass die verfickte Bahn von rechts kommt?“
„Ach, ich hasse Füße. Echt! Je weniger, desto besser!“ Ich sagte das sehr laut und sehr spontan, ohne nachgedacht zu haben. Noch während ich mich die letzten Silben sprechen hörte, wurde mein Kopf sehr schnell sehr warm, als hätte ich ihn mir verbrüht. Bojana schaute mich an.

Alle Geräusche in dem Lokal blenden sich aus. Der Hintergrund wird unscharf. Da sind nur noch ihre Augen und meine Halsschlagader, in der ich es deutlich rauschen höre. Ich rühre mich nicht. Sie rührt sich nicht. Kein Blinzeln, kein Atmen. Vielleicht schreibt sie unterm Tisch eine Date-SOS-Nachricht an eine Freundin. Gleich klingelt das Telefon, sie muss dringend weg, ein Notfall und das war‘s. Vielleicht geht sie auch einfach so. Sie erzählt mir ihre Geschichte. Sie vertraut mir. Und ich komme mit so einem beschissenen, unüberlegten Kommentar daher. Eine Ohrfeige? Denkbar und vielleicht sogar verdient. Ich könnte etwas sagen. Etwas Versöhnliches, oder noch besser, etwas Einfühlsames. Sie soll nicht gehen. Sie ist toll. Ich sehe, wie ihre mutig geschwungenen Lippen versuchen, sich voneinander zu lösen. Der nicht zu auffällig rote Lippenstift, der aber rot genug ist, um in Erinnerung zu bleiben, leistet für den Bruchteil einer Sekunde schwachen, klebrigen Widerstand und wird überwunden. Ich sehe das Weiß ihrer Zähne, und unter den sanft betonten Wangenknochen baut die Gesichtsmuskulatur genügend Spannung auf, um Ober- und Unterkiefer in Bewegung zu setzten. Ich habe immer noch nicht geblinzelt. Ich glaube, auch nicht geatmet. Mein Kopf ist immer noch viel zu heiß. Ihre Augen enthalten Spuren von Mandeln. Vielleicht hat sie sich die Augenform aber auch nur geschickt angeschminkt. Ein Schlag mit dem Lid trifft mich unerwartet in die offene Deckung und holt mich in die Welt zurück.

„Ja, Füße sind scheiße! Es gibt kein unansehnlicheres Körperteil als den menschlichen Fuß – und mag es der zierlichste und gepflegteste Frauenfuß sein. Selbst Altmänner-Schwänze sind schöner anzuschauen.“
Auch sie sagte das recht laut und einige Köpfe drehten sich in ihre Richtung. Bojana interessierte das nicht. Verdammt, war sie cool. Ab dem Wort Altmännerschwänze wusste ich, dass sie die Eine ist und es keine Tabus zwischen uns geben sollte. Obwohl. Ich wollte nicht wissen, warum sie sich mit Altmännerschwänzen auskannte. Dieses Tabu durfte bleiben. Sie erzählte mir von dem Unfall. Sie war ganz neu in der Stadt gewesen und hatte sich auf dem Weg zu einem Schwedisch-Kurs befunden. Die Strecke war sie vorher einmal mit ihrer Mutter abgegangen, doch bei dieser Generalprobe waren sie keinen Bahnen begegnet und so war sie sich der eigenartigen Verkehrsführung nicht bewusst. In Stockholm galt Rechtsverkehr für Autos und Linksverkehr für einige Trams.
Der Unfall musste ziemlich schlimm gewesen sein, doch Bojana kannte aus eigenem Erleben keine Details. Aus Erzählungen wusste sie aber, dass es ein Glück war, einige sagten sogar Wunder, dass sie überlebt hatte. Bojana erzählte das sehr nüchtern, so nüchtern, als spräche sie nicht über sich. Ein Spezialist von der Karolinska versuchte das Bein noch zu retten, aber an der Amputation führte kein Weg vorbei. „Weil ich ein kleines Mädchen mit Jugo—Namen und großen dunklen Augen war, dachte natürlich jeder in der Schule, ich sei in eine Mine gelaufen und hatte zunächst unendlich Mitleid. Die wahre Geschichte konnte dann nur noch enttäuschen. Enttäuschen mit einem fehlenden Bein muss man erstmal hinbekommen.“
Der Arzt von damals behandelte Bojana über viele Jahre. Nach all der Zeit war er enger Freund der Familie geworden, und nachdem ihre Mutter vor knapp anderthalb Jahren zurück nach Bosnien gekehrt war, verbrachte Bojana zuletzt sogar Weihnachten mit ihm und seiner Frau. „Stockholm ohne Familie. Scheiße ist das mies. Das habe ich vor allem letzten Winter gemerkt. Wie hält man das alleine aus, Stockholmjunge? Verrat mir das Geheimnis!“
„Tageslichtlampen!“
„Verarsch mich nicht.“
„Nein, echt. Durch das Licht wird Serotonin… Okay, im Ernst. Man braucht jemanden, um hier ohne Depression durch den Winter zu kommen. Jemand Besonderen. Und im besten Fall hat dieser Jemand eine Tageslichtlampe. Meine hat übrigens 10.000 Lux. “ Sie lachte und schaute mich fragend an. Ich hoffte, dass sie überlegte, ob ich dieser Jemand sein könnte, und ich wollte dieser Jemand sein. Ob ich es sein durfte, würde die Zeit entscheiden, nicht dieser Abend.
Ich stellte ihr Fragen zur Prothese, die ich sonst vermutlich nicht bei einem ersten Date gestellt hätte, aber wer wusste das schon, so oft datete man schließlich keine Einbeinige. Sie redete offen und ohne Scham. Das gefiel mir. Unterdruck, Titan, Sportmodell und Alltagsprothese, kosmetischer Silikonüberzug. Den technischen Kram ratterte sie runter, um ihn einmal gesagt zu haben. Ich hatte gefragt und sie wollte nicht unhöflich sein. Spannend fand sie das selbst nicht, bis auf ein Detail.
„Man darf sich eine Nagellackfarbe aussuchen. Glaub mir, diese Entscheidung bedeutet jedes Mal schlaflose Nächte. Die Farbe bleibt monatelang drauf.“
Als sie 14 war, hatte sie ein großer Prothesen-Hersteller als Werbegesicht für Schweden entdeckt. Seitdem modelte sie für ihn und mittlerweile auch andere Auftraggeber.
„Nimmst du die Prothese beim Sex ab?“
„Du bist ganz schön frech für einen kleinen Schweden“, sagte sie und lachte das erste Mal ihr Balkanlachen. So ein Lachen lachte man nach einem gemeinsam begangenen Bankraub. Es war vertraut und dreckig. Man lachte es mit Menschen, mit denen man ein Geheimnis teilte. „Siehst du später. Ich will vorher mit dir tanzen gehen.“

Leseprobe: Torsten Seifert – „Der Schatten des Unsichtbaren”

 »Eine Geschichte, die nicht wahr ist, gut zu erzählen, ist eine Gabe, my boy. Sie sind ein Künstler, wissen Sie das?« B. Traven

Erstes Kapitel

Archie Tucker hatte Geschmack, daran bestand kein Zweifel. Er saß in diesem ziegelroten Traum mit Achtzylindermotor, Automatikschaltung, Weißwandreifen und der Silhouette eines Torpedos, als wäre er ein Filmstar. Mit seinen italienischen Schuhen, der eleganten Hose aus Segeltuch und dem exotisch bunten Aloha-Shirt, das ein Jahr später als „Hawaiihemd“ der letzte Schrei sein sollte, hätte Tucker ein gutes Motiv für Modefotografen abgegeben. Das Licht war perfekt an diesem Morgen. Besser konnte man es nicht arrangieren. Kein Wunder! Schließlich war es sein Perfektionismus, der ihn zum erfolgreichsten Gesellschaftsreporter Hollywoods gemacht hatte. Längst gehörte er zu der Handvoll Journalisten, die einen Anruf des Managements erhielten, bevor die Stars im Romanoff’s oder im Chasen’s einkehrten. Während die Kollegen nächtelang vor den einschlägigen Adressen herumlungerten, ohne jemals eine gute Story an Land zu ziehen, saß er immer bereits an einem der reservierten Tische und bekam seine Geschichten aus erster Hand. Nie hatte Tucker irgendetwas dem Zufall überlassen. Bis zuletzt nicht, könnte man meinen. Es gab kaum schönere Plätze für einen großen Auftritt als den Strand von Huntington Beach, an dem sein Cadillac Convertible Cabrio mit Blick aufs Meer parkte. Nur der Umstand, dass große Teile seines Gehirns über die mit beigem Leder bezogene Garnitur verspritzt waren und das Blut aus seinem Schädel auf der Rückbank ein hässliches Muster hinterlassen hatte, trübte den Eindruck. Aber irgendwas war halt immer. Leon Borenstein packte seine Fotoausrüstung zusammen und verstaute sie auf dem Beifahrersitz des Pontiacs. Er lächelte zufrieden. Noch bevor der Rest der Journalistenmeute von Tuckers Ableben erfuhr, würden seine Abzüge bereits im Fixierbad schwimmen. Der Titel der Nachmittagsausgabe war ihm sicher. Wenn er Glück hatte, schaffte er es zurück in die Redaktion, bevor der morgendliche Verkehr ins Rollen kam.
Die Nachricht vom Tod des „Königs der Skandalreporter“ verbreitete sich in der Redaktion rasend schnell. Es vergingen kaum zehn Minuten, bis der Erste an seinen Schreibtisch kam, um Leon auf die Schulter zu klopfen und zu fragen, ob es denn wirklich ein Selbstmord war. Natürlich versuchten sie herauszufinden, wer ihn mit der heißen Neuigkeit versorgt hatte. Doch über seine Quellen verlor Leon nie ein Sterbenswort. Genauso wie er sie nie mit einem Kollegen teilen würde. Schließlich bezahlte er Monat für Monat ein ordentliches Sümmchen dafür, dass er vor allen anderen erfuhr, zu welchem Tatort die Polizei gerade ausrückte.
Er war nicht überrascht, als ihn Barbara noch im Verlauf des Vormittags ins Chefbüro bestellte. Stainer musste längst aufgefallen sein, dass er derjenige war, der regelmäßig die großen Storys an Land zog. Eine Gehaltserhöhung konnte nur noch eine Frage der Zeit sein. Doch sein Chef ging nur kurz auf den Tucker-Coup ein. Der Grund des Gesprächs, sagte er, sei ein anderer. Leon wurde augenblicklich übel. War Stainer die Sache mit Kathy zu Ohren gekommen? Würde er von ihm wissen wollen, was seine Tochter auf der Rückbank seines Wagens verloren hatte? »Die Unschuld jedenfalls nicht, die war schon vorher hin«, wäre vermutlich die einzige ehrliche Antwort darauf gewesen. Doch Stainer schien davon nichts mitbekommen zu haben. Er bat Leon, Platz zu nehmen, und wies Barbara an, in der nächsten halben Stunde keine Telefonate durchzustellen. Eine halbe Stunde! Was hatte er vor?
Seine Mimik beschränkte sich wie immer auf das Wesentliche. Gewiss war er ein guter Pokerspieler. Wortlos knöpfte er sich das Sakko auf, zog es aus und hing es auf einen Kleiderbügel. Er legte großen Wert auf Kleidung und erzählte gern, dass er seine Anzüge bei Bullocks in der 7. Straße, Ecke Broadway schneidern ließ. Nachdem er ein Päckchen Zigaretten aus der Tasche gefingert hatte, krempelte er ruhig und akkurat seine Ärmel hoch und ließ sich in einem der schweren Ledersessel nieder.
Harold Stainer war als Harald Steiner in Braunschweig auf die Welt gekommen. Beim Umzug nach Kalifornien gingen ihm zwei Buchstaben verloren, die er flugs ersetzte, wonach er sich noch viel amerikanischer fühlte. Es war nichts Ungewöhnliches, dass Juden in Amerika ihre Namen änderten. Selbst die Bosse der großen Filmstudios machten da keine Ausnahme. Aus Szmuel Gelbfisz war Samuel Goldwyn geworden, Jack Warners Familie hieß früher Eichelbaum und Wilhelm Fuchs verwandelte sich in William Fox.
Endlich begann Stainer zu reden.
»Sagt Ihnen der Name B. Traven etwas?«
»Nein, Sir, noch nie gehört«, antwortete Leon wahrheitsgemäß.
»Das dachte ich mir«, entgegnete Stainer, ohne dabei belehrend zu wirken. »Nicht weiter schlimm. Sie werden ausgiebig Gelegenheit bekommen, sich mit ihm zu beschäftigen.«
Leon blickte ihn fragend an.
»Traven ist Schriftsteller. Nicht irgendeiner. In Europa geht seine Auflage in die Millionen. Man munkelt, er sei ein heißer Kandidat für den Literaturnobelpreis.«
Stainer stand auf, zog gezielt ein Buch aus dem Regal und begann, darin zu blättern. »Seine Helden sind Outlaws. Habenichtse, arme Schlucker«, dozierte er. »Er lässt sie im Dreck wühlen und macht Gold daraus.« Dann klappte er das Buch zu. »Der Schatz der Sierra Madre«, sagte er und lauschte der Wirkung seiner Worte hinterher, als erwartete er, dass von irgendwoher ein Echo hallen müsste.
»Die Leute von Warner haben sich die Filmrechte schon vor Jahren gesichert. Vor ein paar Monaten haben die Dreharbeiten begonnen.«
Er zog an seiner Zigarette und schaute Leon prüfend an. »Die Story ist schnell erzählt«, fuhr Stainer fort. »Drei Taugenichtse tun sich zusammen, um in Mexiko nach Gold zu suchen. Sie gehen in die Berge und werden tatsächlich fündig. Doch anstatt die Beute brüderlich zu teilen, misstrauen sie einander, bis sie ihre Habgier in die Katastrophe treibt.«
Leon fragte sich, was die Angelegenheit mit ihm zu tun haben sollte.
»Was meinen Sie, wer die Hauptrolle bekommen hat?«, fragte Stainer nach einer kurzen Pause. Leon hob achselzuckend die Hände.
»Humphrey Bogart. Er spielt einen zwiespältigen und besonders fiesen Typen, der nichts mehr zu verlieren hat und am Ende stirbt. Also genau das, was Bogart meistens spielt«, lachte Stainer, so als hätte er einen besonders guten Witz gemacht. Leons Blick signalisierte währenddessen noch immer völlige Ratlosigkeit. Stainer entging das nicht. Aber er genoss es, die Geschichte in ganzer Breite erzählen zu können.
»Warten Sie, Borenstein, Sie werden gleich verstehen, worauf ich hinaus will«, bat er um Geduld. »B. Traven, der Name dieses Schriftstellers, scheint ein Pseudonym zu sein. Alle Versuche, ihn aus seinem Versteck zu locken, schlugen bislang fehl. Angeblich lebt er einsam irgendwo in der Wildnis. Sein Verleger kommuniziert mit ihm über ein Postfach in Mexiko.« »Weiß man, warum er anonym bleiben will?« »Es gibt einen ganzen Sack voller Theorien und Gerüchte«, antwortete Stainer und griff zu einer drei Finger dicken Kladde, die von einem Band zusammengehalten wurde. Es erinnerte Leon an die Gummiringe, die seine Mutter früher beim Einwecken verwendet hatte. »Ich lasse das Ganze schon seit längerer Zeit beobachten «, sagte Stainer, während er in den Unterlagen zu blättern begann. Traven soll zum Beispiel niemand anderes als Jack London sein, der seinen Selbstmord nur vorgetäuscht hat. Oder Ambrose Bierce, ein Romancier aus Ohio, der 1913 in Mexiko verschwand. Der wäre jetzt allerdings schon über hundert Jahre alt, also streichen Sie den.« Hastig durchblätterte er die nächsten Seiten. »Ein Farmerssohn aus dem Mittleren Westen, ein Enkel Napoleons, ein Leprakranker aus Chiapas, dessen Kopf verhüllt ist, der Hollywood-Agent Paul Kohner, ein General der mexikanischen Revolution, ein europäischer Reeder, ein Spion Stalins, ein Plantagenbesitzer aus Nicaragua oder ein entflohener Häftling aus Fort Leavenworth … Suchen Sie sich aus, was Sie glauben möchten.« Stainers Tonfall verriet, dass er bei jeder einzelnen Version seine Zweifel hatte.
»Andere meinen, Traven sei längst tot oder es handle sich dabei um eine ganze Gruppe. Genau genommen um fünf Schriftsteller mit Sitz in Honduras.« Er klappte die Kladde geräuschvoll zu, um sich verschwörerisch zu Leon hinüberzubeugen.
»Wenn der Film erst in den Kinos läuft, wird die ganze Welt wissen wollen, wer dieser B. Traven ist. Sie und ich, wir werden es ihr sagen.« Dabei rüttelte er Leon leicht an der Schulter. Der kam gar nicht dazu, einen Einwand vorzubringen.
»Ich hätte die Sache gerne weiter in aller Ruhe vorbereitet «, räumte Stainer ein. »Aber vor ein paar Wochen brachte die ›Life‹ das Thema aufs Tapet.« Er zog eine Ausgabe des Magazins aus der Schublade und schob sie quer über den Tisch. Leon schlug die markierte Seite auf. »Wer ist Bruno Traven?«, las er die Überschrift laut vor. »Also Bruno?«
»Das ist keinesfalls sicher«, winkte Stainer ab. »Life scheint nicht mehr zu wissen als wir. Angeblich haben sie sogar eine Prämie von 5.000 Dollar ausgeschrieben, für den, der das Geheimnis lüftet. Eines ist jedenfalls klar: Wir haben starke Konkurrenz bekommen. Was heute in ›Life‹ steht, darüber schreiben morgen alle anderen.« Leon fühlte sich nicht gut bei dem Gedanken, ein Phantom jagen zu sollen. »Mr. Stainer, es ehrt mich außerordentlich, dass Sie mich in dieser Sache ins Vertrauen ziehen. Aber das klingt alles eher nach einem Detektivauftrag.« »Richtig, Borenstein«, sagte Stainer. »Aber in jedem guten Journalisten steckt doch auch ein wenig Detektiv. Während ein guter Detektiv noch lange kein Journalist ist, oder?« Das leuchtete Leon ein. »Jetzt kommt die eigentliche Sensation«, versprach Stainer mit einem triumphierenden Grinsen. Dabei ließ er erneut sein Feuerzeug klicken und nahm einen tiefen Zug, als könne das seinem nächsten Satz eine größere Bedeutung verleihen.
»Sie wissen ja, dass ich recht gut mit einigen Leuten aus den Studios befreundet bin«, prahlte er. »Blakes Büro hat mir gesteckt, dass ein Bevollmächtigter Travens mit dem Namen Hal Croves bei den Dreharbeiten anwesend sein wird. Er ist Travens Sekretär. Huston, der Regisseur, hat ihn als seinen technischen Berater engagiert.«
Er schaute Leon erwartungsvoll an, der jetzt wenigstens so etwas wie „Was Sie nicht sagen“ antworten sollte. Aber Leon schwieg. »Croves ist der Schlüssel zu Traven«, zog Stainer selbst das Fazit. »Haben wir ihn, führt er uns früher oder später zur Lösung.« Das Glänzen in seinen Augen verriet, wie stolz ihn dieser Coup machte. Plötzlich verstand Leon, welche Aufgabe er für ihn vorgesehen hatte. Ehe er den Gedanken zu Ende spinnen konnte, sprach Stainer ihn aus: »Sie gehen nach Mexiko und werden das Rätsel lösen. Ich habe für Sie bereits alles organisieren lassen«, übertrieb er, wie der Agent eines Reiseunternehmens, der gerade einen teuren Urlaub verkauft. »Sie fliegen schon in der nächsten Woche und begleiten das Team an den letzten Drehtagen. Die sind mitten in den Bergen, in der Nähe von Jungapeo, ein paar Autostunden von Mexiko-Stadt entfernt. Und – Sie erhalten ein Exklusivinterview mit Humphrey Bogart! Na, was sagen Sie?« Leon lächelte pflichtbewusst.
»Machen Sie sich keine Gedanken. Harry Wurzinger, einer unserer Informanten, der früher zu Bogarts Entourage gehörte, wird Sie vorbereiten. Kennen Sie ihn?« Leon nickte. Jeder kannte Harry.
»Vielleicht wird das Interview nie erscheinen, das ist ganz egal. Ihre Aufgabe ist es, irgendwie an diesen Croves heranzukommen. Und wenn die Filmleute ihre Zelte abbrechen, heften Sie sich an seine Fersen.«
Natürlich. Da war es also, das dicke Ende. Eine Woche Mexiko auf Redaktionskosten hätte Leon sich gern gefallen lassen. Aber das, wovon sein Boss gerade sprach, hörte sich eher nach einem Himmelfahrtskommando an. Stainer schien Leons Gedanken lesen zu können. »Ich weiß, Borenstein, das kommt für Sie alles etwas überraschend. Glauben Sie mir, als Journalist kriegen Sie nicht oft eine Gelegenheit wie diese. Ich wünschte, ich hätte nicht die Verantwortung für eine ganze Redaktion. Dann würde ich ihn mir selber schnappen. Also – zögern Sie nicht. Holen Sie sich Traven und machen Sie sich unsterblich!« Leon war nicht sicher, ob ihn diese Art von Ruhm überhaupt interessierte.
»Wie viel Bedenkzeit habe ich?« »Keine«, unterband Stainer mit einer brüsken Handbewegung jegliche weitere Diskussion. »Da ist noch was, was ich Ihnen nicht verschweigen will. Sie würden es ja früher oder später sowieso erfahren. Es scheint ein Fluch über Traven zu liegen. Oder um es genau zu sagen: über allen, die nach ihm suchen. In den letzten Jahren habe ich bereits drei meiner Leute auf dieses Thema angesetzt. Einer von ihnen ist bei einem Verkehrsunfall umgekommen, ein weiterer sitzt heute in einer Nervenheilanstalt, der Dritte ist nach Alaska ausgewandert.«
»Na großartig!«, dachte Leon. Jetzt war er nicht mehr so sicher, ob Stainer nicht doch etwas von seinen Tete-atetes mit Kathy mitbekommen hatte. Vielleicht wandte er eine besonders subtile Methode an, um ihn loszuwerden. »Ich werde inzwischen die Ermittlungen vor Ort vorantreiben. Gewissermaßen an der Heimatfront.« Stainer liebte es, militärische Begriffe zu benutzen. Dann schaute er auf seine Taschenuhr. So, wie Leon ihn kannte, hatte das Gespräch tatsächlich eine halbe Stunde gedauert. Keine Minute länger oder kürzer. Als er sich verabschiedete, wartete Barbara bereits mit dem Flugticket sowie sämtlichen Unterlagen, die er für die Reise benötigen würde. Hinzu kamen die von Stainer wie der heilige Gral gehütete Kladde und ein Zettel mit Harrys Adresse. Leon fühlte sich, als wäre gerade ein 20-Tonnen- Truck über ihn hinweggerollt.

Zweites Kapitel

“It ain’t no sin, it ain’t no sin.” Leon fuhr herum. Vor ihm saß ein ausgewachsener Ara, der sich zu einer gefiederten Kugel aufgeplustert hatte. Unter lautem Fauchen stieß er den Kopf nach vorn und funkelte seinen Betrachter aus bernsteinfarbenen Augen böse an.
Harry lachte. »Das ist Bobby. Er passt auf mich auf, bis hier mal wieder eine Frau einzieht. – Willst du Kaffee?« »Gerne, wenn es keine Probleme macht.« Harry winkte lässig ab, drehte seinen Rollstuhl auf der Stelle und bewegte ihn routiniert in Richtung Küche. »Machs dir bequem!«
Das war leichter gesagt als getan. Harrys auf den ersten Blick recht geräumiger Bungalow glich einem Requisitenfundus. Ein Labyrinth aus Regalen, Schränken und Ablagen voller Zeitungen, Schachteln, Flaschen und allerlei Krempel, jeweils exakt bis zu der Höhe gestapelt, die er problemlos im Sitzen erreichen konnte. Dazwischen hatte er schneisenartige Gänge angelegt, gerade mal so breit, dass er mit seinem Gefährt nicht hängen blieb. Leon kam sich vor wie Gulliver, der durch einen Irrgarten auf der Insel Liliput spaziert.
“It ain’t no sin”, plapperte der Papagei, den das Aufplustern allmählich anzustrengen schien. Aus der Kugel war ein deformierter Federball geworden, an dessen Spitze der Schnabel drohte. Bobbys Pupillen hatten inzwischen die Größe von Stecknadelköpfen angenommen. Vorsichtig bückte sich Leon zu ihm hinunter.»Wie alt ist er?«, fragte er, während Harry, erstaunlich geschickt mit der einen Hand ein volles Tablett jonglierend, mit der anderen den Rollstuhl antreibend, zurückkam. »Keine Ahnung. Mich wird er jedenfalls überleben. Solche Viecher sterben einfach nie. Ich glaube, nur Schildkröten werden noch älter.« Bobby schloss die Federn und zog den Hals ein, so als versuche er jetzt, eine Schildkröte zu imitieren. »Mir machen Papageien Angst. Ich habe immer das Gefühl, sie wissen mehr, als sie uns glauben lassen.« Bobby nickte.
»Kann sein«, antwortete Harry mit geheimnisvollem Unterton. »Deinen Finger solltest du ihm jedenfalls nicht überlassen.«
“It ain’t no sin”, kommentierte Bobby. »Was redet er da immer?«, wollte Leon wissen. Harry feixte. »Das ist eine verrückte Geschichte. ›It ain’t no sin‹ war ein Paramount-Film mit Mae West, Mitte der Dreißiger. Irgendwer kam auf die bescheuerte Idee, 150 Papageien den Titel beizubringen, damit sie später überall dafür werben konnten. Wochenlang haben sie den Viechern Schallplatten vorgespielt, bis alle ihn nachsprechen konnten. Kurz vor der Premiere wurde die Paramount aber durch die Katholische Liga für Sitte und Anstand dazu gezwungen, den Titel zu ändern. Ich glaube, der Film lief dann unter ›I’m no angel‹. Danach hatte keiner mehr Verwendung für die Vögel. Ich nahm Bobby mit. Was aus den anderen wurde, weiß ich nicht.«
»Du machst Witze.«
»Nein. Ich schwöre, es war so.«
Harry schaufelte Unmengen an Zucker in seinen Kaffee und warf Leon dabei einen amüsierten Blick zu. »Übrigens: Glückwunsch zur Tucker-Story! Es kann halt nie schaden, die richtigen Leute zu kennen. Was musstest du abdrücken?«
Leon versuchte, sich seine Überraschung nicht anmerken zu lassen. Wie konnte Harry bereits Bescheid wissen? Die Zeitung wurde doch gerade erst gedruckt. Sein Netzwerk schien noch immer intakt. Vor seinem Unfall musste er eine schillernde Figur gewesen sein. Die Liste der Klienten, die er als Bodyguard betreut hatte, las sich wie ein Who’s who der Filmbranche. Doch das war längst nicht alles, was Harry zur Legende machte. In den Dreißigerjahren, so erzählte man sich, hätte er nahezu jede Hollywood-Karriere ins Schlingern bringen können. Er wusste über alle Bescheid und bekam immer, was er wollte. Die meiste Zeit hing er damals mit Filmstars oder Drehbuchschreibern rum, saß mit ihnen bei Hühnerpastete oder Rindergulasch im Musso & Frank Grill am Hollywood Boulevard. Oder er ging ins Sasha’s Palate, wo man auf Diwans lag, um sich von Kellnerinnen in Togen Fasan oder Babyziegenbraten servieren zu lassen. Zu später Stunde begleitete er seine berühmten Kumpane dann in geheime Bars, private Klubs oder Hotelsuiten und widmete sich den Starlets, die seine Freunde übrig ließen. Was er nicht selbst mitbekam, erfuhr er von Maskenbildnerinnen, Hotelpagen, Telefonistinnen, Umzugsfirmen, Inkassoagenturen, Callgirls, Zimmermädchen und Barkeepern. Bei Harry schienen alle Informationen zusammenzulaufen. Schon bald kam jeder, der in Hollywood eine offene Rechnung begleichen wollte, zu ihm. Darunter Horden frustrierter Partygirls, die ihre Höschen in der Hoffnung auf eine Filmrolle etwas zu schnell ausgezogen hatten. Irgendwem musste Harry in dieser Zeit ein bisschen zu stark auf die Füße getreten sein. Jedenfalls versagten eines Tages die Bremsen seines Chevrolets. Zwei Wochen lag er in Gottes Wartesaal und hoffte vergeblich darauf, hereingerufen zu werden. Stattdessen schob man ihn im Rollstuhl zurück in die Vorhölle namens Hollywood, wo er bei seinen alten Freunden schneller in Vergessenheit geriet, als es dauerte, im Players Club einen Brandy zu bestellen. Sein Glück im Unglück war, dass er bereits damals auf der Gehaltsliste der Polizei von Los Angeles stand. Nach dem Unfall ließen sie ihn nicht fallen. Er rechnete ihnen das hoch an und zahlte es mit Loyalität zurück. Es war nicht viel, was sie für seine Informationen rüberwachsen ließen. Dafür musste er aber meist auch nur ein wenig herumtelefonieren oder in seinem Gedächtnis kramen. »Tja, schade um diesen Tucker«, griff Leon den Faden auf, ohne auf Harrys Frage einzugehen. »Er war nicht gerade das, was ich eine Edelfeder nennen würde. Aber er hatte diesen speziellen Instinkt. Er wusste immer genau, was bei den Lesern ankommt.« Harry wiegte den Kopf bedächtig hin und her, als müsse er erst überlegen, inwieweit er diese Meinung teilen konnte. Mit einer Handbewegung schob er das Thema beiseite.
»Stainer sagt, du bist wegen Bogie hier?«
»Genau.«
»Hat er was ausgefressen?«
»Nein«, antwortete Leon. »Er dreht gerade in Mexiko. Ich soll ihn am Set interviewen. Aber das ist nur ein Vorwand, um an einen anderen Typen ranzukommen.« Harry hob die Augenbrauen und machte eine anerkennende Geste. Offenbar gehörten solche Aufgaben selbst aus seiner Sicht nicht zum Standardprogramm. »Es heißt, er ist kein einfacher Typ und du könntest mir ein paar Tipps geben, wie man ihn am besten bei Laune hält.«
»Ganz einfach: Bier, Scotch und Drambuie«, lachte Harry.
»Jaja, ein paar Tipps geben. Dafür ist der alte Harry noch gut genug.« Seine Reaktion klang nicht beleidigt. Eher wie die eines Familienvaters, dessen Töchter um Taschengeld für neue Schuhe bitten.
»Er ist in Mexiko, sagst du?«
Leon nickte.
»Wer kam denn auf die Idee, in Mexiko zu drehen? Sind uns hier die Kakteen ausgegangen?« Leon zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. John Huston, schätze ich. Er führt jedenfalls Regie.« »O Mann, jetzt leiten schon die Irren die Anstalt.« »Du magst ihn nicht?« »Doch, doch, er ist genial. Ich finde nur, er ist ein wenig … nennen wir es sonderbar.« Leon hob erneut die Achseln. Film war nicht unbedingt sein Spezialgebiet.
Harry griff nach einem Flachmann, schüttete einen Schluck Whiskey in den Kaffee und schlürfte geräuschvoll, bevor er weitersprach.
»Bogie wird sich fragen, warum ihr ihn ausgerechnet in Mexiko interviewen wollt. Er sitzt doch jeden Abend im Romanoff’s.«
»Es ist das erste Mal, dass er im Ausland arbeitet. Deshalb soll alles nach einer Reportage über die Dreharbeiten aussehen«, erklärte Leon. »Tja. Was soll ich sagen?«, kam Harry endlich zur Sache.
»Ich kenne Bogie schon seit 1930. Wir sollten damals am Bahnhof in Pasadena die Garbo und Jack Gilbert abholen. Es war unglaublich heiß an diesem Tag. Endlich kam der Zug an, doch von den beiden keine Spur. Stattdessen stieg dieser Typ aus. Nicht sonderlich kräftig, dafür aber mit einer großen Klappe ausgestattet, mit der er fürs Erste die ganze Pressemeute versorgte. Bogie war einer der wenigen, die schon damals begriffen hatten, dass die Stars die Journaille genauso brauchten wie die Journaille die Stars.«
Leon lehnte sich zurück und machte sich auf einen längeren Monolog gefasst. Es sollte ihm recht sein. »Später bin ich oft mit Bogie um die Häuser gezogen. Meistens war Spencer Tracy dabei, manchmal auch Peter Lorre oder David Niven. Es gab eine Menge Spaß und immer irgendwelchen Ärger. Wochenlang durfte ich meine Getränke auf Bogies Namen anschreiben, damit ich dichthielt. Oft ging er morgens direkt von der Kneipe ins Studio. Bei seiner Visage ist das sowieso egal.« Harrys Blick blieb an ein paar vergilbten Fotos und Zeitungsartikeln hängen, die an der Wand befestigt waren. Seine Gedanken waren auf die Reise gegangen. »Eigentlich ist Bogie ein netter Kerl. Das heißt nicht, dass er nicht ständig sticheln oder jedermann beleidigen würde, wenn er sich langweilt und ein bisschen Action gebrauchen kann. Sein Problem ist halt, dass er nach ein paar Drinks selber glaubt, Humphrey Bogart zu sein. Aber wenn er jemanden mag, tut es ihm hinterher leid und er versucht, alles wieder in Ordnung zu bringen.« Harry rollte zu Bobby hinüber und fütterte ihn mit einem Maiskolben. Als er ihn am Ohr kraulte, gähnte der Vogel. Dann versteckte er den Schnabel in seinem Rückengefieder und schloss die Augen.
»Früher mochte ich keine Tiere«, gab Harry zu. »Meine Exfrau hatte mal so einen hässlichen Yorkshireterrier, der ständig Preise gewann. Es gab bald kein anderes Thema mehr. Nur diese beschissenen Wettbewerbe. Dann hab ich heimlich angefangen, ihn zu füttern. Erst hat sie sich gewundert, warum mich der Köter plötzlich leiden konnte. Später, warum er auf einmal so fett war. Als sie dahinterkam, reichte sie die Scheidung ein. Wegen seelischer Grausamkeit.«
Leon feixte.
»Kennst du die Babynahrung von Mellin’s?“, fragte Harry.
»Kann sein«, antwortete Leon, ohne sich tatsächlich daran erinnern zu können. »Bogie ist das Baby in der Werbung.« Leon verstand nicht ganz. »Seine Mutter war Grafikerin. Als sie damals den Mellin’s-Auftrag bekam, ist ihr nichts Besseres eingefallen, als ihr eigenes Baby zu malen. Bogie war also schon auf Millionen Verpackungen, bevor ihn irgendjemand auf der Leinwand sehen konnte.« »Hat es sie reich gemacht?«, wollte Leon wissen. »Geschadet hat es ihr auf keinen Fall«, antwortete Harry.
»Aber Geld war bei den Bogarts nie das Problem.«
»Lebt sie noch?«
»Nein, sie starb vor acht Jahren. Getrauert hat er damals nicht, soweit ich mich erinnern kann. Wahrscheinlich war er eher froh, dass die alte Hexe endlich in der Hölle schmort, für all das, was sie ihm angetan hat.«
Harry blickte kurz zu Leon, als müsse er sich vergewissern, ob der mehr darüber erfahren wolle, und fuhr fort.
»Bogie hat Peter Lorre mal erzählt, dass seine Mutter ihn früher oft schlug und einsperrte. Als sein Vater für ein paar Jahre als Schiffsarzt zur See fuhr, musste er sogar zu ihr ins Bett steigen. Er war damals höchstens 16 oder 17.« »Du nimmst mich auf den Arm.«
»Nein, es ist wahr. Nur als Einstieg für dein Interview eignet sich das wahrscheinlich nicht«, stellte Harry fest. »Bogie hat es anfangs nicht leicht gehabt. Anfang der 30er bekam er in Hollywood kaum Rollen. Um über die Runden zu kommen, spielte er in Blue Movies, wenn du weißt, was ich meine. Später hat es ihn einen Haufen Geld gekostet, die Filme zurückzukaufen.«
Leon verkniff sich die Frage, die ihm augenblicklich in den Sinn gekommen war. »Vielleicht sollte ich mal ein Buch schreiben, in dem diese ganzen Geschichten drin sind. Aber dann kommt von euch Burschen ja überhaupt keiner mehr vorbei.« Leon lehnte dankend ab. Was Lesestoff anging, war sein Bedarf mehr als gedeckt. Er stellte seine Tasse ab und schaute zur Wanduhr. Harry übersah es geflissentlich. »Hab ich dir mal von Errol Flynns Partys in seinem Haus am Mulholland Drive erzählt? Die reinsten Orgien! Ich habe Bogie ein paar Mal hingefahren. Es kursierten unglaubliche Gerüchte darüber. Ein dicker, ziemlich einflussreicher Diplomat aus Europa hatte davon gehört und wollte unbedingt dabei sein. Er ging Flynn damit mächtig auf die Eier, also lud der ihn eines Abends ein.« Harry beförderte den nächsten Whiskey in seine Tasse. »Als der Tag gekommen war, fuhr der Dicke in einer riesigen Limousine vor. Im Foyer wartete eine tolle Blondine auf ihn. Nichts an, außer High Heels und einer knappen Schürze. Sie bat ihn, ihr ins Entkleidungszimmer zu folgen. Von dort sollte er dann einfach durch die Tür gehen, wo die anderen Gäste schon auf ihn warten würden. Das stimmte auch. Doch als er splitternackt eintrat, saßen alle korrekt gekleidet beim Essen. Der Dicke ergriff die Flucht und die Runde lachte sich halb tot.« Leon lachte. Er kannte die Geschichte bereits, aber ihm würde nichts anderes übrig bleiben, als Harry bei Laune zu halten, bis er Verwertbares lieferte. Ihm fiel ein Satz seines Vaters ein, der davon überzeugt war, dass man einem Menschen hier in „Tinseltown“ kaum eine größere Freude bereiten konnte, als ihm zuzuhören. »Danach ging die Party natürlich erst los. Der Typ hätte wirklich seinen Spaß gehabt. Wusstest du, dass Flynn mit seinem Schwanz Klavier spielen kann? Und wohl gar nicht mal so schlecht. Er trifft zumindest die Töne.« Leon verzog das Gesicht.
»Sprich ihn doch einfach auf sein Boot an«, platzte Harry plötzlich heraus, als hätte er die ganzen anderen Anekdoten nur gebraucht, um sich warmzulaufen. »Es gibt kaum etwas, über das er lieber redet.« »Er hat ein Boot?«, fragte Leon überrascht. »Ja, die Santana. Sie liegt in San Pedro. Bogie hat sie von Dick Powell gekauft. Eine 55-Fuß-Jolle für 55.000 Dollar. Jeder Fuß tausend Dollar. Glaub mir, sie ist es wert. Er verbringt darauf so viel Zeit, wie es nur geht. Immer wenn er dem ganzen Trubel entkommen will.« Segeln war für Leon ein dankbares Thema. Als Jugendlicher hatte er an ein paar Regatten teilgenommen und steckte tief genug in der Materie, um ein wenig darüber fachsimpeln zu können. Für heute, entschied er erleichtert, hatte er genug Informationen gesammelt, um den Bogart-Insider spielen zu können. Harry schien inzwischen selbst Bobby müde gequatscht zu haben. Der Papagei schlummerte friedlich auf seiner Stange. Was Harry allerdings nicht davon abhielt, das nächste Thema anzuschneiden.
»Sag mal, stimmt es, dass du einem dieser Taco-Boxer den Kiefer gebrochen hast?«, fragte Harry. »Nicht den Kiefer. Nur die Nase. Jesús Bautista, ein Weltergewichtler aus Cantamar. Kampfname ›No Mercy‹ aber wenn du mich fragst, sollte er besser ›No Balls‹ heißen. Im Ring schien es immer, als würde er ständig rückwärtslaufen. Seine Tänzelschritte sahen so aus, als hätte er sich in die Hosen gemacht. Ich hab damals noch für die Sportredaktion geschrieben und ihn durch den Kakao gezogen.«
Harry schlug sich auf die Schenkel. »Jesús ›No Balls‹ Bautista, das ist gut, Mann!« Leon grinste. »Jedenfalls können es Mexikaner nicht ausstehen, wenn man sich über sie lustig macht. Also hat er mich eine Woche später gemeinsam mit seinen Jungs am Ausgang in Empfang genommen. Bautista wollte wissen, was mir dreckigem Juden einfallen würde. Doch bevor er mich vermöbeln konnte, schlug ich ihm einfach ins Gesicht. Da wäre er vermutlich nie im Traum draufgekommen.«
Harry hörte amüsiert zu. Storys wie diese waren ganz nach seinem Geschmack. Leon fuhr fort. »Ich hab ihn ganz gut erwischt. Er schaute ungläubig auf das Blut, das durch seine Finger rann, und lief davon. Mir schlotterten zwar die Knie und er hätte mich sicher mit ein bis zwei Schlägen zu Boden gebracht, aber er ließ von mir ab und verschwand.«
»Lief er rückwärts?«, prustete Harry los. »Nein«, lachte Leon. »Diesmal nicht.« »Und seine Männer?«
»Die waren anscheinend der Meinung, es sei eine Sache zwischen ihm und mir. Später wollte keiner mehr mit ihm in Verbindung gebracht werden. Sie hatten wohl Angst, die Schande würde auf sie abfärben.« Harry wurde ernst. »Du solltest dich dennoch in Acht nehmen. Mexikaner haben ein Gedächtnis wie Elefanten.« Leon winkte ab, was so viel wie »ich kenne die Burschen« bedeutete.
»Vielleicht solltest du selber in den Ring steigen, statt nur darüber zu schreiben«, schlug Harry euphorisch vor. »Vergiss es«, antwortete Leon kopfschüttelnd. »Ich bin damals mal mit Orlando Spinoza über drei Runden Sparring gegangen. Danach konnte ich mich eine Woche lang nicht mehr bewegen.«

Wenig später lenkte Harry seinen Rollstuhl zum Ausgang und schüttelte Leons Hand. »Hat mich gefreut, wenn ich dir helfen konnte. Hast du nicht vielleicht noch eine sichere Wette für mich?« Leon dachte nach. »Na ja, ich bin nicht mehr ganz so nah dran wie früher. Aber Conley gegen Hernandez, der dritte Kampf am Freitagabend im Hollywood Legion Stadium – das könnte was werden. Conley ist 7:1 Favorit. Doch er lag die letzte Woche mit einer Grippe im Bett. Außerdem hasst er Rechtsausleger. Die Jungs aus El Monte halten Hernandez für den kommenden Mann. Ich schätze, du kannst ein paar Scheinchen riskieren.« »Gut, ich denk drüber nach«, bedankte sich Harry. Leon lachte. »Wenn du darüber nachdenken musst, solltest du besser nicht wetten.«

Er musste die Augen zusammenkneifen, als er aus dem Bungalow ins Freie trat. Der Vorrat an Sonne war in Kalifornien das ganze Jahr über endlos. Sein Autoradio meldete, dass für Santa Monica 92 Grad Fahrenheit gemessen wurden. Dabei war es gerade mal Anfang Mai. Leon rechnete. 92 minus 32 durch Einskommaacht gleich 33. Obwohl er inzwischen schon seit dreizehn Jahren in der Stadt der Engel lebte, hatte er sich noch immer nicht an die hiesigen Temperaturangaben gewöhnt.

Drittes Kapitel

Wie die meisten Amerikaner hielt Leon Mexiko für eine Art Niemandsland, das abwechselnd von Revolutionen, Vulkanen, Banditen und ausgedehnten Siestas ruiniert wurde. In seiner Vorstellung trugen die Männer lustige runde Hüte, bunte Umhänge und lange Schnurrbärte. Sie verschlangen Unmengen an Tortillas mit Bohnen und tranken Tequila. Wenn sie nicht gerade auf einem Pferd saßen, schliefen sie – sogar tagsüber und, wenn es sein musste, an eine Wand gelehnt. Oder sie zogen in kitschigen Mariachi-Uniformen durch die Straßen und peinigten jeden, der nicht schnell genug davonkam, mit ihrer Musik. Während der Kriegsjahre hatte Kalifornien viele Mexikaner ins Land geholt, damit die Arbeit auf den Farmen und beim Bau der Eisenbahntrassen weitergehen konnte. Die Braceros arbeiteten nicht schlechter als die Einheimischen, gaben sich aber mit viel weniger Lohn zufrieden. Alles sprach dagegen, sie nach Kriegsende schnell wieder nach Hause zu schicken. Damit begannen die Probleme. So stellte es zumindest die kalifornische Presse dar, laut der die Gastarbeiter jede dritte Straftat zwischen San Bernadino und Malibu verübten.

Stainer hatte Leon einen Pan-Am-Flug spendiert. Es ging von Burbank über Dallas nach Mexiko-Stadt. Dort musste er in einen klapprigen Bus steigen. Die löchrigen Straßen führten vorbei an endlosen Agavenfeldern und langen Reihen von Kakteen, die wie Orgelpfeifen Spalier standen. Mit zunehmender Fahrzeit begann sich die Straße immer stärker zu winden. Leon kam es vor, als säße er in einer Achterbahn. Die steilen Auf- und Abfahrten drückten auf seine Ohren. Das Geräusch des Motors nahm er nur noch wie aus weiter Ferne wahr. Ein paar Fahrgäste übergaben sich in mitgebrachte Tüten. Der Busfahrer nahm davon keine Notiz. Seine Mimik glich der eines Reptils, das aus einer Starre erwacht war und noch nicht sicher sein konnte, ob bereits alle Körperfunktionen Dienst taten. Beim Verlassen der Busstation hatte er sich mit einem Stoßgebet für die Fahrt gerüstet und damit jedwede Verantwortung an eine höhere Instanz weitergereicht. Die Pedale betätigte er ausschließlich mit voller Kraft, ganz gleich ob er Gas gab oder abbremste. Nach jeder Kurve brummte er ein phlegmatisches »Bueno« vor sich hin. Selbst als sich ein schwer bepackter Esel mit einem panischen Sprung vor dem herannahenden Gefährt rettete, dabei den Halt verlor und einen Abhang hinunter in den sicheren Tod stürzte, nötigte ihm das keine Reaktion ab. Was hatte der Esel auch da zu suchen? Leon vermied es von nun an, aus dem Fenster zu sehen.

Gegen Nachmittag erreichte der Bus Zitácuaro. In Leons Kopf hatten Dutzende kleine Bergarbeiter damit begonnen, gegen die Schädelwand zu hämmern, um die Besteigung der 2.000 Höhenmeter zu feiern. Die Luft war heiß, feucht und schwer, als hätte ihr jemand Gewichte aufgelegt. Leon war kaum ausgestiegen, als ihn ein kleiner Junge am Ärmel zog. Mit einer lässigen Bewegung holte er eine Kiste hinter dem Rücken hervor, sank auf die Knie und begann schneller, als Leon «Gracias» sagen konnte, damit, dessen Schuhe zu polieren. Stoisch ließ er die Bürstenattacke über sich ergehen.
«Busco un hotel?», fragte er, ohne davon auszugehen, dass der Junge jemals in seinem Leben eines von innen gesehen hatte. Der Kleine starrte Leon erschrocken an. Seine Augen standen so weit auseinander, dass es schwer fiel, gleichzeitig in beide zu blicken. Vermutlich war er noch nie zuvor von einem Gringo auf Spanisch angesprochen worden. Wortlos deutete er nach Norden, packte eilig seine Sachen zusammen und streckte Leon seine vom Schmutz verklebte Handfläche entgegen. Ohne lange darüber nachzudenken, welche Bezahlung für diese Art von ungefragten Dienstleistungen angemessen sei, warf er dem Jungen ein paar Münzen zu. Dann schnellten seine Finger gewohnheitsmäßig nach vorn, um kurz, wie man das bei Kindern tut, über den lockigen, schwarzen Haarschopf zu strubbeln. Doch im letzten Moment war der Junge darunter hinweggetaucht. Für einen Augenblick schaute ihm Leon verwundert nach. Nicht er, sondern der Kleine war der Berührung ausgewichen.

Eher seinem Bauchgefühl als dem Hinweis des Schuhputzers folgend, schleppte Leon den Koffer in Richtung der nächsten Straßenecke, an der ein paar Händler ihre Stände und Karren aufgebaut hatten. Er war das perfekte Opfer für ihre berüchtigten Tiraden. In hanebüchenem Kauderwelsch versuchten sie, ihn von den Vorzügen ihrer Waren zu überzeugen. Leon beschleunigte seinen Schritt und geriet dabei immer tiefer in das bunte Markttreiben hinein. Aus den Augenwinkeln warf er einen Blick auf die Auslagen: Stoffe, Schmuck, Flachs, Kräuter, Schlangenhäute, Ziegen, Kaffeemühlen, Sättel, Tabak, Uhren, Grammofone, Kerzen, Heiligenbilder, Hausaltäre, Nägel in allen erdenklichen Größen und alles, was man aus Eisen fertigen konnte. Jeder Stand erzählte seine eigene Geschichte. Ein paar Vogelhändler hatten riesige Käfige aufgestellt, in denen schlecht gelaunte Kakadus zeterten. Nebenan brodelte ein riesiger Topf Hühnerbrühe. Vermutlich gingen die Vögel fest davon aus, exakt darin zu landen, wenn sich kein Käufer fand. Ein Truthahn segelte direkt vor Leons Füße und blähte den Hals auf. In respektvollem Abstand stolzierte er an den Vogelkäfigen vorbei, als wolle er daran erinnern, wer hier der Einheimische war. In spanischsprachigen Ländern nannte man ihn »guajolote«, was so viel wie »Gespenst« bedeutete. Leon kannte tatsächlich kein hässlicheres Tier. Zu seinen Füßen bemerkte er eine alte Frau, die hinter einer Decke voller Gemüse saß. Ihre Hände erinnerten an Wurzeln. Sie mochte schon 80 Jahre alt sein, aber dennoch kam sie hierher. Der Markt gab ihr das Gefühl, noch immer dazuzugehören. Hätte Leon ihr angeboten, die ganze Ware mit einem Schlag zu kaufen, hätte sie abgelehnt. Die Freude an dem Treiben um sie herum und die Unterhaltung mit den anderen Frauen würde sie sich von keinem noch so lukrativen Geschäft kaputt machen lassen.
Leons Blick blieb an einem klapprigen Holztisch hängen. Zwei junge Indiofrauen mit bunten Umhängetüchern hatten die unterschiedlichsten Früchte zu kleinen Kunstwerken angeordnet: Pyramiden aus Limonen und Mangos, Türmchen aus Zuckerrohr, verzierte Melonen, Kokosnüsse, Kaktusfrüchte und etliche Sorten, deren Namen Leon nicht kannte. Auf dem Boden klatschte eine Frau mit ihren Händen Maisbrei zu Fladen. Ihre schwarzen Zöpfe tanzten im Takt. Wenige Schritte weiter stritt eine wohlbeleibte Señora mit einem Töpfer darüber, dass sein Geschirr nicht mehr denselben Blauton hatte wie bei ihrem letzten Einkauf. Wie sollte sie nun zerbrochene Teller ersetzen, wenn bald jeder seine eigene Tönung besaß? Leon hatte noch nie darüber nachgedacht, dass es mehr Blau geben könnte als ein dunkles und ein helles. Doch in diesem Festival der Farben schienen Begriffe wie Azur, Indigo oder Ultramarin plötzlich ihre Berechtigung zu erhalten.

Hinter den letzten Marktständen konnte Leon die Reklame eines Hotels erkennen. Neben dem Eingang, vor dem, reglos wie ein Kadaver, ein Hund schlummerte, warb eine Kreidetafel für frisch gefangene Forellen, die man hier auf unterschiedlichste Weise zuzubereiten verstand. Er betrat die Lobby. Die Rezeption war nicht besetzt. Leon betätigte die Klingel auf dem Tresen. Ihr Geräusch war kaum laut genug, um einen Hotelangestellten aus seinem Nachmittagsschläfchen wecken zu können.
»Du musst gegen die Scheibe klopfen.« Leon fuhr herum. Er hätte wetten können, dass sich außer ihm niemand im Raum befand, doch die raue Stimme in seinem Rücken war ganz deutlich zu vernehmen gewesen. Seine Augen tasteten den hinteren Bereich der Lobby ab. Sie lag komplett im Dunkeln.
»An die Scheibe«, ermahnte die Stimme. Leon befolgte den Ratschlag und widmete seine Aufmerksamkeit danach sofort wieder dem unheimlichen Berater. Endlich konnte er die Silhouette eines Mannes erkennen, der, mit weit von sich gestreckten Füßen, in einem Korbstuhl lümmelte. In diesem Moment öffnete sich die Tür hinter der Rezeption. Ein Männchen mit asiatischen Zügen huschte hindurch, baute sich hinter dem Tresen auf und grinste Leon an. Auf dessen Erkundigung hin, ob denn ein Zimmer frei sei, veränderte sich der Blick des Angestellten, als hätte er mit jeder, aber nicht mit dieser Frage gerechnet.
«Horita», entschuldigte sich der Asiate und verschwand auf demselben Weg auf dem er gekommen war. »Das heißt etwa so viel wie ›Augenblick bitte‹. Manchmal dauert der Augenblick aber auch ein Stündchen«, übersetzte der Unbekannte. Leon fuhr abermals herum. Sein fremder Patron war neben ihm so schnell wie ein Schatten am Nachmittag aufgetaucht. Ein Yankee mit buschigen Augenbrauen und Bartstoppeln, die an die Stacheln eines Kaktus erinnerten. Sein Atem roch nach Zwiebeln und Alkohol. »Sie sind wegen des Films hier.« Auch wenn die Betonung am Ende des Satzes wie bei einer Frage nach oben gegangen war, hatte Leon nicht den Eindruck, dass der Fremde daran zweifelte. »In der Regenzeit verirrt sich selten ein Fremder hierher. Doch seit John Huston oben in den Bergen dreht, ist das alles ein bisschen anders. Sind Sie Schauspieler oder so was Ähnliches?«
»Nein, ich bin Reporter.«
Der Amerikaner ließ Leon im Unklaren darüber, was er von dieser Profession hielt. Unterdessen betrat ein weiterer Gast die Lobby. Er trug eine Ledertasche, wie Leon sie manchmal bei seinem Vater gesehen hatte. Diesmal geriet die Tür hinter der Rezeption sofort in Bewegung. Ein schnauzbärtiger Dickwanst mit Augen wie Pingpongbällen stürmte dem Gast entgegen. Er legte ein Tempo vor, das bei seiner Leibesfülle nicht zu erwarten gewesen war. Mit ausgebreiteten Armen lief er dem Gast entgegen, schenkte ihm das strahlendste Lächeln, das Leon je unter einem Schnurrbart gesehen hatte, und zog ihn an seine Brust. Es folgte ein Schwall freundlicher Bemerkungen, in dem im Fünfsekundentakt die Wörter «mi amigo» vorkamen. Dann löste er die Umarmung, um wie wild die rechte Hand des anderen zu schütteln und zeitgleich mit der linken auf dessen Oberarm zu schlagen, als gelte es, den Staub aus seiner Kleidung zu klopfen. Sein Gegenüber schien mit dieser Zeremonie bestens vertraut und tat es ihm gleich. Wie auf Kommando wechselten sie plötzlich den Griff, umfassten gegenseitig die Daumen und schüttelten weiter, um sich kurz darauf erneut zu umarmen. Die Prozedur dauerte bereits eine knappe Minute.
»Sie nennen das abrazo«, erklärte Leons neuer Bekannter. »Wenn sich in Mexiko zwei Männer treffen, demonstrieren sie den anderen gern, was für gute Freunde sie sind. Soll heißen: Seht mal her, gegen uns kommt ihr nicht an. So etwas gibts auch bei Tieren. Schimpansen zum Beispiel ziehen sich gegenseitig an den Hoden.
Leon amüsierte der Vergleich. Inzwischen war er ganz froh, hier einen Landsmann getroffen zu haben. »Sie kennen sich gut aus«, stellte er fest. »Sind Sie schon lange hier?« Der Kaktusbart nickte. »Jedenfalls lange genug, um rauszufinden, dass unsere Nachbarn ein ziemlich sonderbares Völkchen sind.« Dabei zeigte er auf den weit geöffneten Eingang, vor dem es zu regnen begonnen hatte. »Sie lassen zum Beispiel bei Gewitter die Tür offen stehen, damit Jesus eintreten kann.« Sein amüsiertes Lachen ließ auf keine ausgeprägte Religiosität schließen. »Mexikaner sind gläubig. Amerikaner leichtgläubig«, versuchte Leon, einen Witz zu machen. »Mexikaner sind auch Amerikaner«, erwiderte der Fremde. »Sogar Nordamerikaner. Nehmen Sie ihnen das nicht auch noch weg.« «México es otro mundo», versuchte Leon seine Bemerkung zu relativieren. »Mexiko ist eine andere Welt.«
»Oh – Sie sprechen Spanisch!«
»Ein wenig. Ich habe eine Weile in Argentinien gelebt.« Für den Moment waren das genug private Informationen, dachte er sich. Wenn er seinen neuen Bekannten besser kennengelernt hatte, würde er ihm vielleicht noch erzählen, dass seine Eltern mit ihm von Berlin nach Buenos Aires und später nach Los Angeles gezogen waren, da Hitlers Machtergreifung eine Rückkehr nach Deutschland unmöglich gemacht hatte. Leons Vater galt bereits damals als internationale Koryphäe. Also nahm er ein Angebot aus Kalifornien an. Leon war 17 Jahre alt und verliebte sich auf der Stelle in die entspannte, lässige Lebensart seiner neuen Heimat. Vaters stolzes Salär als Chefarzt und das Erbteil aus Großvaters Firma, das man mit viel Glück nach Argentinien und später nach Amerika hatte hinüberretten können, ermöglichten der Familie ein wohlhabendes Leben.
Leons Eltern träumten davon, dass er an der »U.C.L.A.« Medizin studieren würde. Doch er hatte andere Interessen. Die meiste Zeit verbrachte er am Strand, trieb Sport oder saß in den Cafés, Diners oder Eisbuden am Sunset Boulevard. Erst als sein Vater damit drohte, seinen monatlichen Scheck zu sperren, meldete er sich am Journalisten-College an. Schon bald schrieb er Artikel für Zeitungen, meist für die Sportseite, manchmal auch über Partys und über das Leben der Reichen. Polizeireporter war er erst vor einem reichlichen Jahr geworden. Er streckte dem Amerikaner seine Hand entgegen, ohne einen ›abrazo‹ befürchten zu müssen. »Leon Borenstein. Und wie …?«
»Hier fragt man nicht nach dem Namen«, fiel ihm sein Gegenüber ins Wort. »Das gehört sich nicht. Nennen sie mich Frank.« »Okay, Frank.«
»Lust auf ein Spielchen?« Frank deutete auf den Pooltisch im Fond des Raumes. Ein Prachtexemplar aus edlem Mahagoniholz mit kunstvoll geschnitzten Beinen, das in den Antiquitätenläden von Los Angeles ein Vermögen gebracht hätte. Hier stand er vergessen herum und wartete auf bessere Zeiten.
Leon zögerte nicht lange. Der Hotelier hatte ihm mit einem emotionslosen «Momento» signalisiert, dass es noch etwas dauern würde, bis er hier zu einem Zimmer käme. Später würde er es noch zu einem «Momentito» verniedlichen. Billard war eine gute Gelegenheit, um die Zeit totzuschlagen. Vielleicht konnte er seinem auskunftsfreudigen Mitspieler nebenbei noch die eine oder andere Information entlocken. Er klärte Frank darüber auf, dass er ein lausiger Spieler sei, griff sich Queue und Kreide und brachte sich für den ersten Stoß in Position. Frank gab zu, dass er Fremde gern um ein paar Dollar abzockte. Er ließ sie die erste Runde gewinnen und holte sich später den Einsatz doppelt und dreifach zurück. Mit Leon wolle er gar nicht erst um Geld spielen, weil er denke, dass er ein guter Kerl sei. Während der noch darüber nachdachte, welchem Umstand er dieses Urteil zu verdanken habe, versenkte Frank bereits die ersten drei Kugeln. »Schauen Sie sich das gut an, hombre, hier können Sie was lernen«, lobte er sich.

»Davon bin ich überzeugt«, antwortete Leon. Frank erwies sich als wahre Billardmaschine. Er umkreiste den Tisch in atemberaubender Geschwindigkeit und schickte die Bälle mit Nachdruck in die Taschen, fast so, als gelte es, einen Rekord zu brechen. Sein Blick erfasste alle Kugeln gleichzeitig. Selten benötigt er länger als eine Sekunde, um eine Entscheidung zu fällen. Wenn er den richtigen Platz gefunden hatte, ging er leicht in die Knie, bis er mit seinem Ziel auf Augenhöhe war, und schritt ohne langes Zögern zur Exekution. Meist feierte er seine Stöße mit einem schrillen Juchzen oder fischte nach Komplimenten. Nebenbei philosophierte er über Mexiko und prophezeite Leon, dass er hier, wie er sagte, die reizendsten Herrlichkeiten und die größten Dummheiten auf einem Haufen finden könne. »Das Schönste und das Hässlichste, das Tollste und das Erbärmlichste – hier sehen Sie alles. Sie müssen nicht mal lange suchen. Mexiko schmeißt es Ihnen einfach vor die Füße.« Leon dachte gerade über einen besonders schwierigen Ball nach, den er scharf über die rechte Bande spielen musste, als Frank auf den Film zu sprechen kam. »Ich muss schon sagen, ich bin ziemlich gespannt darauf, was Huston da oben so anstellt. Haben Sie das Buch gelesen?« »Sie meinen ›Der Schatz der Sierra Madre‹?« »Klar. Ich denke, deswegen sind Sie doch hier.« »Um ehrlich zu sein … bisher noch nicht. Mir geht es eigentlich nur um Humphrey Bogart«, behauptete Leon, ganz wie Stainer es von ihm verlangte. »Es ist das erste Mal, dass er im Ausland dreht. Darüber will ich schreiben.« Frank zog die Brauen hoch und nickte dann auf unergründliche Weise. Dann legte er den Queue zur Seite und angelte nach einer bauchigen Flasche, dessen Korken er unter einiger Kraftanstrengung entfernte. Zugleich zauberte er aus einer schweren Holztruhe zwei Gläser hervor, die er bis zum Rand füllte. Nachdem er Leon eines davon gereicht hatte, präsentierte er seine Kurzversion der Geschichte. »Drei Taugenichtse kratzen ihre letzten Kröten zusammen, ziehen hoch in die Sierra und finden tatsächlich Gold. Sie bauen ein kleines Bergwerk auf und schuften rund um die Uhr. Immer das große Geld vor Augen. Nichts scheint sie aufzuhalten. Sie überstehen sogar einen Banditenangriff.«
Leon nippte an seinem Getränk, das sich als starker, würziger Cognac entpuppte. Frank hatte unterdessen bereits wieder ein paar Kugeln vom Tisch befördert, dann erzählte er weiter. »Letztlich scheitern die drei, weil sie zu gierig werden und keiner dem anderen vertraut. Am Ende wird der Goldstaub vom Wind zurück in Richtung Sierra geweht. So als würde sich die Natur zurückholen, was ihr gehört. Tolle Geschichte, wie gesagt. Dieser Huston hat einen guten Riecher.«
Franks Detailkenntnis überraschte Leon. »Haben Sie auch etwas über diesen merkwürdigen Typen gehört, der das Buch geschrieben hat? Er heißt Traven oder so ähnlich.«
Für den Bruchteil einer Sekunde schien es, als sei Frank bei der Erwähnung des Autorennamens zusammengezuckt.
»Was soll mit ihm sein?«, antwortete er betont beiläufig. »Niemand weiß genau, wer dahintersteckt«, versuchte Leon das Thema am Leben zu halten. »Es heißt, der Name sei nur ein Pseudonym.« »Man hört ganz unterschiedliche Dinge«, sagte Frank, während er sorgfältig die Spitze seines Spielgeräts mit Kreide versah. »Er soll ein österreichischer Erzherzog sein, der in Europa Dreck am Stecken hat und sich deshalb seit Jahren in Mexiko versteckt hält.« Leon erweiterte in Gedanken die Liste der möglichen Identitäten Travens um eine weitere Position. »Aber wissen Sie was: Es ist mir gleich, wer er ist. Mir reicht das, was er schreibt.« Der Regen hatte inzwischen aufgehört. Frank beendete das Spiel und verabschiedete sich plötzlich mit dem Hinweis, er habe noch wichtige geschäftliche Dinge zu erledigen.

Unterdessen brachte der asiatische Zwerg Leons Zimmerschlüssel und hielt wie selbstverständlich die Hand für ein Trinkgeld auf. Ohne eine kleine «mordida» ging in Mexiko keine Dienstleistung vonstatten, darauf hatte ihn Frank bereits vorbereitet. Leon zahlte und trug sein Gepäck nach oben. Bei seiner Unterkunft handelte es sich um eine kleine Stube mit einem Bett, dessen Matratze nicht viel dicker war als die Baumwolldecke, die sie bedeckte. Dennoch ließ er sich erleichtert fallen und schlief schnell ein.
Gegen Mitternacht wachte er wieder auf. Auf dem Flur war Musik zu hören, so als hätte sich dort ein ganzes Mariachi-Orchester versammelt. Der Nachtportier 32 schnarchte, während sein Radio in voller Lautstärke dröhnte. Draußen flackerte die defekte Neonreklame. Leon verzichtete auf den Versuch, bei diesem Lärm wieder einzuschlafen. Er kramte in seiner Reisetasche, bis er das Buch fand, das Stainer ihm mitgegeben hatte. »Der Schatz der Sierra Madre«, sprach er laut zu sich selbst und begann zu lesen:

Die Bank, auf der Dobbs saß, war keineswegs gut. Die eine Latte war herausgebrochen, und eine zweite Latte bog sich nach unten durch, darum konnte man recht gut das Sitzen auf dieser Bank als Strafe empfinden. Ob er diese Strafe verdient habe oder ob sie ungerecht über ihn verhängt worden sei, wie die Mehrzahl der Strafen, die verhängt werden, darüber dachte Dobbs in diesem Augenblick gerade nicht nach. Die Gedanken, die Dobbs beschäftigten, waren dieselben, die so viele Menschen beschäftigten. Es war die Frage: Wie komme ich zu Geld?

Leseprobe: Kai Wieland – „Ameehrikah”

Memory can change the shape of a room, it can change the color of a car. And memories can be distorted. They´re just an interpretation, they´re not a record, and they´re irrelevant if you have the facts. – Leonard Shelby, Memento

Tief im Schwäbischen Wald, fernab der Zivilisation selbst solch bescheidener Metropolen wie Backnang und Murrhardt, liegt ein kleines Dorf, in dem kaum noch einer wohnt. Dabei ist es ein Dorf mit einer einstmals passablen Infrastruktur. Auch heute noch gibt es eine Bushaltestelle, eine Schule und sogar ein Freibad, allerdings erfüllen sie alle nicht mehr ihren ursprünglichen Zweck, wie so vieles an diesem Ort. Das alte Schulgebäude zum Beispiel hat schon lange keine Schüler mehr gesehen, es wird lediglich dann und wann für eine der seltenen Begräbnisfeiern genutzt. Selten nicht deshalb, weil hier alle so lange leben, sondern ganz einfach deshalb, weil fast alle schon tot sind. Wahrscheinlich handelt es sich um den Ort mit den meisten Suizidfällen pro eintausend Einwohner Deutschlands, wenngleich hier noch niemals eintausend Menschen zur selben Zeit gelebt haben. Deshalb, oder vielleicht auch, weil hinter dem einen oder anderen Suizid ein Fragezeichen steht, taucht das Dorf in keiner derartigen Statistik auf. Kritische Ausschläge werden eliminiert. Und die Kinder? Kinder werden geboren, aber sie verschwinden, und den Alten wird nicht gesagt, wohin.
An einem Tag, der so beginnt wie alle Tage, nämlich mit Nebel und dem Geschrei der Krähen, kommt ein junger Mensch, ein Chronist, in dieses Dorf und erzählt den Alten von dem Buch, das er schreiben möchte. Er muss an vielen Fensterläden rütteln, bis er einen findet, der nicht glaubt, er wolle nur etwas verkaufen.
Wer durch den Rillingsweg oder den Erlenweg geht, dem fallen zwei Dinge auf. Erstens: Es gibt im Dorf nur diese beiden Straßen. Zwei Straßen und zwanzig Häuser, einige davon leerstehend, machen Rillingsbach zu einem guten Ort für einen Briefträger. Und zu einem schwierigen Ort für den Chronisten. Zweitens: Eine der beiden Straßen ist auch noch eine Sackgasse. Und doch braucht es manchmal nicht mehr, um sich zu verlaufen.
Ansonsten sieht man vor allem rissiges Fachwerk, geschlossene Fensterläden, rostiges Ackergerät, hohes Gras, leere Kaugummiautomaten und, wie der Chronist die Liste mit doppelter Unterstreichung beschließt, jede Menge Tristesse. Die Tatsache, dass es in vergangenen Tagen, als die Menschen noch Urlaub in der Region machten, auch ein Hotel gab, macht den Chronisten neugierig. Was könnte in einer Broschüre für das Naherholungsgebiet Rillingsbach gestanden, womit könnte es geworben haben? Was auch immer es war, aus dem Dreisternehotel wurde bald ein Zweisternehotel, dann ein Restaurant, dann ein Vereinsheim für den örtlichen Kegelclub und schließlich, und so ist es bis heute, eine Kneipe.
Man kann nicht behaupten, dass sich Martha, die alte Boizerin, überarbeiten muss. Wer sich einmal in der Gegend befindet, obwohl sich natürlich die Frage stellt, was außer einem melancholischen Verlangen nach Einsamkeit einen Ortsfremden dorthin verschlagen könnte, der sollte ihr unbedingt einen Besuch abstatten, bevor es zu spät ist. Nicht mehr viele Orte überdauern lange genug, um sich Attribute wie „rustikaler Charme“ oder „uriges Ambiente“ zu verdienen – redlich zu verdienen – aber Marthas Kneipe, der Schippen, gehört dazu. Eine kleine, aber treue Stammkundschaft trägt daran einen maßgeblichen Anteil.
Der Chronist schätzt Menschen, die Schilder um den Hals tragen. Alfred aus dem Erdgeschoss, 83 Jahre alt und trotzdem nie gelernt, den Mund zu halten. Lektionen gab es genug. Hilde, die Wilde. Hilde, die Junge. Frieder, der dem Vater so gleicht. Jeder könnte hier etwas über den anderen sagen, und tut es auch, an diesem Ort, an dem jeder jeden kennt, niemand kommt und keiner jemals geht. Und dann fragt der Chronist, wie es früher war. Misstrauen, Unverständnis, Spott. Sie erzählen schon, aber dieses und jenes, hier etwas dazu, da etwas weg. Geliefert wie bestellt. Die Alten sind vorsichtig geworden.
Der Schippen wurde in den Zwanzigerjahren von Marthas Großvater auf drei Stockwerken errichtet und verfügte anfangs über einen Speisesaal, einen Schankraum und acht identisch ausgestattete Zimmer mit Toilettentisch und Aussicht auf das unstete Wetter. Im Erdgeschoss gab es einen Aufenthaltsraum mit einer kleinen Bücherei, gemütlichen Sitzmöbeln und einem Schallplattenspieler inklusive einer Auswahl an orchestraler Musik. In den Dreißigern feierte das Hotel seine Glanzzeit und erwarb sich in ganz Süddeutschland einen formidablen Ruf, ehe der Krieg den Höhenflug jäh beendete.
Etwas ist natürlich zu berücksichtigen, wenn sich der Chronist an dem hochgeschossenen, kunstvoll gestalteten Hotelgebäude verlustiert. Wenn er das kräftige Schwarz des Fachwerks hervorhebt oder die moderne Einrichtung, auch das junge, frische Publikum und überhaupt alles, was daran ist und vielleicht einmal daran war.
Wenn er die munter flirrenden Stimmen im Gastraum einfängt, sie sorgfältig protokolliert und ausbreitet, dann tut er es stets so, wie ein Blinder ein Bild malt. Jemand beschreibt es ihm, er hört bloße Begriffe, roh, unvollkommen und ohne Zusammenhang. Er sammelt sie zunächst auf seiner Palette, reichert sie dort an mit seinen Erfahrungen, bis sie den Farbton treffen, den seine Fantasie vorgibt, und dann malt er das Bild, so schön er es nur kann. Ein Bild, wohlgemerkt, keine Fotografie.
Heute, knapp sechs Jahrzehnte später, summt bloß noch die Kneipe im Obergeschoss, während die beiden Wohnungen in den Etagen darunter im besten Falle für ein wenig Wäsche auf der Leine im Garten sorgen. Im ersten Stock, in vier exakt gleich großen Zimmern mit einem flauschigen roten Teppichbodenflur dazwischen, wohnt Martha. Sie residiert darin wie ein Gast und ist zugleich ihr eigenes Zimmermädchen. Der Chronist verspürt das dringende Bedürfnis, den Zustand des Badezimmers zu begutachten. Im Erdgeschoss lebt Alfred, einer von Marthas treuesten Stammgästen, und lässt ungern Besuch herein.
Im verwinkelten Gastraum unter der Dachschräge stehen zwei kleine, wackelige Sperrholztische vor jeweils einer modrig riechenden Eckbank. Die gesamte Mitte des Raumes nimmt ein großer, runder Tisch aus dunkler Eiche ein. Acht Personen haben an diesem Platz, es ist ein Stammtisch, ideal zum Gaigeln und, den Kratzern und Kerben nach zu urteilen, auch für andere Formen des Glücksspiels. Den Tresen säumen dreibeinige Barhocker von unterschiedlicher Machart und aus unterschiedlichen Jahrzehnten. Eine Chronik aus Holz.
Voll wird es hier nur nach Beerdigungen und während der Fußballweltmeisterschaft. In der restlichen Zeit fangen vergilbte Fotografien an den Wänden den Staub, und ein zerrupftes, rostrotes Fell unklaren Ursprungs erinnert an ein wilderes Schwabenland. Über dem Tresen schließlich hängt wie die Katarakt eine ausgebleichte amerikanische Flagge, doch ohne Wind wirkt sie beinahe scheu.
Bei aller Schilderung des Verfalls wäre es allerdings falsch anzunehmen, Rillingsbach sei zu irgendeinem Zeitpunkt ein blühendes und anziehendes Zentrum des lokalen gesellschaftlichen Lebens gewesen. Schon immer ein abgelegenes Provinznest, kamen von den wenigen Touristen abgesehen – die sich ohnehin meist außerhalb des Dorfes aufhielten, im Rillingsbacher Weiher badeten oder die endlosen Waldwege entlang wanderten – schon damals kaum Leute in den Ort, die nicht von hier waren. Die Behauptung, das Dorf sei nach und nach verfallen, lässt sich zwar nicht ganz von der Hand weisen. Ebenso berechtigt wäre aber der Schluss, es habe sich lediglich seinen Charakter bewahrt. Mit Martha kann man diese Frage kaum diskutieren, schließlich ist sie immer hier gewesen. Sie würde die Veränderungen nur dann bemerken, wenn sie auf die entsetzlich dumme Idee käme, heute und damals zu vergleichen. Sie wuchs als jüngstes Kind gemeinsam mit ihren Brüdern Heinz und Erhardt in Rillingsbach auf und hat ihr Elternhaus, den Schippen, nie verlassen. Einige im Dorf behaupten sogar, sie habe sich in ihrem ganzen Leben nur ein einziges Mal außerhalb der Markung Rillingsbach aufgehalten, und zwar am Tage ihrer Geburt im Murrhardter Krankenhaus. Sie hat miterlebt, wie aus dem Dreisternehotel ein Zweisternehotel wurde, dann ein Restaurant und ein Vereinsheim. Den letzten, ohnehin nicht mehr allzu großen Schritt hin zu einer Kneipe hat sie selbst vollzogen. Wer sein Leben lang nur den wirtschaftlichen Abstieg kennt und es gewohnt ist, in regelmäßigen Abständen die Ansprüche herunterzuschrauben, der verliert naturgemäß das Vertrauen in den eigenen Riecher und wählt den Weg des geringsten Widerstands. Dieser Weg schrieb Martha vor, unverheiratet und kinderlos zu bleiben und überhaupt Veränderungen nur im Rahmen des absolut Notwendigen zuzulassen. Infolgedessen weiß Martha über sich selbst zunächst nicht viel mehr zu sagen, als dass sie ihr Leben lang Getränke ausschenkte und einer Generation von Rillingsbachern nach der anderen an den Tisch trug. Ob sie dabei wie zu Anfang im Speisesaal eines Dreisternehotels stand oder wie heute in einer Kneipe, scheint auf den ersten Blick höchstens dokumentarische Bedeutung zu haben. Auf den zweiten aber, sofern man gewillt ist, diesen Blick zu tun, vielleicht auch eine Spur von Symbolik, und zwar für den fatalen Lauf der Dinge im Dorf. Dass Martha nicht viel über sich zu sagen hat, bedeutet nämlich keineswegs, dass es nichts zu erzählen gäbe.
Mit einer solchen Erzählung beginnt man normalerweise ganz am Anfang. In diesem Fall ist das kaum möglich, denn woran erkennt man den Anfang einer Erinnerung, die einem gar nicht gehört?
Schon die Gründung Rillingsbachs fällt ins Dunkel der Geschichte. Als gesichert gilt lediglich, dass die Ortschaft nach dem durchfließenden, schmalen Bächlein benannt wurde und nicht etwa umgekehrt. Das muss notwendigerweise so gewesen sein, da der Name Rillingsbach dem nahen Rillingsweiher entliehen wurde, in welchen dieser mündet. Namensgebend für den Weiher wiederum war, offenbar von Linguisten zweifelsfrei nachgewiesen, der Rietling. Der Strom entspringt im Süden, in der Nähe von Schorndorf, und passiert die Region im wenige Kilometer entfernt gelegenen Ort Rietstetten, wo er im Frühjahr häufig Überschwemmungen verursacht. Kurz und gut, die Namensgebung muss vom Rietling, dem großen Strom, über den Rillingsweiher und den Rillingsbach hin zum Namen des Dorfes erfolgt sein.
Das Interesse der Rillingsbacher, und nebenbei gesagt auch das des Chronisten, an derlei Fachgeplänkel hält sich in Grenzen. Alfred oder Hilde kann man damit nicht in Staunen versetzen oder einen Willi aus den Rippen leiern. Außerdem wäre, wenn man sich schon damit beschäftigte, da ja noch immer die Frage nach dem Namensursprung des Rietlings, und wo soll das enden?
Das kollektive Gedächtnis des Dorfes umfasst aufgrund des Mangels an einem Archiv und der Abwesenheit eines ambitionierten, an Fakten orientierten Chronisten nur etwa drei Generationen, alles davor ist Fabel und Sage. Dabei stellt sich die berechtige Frage, wie lückenlos eine solche Erinnerung überhaupt ist, und wie geeignet als Grundlage für die Chronik eines Dorfes. Auf der anderen Seite: Wie lückenlos ist ein Archiv voller Ordner und Blätter, und sei es noch so sorgfältig geführt? Erinnert sich ein Archiv an die bunten Tage im Herbst, als Alfreds neuer Alfa Romeo erstmals in den Erlenweg einbog und die gefallenen Blätter durch die feuchte, schwere Luft wirbelte? Hat ein Archiv noch den kreischenden Gesang der Sirenen im Ohr, und den grauenhaften Lärm, als eine Bombe der Royal Air Force krachend in die Scheune der Familie Winkler einschlug? Kann ein Stammbuch, eine Urkunde oder selbst eine Fotografie diese Dinge begreiflich machen? Kann ein Archiv die Augen schließen und sich noch einmal vorstellen, wie Erhard Tränen über die Wangen kullerten vor Lachen, als Heinz beim Eselreiten in die Büsche galoppierte?
Das jedenfalls sind die Dinge, an die man sich im Schippen erinnert, wenn einer danach fragt, wie es hier früher gewesen ist. Und ob der Esel nun wirklich haselnussbraun war oder doch eher grau, ob Erhard wirklich sechsmal in die Brombeersträucher fiel oder bloß zweimal, was macht es schon? Der Chronist interessiert sich nicht für Details, er sucht Tendenzen und Muster. Er fragt vor allem nach den unschönen Geschichten, den schmutzigen, denen mit Schuss. Da werden sie im Schippen misstrauisch, still und wortkarg, und packen die bunten Geschichten ganz schnell wieder ein. Die Bewohner von Rillingsbach waren es immer selbst, die einander das Leben füllten. Für die meisten ist das Dorf alles, was sie je gekannt haben, und wenn man Martha fragt, so waren sie alle gute Menschen, egal, was passiert ist. Das heißt allerdings nicht, dass man die anderen Geschichten nicht zu hören bekommt. Es heißt nur, dass man anders nach ihnen fragen muss.

Kapitel 1

Das vorige Jahr war immer besser. – Schwäbisches Sprichwort

„Eine Erinnerung“, so liest es der Chronist auf Wikipedia, „ist das mentale Wiedererleben früherer Erlebnisse und Erfahrungen und entspringt dem episodischen Gedächtnis.“ Der kanadische Psychologe Endel Tulving fasste es folgendermaßen zusammen: „Das episodische Gedächtnis ermöglicht also den Abruf vergangener Erfahrungen, die in einer bestimmten Situation zu einem bestimmten Zeitpunkt gebildet wurden. Es ist zur mentalen Zeitreise sowohl in die Vergangenheit als auch in die Zukunft fähig.“
Eine Zeitreise sowohl in die Vergangenheit als auch in die Zukunft.
Ein neuer Versuch. Wo beginnt man die Geschichte einer Dorferinnerung, wenn man kein Teil derselben ist? Vielleicht bei der Brücke, bei den Menschen, die den Zugang gewähren. Zum Beispiel bei Martha. Heute dünnes, graues Haar, aufgesteckt zu einem Dutt, trotz ihres Alters noch gute Augen, jeden Tag ein Kreuzworträtsel, ein aufrechter Gang, da rutscht nichts vom Tablett, eine feine, aber immer etwas zu leise Stimme, insgesamt dreimal in Lebensgefahr. Das erste Mal am Tag ihrer Geburt, als sie ihrer Mutter, der Anna, so große Mühe bereitete. Bald darauf musste Anna dann auch gehen, so viel Kraft hatte dieses quere Kind sie gekostet. Und da fällt der Groschen, warum Martha nicht auch noch einen Ehemann in ihrem Leben brauchte, wo es doch schon drei Männer gab, die sie ganz allein versorgen musste. Das zweite Mal an jenem Tag, an dem Teile der Winklerscheune mit Getöse durch die Winternacht stieben und auf das Dorf niederregneten. Nicht Hunde und Katzen, aber Holz und Blut und Rindfleisch und Bomben hagelte es. Die Lebensgefahr hatte Martha aber nicht exklusiv, alle zitterten damals gleichermaßen in ihren Kellern, während sie den Schlägen auf den Dächern lauschten.
Beim dritten Mal ging es um Erwin. Um den kommt man nicht herum, wenn man im Schippen über die Vergangenheit spricht. Je nachdem, wen man fragt, war der ein Unmensch oder ein Psychopath. In beiden Fällen hätte man ihn wohl nicht unbedingt mit einem Kind allein lassen sollen. Wenn er möglicherweise schon vor dem Krieg ein wenig eigen war und zum Jähzorn neigte, Charakterzüge, die er allerdings mit vielen Rillingsbachern teilte, so kam er vollends durchgeknallt aus der Kriegsgefangenschaft zurück. Was genau er in den Jahren zuvor erlebt hatte, wusste man nicht, schon weil keiner danach fragte. Anders als sein besonnener Bruder Hans hatte Erwin auch niemals Briefe geschrieben, sodass selbst seine Eltern nicht wussten, wo er kämpfte und ob er überhaupt noch lebte.
Andererseits ist die Idee, der Krieg könnte ihn zu einem unberechenbaren Gewaltmenschen gemacht haben, nur eine Theorie. Es ist durchaus möglich, dass diese Entwicklung von Anfang an unvermeidlich gewesen war, ganz gleich, unter welchen Umständen. Er hatte etwas in seinem Kopf, dass da nicht hingehörte, aber nach und nach aufging und sich an die Oberfläche arbeitete wie ein Kartoffeltrieb, der zum Licht strebt und, sofern welches da ist, es auch findet. Schon seit der Kindheit war er seinen Mitmenschen nicht geheuer, das galt sogar für Mutter und Vater. Er tat Dinge, für die an einem Ort wie Rillingsbach kein Platz war. Die Freude seiner Eltern, als endlich einer der beiden Söhne aus dem Krieg zurückkehrte, war verhalten. Es war kein Geheimnis, dass sie lieber Hans in die Arme geschlossen hätten, und wenn sie nicht schon am Tag von Erwins Rückkehr so dachten, dann war es einige Tage später mit Sicherheit der Fall.
Während der ersten Wochen in der Heimat machte Erwin den Menschen so viel Ärger wie ein verregneter Sommer. Er stahl Hühner und Werkzeuge, ersäufte Hundewelpen und zündelte, bis es den Leuten irgendwann mulmig wurde, zu Bett zu gehen. Jemand hielt es für eine gute Idee, ihn zum Kopfschlächter auszubilden. Mit diesem Beruf, den mehr oder weniger die Hälfte der männlichen Dorfbewohner ausübte, hoffte man ihm eine Arbeit gegeben zu haben, bei der er seine Verrücktheiten ausleben und die restliche Zeit ein wenigstens halbwegs erträgliches Gemeindemitglied sein konnte. Diese Rechnung ging nur teilweise auf.
Unter all den Kopfschlächtern war er nämlich der einzige, der seine Messer mit in den Schippen brachte und zu den unmöglichsten Gelegenheiten vorzeigte. Er führte sie so selbstverständlich mit sich, als seien es angeborene Gliedmaßen. Während er in der einen Sekunde noch vollkommen ruhig und regungslos am Stammtisch saß und Karten spielte, konnte er schon im nächsten Moment seinen Ausbeiner hervorziehen und ihn vor Martha in den Tisch rammen, wenn sie ihm sein Daumenschorle hinstellte, ohne dabei ihren Daumen wie von ihm gefordert ins Glas zu tunken. Eine filmreife Vorstellung war auch, wie Erwin am Sonntagmorgen vor der Kirche saß und die Messer wetzte, dabei leise ein Kinderliedchen summte und Pfarrer Holzknecht sein breitestes Grinsen schenkte. Eine Zeit lang rätselten die Leute, wen er damit wohl verärgern oder herausfordern wollte. Aber zuletzt fand man sich damit ab, dass es eben diese Art von Wahnsinn war, die Erwin ausmachte, und in gewisser Weise musste man wohl auch dafür Gott dankbar sein. Von innen gesehen hat Erwin die Kirche allerdings nie.
Später, als sie es sich trauen konnte, behauptete seine Gattin Maria, dass er vor dem Schlafengehen sogar ein Messer unter die Matratze geschoben habe. Und manchmal, wenn sie nachts aufwachte, konnte sie dann hören, wie er an den Bettpfosten schnitzte.
„Erwin, was hast du denn da am Bettpfosten zu schaffen?“, fragte sie ihn dann ängstlich, woraufhin er meistens nicht antwortete. Manchmal aber antwortete er doch und murmelte etwas wie: „Was fragst du so blöd. So blöd haben sie auch mal den Heinrich gefragt. Frag nur weiter so blöd, wie die Anna und die Katharina, so blöd haben die auch gefragt“, oder: „Ich hab am Sonntag wieder den Teufel gesehen, der ist hier im Dorf unterwegs, sitzt vor der Kirche und lacht wie ein verrücktes Rind. Kannst den ja mal fragen nach seinem Werk, vielleicht weiß der dir Antwort, wenn du es dann noch wissen willst.“ Wenn er solche Dinge sagte, ließ man ihn besser weiter schnitzen.
Maria hatte er aus Cornwall mitgebracht. Sie war die Tochter eines emigrierten deutschen Arztes und einer Engländerin, und warum sie sich ausgerechnet auf Erwin eingelassen hatte, dieses schöne, grünäugige Kind, ist Stoff für Legenden. Vielleicht war sie einfach nur eine Art Beute. Seine persönliche Garantie dafür, dass dieser Krieg nicht ganz vergebens gewesen war, obwohl ihn die Politik und das Leben im Grunde gar nicht besonders zu beschäftigen schien. Nach allem, was man wusste, kannte er kein Bedauern.
Erwins Eltern starben beide im Dezember 1946, nur wenige Monate nach seiner Heimkehr. Zu Weihnachten in jenem Jahr besaßen Maria und er plötzlich einen eigenen Hof, acht Rinder, einige Schweine, einen Stall Hühner, vierzig Ar Ackerland und einen viertel Hektar mit Streuobstwiesen, sowie jede Menge Platz, um eine glückliche Familie zu gründen. Das sind Hildes Worte.
Eine glückliche Familie zu gründen.
Drei Punkte im Raum. Poster, Martha, Regen am Fenster. Der Chronist verzichtet darauf, es zu dokumentieren, man würde es für einen Scherz halten.
Es zwickt die Rillingsbacher, man kann es spüren. Es zwickt sie, wenn sie versuchen zu verstehen, wie ein durch und durch schlechter Mensch wie Erwin so unverdient viel Glück haben und doch so undankbar wenig daraus machen konnte. Hätte man Erwin gefragt, ob diese Dinge für ihn Glück bedeuteten, wäre die Antwort möglicherweise eine andere gewesen. Des einen Glück, des andern Strick. Aber daran hatten sich die Menschen gewöhnt. Er sagte nur sehr selten etwas, mit dem man vorbehaltlos einverstanden sein konnte, ohne sich wenigstens im Stillen seinen Teil dazu zu denken. Außer Maria hielt es keiner lange bei ihm aus, und selbst sie schien immer ein bisschen auf der Flucht zu sein.
Sogar Männer, die etwas darstellten im Dorf, Männer wie Gottlob und Wilhelm, wahrten vorsichtshalber Abstand. Ein einziges Mal geriet Wilhelm mit ihm aneinander, genau hier, im Schankraum des Schippen. Jeder erinnert sich, selbst jene, die gar nicht dabei waren. Damals saßen sie am Tresen, so wie heute der Chronist, nur die Stühle waren weniger fleckig und keine Radiomusik zu hören. Erwin hockte dort, wo Hilde nun sitzt, und Wilhelm dort, wo Frieder sitzt. Ein Bild, keine Fotografie. Hotelgäste waren, wie so oft in jenen Tagen, keine zugegen, nur die Kopfschlächter tranken in dieser Nacht, und so kam es dazu, dass Wilhelm sang. Gottlob hatte ihn nämlich einmal darum gebeten, das bleiben zu lassen, solange Gäste da waren. Jetzt aber stimmte Wilhelm, der es gewohnt war, dass man ihn hörte, mit feierlicher Stimme an: „Ob´s stürmt oder schneit, ob die Sonne uns lacht.“ Schnell war der Chor auf fünf, sechs, sieben Männerstimmen angeschwollen, da schrie Erwin, der etwas abseits am anderen Ende der Theke saß, lauter als aller Sänger Gesang zusammen:
„Linzner!“
Da war aber Ruhe. Wilhelm, groß und mit Bauch, schätzte es gar nicht, wenn man ihn unterbrach, noch dazu so unziemlich beim kameradschaftlichen Gesang. Lange hatte das keiner gewagt. Aber Erwin war selbst Soldat, deshalb wollte Wilhelm ausnahmsweise fünf gerade sein lassen. Nur, dass Erwin noch gar nicht fertig war.
„Wo hat´s denn gestürmt, Linzner? Und geschneit? In der Scheune, auf dem Heuboden? Oder in der Sonne-Post unten in Murrhardt, beim Schorle saufen und Kameraden bespitzeln, hat es da vielleicht geschneit?“
Und plötzlich war die Ruhe wieder davon, gewissermaßen von der Unruhe vertrieben. Nervöse Blicke nach links und rechts, keiner hatte Lust auf das, was nun zwangsläufig folgen musste. Niemand mag Unruhestifter, am wenigsten dann, wenn es gerade gemütlich zugeht. Um der Ruhe Willen kann man doch auch einmal zurückstecken, kann jemanden mal ein bisschen Unsinn quasseln lassen, es geht doch vorbei und am Ende bleibt alles beim Alten. Nicht in fünfzehn Jahren hatte jemand so etwas zu Wilhelm gesagt, nicht immer nur um des Friedens willen, aber unter anderem. Erwin brauchte man mit so einem Argument freilich gar nicht erst zu kommen, denn Ruhe war für den kein Wert. Wilhelm war zunächst sprachlos, sammelte sich dann aber und setzte zur Predigt an.
„Hör mir jetzt mal gut zu, Junge. Du warst an der Front, schön und gut. Aber vergiss mal nicht, die SS…“ Da schlug Erwin mit der Faust auf den Tresen, das hundert Gläser schwankten und wackelten, und das Klirren ließ Gottlob Böses ahnen. Er sah schicksalsergeben nach oben zur Vitrine, in Erwartung eines Scherbenregens. Aber das war der Teil des Abends, an dem sie alle Glück hatten.
„Willst du mir von der Schissstaffel erzählen, Linzner? Willst du mir was vom Krieg erzählen? Willst mir hier ein Liedchen trällern? Der Gottlob darf mir was erzählen, der war wenigstens an der Front. Aber was hat dein Verein denn gemacht? Hinter der Ostfront Dörfer angezündet und Weiber erschossen, im besten Fall. Dir muss doch zuerst mal einer beibringen, was Krieg bedeutet. Ich kann dir erklären, was das ist. Ich kann´s dir auch zeigen, gleich hier, gleich draußen vor der Tür. Komm nur mit, dann schlag ich deine Zähne einzeln in den Maibaum, gleich unter die Ami-Flagge. Schöne Helden seid ihr gewesen, drei Wochen hat sie gehängt, bis der Gottlob sie runter genommen hat. Und aus welchem Grund? Komm du mir nochmal mit Schnee und Sturm, dann schneid ich dir den Meckel rund, Herr Oberscharführer.“ So war Erwin, explosiv wie ein Minenfeld und ebenso unberechenbar. Wilhelm jedenfalls sang danach keine Lieder mehr im Schippen, und Gottlob räumte die Gläser in eine Vitrine in Bodennähe.
Erwins Anwesenheit war in der Regel mit Ärger verbunden. Was zum Teufel tat Martha also allein mit ihm im Schlachtraum? Sie weiß es nicht mehr und kann es sich auch nicht erklären. Sie mochte ihn eigentlich nicht besonders, wie sie mit einem scheuen Seitenblick auf Hilde zugibt, vor allem wegen der armen Hundewelpen. Vielleicht lag es daran, dass es so ein heißer Tag war, denn im Schlachtraum war es kühl. Sie lag an solchen Tagen gerne auf den kalten, weißen Kacheln und blätterte durch ein Bilderbuch oder spielte mit der Puppe, die ihr Anna hinterlassen hatte.
An diesem Tag auch? Falls ja, ist die Erinnerung daran verblasst gegenüber dem, was danach geschah. Immer, wenn sie sich zu erinnern versucht, ist Erwin schon da. Hinter ihr, über sie gebeugt, sein warmer Atem in ihrem Nacken, stoßweise und schnaubend wie der eines Stiers. Wie er sie anstarrte, als sie sich umdrehte. Er war kein hässlicher Mann. Bei dieser Bemerkung gluckst Hilde leise auf. Unbeirrt fährt Martha fort. Nein, überhaupt kein hässlicher Mann. Groß, stark, dunkles Haar und schwarze Augen. Narben an den Handgelenken. Als er aber von ihr verlangte, ihr Kleidchen auszuziehen, weigerte sie sich. Nicht aus Empörung oder Entsetzen, sondern einfach, weil sie keine Lust dazu hatte. Erwin stand vor ihr wie ein unbezwingbarer Berg, ein Berg mit braunen Hosenträgern, die ihm links und rechts von der Hüfte baumelten. Mit seiner riesigen Pranke, wieder bemerkte sie die Narben, strich er ihr über das Haar, hob einen der Zöpfe an und betrachtete ihn nachdenklich. Mit Nachdruck und in seiner ihm eigenen Art zu sprechen, schleppend, sich beinahe verschluckend, wiederholte er seine Aufforderung. Er kam näher, roch nach Arbeit, roch nach dem Blut unschuldiger Tiere, nach nassen Hundewelpen. Sie wich zurück, spürte aber sogleich die kalten Kacheln an ihren nackten Waden. Erwin streckte wieder die Hand aus, wieder zu ihren Haaren, wieder zu ihren Zöpfen. Martha zuckte nach links, zuckte nach rechts, zuckte nach links, und die langen Flechtzöpfe flogen ihr dabei um das Köpfchen. Da packte Erwin ebenjenes mit einer ruckartigen Bewegung, als fange er eine Stubenfliege, und schloss es zwischen seine rauen Händen ein wie in einen Schraubstock. Vor Wut oder Anstrengung zitternd, begann er langsam zuzudrücken. Ein unvorstellbarer Druck verdrängte alle Gedanken aus Marthas Kopf. Beinahe konnte sie hören, wie ihre Wangenknochen ächzten, sie klirrten wie vibrierendes Glas, und Martha schaffte es vor lauter Panik nicht, ihre Augen zu schließen. Wild wie ein Eber sah Erwin aus und presste geifernd und spuckend abgehackte Worte hervor:
„I…schneid dir…d´Nas…und…d´Ohra…vom Schädel…und schmeiß dich in…dr Weiher…wie an Welp!“
Und in diesem Moment, mitten hinein in die zitternde Stille ihrer entsetzten Gedankenlosigkeit, rief jemand laut und scharf Erwins Namen. Er verhallte dumpf in ihrem Schädel, der im Bersten begriffen schien, und sie erkannte vage die Stimme ihres Vaters. Augenblicklich lockerte Erwin seinen Griff, ließ Martha aber nicht los. Noch immer im Wahn, starrte er sie mit seinen weit aufgerissenen Augen an, während sich seine verzerrte Fratze langsam entspannte und einem dümmlichen Grinsen wich. Endlich gab er ihren Kopf frei und drehte sich zu Gottlob um, den Martha nun in der Tür stehen sah.
„Gottlob“, meinte er dann ruhig und richtete sich auf, „deine Martha, auf die würde ich besser aufpassen. So schöne, lange Zöpfe, wie die hat. Die sieht ja aus wie die Anna.“ Der runde, haarlose Kopf des Vaters glühte rot wie ein Glasklumpen an der Pfeife. Langsam trat er aus der Tür in den Schlachtraum und machte so den Weg frei für den großen, steifen Kopfschlächter. Der verstand und stapfte langsam über die blütenweißen Kacheln hinüber zur Tür. Vor dem Vater baute er sich auf, das breite Kreuz durchgedrückt, und richtete sich die Hosenträger. Er hätte dem kleinen, zehn Jahre älteren Gottlob auf den Kopf spucken oder noch ganz andere Sachen mit ihm machen können, das wussten sie alle beide. Trotzdem giftete Gottlob drauf los, zischte Worte, die Martha nicht verstand. Erwin ließ es regungslos über sich ergehen und sah stumm auf den Boden. Als Gottlob endlich fertig war, verharrten sie einen Moment lang schweigend und starrten einander an. Da lachte Erwin laut auf, klopfte dem Kleinen auf die Schulter und verschwand nach oben in den Gastraum, auf einen starken Klaren.
Gottlob atmete tief durch. Das weinende Töchterchen ratlos anblickend, überlegte er, was nun zu tun war. Zuerst einmal hob er die Puppe auf, die mit dem Gesicht nach unten auf dem kalten Boden des Schlachtraums lag. Dann nahm er das zitternde Kind auf den Arm, reichte ihr das Stoffspielzeug und versuchte sich als Tröster. Doch was sollte er ihr sagen? Etwa, dass Erwin ihr nie wieder weh tun würde? Das konnte er wohl kaum versprechen.
Spät am Abend, der Sturm rüttelte noch immer an den Fensterläden, fand Martha ihren Vater in der Werkstatt, wo er seine Flinte reinigte, wie er es von Zeit zu Zeit tat. Mit einer Schürze bekleidet stand er im Licht der Petroleumlampe an seiner Werkbank, das Laufbündel vorsichtig in den Schraubstock gespannt, und führte die kleine Nylonbürste ein. Still sah sie ihm zu, war gerührt von seinen liebevollen Berührungen mit dem kalten Metall, von der Sorgfalt, mit der er das Öl und das Fett abwischte. Überhaupt, so fand sie, ist ein Gewehr ein sehr aufregender Gegenstand. Ob er sie wohl einmal damit schießen ließe? Natürlich nicht auf ein Tier, sondern einfach nur so, zum Vergnügen.
„Warum reinigst du schon wieder die Büchse?“, fragte sie schließlich. „Das hast du doch erst gestern getan. Hast du heute etwas geschossen?“ Mit prüfendem Blick den gefetteten Vorderschaft einsetzend, antwortete er, ohne sie anzusehen: „Ja, ich musste einen Fuchs erschießen, er hing in der Falle. Der Lauf war gebrochen.“
Martha nickte verständnisvoll, obwohl sie solche Dinge erschütterten. Ihr Vater sprach davon, als sei es ganz normal. Als habe er dem Fuchs damit einen Gefallen getan. Eigentlich wollte sie ihn aber etwas anderes fragen, den ganzen Tag schon. Es ging um eine Sache, die Erwin gesagt hatte und die ihr seitdem nicht aus dem Kopf ging. Und zwar um Anna. Erwin hatte nämlich gemeint, dass sie, Martha, genauso aussehe wie die Anna. Ob das wohl stimmte? Zuvor hatte sie lange gezögert, der Vater sprach nicht gern über Anna, wurde dann erst wortkarg und schließlich ekelhaft. „Alle Kinder sehen aus wie ihre Eltern“, meinte er nur. Martha wusste, das stimmte nicht, wollte aber nicht widersprechen. „Also sehe ich so aus wie Mama?“ Da legte Gottlob den fettigen Lumpen zur Seite und sah sie über seine Brillengläser hinweg an. Er sah ulkig aus mit den Schweißperlen auf der Glatze und den Ölflecken im Gesicht. „Deine Mutter hatte blaue Augen und strohblondes Haar. Du hast meine braunen Augen, und dein Haar ist dunkelblond, fast braun.“
Martha verstand, was das bedeutete. Erwin hatte nur geredet. Sie alle redeten nur, hier im Dorf, immer und immerzu. Sagten Dinge zu sich, die nicht stimmten, nur um einander weh zu tun. Sie würde so etwas nie machen, das schwor sie sich. Niemals.
„Dein Näschen allerdings“, fuhr der Vater mit einem ungewohnten schelmischen Grinsen fort, während er sie an der Nase packte, „dein Näschen und dein Mund, und überhaupt dein Gesicht, und auch die glänzenden, langen Zöpfchen. Da denke ich manchmal, ich sehe die Anna. So schön wie sie bist du allemal. Und wenn du groß bist und nach Murrhardt ins Krankenhaus fährst, um ein Kindchen zu bekommen, dann werden die Ärzte denken: „Na, gibt es denn das, schon wieder die Anna. Die Anna mit ihrem Vierten!“
Es war gut gemeint, aber nicht sehr geschickt. Von Anna und dem Kinderkriegen zu sprechen, das beschwor keine schönen Bilder. Bis dahin hatte Martha sich nie Gedanken darüber gemacht, dass auch sie selbst eines Tages auf der Krankenbahre liegen, Schmerzen haben und vielleicht sterben musste. Nun allerdings kroch eine diffuse Angst davor in ihre jungen Glieder. Sie gab Gottlob einen flüchtigen Gutenachtkuss, stieg eilig die Treppen hinauf in ihr Zimmer und legte sich ins Bett zu ihrer Puppe, wo sie an diesem Abend noch lange wach lag und ungewohnten Gedanken nachhing, die um Anna, Babys, Gewehre, Füchse mit gebrochenem Lauf und Kopfschlächter kreisten. Auch Gottlob konnte noch nicht schlafen. Nachdem er die Büchse zusammengesetzt und sich gewaschen hatte, stellte er sich in die Küche, sah aus dem Fenster in die unnatürlich gefräßige, horizontlose Finsternis einer Nacht, die auf einen durchlittenen Tag folgt, und begann zu trinken.
Der nächste Morgen brachte Schneeregen, eisige Kälte und einen Schrei. Dieser entsprang einem kleinen Schuppen abseits des Dorfes, von wo er sich einen schlammigen, glitschigen Pfad hinaus aus dem Dunkel des Hochwaldes suchte und auch fand. Dann erklimmte er den grasigen Hang hinauf zu der Sackgasse im Erlenweg, dem er folgte, bis er schließlich im Rillingsweg angelangte, wo er lange und klirrend verharrte, als sei er eingefroren. Dem Schrei auf dem Fuße folgte Maria, weitere Schreie ausstoßend, die sich mit dem Urschrei vermengten. „Die späteren Schreie klangen kraftlos,“ ergänzt Alfred. „Blödsinn“, erwidert Hilde.
Natürlich war es einer dieser Tage, über die später jeder etwas zu sagen weiß, an denen jeder ein Chronist ist, was dem Experten seine Aufgabe empfindlich erschwert. Jeder erinnert sich noch genau, wo er war und was er getan hat, und jeder hat ein persönliches Detail zu der umfassenden Erhabenheit der Tragödie beizusteuern. Über Rillingsbach lag eine flirrende Atmosphäre, welche die Menschen zur Teilnahme am Drama dieses Tages zwang, und man hörte es knistern.
Auf dem Fensterbrett seiner Dachgeschosswohnung im Rillingsweg stand der arbeitslose Mangelhardt und glotzte sich die Augen aus dem Kopf. Ob er nun wirklich springen wollte oder nicht, und auch das war Thema, denn der zeitgleiche Ablauf mehrerer außergewöhnlicher Ereignisse, die Synchronität derselben, zeichnet solche Tage aus – in jedem Fall hätte der Schreck beinahe das Übrige besorgt. Wie er sich weit aus dem Fenster lehnte, sah er die kreischende Maria die Straße heraufstürzen. „Was schreist du denn so, Maria? Why do you yelling?“ Da wurden ihre Schreie noch lauter und spitzer. „Wie auf Bestellung“, fügt Frieder hinzu. Hilde schüttelt wortlos den Kopf. Maria versuchte verzweifelt, sich verständlich zu machen, doch was immer sie sagte, es ging unter im Gewirr der Schreie ihrer sich überschlagenden Stimme. „Nun beruhige dich doch, Mädchen“, rief Alfreds burschikose Mutter Elsa, die mittlerweile ebenfalls aufgeschreckt und an ihr Küchenfenster getreten war, um die Ereignisse auf der Straße zu verfolgen. Auch an den Nachbarhäusern öffneten sich nach und nach die Fenster. „Erzähl uns einfach, was passiert ist!“ „Erwin!“, schrie Maria endlich, und ein Raunen war zu vernehmen, obwohl ohnehin kaum jemand bezweifelt haben dürfte, dass Erwin in irgendeiner Weise der Verursacher dieser Schreie war.
„Im Schuppen!“, fügte Maria schließlich kraftlos hinzu und sank weinend auf den nassen Schotter nieder. Einige Männer, darunter auch Gottlob, stolperten bereits hinaus auf die Straße, streiften sich im Laufen ihre Regenmäntel über oder schlüpften, auf einem Bein springend, noch in den zweiten Gummistiefel. Sie rannten den Rillingsweg und den Erlenweg hinab zum kleinen Pfad, auf dem sie der Reihe nach ausrutschten und im kalten Schlamm landeten. Am Schuppen verlangsamten sie ihre Schritte. „Was glaubst du, was hat der Idiot diesmal angestellt?“, fragte Wilhelm, der als inoffizieller Bürgermeister Rillingsbachs galt und in prekären Situationen meist die Hosen anhatte. Bisweilen wurde er sogar als solcher angesprochen. Einen offiziellen Bürgermeister gab es nicht, denn obwohl es niemand gerne zugab, gehörte Rillingsbach genau genommen zur Gemeinde Murrhardt.
Gottlob schwieg und bedeutete den anderen zu warten. Dann riefen sie Erwins Namen. Mehrere Minuten verstrichen, in denen die Männer unentschlossenen vor dem Schuppen warteten, schrien und lauschten. Schließlich war es Gottlob, der sich vorsichtig hinein tastete, eine Petroleumlampe in der einen und das Gewehr in der anderen Hand. Eine weitere Minute verging, doch noch immer drückte sie die Stille. Da begannen die Männer vor dem Schuppen nach Gottlob zu rufen. Als sie auch von ihm nichts mehr hörten, beschloss Wilhelm, seinem Freund zu folgen.
Er spürte Gottlob schon, bevor er ihn sah, denn dieser war nur wenige Schritte weit in Schuppen hineingegangen und stand nun regungslos im Dunkeln. Wilhelm hatte nicht an eine Lampe gedacht, doch im Lichtkegel von jener Gottlobs konnte er den Grund für dessen Schweigen erkennen. Dort, auf den Holzplanken ausgestreckt, lag Erwin, statt des Schandmauls ein fleischiges Loch im Gesicht. Wenn man nicht genau hinschaute, sah er milde überrascht und ein wenig belustigt aus, wie ein erprobter Schachspieler, der wegen einer Unaufmerksamkeit von einem Anfänger matt gesetzt wird. Die langen Stelzen ausgestreckt, einen Arm merkwürdig hinter dem Rücken abgewinkelt, starrten seine schwarzen Augen durch die Finsternis des kleinen Holzschuppens zur Decke hinauf, der letzten Barriere vor den allmählich verblassenden Sternen. Wilhelm schüttelte traurig den Kopf.
„Überall auf der Welt hätte er fallen können, und dann pustet er sich im Holzschuppen die Lichter aus.“ Neben ihm lag sein Gewehr, eine lange Büchse, und hinter ihm das, was Gottlob für das Gehirn hielt. Suizid. Mit Fragezeichen?
Das kann man wohl sagen. Es war schlechterdings unmöglich, dass Erwin sich mit dieser Büchse selbst in den Mund geschossen hatte. Der Mann war ein Hüne, schön und gut, aber so lange Arme hatte kein Mensch, zumal der Schuss, da waren sich alle einig, aus mindestens einem Meter Entfernung abgegeben worden war. Die Männer wandten sich ab und trotteten durch die Stille des Waldes langsam zurück ins Dorf, Erwins Körper ließen sie in der Dunkelheit und Eiseskälte des Holzschuppens zurück. Selbst jetzt wollte keiner allein mit ihm sein. Mittlerweile stand halb Rillingsbach auf der Straße, um das Geschehene zu diskutieren. Der alte Mangelhardt war besonders gefragt, obwohl auch er nicht mehr gesehen hatte, als alle anderen, und Elsa kümmerte sich mit Tee und guten Worten um Maria. Die zeigte sich bereits sichtlich erholt und gab sich nur wenig Mühe, ihre Erleichterung zu verbergen. Verständnislos betrachtete sie das Treiben auf der Straße. Beinahe machte sie den Eindruck, als erwarte sie Gratulationen anstelle der Kondolenzen.
An diesem Punkt wird die Erzählung durch das ungläubige Schnauben Hildes unterbrochen. Nach einem kurzen Seitenblick beißt sich Martha auf die Unterlippe, mit welchem Gefühl, kann der Chronist nicht erkennen. Dann aber fährt sie zögerlich fort.
Zurück im Schippen, eilte Gottlob zum Telefon an der Hotelrezeption und verständigte die Polizei. Es folgte eine mehrere Stunden währende Warterei, eine bizarre Situation, in der man stumm auf der Straße stand und an den zerschossenen Leib unten im Holzschuppen dachte, und auch daran, dass Erwin derartige Schuppen immer gerne angezündet hatte. Martha lernte an diesem Tag, und sie vergaß es nie mehr, dass das Schweigen der Vielen vom Einzelnen ausgeht.
Die Beamten erschienen erst am späten Vormittag in Person von Kriminalhauptmeister Hufnagel und zwei sehr jungen Kollegen in Uniform. Die Polizeiarbeit, so weiß der Chronist, wurde in jenen Jahren von den Besatzungsmächten dezentralisiert und die Zuständigkeit auf die einzelnen Länder übertragen, weshalb, gelinde gesagt, ein gewisses Maß an Chaos herrschte. Weder Hufnagel noch seine beiden Assistenten hatten je einen Mordfall untersucht, und die Aussicht, sich mit den Dorfgeschichten dieser Eigenbrötler herumzuschlagen, schien ihnen wenig erquicklich. Natürlich sah sich Hufnagel pflichtbewusst im Schuppen um, bemerkte das Holzbeil auf dem Boden neben dem Spaltblock und einige Scheite, die von der Beige gefallen sein mussten, beachtete – 25 – Kai Wieland „Ameehrikah“, Leseprobe daneben den ungesund gekrümmten Arm hinter Erwins Rücken, schaute hier, blinzelte dort, rutschte auch auf den blutigen Dielen aus. Schließlich aber trat er ins Freie und diktierte einem jungen Beamten mit dicker Hornbrille auf der Nase:
„Suizid.“
Niemand im Dorf widersprach diesem Ermittlungsergebnis, obwohl jeder so seine Zweifel daran hatte. Letztendlich aber, und das sprachen die ehrlichsten auch aus, waren sie alle in dieser Nacht ein Problem losgeworden. Nur einen Menschen gab es, den diese Nachlässigkeit erzürnte. Dieser Mensch war jedoch noch nicht geboren, hatte weder Herz noch Hirn noch einen Mund, mit dem er sich hätte zu Wort melden können, sondern reifte in Marias Uterus erst heran.

Leseprobe: Stefan Zett – „Das Magenkomplott”

Kapitel I

Etwas musste Sonjo gestört haben, denn ohne dass er den Wecker gestellt hätte, wurde er eines Morgens vor sechs Uhr wach. Er hatte unruhige Träume gehabt und fand sich in seinem Bett mit Kopfschmerzen und einem ungeheuerlich flauem Gefühl in der Magengegend, gleich links unterhalb des Brustbeins.
„Puh, was ist denn los?“ dachte er, „so übel war mir schon lange nicht mehr.“ Mit geschlossenen Augen versuchte er zu ergründen, was genau er zuletzt geträumt haben mochte, doch es tauchten nur unzusammenhängende Bilder und flüchtige Gestalten auf, derer er nicht habhaft werden konnte. Auch seine Erinnerungen an das, was er am Vortag zu sich genommen hatte, waren äußerst lückenhaft. Ein Milchshake hatte er tagsüber getrunken, wo auch immer. Irgendwann auch einen Tee. Weiter konnte er sich an nichts entsinnen. An gar nichts. In Sonjos Eingeweiden rumorte es indes, als sei dort ein Kampf um die besten Plätze in vollem Gange. Zweifellos war etwas völlig durcheinander geraten. Er öffnete die Augen. Er befand sich in seinem Bett, in seiner Wohnung und dort war alles wie immer. An der weißen Wand die Schattenspiele der Birke im Garten, die die frühe Sonne zu dieser Jahreszeit durch das Dachfenster warf. Sein leerer Schreibtisch, der Stuhl. Stille. Vereinzelt Vogelgezwitscher. Die halboffene Tür zum Badezimmer. Mit einem routinierten Griff lockerte Sonjo Gürtel und Bund seiner schwarzen Anzughose, was die angespannte Situation in seinem Bauch vorübergehend entschärfte. Er atmete tief durch. Ganz offensichtlich hatte er sich in Straßenkleidung schlafen gelegt und nun schmerzte sein Bauch. Das war’s. Ansonsten war alles in Ordnung. Wahrscheinlich war er fürchterlich betrunken gewesen und die Erinnerungen daran waren einfach ausgelöscht. Vielleicht auf ewig. Kein Grund zur Beunruhigung also. Zumindest konnte er sich ganz genau an ein Milchshake erinnern, wie er es durch einen Strohhalm aus einem mit Kondenswasser belegten Glas gesogen hatte. Er befindet sich in der Innenstadt, im Einkaufzentrum Europa wo es mörderisch heiß ist, saugt ein eiskaltes Milchshake, an der Bar des Palmencafés unter der großen Glaskuppel. Es herrscht ein ungewöhnlicher Trubel. Allenthalben Milchbärte. Menschen, die quer durcheinander reden und sich mit den Shakes zuprosten. Wie ist er in dieses Setting hineingeraten? Er stellt sein Glas auf den Tresen, will sich setzen. Zwei Männer mit roten Krawatten tauchen urplötzlich vor ihm auf, sprechen ihn an. Er ist schon auf dem Weg zum Hinterausgang, quer durch die Galerien.
„Sie sehen durstig aus, mein Herr“, sagt der eine, rund, dick, mit südländischem Teint. „Regelrecht ausgetrocknet!“ ergänzt der andere, selber dürr und hager. Die Beiden scheinen eine Antwort zu erwarten. Sonjo zuckt belanglos die Achseln, weiß nicht worauf sie hinaus wollen. Er wendet sich zum gehen. Schon packt ihn der Dicke am Kinn und sprüht ihm eine beißende Flüssigkeit in die Nase. Ihm wird schwarz vor Augen. Er fällt. Rittlings in die fangbereiten Arme des anderen. „Jetzt nur nicht bewusstlos werden“, denkt er noch, während man schon mit langen Fingern ein Stück Stoff tief in seinen wehrlosen Mund schiebt.
Der Friedensprozess im Bauch erlitt einen herben Rückschlag. Spastische Kämpfe mit kurzen, trügerischen Pausen. Er riss die Augen auf, war kurz weggedöst. In den verschiedentlich unklaren Gemengelagen hatten entwurzelte Traumsequenzen und vereinzelte Erinnerungsfetzen zueinander gefunden und sich zu einer absurden Geschichte zusammen gesponnen.
„Völlig unrealistisch, am helllichten Tag mitten im Einkaufszentrum“, versuchte Sonjo sich und seinen davonrasenden Puls zu beruhigen, sah sich aber auch nicht mehr im Stande, den bereits abgelaufenen Handlungsstrang wieder zu entwirren. Vielleicht hatte er noch nicht einmal ein Milchshake getrunken, möglicherweise, schön und gut, aber dass er in der vergangenen Nacht dann so abgrundtief geschlafen haben sollte, dass er keine Ahnung mehr hatte, was er eigentlich wirklich am Vortag getrieben hatte, bezweifelte er doch. Insbesondere, da er die beiden Männer genau vor sich gesehen hatte, in schwarzen Anzügen mit roten Krawatten, nach dem Überfall, als er am Boden des Einkaufszentrums etwas abseits vor einem Lastenaufzug erwachte.
Der kleine Dicke steckte mit schmalen, langen Fingern seine Krawatte hinter die Weste zurück und schmauchte zufrieden in sich hinein, während der andere, ein überaus langer Typ mit rossbraunem Schnurrbart und blasser großer Nase, damit beschäftigt war, ein fleischfarbenes, presswurstförmiges glitschiges Etwas nicht aus seinen Händen zu verlieren. Schließlich gelang es ihm, das widerspenstige Stück in der Faust zusammenzudrücken. Dabei entwich aus einem der beiden Zipfel Luft mit einem Stoßlaut, der so charakteristisch war, dass Sonjo in einer abstrusen und entsetzlichen Vertrautheit erfasste, worum es sich bei dem Ding handelte. Er versuchte zu schreien, aber es drangen nur lautlose Unmengen an heißer Luft aus seinem Hals. Entgeistert und vollständig gelähmt nahm er wahr, wie der kleine Dicke mit einem raschen Doppelklack einen schwarz ledernen Aktenkoffer öffnete und daraus eine Zeitung hervorholte, während der Hagere erfolglos an einigen hartnäckigen letzten Fettzipfeln des Dings herumzupfte. Eigentlich hätte sich Sonjos Magen spätestens in diesem Moment vor Schmerz, Abscheu und Verzweiflung gleich mehrfach umdrehen und ergrimmend krümmen müssen, stattdessen wurde er steif und widerstandslos wie ein toter Fisch in Zeitungspapier eingewickelt und in den krawattenrot ausgekleideten Aktenkoffer verstaut. Dann waren sie weg.

Kapitel II

Sonjo saß am Küchentisch der elterlichen Wohnung im Erdgeschoss und starrte auf das Rührei, das die Großmutter altbewährt mit reichlich Butter für ihn zubereitet hatte. In seinem Bauch waren, noch als er im Bett lag, revolutionäre Unruhen ausgebrochen, über alle Gewebegrenzen hinweg. Fürchterliche Krämpfe durchbohrten ihn von rechts nach links, nach oben nach unten und die Säfte flossen in Strömen. Erst nach einem ausführlichen Gang zur Toilette hatte sich die Lage bis auf weiteres entspannt. Obwohl er nach allem, was er erlebt hatte, keinerlei Hunger verspürte und er zudem nicht umhin kam zu bemerken, dass er da noch immer eine entsetzlich flaue Leere in seiner Magengegend empfand, hatte Sonjo sich fest vorgenommen, die Zähne zusammen zu beißen und viel, kräftig und kompromisslos bis zum letzten Bissen zu frühstücken. Nur so könnte er etwaigen Gründungsmythen einer neuen Republik von vornherein die alles entscheidende Grundlage entziehen. Wären solcherlei falsche Rücksichtnahmen nämlich erst einmal etabliert, würde auch gerne weiterer Unsinn geglaubt.
Der Geruch der gebratenen Eier aber hatte ihn kalt erwischt. Er erinnerte ihn an ein kleines abscheuliches Detail seines wiederkehrenden Albtraums – um nichts anderes konnte es sich schließlich und letztendlich bei diesen unmöglichen Geschehnissen handeln – das ihm bisher entgangen war und nun umso deutlicher hervortrat: Der äußerst unangenehme, aus magenräuberischem Mund hervordringende Geruch nach gammeligen Fleisch, den Sonjo sonst nur von Pansenverfütterungen beim Hund seines Onkels kannte. Entgegen seinen Absichten brachte Sonjo es schließlich nicht über sich, auch nur einen Happen von der gelb glänzenden Speise hinunter zu bringen und er schob den Teller unangetastet zur Seite. Auch die knallroten Erdbeeren, die die Großmutter am Vortag zuvor eigenhändig im Wald gesammelt hatte, verschmähte er.
Die Großmutter schaute mit gespitzter Nase über die Ränder ihre Brille und den Tisch hinweg zu Sonjo rüber. Ob es ihm immer noch schlecht sei, wollte die Großmutter wissen. „Wieso immer noch?“ antwortete Sonjo. „Na, du hattest doch gestern im Einkaufszentrum diesen Kreislaufkollaps.“
„Kreislaufkollaps?“ sagte Sonjo und ahnte Düsteres. “Jetzt sag bloß, du kannst dich an nichts mehr erinnern? Jemand hat dir geholfen und dich im Taxi hierher gebracht. Das war übrigens eine sehr nette junge Dame“, fuhr die Großmutter fort. „Auch wenn sie ziemlich verzottelte Haare hatte.“
Sonjo traute seine Ohren nicht und sagte nichts. An eine junge Dame konnte er sich überhaupt nicht erinnern. Die Großmutter wartete kurz, ob er nicht doch noch etwas äußern würde.
„Du warst ja ganz schön durcheinander. Ist wohl nicht so gut gelaufen, was?“
„Was soll denn gelaufen sein?“ Es war eine Frage, die Sonjo mehr interessierte als ihm Recht sein konnte. „Na das Vorstellungsgespräch. Was denn sonst?“ „Ach“, antwortete Sonjo bloß und ‚Das Vorstellungsgespräch?’ dachte er dabei. ‚Bei diesem merkwürdigen Unternehmen des alten Studienkollegen des Vaters. Wann war das denn eigentlich genau gewesen?’
„Ich hab gleich gewusst, dass das nichts für dich ist, mein Junge. Du bist für etwas Besseres, etwas ganz Großes gemacht“, tröstete die Großmutter. „Wenn sich etwas schon Agentur für digimonetäre Dienstleistungen nennt, da kann doch nichts Gescheites dahinter stecken.“ Und damit wandte sie sich wieder dem Kochbuch zu, das sie an diesem Morgen mit besonderem Interesse zu studieren schien. …
(Es folgen Kapitel III bis IX)

Kapitel X

Im großen Messesaal war die zuvor aufgekratzte Stimmung in der Zwischenzeit fast ins Gegenteil umgeschlagen. Die Messebesucher standen wohlgeordnet in Reihen, schauten erwartungsvoll zur Hauptbühne und verhielten sich ruhig. Die Wolken lagen ein ganzes Stück höher und über der hell erleuchteten Hauptbühne war das Wolkenloch mittlerweile verschwunden. Die plötzliche Disziplin und die große Stille im Saal hatten besonders im Vergleich zum vorherigen Chaos etwas irreales an sich. Sonjo konnte sich mühelos durch die Reihen schlängeln und eilte nach vorne. Als er sich der menschenleeren Bühne auf ungefähr dreißig Meter genähert hatte, erschien dort jemand rechts aus einer kleinen Öffnung in der hohen Rückwand aus Sandstein. Er trug einen weißen, bis oben zugeknöpften Kittel und eine rote Krawatte. Die Beine und auch die Füße waren nackt. Der Melonenbauch war unverkennbar. Melbig. Er ging bis zu der breiten Treppe am vorderen Rand der Bühne und im Saal wurde es komplett dunkel. Nur die Bühne war in einem starken Gelbton erleuchtet und erinnerte stark an einen antiken Tempel. Genau in der Mitte stand noch immer der Altar aus zwei Findlingen mit einer langen Deckplatte aus Schiefer, die mittlerweile mit braunen Schlamm beschichtet war. „Dieses Jahr macht es mir eine besonders große Freude die Zeremonie zu eröffnen, denn heute treffen der längste Schimmer des aufklärerischen Junilichtes und der zarteste Schimmer des uralten Junimondes zusammen“, hallte es laut durch den Saal. Melbig musste irgendwo, vielleicht im Krawattenknoten, ein Mikrofon versteckt haben. „Wir danken dem ewigen  Bürgermeister, dass er vor einigen Jahren das unberechenbare, schwelende Feuchtbiotop in der Mitte der Stadt trocken legen ließ. So konnten wir den Anweisungen des Kultmagens uneingeschränkt Folge leisten und uns im gebührendem Maße auf diesen historischen Moment vorbereiten. In wenigen Augenblicken wird es soweit sein. Dann wird sich zeigen, wie weise und weit vorausschauend der Kultmagen die Pläne für sein neues Zuhause damals angelegt hat. Er wird uns ein neues Zeichen schenken, das uns ermöglicht, das was uns als Menschen ausmacht noch mehr zu sein, indem wir unseren unendlichen Durst noch grenzenloser stillen können. Schauen wir einen schimmernden Zyklus zurück, so verstehen wir erst heute, wie wertvoll damals sein Geheimnis von der freien und radikalen Eusierung für unsere Bewegung gewesen ist. Die Einweihung erfolgte übrigens noch im großen Himmelsaal des Institutes, wie sich doch einige von uns noch erinnern dürften. Wir sind seitdem so zahlenreich geworden, dass wir jetzt selbst hier, besonders an den Enden, kaum noch alle Platz finden. Erst durch die resolute und in diesem Ausmaß eben auch sinnfreie Eusierung konnten wir den Boden unserer magischen Realität noch urbarer und urbaner machen und so die vielen, vielen Bäuche nach und nach überzeugeln. Zudem wurden dadurch auch viele hohe und niedere Mitesser auf ewig ausgedrückt, ein äußerst ästhetischer Prozess, der immer noch zügellos und inzwischen auch weit über alle Grenzen hinaus fortschreitet.“
Melbig machte eine Pause. Es war mäuschenstill im Saal. Dann redete er verständnisvoll weiter. „Wir freuen uns nicht an dem Irrglauben und dem spirituellen Mangel anderer, aber wir freuen uns, dass wir richtig liegen. Deshalb wollen wir jetzt auch, bevor ich unsere Exzellenz aus seiner himmlischen Sphäre zu uns rufe, unser Gedenklamento für alle Ungläubigen einlegen.“ „Ooooooooohhhhhh, die Armen“, bedauerte Melbig inbrünstig mit aufbrausender Stimme und auf seinem Melonenbauch gefalteten Händen und „Aaaooouuuuuuuuuuuuhhhhhh“ bedauerte der ganze Saal so wollüstig, dass Sonjo eine Gänsehaut bekam. Wie aus heiterem Himmel baumelte auf einmal aus der Wolkendecke ein freudig zappelndes Wesen hervor, das Sonjo zunächst für eine rot bemalte Robbe hielt. Es hing an vier weißen Seilen und während es in weiten Kreisbögen über den Köpfen der Zuschauer umherpendelte, senkte es sich langsam weiter nach unten. Ein respektvolles, erfreutes Raunen zog durch den Saal. „Na der kann`s ja diesmal kaum erwarten“, freute sich auch Melbig und verfolgte wie alle anderen gebannt die Schwünge der durch und durch eigentümlichen Kreatur. Schließlich blieb sie in Bauchhöhe über der Treppe, die zur Bühne hinaufführte, hängen. Melbig ging rüber und zerrte das Wesen an einem der Seile zu den zwei Findlingen rüber, wo es sich anscheinend von alleine weiter absenkte. Das Ganze sah dann mehr denn je wie ein urzeitlicher Altar aus. Auf der Deckplatte lag in dem braunen Schlamm ein glänzendes, fleischfarbenes Wesen, das weiter freudig vor sich hin zuckte. Sonjo erkannte die Form des Wesens sofort wieder. Es gab keine Zweifel, dass dies der Kultmagen war, und dass der Kultmagen sehr lebendig war. Er sah genau so halbrund gekrümmt aus, wie Sonjo sich auch an seinen eigenen Magen in den Händen des dünnen Exstirpators erinnerte, nur das der Kultmagen viel größer war, ungefähr die Ausmaße eines Seesacks hatte. Vorne befand sich zudem ein unförmiger Schlitz, der wahrscheinlich so etwas wie sein Mund war. „Ja gleich gibt es etwas Leckeres.“ , sagte Melbig zu dem Kultmagen, während er ihn streichelte und auf den feuchten Rücken klopfte. Der Kultmagen krümmte sich noch ein Stück mehr vor Freude und hopste ein kleines Stück in die Luft. „Ups“, entfuhr es dann Melbig. Das Vieh hatte nach seinem Finger geschnappt, und Melbig gab ihm dafür einen Klaps auf die Stelle, die wahrscheinlich so etwas wie ein Hintern war. „Sie sehen, unser kleiner Racker ist heute mindestens so aufgeregt wie wir und hat einen besonders ausgeprägten Appetit. Deshalb sollten wir ihn jetzt auch nicht länger warten lassen. Er weiß schließlich besser als wir selbst, dass er heute einen besonderen Leckerbissen von uns bekommen wird und ich kann ihnen schon an dieser Stelle verraten, dass es mir gelungen ist, ein wahres Prachtexemplar für ihn aufzutreiben. Doch zunächst wollen nun die Initianten kommen.“ Sonjo bekam auf einen Schlag knallrote Ohren und konnte perverserweise einen gewissen Stolz, das Melbig seinen Magen vor den vielen Zuschauern als Prachtexemplar bezeichnete, nicht unterdrücken. Melbig schaute bei diesen Worten erwartungsvoll zu der kleinen Tür in der Hinterwand der Bühne. Dort trat als erstes etwas zögerlich ein kleines Mädchen hervor. Es trug einen schwarzen Minirock und ein bauchfreies T-Shirt. Melbig begann demonstrativ ermutigend zu klatschen und im Saal taten es ihm viele nach. Es folgte im Gänsemarsch eine ganze Reihe weiterer Kinder unterschiedlichen Alters, die adrett und überwiegend modisch gekleidet waren. Rechts und links wurde dieser niedliche inszenierte Aufmarsch von zwei Herren flankiert. Sie waren wie Melbig barfuß und trugen auch nur einen weißen Kittel und eine rote Krawatte. Erst als der eine von ihnen einen aus der Reihe tanzenden Jungen mit einem übermäßig langen Zeigefinger ermahnte, erkannte Sonjo sie als die Exstirpatoren wieder. Kurz vor dem Altar teilte sich die Kinderschlange zu den Seitenwänden hin auf. Zwei weitere Gruppen kamen auf die Bühne. Es handelte sich um einen Pulk Jugendlicher in unterschiedlichsten Aufmachungen und um eine handvoll Erwachsene in ärmlicher Kleidung. Mit ihnen erschienen drei wiederum weißbekittelte Herren mit wiederum roter Krawatte. Der mittlere von ihnen war der Minibrillenträger Deiters und seine Begleiter Herr Wegerich und Monsieur Le Mett. Auch diese Leute flanierten an dem Kultmagen vorbei und stellten sich dann, wie die Kinder, an einer der beiden Seitenwände in einer bestimmten Reihenfolge auf. Schließlich eilte noch schnell, wie verspätet, ein Heranwachsender im Gammel-Look auf die Bühne und zu guter Letzt ein weiterer barfüßiger Mann, der einen weißen Kittel, aber eine grüne Krawatte trug. Sonjo sah, wie ganz hinten einer von der Initianten- Gruppe unauffällig die Bühne wieder über die Öffnung in der steinernen Rückwand verließ. Die Exstirpatoren waren mittlerweile zu den Seitenabgängen der großen Treppe geschritten und beide hatten sich den jeweiligen schwarzen Gummischlauch, der dort vom Wolkenhimmel herunterbaumelte, an dem Einspritzstutzen geschnappt. Sie mussten kräftig daran ziehen, um damit bis zu dem Altar mit dem Kultmagen in der Mitte der Bühne zu gelangen. Dort waren jetzt alle Männer mit weißen Kitteln versammelt. Melbig und Deiters standen hinter dem Altar und seitlich je ein Exstirpator mit je einem der Begleiter von Deiters. Manfred von Bärenbind überreichte diesen Männern eine Art Waschschüssel aus glänzendem Stahl mit kreisrundem Boden.
Während die gesamte Bühne ein ganzes Stück abgesenkt wurde, wandte sich Melbig wieder an die Besucher der Messe. „So, wenn wir gleich die Volksnähe erreicht haben, können wir beginnen. Natürlich werden wir wie jedes Jahr die individuellen Noten der Initianten berücksichtigen. Diese wollen sie jetzt kundtun.“
Alle Initianten öffneten ihren Mund und jeder von ihnen sang einen Ton. Vorne bei den kleinen Mädchen klang es hell und glockenrein, mit abnehmender Tonhöhe kamen die Knaben, die Jugendlichen und die Erwachsenen und hinten dann auch einige Heranwachsende im Stimmbruch. Ein schöner Vielklang an Stimmen ließ das Geschehen auf der Bühne ein erstes Mal so ähnlich erscheinen, wie Sonjo sich eine religiöse Zeremonie vorgestellt hatte. Melbig sprach, vom Mikrofon verstärkt, mitten rein. „Ein echter Genuss. Auf geht’s.“ Die Exstirpatoren und ihr jeweiliger Partner preschten los. Der rechte, lange Exstirpator erreichte mit dem widerspenstigen Schlauch als erster das vorderste kleine singende Mädchen, das sogleich kindlich angeekelt die Nase rümpfte. Er steckte ihr den Stutzen in den offenen Mund und Monsieur Le Mett hielt schnell die Schüssel darunter. Das Mädchen wurde unter Hochdruck, der den Schlauch kurz zucken ließ, ähnlich wie eine Gans gefrickt, bis ihr eine weiße Flüssigkeit aus Mundwinkeln und Nase in die Waschschüssel tropfte. Dann sank sie wie bewusstlos in die Knie. Der Exstirpator reichte Le Mett den Schlauch, den dieser umständlich halten musste, beugte hastig den Kopf des Mädchens zurück, bis der immer noch geöffnete Mund zur Decke zeigte und stopfte dann blitzschnell mit den Spinennfingern an seiner linken Hand seine rote Krawatte, die er unten der Länge nach gefaltet hatte, da hinein. Er fingerte hektisch herum, wurde plötzlich ganz ruhig und zog behutsam, als wolle er drinnen irgendetwas nicht verlieren, die Finger und die Krawatte zurück.
Sonjo hielt sich die Hand vor die Augen um nicht mit ansehen zu müssen, was er da jetzt rausholen würde. Er hatte sich vorgenommen, sich während der Zeremonie, die sicherlich grausame Momente haben würde, von gar nichts auch nur irgendwie schockieren zu lassen, um im entscheidenden Moment nicht zu zögern. Und tatsächlich war es ihm auch gelungen, den Anblick der magenförmige Bestie, die auch jetzt noch in ihrem rotbraunen Schlammbett vor sich hin gluckste, fast gänzlich gelassen an sich abperlen zu lassen. „Aha. So sieht ein Kultmagen also aus“, hatte er sich selbst nüchternes Interesse zugeheuchelt und aufkommende Unruhe gleich mit einem „das ist doch nur ein kleiner Racker“ und einem „ein besonders dicker Mops ohne Beine, Augen und Ohren höchstwahrscheinlich“ erfolgreich besänftigt.
Diese Live-Exstirpation an einem Mädchen hatte ihn aber kalt erwischt, besonders weil es sich nur um den Anfang einer öffentlichen oder halböffentlichen Massenexstirpation handelte. All die Mägen würden gar nicht in diese Waschschüssel passen. Eigentlich müsste er da auch irgendwie eingreifen, da waren ja schließlich Kinder die gar nicht wussten worauf sie sich da einließen, aber er musste an seinen eigenen Magen denken und könnte gegen die Übermacht auf der Bühne sowieso nichts ausrichten. Er spreizte vorsichtig seine Finger. Auf beiden Seiten waren die Exstirpatoren bereits mit dem nächsten Mädchen beschäftigt. Einige Kinder hatten aufgehört zu singen und drucksten, während sie den Exstirpatoren zuschauten, unruhig herum aber Melbig und Deiters gingen mit Körben durch die Reihen und verschenkten daraus Teddybären. Das erste Mädchen, das bereits wieder aufgestanden war und tapfer und stolz lächelte, bekam, wie auch ihr Pendant auf der gegenüberliegenden Seite, einen besonders großen in die Hand gedrückt.
Sonjo ging weiter nach vorne und reckte trotzdem seinen Kopf. Er wollte das unangenehme Gefühl an seinem Hals abschütteln und außerdem auch mitkriegen, was die Exstirpatoren, die mittlerweile hinten bei den letzten Initianten zugange waren, da genau rausholten. Diesmal zwang Sonjo sich bis zum Ende zuzuschauen. Sie holten da… sie holten da.. sie holten da gar keinen Magen raus. Da war gar nichts zu sehen, aber sie schienen irgendetwas von der Krawatte oder den Fingern in einen Glaskolben, der aus der Kitteltasche hervorragte, abzustreifen.
Der Schlauch rechts und dann auch links schnellte in die Höhe, pendelte über den Zuschauern und verschwand in den Wolken. Über der Hauptbühne lichteten sich diese daraufhin deutlich und an einigen Stellen taten sich erneut Löcher auf. Beide Gruppen waren fertig und erreichten den Kultmagen fast gleichzeitig. Die Exstirpatoren hielten die Glaskolben demonstrativ in die Höhe. Wegerich und Le Mett trugen noch immer die Waschschüsseln mit den sie die milchige Flüssigkeit, die im Rahmen des Betäubungsaktes aus Mund und Nase getropft war, aufgesammelt hatten. Melbig schaute zu Manfred von Bärenbind herüber, der letzte Inspektionen vornahm und dann sein Einverständnis herübernickte. „Wir wollen Ihm jetzt gemeinsam Sein Mahl bereiten.“ sagte Melbig und erschien dabei sakraler denn je. Die eine Waschschüssel wurde in die andere, die jetzt Deiters genommen hatte, entleert und dann von Bärenbind entsorgt. Es war gar nicht soviel von dieser weißen Milch darin gewesen. Melbig holte aus seiner Kitteltasche ein kleines Bonsaibäumchen, dass er in die verbliebene Schüssel zerpflückte. „Es ist auch für mich noch jedes Jahr immer wieder erstaunlich, wie wenig unsere Exzellenz verbraucht“, kommentierte er durchs Mikrofon verstärkt sein Tun, „das ist ja weniger als nichts, wenn man bedenkt, was da so übers Jahr verteilt für uns alle bei raus kommt.“
Als er fertig war, entnahm er seiner anderen Kitteltasche ein braunes Fläschchen und entleerte es in die Schüssel. „So, dann noch das hier“ sagte er dabei und dann „und jetzt wollen wir zur spirituellen Würze kommen.“ Mit einem Mal war die gesamte Bühne in Dunkelheit getaucht. Nur unmittelbar vor dem Altar lag ein scharf abgegrenzter, ungefähr ein Meter schmaler und vielfach längerer mondsichelförmiger Lichtstrahl am Boden „Na wer sagt’s den“, bemerkte Melbig leise aus dem Dunklen, so, als ob er zu seinem Nebenmann sprach, „auch das Wetter spielt dieses Jahr mit.“
Dann traten die Exstirpatoren und Melbig in das Licht vor den Altar. Melbig stand in der Mitte und die Exstirpatoren an den Seiten, an denen sie auch vorher gearbeitet hatten. Als die Exstirpatoren in einer Geste der Würde die Glaskolben weit nach oben hielten, bemerkte Sonjo seltsame milchig glänzende Fäden in der Luft, die in den Glaskolben zusammenliefen. Er schaute genau hin und konnte sie am Rande des Lichtstrahles ein Stückchen in die Richtung der jeweiligen Seitenwände zurückverfolgen. Auch Melbig hielt kurz die Waschschüssel in die Höhe, in die anschließend die Glaskolben entleert wurden. Dabei nuschelte er etwas unverständliches vor sich hin. Die Exstirpatoren traten neben den Altar ins Dunkle. Hinter Melbig war, in eine schwache Lichtreflexion getaucht, der Kultmagen zu sehen, dessen vordere Öffnung sich zu einem breiten Schlitz mit wulstigen Rändern verformt hatte. Die vier weißen Schnüre waren an grau verschwielten Höckern an seinem Rücken mit ihm verwachsen, zwei vorn, zwei hinten, und überall hingen kleine Fettzipfel an ihm herunter. Melbig verbeugte sich tief vor dem Kultmagen. Dann hob er ihn vorn leicht an, drückte die Waschschüssel in den Schlamm genau unter den vorderen Schlitz und entfernte sich äußerst rasch. Das Untier schlabberte die Schüssel in Sekundenschnelle leer und das Gluckern in seinem Inneren war bis zu Sonjo herüber zu hören. Für einen Augenblick meinte Sonjo immer noch die milchigen Fäden sehen zu können, aber im hellen, gelben Licht, das die Bühne gleich wieder schlagartig bestrahlte, konnte er sie nicht mehr erkennen. Alle waren verschwunden, nur Melbig stand noch allein mitten auf der Bühne und wirkte etwas abwesend. Die Initianten saßen mit den Partnern Le Mett und Wegerich rechts und links an den Rändern auf der breiten Treppe. Sonjo starrte mit Abscheu auf den zitternden Kultmagen. Er konnte zusehen, wie seine glänzende Haut abblasste, von fleischrot zu rosa. Es sah so aus, als bereite sich der Kultmagen nach der Vorspeise nun auf das Hauptgericht vor und konzentriere dafür Blut in seinem Zentrum, wo es für die Verdauung benötigt wurde.
Nach allem, was Sonjo bei der Geheimbesprechung der besseren Gesellschaft mitbekommen hatte, sollte Melbig während der Opferzeremonie gestürzt werden. Diesen Moment galt es auch für Sonjo auszunutzen, es sei denn sein Magen würde schon vorher diesem kleinen verfressenen Klops angeboten. Dann müsste er sofort zuschlagen.
„Uns allen steht jetzt ein wahrhaft historischer Moment bevor.“ sprach plötzlich eine ganz andere Stimme als bisher laut in den Saal. Melbig bewegte auch gar nicht seinen Mund. Er stopfte vielmehr noch äußerst sorgfältig irgendetwas an der Brust unter seinem Kittel zurecht. „Ein zwingendes Ereignis unserer fortschreitenden Weiterentwicklung, dass wir vor allem in der gebührenden Ruhe annehmen und genießen wollen.“ sagte die gleiche Stimme, die Sonjo ungemein bekannt vorkam und etwas nervös klang. Melbig ging energisch aber ohne übermäßige Eile zur hinteren linken Ecke der Bühne und verschwand. Rechts kamen durch eine zweite Öffnung Deiters und die Exstirpatoren geschritten. Sie trugen immer noch nur den Kittel und die roten Krawatten und in der rechten Hand jeder von ihnen einen schwarzen Koffer. Mit seiner linken rückte Deiters noch seine Brille zurecht bevor er sich einige Meter rechts neben dem Altar vor den Messebesuchern verbeugte. „Wer füttert der führt, so lautet nicht umsonst ein altes magisches Sprichwort, das heute mehr denn je… “ „Und auch morgen noch“, Melbig war zurückgekehrt und hatte Deiters das Wort kompromisslos abgeschnitten. Auch er sah unverändert aus und hielt in seiner Linken einen schwarzen Koffer, mit den Fingern seiner Rechten drückte er an seiner Nase herum. Er stellte sich ganz vorn in der Mitte der Bühne hin und schaute angespannt in den Saal. Hinten mogelte sich nun auch Manfred von Bärenbind auf die Bühne. Er lächelte verlegen und zückte mit der einen Hand die Pergamentrolle aus der Kitteltasche. In der anderen hielt auch er einen schwarzen Koffer.
„Es wird gut werden.“ , verkündete Melbig laut mit mächtiger Stimme. „Es wird alles gut werden“, wiederholte er dann noch einmal bedeutend leiser, so als woller er vor allem sich selber davon überzeugen. Hinter seinem Rücken war der lange Exstirpator mit zwei großen Schritten zum Altar geschlichen und hatte versucht nach der Schüssel zu greifen. Der Kultmagen schreckte ihn mit einem drohendem Knurren zu seinem Ausgangspunkt zurück. Melbig drehte sich erstaunt zum Kultmagen hin, ging rüber und beruhigte ihn, indem er kräftig an seinen vier Höckern herum massierte und ihm erwas ins Ohr flüsterte oder zumindest dorthin, wo man bei diesem völlig eigenartigen Wesen ein Ohr vermuten würde. Anschließend legte er seinen Koffer auf den Boden, nahm behutsam die silberne Schüssel, an deren Boden etwas Schlamm klebte, und hielt sie wie eine Trophäe in die Höhe. Im gesamten Saal herrschte eine Totenstille, in die dann ein charakteristischer Doppelklack hineinschlug. Sonjo stockte für einen Moment der Atem. Deiters, der sich immer noch ein ganzes Stück rechts auf Höhe des Altars befand hatte seinen Koffer auf die Erde gelegt, kniete selbst dahinter und öffnete ihn gerade.
Sonjo hatte den Moment X etliche Male in Gedanken durchgespielt. Er befand sich in der ersten Zuschauerreihe, nur einige Meter von der Treppe mit den breiten Stufen entfernt. Diese würde er noch in normalen, völlig selbstverständlichen Gang hinaufschreiten, um nicht frühzeitig die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Oben hätte er dann nur wenige Schrecksekunden, um sich den Magen zu schnappen und anschließend einfach davon zu laufen. Wohin, würde er dann schon sehen. Kein genialer Plan, aber stumpf ist Trumpf machte er sich immer wieder Mut. Wie sollte er es auch anders anstellen? Jetzt war es soweit. Fast, denn Deiters hatte den Ersatzmagen, seinen Magen, wahrscheinlich nicht. Sonjo krampfte seine Zehen in den Schuhen zusammen. Deiters holte etwas längliches Silbernes aus dem Koffer, eine Schere, eine Geflügelschere! Sonjo schaute weg. Zu Melbig rüber, der auf Deiters aufmerksam geworden war, seinen eigenen Koffer aufhob und mit neugierig vorgebeugtem Kopf, so als könne er nicht genau sehen was sich dort abspiele, einige fragende Schritte auf Deiters zu ging.
Die Exstirpatoren, die hinter dem Altar gewartet hatten, stellten lautlos ihre Koffer neben dem Altar ab und schlichen sich in langen lautlosen Schritten rücklings an Melbig heran. Sonjo sah die verwaisten Koffer der Exstirpatoren neben dem Altar. In einem von beiden musste sich sein Magen befinden und die Gelegenheit war günstig. Manfred von Bärenbind verweilte immer noch hinten auf der Bühne und drehte sich sogar zur Rückwand um. Sonjos Herz raste bereits los und auch er machte schon eine erste Bewegung, zögerte dann aber doch wieder, da ihm eine Flucht mit zwei Koffern auf einmal zu riskant erschien. Der lange Exstirpator hatte seine Arme ausgebreitet, so als wolle er Melbig, der immer noch nicht zu ahnen schien, dass ihm die Exstirpatoren dicht an den Fersen waren, von hinten umschlingen. Der andere suchte in seinen Kitteltaschen herum, wobei er aufgrund seiner langen Finger die Handteller gar nicht in ihnen versenken musste Dann schlugen sie zu. Der Lange umschlang Melbig direkt unter der Achsel, verschränkte sofort seine Hände an dessen Nacken und konnte so mühelos Melbigs Oberkörper nach vorne beugen, wo sich der kleine dicke Exstirpator bereits mit einem doppelläufigem Nasenspray positioniert hatte. Melbig war von der Attacke dermaßen kalt erwischt worden, dass er bisher noch nicht einmal den Koffer oder wenigstens die Schüssel hatte fallen lassen und bevor er auch nur irgendeine Gegenwehr leisten konnte, wurde ihm schon eine erste Dosis Spray verabreicht. Der kleine Exstirpator wurde dann hektisch. Er packte Melbigs schütteres Haar über der Stirn, zog daran den Kopf nach oben und pumpte noch etliche Ladungen hinterher. Melbig stieß einen beklemmenden Schrei starken Schmerzes aus, ließ den Koffer und die Schüssel los und sank in sich zusammen. Der große Exstirpator befreite seine Arme und sprang zur Seite. Melbig wankte schräg nach vorn und fiel wie ein nasser Sack gegen den Kleineren, der ihn, um sich selbst vor dem schweren Mann zu schützen an den Schultern auffing und mit ihm zurückstolperte, bevor er ihn zu Boden fallen ließ. Dort blieb Melbig auf seinem Melonenbauch regungslos liegen. Der ganze Überfall war blitzschnell über die Bühne gegangen, auf der die Waschschüssel noch immer herumdengelte.
Auch die Zuschauer im Saal reagierten erst jetzt mit einer Mischung aus geiferndem Sensationsgeschrei und brummender Empörung, so dass Deiters, der sich gerade über Melbig hermachen wollte, sich dazu veranlasst sah, aufzustehen und mit abwiegenden Bewegungen seiner Hände – in der einen hielt er dabei noch die Geflügelschere – und einem „Pscht, pscht“ die Ruhe wieder herzustellen. Dann verkündete er: „Keine Sorge. Es handelt sich um etwas Neues und es hat hier oben alles seine Richtigkeit, da sind sich die Experten einig. Es wird alles gut und bald sogar noch besser werden. Immer besser, darin können wir vertrauen.“ Das wirkte. Die Aufregung im Saal verschwand zwar nicht völlig, aber sie legte sich in geordnete Strukturen. Man diskutierte und spekulierte, durchaus auch kritisch, über das was geschehen war und was Deiters dazu gesagt hatte. Blitzlichter flammten auf. Gleich neben Sonjo zuckte jemand mit den Schultern und sagte zu ihm, „Was soll`s. Der Kultmagen will es so.“ Dann machte auch er ein Foto. „Für meine Enkel“, erklärte er dazu. Ein erneutes, einfaches Klackgeräusch ließ Sonjo bis ins Mark zusammenzucken und gleich darauf stand ihm auch der Schweiß auf der Stirn. Der kurze dicke Exstirpator kniete unweit vom Altar vor seinem Koffer und steckte gerade den Schlüssel ins zweite Kofferschloss. Dafür musste er sich umständlich wie ein Büßer zum Koffer hinunter beugen, da die Schnur um seinen Hals, an der der Kofferschlüssel hing, ansonsten nicht lang genug war. Der lange Exstirpator holte die Schüssel, die bis in die hinterste Ecke der Bühne gerollt war.
Es folgte ein tumultöses Geschehen. „So, es geht jetzt ganz konkret um meinen Magen“, war das letzte was Sonjo gedacht hatte, als er noch vor dem zweiten Klack die ersten Stufen der Treppe hinaufging. Auf der Bühne verlor er in einem lähmenden Gefühl jegliche Orientierung und empfand in befremdender Weise, dass er sich zwar immer tiefer in diese Szenerie hineinbohren könne, wie ein Maulwurf in die Erde, aber dass er eigentlich, gerade im Gegenteil, weg von dieser Detailebene müsse, es handele sich hier gar nicht um sein Problem, es sei sein Problem, dass er das denke. Der Koffer sei nur halbrichtig, alle Koffer seien nur halbrichtig und das auch nur deshalb, weil die andere richtige Hälfte überhaupt danach suche.
Dieser seltsame und für diesen Zeitpunkt sicherlich völlig unangebrachte Zweifel schoss Sonjo in Sekundenbruchteilen durch den Kopf. Einen etwas längeren Moment brauchte er, um aus der Tiefe der Empfindung zurückzukehren zur Oberfläche seiner Umgebung. Dabei starrte er Deiters an, der ihm dabei wie ein völlig Unbekannter erschien. Deiters mühte sich noch immer mit verrutschter Minibrille und Leibeskräften den dicken, bewusstlosen Melbig auf den Rücken zu drehen, aber Melbig rollte – offensichtlich aufgrund einer auch am Rücken kugeligen Beschaffenheit, die er ansonsten unter seiner Kleidung geschickt zu verbergen wusste – immer wieder zu weit und blieb dann wieder auf der anderen Seite liegen. Obwohl er mitten auf der Bühne stand, schien niemand Sonjo zu beachten. Der kurze Exstirpator zog gerade den Schlüssel aus dem zweiten Schloss und der lange hatte erst die Schüssel erreicht. Sonjo musste wahnsinnig schnell gelaufen sein. Bärenbind schaute demonstrativ zur Wand, und sah dabei so gänzlich unbeteiligt an allem aus, dass es nicht verwunderlich gewesen wäre, wenn er noch ein kleines Wanderliedchen gepfiffen hätte.
„Zu früh, eigentlich doch noch zu früh losgelaufen“, dachte Sonjo, denn in welchem der drei Koffer sich sein Magen tatsächlich befand, könnte er erst wissen, wenn er ihn sehen würde. Es war keinesfalls ausgeschlossen, dass er sich in Melbigs Koffer befand, denn auch wenn der mit diesem Überfall mitten auf der Bühne vor tausenden an Zeugen sicher nicht gerechnet hatte, irgendetwas hatte er wohl doch geahnt. Da sah er ihn aber auch schon, fleischfarben, in den Händen des kleinen Exstirpators, der den Magen merkwürdig entgeistert anstarrte. Während Sonjo die paar Meter zu ihm rüber hastete formten sich seine Finger zu starren Harken, die er notfalls überall reinrammen würde, aber der Exstirpator leistete gar keine Widerwehr. Er bemerkte Sonjo überhaupt erst, als dieser sich den Magen bereits krallte, wobei er weit weniger zimperlich mit dem ihm so kostbar gewordenen Stück Fleisch umging als ihm lieb sein konnte. Sonjo fiel sofort auf, dass sein Magen bedeutend schwerer war, als er erwartet hatte. Er presste ihn an die Brust, und rannte damit wie ein Footballer in Richtung Touchdown zum Hinterausgang der Bühne. Hinter ihm rief der kleine Exstirpator aufgeregt herum. Kurz bevor Sonjo den Ausgang erreichte, drehte er sich ein erstes Mal um. Er wurde gar nicht verfolgt. Der lange Exstirpator, der ihm den Weg vielleicht hätte abschneiden können, eilte vielmehr nach vorn, zu seinem Kollegen und Bärenbind nestelte am Bühnenboden herum, so als würde er dort einen Fleck untersuchen. Sonjo verlangsamte seine Schritte und ging dann rückwärts in Richtung Ausgang, um die Exstirpatoren im Auge behalten zu können. Die beachteten ihn aber gar nicht weiter. Der lange Exstirpator riss sich mit einem Ruck einen Schlüssel vom Hals und sperrte nun seinen Koffer auf. Ein herzhafter Geruch nach Geräucherten drang in Sonjos Nase. Das konnte doch unmöglich so schnell vom Koffer zu ihm herübergezogen sein. Unwillkürlich hob Sonjo seinen Magen zur Nase.
Vorne kullerten unterdessen mehrere Rollen Toilettenpapier über die Bühne und hinterließen büttenweiße Linien. Der lange Exstirpator warf den Koffer, aus dem sie gefallen waren, wütend zur Seite und ging mit rücksichtslosen Schritten auf Bärenbind zu. Der war auf einmal enorm engagiert und konnte gar nicht schnell genug seinen Koffer dem Exstirpator über den glatten Holzboden der Bühne entgegenschleudern. Er selbst robbte auf den Knien rückwärts in die entgegengesetzte Richtung.
Sonjo wollte es nicht glauben. Sein eigener Magen war es, der so stark nach Geräuchertem roch und es war auch gar nicht wirklich sein Magen, sondern ein großes Stück dunkelroter Hinterschinken, wie Sonjo nach eindringlicher Untersuchung verzweifelt aber auch enorm erleichtert feststellte. Sein eigener, echter Magen musste sich in Melbigs Koffer befinden, aber den hatte sich der kleine Exstirpator längst geschnappt und sich ein Stück weit rechts vor dem Altar damit niedergelassen. Auch er hatte sich mit einem Ruck seinen Schlüssel vom Hals gerissen und versuchte erfolglos den Koffer zu öffnen.
Im Zuschauerraum war mittlerweile tosender Jubel ausgebrochen oder ein heilloses Getöse, Sonjo vermochte das nicht zu unterscheiden und war von den Scheinwerfern auch derart geblendet, dass er nicht sehen konnte, was sich dort abspielte. Dann fiel ihm auf, dass es Deiters schließlich doch gelungen war, Melbig auf den Rücken zu lagern und dass er bereits mit der Geflügelschere an dessen Brust zu Gange war, was aber offenbar bisher nicht zum gewünschten Erfolg geführt hatte. Deiters erhob sich, setzte die geöffnete Schere fast senkrecht an und stemmte sich mit seiner eigenen Brust auf sie. Ein erster Stoß, ein resoluter zweiter, und dann ein langanhaltender dritter, mit aller Leibeskraft, hochrotem Kopf und einem ehrgeizigen, oval verzerrten Mund aus dem zunächst Speichel und dann ein verzweifeltes, ehrgeiziges Keuchen drang. Vom Mikrofon verstärkt war es so durchdringend, dass es den Lärm im Zuschauerraum kurz vollständig niederdrückte. Einmal mehr hatte Sonjo eigentlich gar nicht weiter zuschauen wollen, aber was sich dort abspielte war so ungeheuerlich und einzigartig, dass er seinen Blick denn doch nicht abwenden konnte. Melbigs zäher, strammer Körper hatte nur kurz vom dritten Stoß gewackelt, dann war die Schere abgerutscht und Deiters der Länge nach auf Melbig gefallen, was etwas unanständig aussah, fast so als wollte er ihn küssen.
Auch der kleine Exstirpator war auf Deiters aufmerksam geworden.
„Schere!“ brüllte er in Deiters Richtung, und hielt Deiters die Hand fordernd, wie bei einer echten Operation, entgegen.
„Neiiiin!“ kreischte Deiters und stocherte erfolglos auf Melbigs Brust ein. Sein Mikrofon war noch immer eingeschaltet und es gab eine ohrenbetäubende Rückkopplung, in deren Folge der Lärm aus dem Zuschauerbereich vorübergehend vollständig verebbte.
„Du gibst jetzt die Schere her, kapiert, sonst… “, drohte der Exstirpator und zwar in einem dunklen Ton, der so barsch war, dass selbst Sonjo den Impuls verspürte, ihm sofort eine Schere auszuhändigen.
Auch Deiters hatte jetzt keine Sekunde mehr gezögert, dem äußerst erregten Exstirpator, noch bevor dieser den Satz beendet hatte, die Geflügelschere – ähnlich wie Bärenbind gerade noch den Koffer – über den Bühnenboden hinweg entgegen zu schleudern.
Sonjo wollte jetzt sofort hin zu Melbigs Koffer, aber was hätte er mit seiner einzigen Waffe, dem Schinken, gegen die Geflügelschere ausrichten können? Da war aber etwas, was neue Hoffnung in ihm genährt hatte. Und zwar das sonst. „Aber was sonst?… sonst?… sonst?“ überlegte Sonjo. Noch stand er auf der linken hinteren Seite der Bühne. Vorne hatte gerade der große Exstirpator den Koffer von Bärenbind ausgeschüttelt, aus dem lauter bunte Papierschnippsel in der Größe von Geldscheinen herausflatterten. Bärenbind wirkte erleichtert, aber noch nicht erlöst. „Verfluchter Mist“ , brüllte vorn der andere Exstirpator in Sonjos Gedankengang hinein und schlug verzweifelt mit der Spitze der Schere auf Melbigs Koffer ein, „das ist ja ein getarnter Stahlmantelkoffer.“
Sonjo hatte unterdessen den Quell seiner eigenen Hoffnung entdeckt. „Sonst war ein Umorientierungsprozeß fällig, bei dem er unter Garantie aus dem Schneider wäre… unter absoluter Garantie.“
Er lief zu Deiters hin, der dem mit starren Augen daliegenden Melbig gerade eine weitere Ladung Betäubungsspray in die Nase gepumpt hatte, und tippte ihm von hinten auf die Schulter. Deiters drehte sich erschrocken um und war dann, als er nur Sonjo vor sich sah, so erleichtert und perplex, dass er reflexartig in die ihm dargebotene Hand von Sonjo einschlug.
„Danke Doktor Doktor Deiters.“ sagte Sonjo dabei völlig übertrieben laut und reichte ihm noch den Schinken, den der entgeisterte Deiters ebenfalls entgegennahm. „Professor Melbig hatte tatsächlich entsprechende Vorkehrungen wegen des geheimen Ersatzmagens getroffen. Wie sie sehen habe ich ansonsten aber dicht gehalten.“ Deiters runzelte die Stirn bis tief zu den Augen runter. Er hatte noch nicht verstanden worauf Sonjo hinauswollte, fand es aber vielleicht sogar nett, dass ihm jemand Hilfe anbot.
„Was reden sie da Herr Sonjo?“ fragte er, was verstärkt durchs Mikrofon im ganzen Saal zu hören war. Sonjo schielte kurz zu dem langen Exstirpator rüber und Deiters folgte seinem Blick. Daraufhin riss er sofort seine Hand zurück, die Sonjo bis dahin gehalten hatte. Aber es war bereits zu spät. Der lange Exstirpator kam in noch längeren Schritten auf ihn zu. „Ach, das ist ja höchst interessant. Erst hast du uns den Scheiß von der Anthropogastrophagie erzählt und jetzt noch dafür gesorgt, dass der Ersatzmagen verschwunden ist, damit wir dir nicht doch noch in die Quere kommen können. Von wegen enterokardiale Partnerschaft, hä?“ Und schon hatte er den knienden Deiters am roten Krawattenknoten nach oben gezogen, in Richtung Altar geschleift und seinen Kopf wie einen Scheibenwischer auf Stufe drei hin und her geschüttelt. Das Mikrofon ging dabei mit einer knirschenden Übertragung seiner eigenen Zerquetschung zu Grunde. Sonjo war etliche Meter zurückgewichen und wartete. Erst als Deiters schon nasal betäubt zu Boden gesunken war – er hatte gar nichts mehr zu seiner Verteidigung sagen können – und der lange Exstirpator bereits seine eigene rote Krawatte vorsichtig der Länge nach faltete, kam auch der zweite Exstirpator hinzu und mahnte zur Eile. Melbigs Koffer hatte er ungeöffnet vorne rechts auf der Bühne liegen lassen. Sonjo triumphierte in sich hinein. Er hatte subversiv und erfolgreich die Kontrolle auf der Bühne übernommen und der Umorientierungsprozeß war genau in seinem Sinne abgelaufen. Jetzt würde er einfach zum Koffer hingehen und ihn mitnehmen. Trotz der Umorientierung hielt Sonjo es für ratsam, das Gesichtsfeld der Exstirpatoren nicht zu kreuzen. Obwohl er etwas länger war, wählte er den Weg zwischen dem starr am Boden liegenden Melbig und dem schlaff am Boden liegenden Deiters, vor dem die Exstirpatoren knieten und Sonjo den Rücken zukehrten. Die transorale digitale Exstirpation bei Deiters war in vollem Gange, als mit einem Schlag zum zweiten Mal während der völlig durcheinandergeratenen Zeremonie jegliches Licht im Saal erlosch. Lediglich das schmale, scharf abgegrenzte Mondlicht erhellte wie schon bei der ersten Dunkelheit einen kleinen sichelförmigen Ausschnitt in der Mitte der Bühne. Im Zentrum der Bühne stand der Altar. Dieses mal fiel der schmale Lichtstrahl genau auf die Deckplatte. Dort, im Bauch der uralten Mondsichel, und nun erneut im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, lag, mit vier weißen Schnüren länglich und halb gekrümmt wie ein Embryo, der Kultmagen im Schlamm. Zunächst pendelte seine Kopfpartie mit einem leichten Wippen nach rechts und links, so als suche er die Schüssel. Der Mund schnappte dabei ab und an in rudimentärer Halbherzigkeit ins Leere, ein Verhalten, dass an einen überschießenden animalischen Reflex erinnerte. Anschließend begann der Kultmagen am ganzen Leib immer mehr zu zittern, bis er fast vibrierte. Dann krümmte er sich plötzlich krampfhaft zusammen. Dabei verspritzte er aus einigen nebeneinanderliegenden Öffnungen, ähnlich wie bei einer Rasensprengerleiste, ein weißliches Sekret, das den Schlamm auf der Deckplatte besprenkelte. Dieser Vorgang wiederholte sich einige Male in rascher Folge. Zwischen Schlamm und Sekret kam es zu einer chemischen Reaktion. Sie nahm unter vermehrter Schaumbildung und Ausbreitung stetig zu und drohte, den Kultmagen zu erreichen. Mit einer Behändigkeit, die man diesem plumpen Wesen niemals zugetraut hätte, hüpfte der Kultmagen weit über die Hinterkante des Altars hinaus und fiel mit einem dumpfen Geräusch zu Boden. Im ganzen Saal herrschte betroffene Stille. Von verschiedenen Richtungen huschten Gestalten durch die Dunkelheit auf der Bühne. Aus dem Zuschauerraum war mittlerweile jemand mit einer Taschenlampe zur Bühne vorgedrungen. Der kleine Lichtkegel suchte vor dem Altar, ungefähr dort, wo Melbigs Koffer gelegen hatte, herum und erfasste dann eine umfangreiche Figur, die sich eng an der rechten Bühnenwand entlang nach hinten verdünnisierte. Der Lichtkegel nahm die Verfolgung auf und verschwand durch das Eingangsloch in der Rückwand. Auf dem Altar hatten die Reaktionen exponentiell zugenommen. Die schiefersteinerne Deckplatte war vollkommen mit einem weißen, feinblasigen Schaum bedeckt und knirschte beträchtlich. Der Schlamm hatte sich bereits unter gelblicher Qualmbildung weitestgehend aufgelöst. Mit einem Mal brach dann auch die Deckplatte entzwei. Die beiden Fragmente klappten zu Boden und zerbröckelten dabei wie ein Mürbteigboden. Einige Sekunden später waren auch die verbliebenen Krümel verpufft. Die beiden Findlinge blieben unbeschadet und durchschnitten mittig und senkrecht den Sichelschein des Mondes, der wie der Rücken eines ovalrunden E aussah. Der Kultmagen musste gleich daneben im Dunkeln liegen.

Leseprobe: Brigitte Morgenroth – „Hundeseele”

Es waren Kleinigkeiten, die mich hielten. Der Apfelbaum, dessen Blüten reiche Ernte versprachen, eine dunkelrote Iris, die in diesem Jahr zum ersten Mal blühen sollte, der Mehltau auf dem Strauch weißer Rosen, den es zu bekämpfen galt. Seit fünf Jahren lebte ich im Haus meiner Großmutter am Rande des Dorfes, dort, wo die Felder in Wald übergingen. Hier hatte ich mich eingerichtet und dieses Mal wollte ich nicht wieder gehen. Doch ich würde dafür kämpfen müssen – und diesmal nicht nur für mich.
Ich sah Waltraut zum ersten Mal an einem sonnigen Tag Anfang Juni, als ich mit dem Fahrrad ins Dorf fuhr, um Milch und Brot zu kaufen. Die Straße mäanderte zwischen dotterblumengelben Wiesen, am Wegrand blühte Wiesenkerbel in weißen Dolden und nicht weit entfernt bohrte sich die Turmspitze der Dorfkirche in den Himmel. Menschen, aufgefädelt am unbefestigten Straßenrand, kamen mir entgegen – Scherenschnitte im gleißenden Sonnenlicht. Erst als sie sich näherten, sah ich, dass es Mädchen waren, geführt von zwei Nonnen. „Heilige Maria, Mutter Gottes“, beteten die Schwestern und im Chor antwortete die Gruppe: „Gebenedeit seist du unter den Weibern und gebenedeit ist die Frucht deines Leibes Jesu.“ Das Ave Maria wirkte wie ein geheimnisvolles Ritual und die monotone Wiederholung gab dem Gebet Magie. Ich hielt an und betrachtete die vorbeiziehende Gruppe, uniformiert in dunklen Röcken, weißen Blusen und grauen Kopftüchern. Sie hielten die Blicke gesenkt, schritten gemessen im Takt des Gebetes. Ein Mädchen brachte Unruhe in das Bild: Sie bewegte ihre schlaksigen Arme und Beine im seltsamen Rhythmus, drückte die Knie nie ganz durch. Ihr Kopf war wachsam erhoben, ihr Blick suchte unruhig die Hügel ab, die Nasenflügel blähten sich – sie schien zu schnuppern wie ein scheues Tier. Ihre grünen Augen blieben ausdrucklos, als sie mich kurz streiften. Erst als das Gebet weit entfernt zur wortlosen Beschwörung wurde, fuhr ich weiter. Es dauerte eine Weile, bis Vogelgesang und Grillenzirpen wieder in mein Bewusstsein drangen.

***
Ich wusch Sauerampfer, dünstete ihn, goss Brühe und Rahm auf und passierte alles zu einer hellgrünen Suppe. In ein Küchentuch gepackt stellte ich den Topf zum Brot in einen Korb. Ich befestigte ihn auf dem Gepäckträger, schob das Fahrrad zum Gartentor und machte mich auf den Weg zu meiner Mutter. Das alte Haus war schon von weitem zu sehen. Es stand auf einer Kuppe und klammerte sich an ausgefranste Fichten. Vorsichtig umfuhr ich Schlaglöcher, die den Weg durchsiebten und vermied es, das Haus anzusehen. Ich fixierte den Zaun, an dem ich mein Fahrrad anlehnte, nahm die Suppe und das Brot, sah die zugewachsenen Steinplatten, die zum Haus führten. Es waren genau dreizehn, ich kannte sie alle und jede brachte mich näher an das Ziel, zu dem ich nicht wollte. Trete ich nicht auf den Rand, darf ich zwei zurückgehen und mich drei Platten weit in Zeitlupe bewegen, sonst muss ich sieben Platten lang springen und wäre gleich da. Die Stimme meiner Mutter riss mich aus dem Spiel. „So kommst du nie an.“
Ich zwang mich, ihr ins Gesicht zu sehen, und das Haus war wieder ein Haus, der Weg ein Weg, den ich schnell entlangging, um die alte Frau zu begrüßen. Vor 15 Jahren, kurz bevor sich mein Bruder in der Scheune erhängte, hatte ich es im Streit verlassen, um nicht zurückzukehren.
Am Küchentisch mit der geblümten Wachsdecke saßen wir schweigend, brachen das Brot in Stücke, tunkten es in die Suppe und kauten die weichen Klumpen. „Für Fleisch reicht dein Lehrerinnengehalt wohl nicht.” Nach dünnem Getreidekaffee aus Blechtassen gingen wir in den Garten – die Kirschen waren reif. Ich stand auf der Leiter, mein Kopf verschwand im Grün der Blätter, die Insekten summten in der Hitze. Meine Hände griffen die roten Kirschen, zogen sie vom Stiel, der Saft lief über die Finger. Ich leckte ihn ab und legte zwei miteinander verbundene Früchte als Schmuck über die Ohren, damit sie auf den Wangen leuchten wie Rubine – Kirschenprinzessin.
„Bist du endlich fertig“, tönte die Stimme meiner Mütter, brüchig vom Alter. Hastig pflückte ich die übrigen Früchte.
Wir schnitten die Kirschen auf, rissen den Kern heraus, unsere Hände färbten sich rot. Bald hatten wir einen gemeinsamen Rhythmus gefunden: greifen, schneiden, atmen. Die Zeit stand still, nur der Berg roten Fruchtfleischs wuchs, der Saft malte dunkle Linien auf den Tisch. Das Knarzen des Stuhles beim Aufstehen stieß die Zeit wieder an. Meine Mutter schürte das Feuer im Herd und stellte einen Topf auf die Eisenringe. Bald hatten wir Gläser mit Marmelade vor uns stehen, auf die wir Etiketten klebten: Kirschen 1955. Beim Abschied fragte die alte Frau: „Kann es nicht öfter so sein?“
Ich drehte mich um und ging über die fünfzehn Steinplatten zu meinem Rad. Vielleicht sollte ich versuchen, auf einem Bein über die letzten beiden Platten zu hüpfen?
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Greta lernt Schwester Magdalena und Waltraut kenne. Die Nonne kümmert sich um das Mädchen, das als Waise in einem Kloster untergebracht ist. Als sie dort misshandelt wird, bringt Schwester Magdalena ihr das Mädchen in der Hoffnung, dass Greta für sie sorgen wird.
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Das Mädchen starrte verloren aus dem Rahmen des Passfotos, den Kontakt mit der Kamera meidend, den Betrachter ausschließend. Als würde sie nach einem Fluchtweg suchen. Hatte der Fotograf ihr vorher die wirren Haare aus dem Gesicht gestreift und den auf den Boden gerichteten Blick freigelegt? Hatte er das Kinn gehoben, das vorher ängstlich an das Brustbein gedrückt war? Eine Büroklammer färbte rostend den Scheitel des Mädchens und zwang den Bildrand in eine gebogene Form. Ich zog das Foto unter der Klammer heraus und versuchte, es glatt zu streichen, strich über die hohen Wangenknochen, den leicht geöffneten Mund mit den schiefen Zähnen. Dann betrachtete ich Waltraut, die im Sonnenflecken des Fensters schlief. Staub tanzte im Licht, ihr Brustkorb hob sich beim Atmen, sie schnorchelte leise. Seufzend schob ich das Bild wieder unter die Klammer. Daneben stand Name und Geburtsdatum auf dem grauen Papier der Akte: Waltraut Lili Moser, geb. 03. Mai 1939, darunter BERICHT ÜBER DAS STAATSMÜNDEL MOSER”, hart von der Schreibmaschine in das Papier geschlagen, der Kopf des R verschmiert von einer verschmutzten Type.
Magdalena hatte heute Morgen die Akten gebracht. Sie hatte erzählt, sie habe die Äbtissin gezwungen, alle Unterlagen von Waltraud herauszugeben. Auch eine schriftliche Bestätigung liege vor, dass das Kloster auf Ansprüche an das Mädchen verzichte. Ob ich mir inzwischen vorstellen könne, die Pflegschaft für Waltraut zu übernehmen? Sie wisse, dies sei eine schwierige Entscheidung. Aber wenn ich sie nicht übernähme, würde ausschließlich das Jugendamt über das Mädchen entscheiden.
„Waltraut kann bei mir bleiben. Ich übernehme die Pflegschaft.“ Magdalena hatte erleichtert gewirkt. Sie kenne die Sachbearbeiterin im Jugendamt und werde alles in die Wege leiten. Ich wunderte mich, dass die Äbtissin sich so einfach fügte. Sie habe gute Beziehungen zur Leitung im Mutterhaus und ihre Familie habe Einfluss in München, bemerkte Magdalena kurz. Ich bräuchte mir keine Sorgen machen, es würde keine Schwierigkeiten geben. Ob ich beim Arzt gewesen wäre? Sie war froh zu hören, dass Waltraut keine inneren Verletzungen habe. Den Bericht als Beweis für die Misshandlungen wolle sie gerne bei sich aufbewahren. Ich versprach, Dr. Schulenberg um eine Abschrift zu bitten.

Waltraut stützte sich schlaftrunken auf die Arme und kratzte sich am Kopf. Ich ging zu ihr und versuchte ihre Hand festzuhalten. “Nicht, Waltraut, das macht es nur noch schlimmer.”
Sie riss sich los und kratzte weiter, Schorf blieb an ihren Fingernägeln hängen, die Kopfhaut fing an zu bluten.
“Waltraut, hör auf!”, fuhr ich sie an.
Erschrocken schaute sie mich an.
“Du siehst aus wie ein gerupftes Huhn.”
“Waltraut ist kein Huhn”, schmollte sie.
“Nein, bald wächst dir wieder ein schönes, glänzendes Fell.” Ich tupfte ihr Johanniskrautöl auf die wunden Stellen. “Wenn du nicht kratzt, heilt es schneller.”
“Waltraut kratzt jetzt nicht mehr”, sagte das Mädchen, gähnte und rollte sich auf der Decke zusammen. Halb im Schlaf murmelte sie: “Frau Schneider, kann ich bei dir bleiben?”
“Ja, und ab jetzt bin ich die Greta.“

Als sie wieder eingeschlafen war, ging ich an den Herd. Darauf stand ein Topf, dessen Inhalt leicht brodelte. Der Deckel hob sich von Zeit zu Zeit, um Dampf abzulassen, und fiel wieder klappernd zurück. Wasser lief herunter und verdampfte zischen in der Gasflamme. Ich hob den Deckel, nahm den Kochlöffel und rührte. Ein grau gekochtes Stück Fleisch stieg an die Oberfläche, ein mit Mark gefüllter Knochenring, dazwischen Karotten und Sellerie. Gustl hatte mir vorausschauend Suppenfleisch und Knochen vom Markt mitgebracht. Das würde für die nächsten Tage reichen. Ich stellte die Gasflamme etwas kleiner und setzte mich wieder an den Tisch.
Waltraut Moser wurde am 5. April 1951 im verwahrlosten Zustand auf dem Hof ihres Vaters Wolfgang Moser vorgefunden. Die Mutter Adelheid Moser starb am 25.02.1951. Das Jugendamt ist einem Hinweis der Nachbarin Marta Beer nachgegangen. Das Mädchen lebte in einem Schuppen bei den Hunden. Sie schlief auf Stroh, trug Fetzen, war räudig und unterernährt und fraß das Futter der Hunde, auch rohes Fleisch. Sie griff die Mitarbeiterin des Jugendamtes an, knurrte und bellte.
Eine Befragung des Vaters ergab, dass Waltraut in diesem jämmerlichen Zustand lebt, seit sie vier Jahre alt war. Das Haus ist schlampig geführt und voller Müll, der Vater und ein Sohn, Erich, 17 Jahre, leben dort, beide sind Alkoholiker. Drei weitere Kinder sind bereits aus dem Haus, zwei waren der Fürsorge unterstellt.
Waltraut ist das jüngste Kind und laut Aussage des Vaters war es ihr eigener Wunsch, bei den Hunden zu leben. Sie sei immer schon seltsam gewesen. Die Eltern hätten mit den anderen Kindern genug zu tun gehabt und die Zeiten seien hart gewesen.
Nur mit Unterstützung der örtlichen Polizei war es möglich, das Mädchen zu entfernen und ins Heim zu bringen. Erst nach einigen Tagen Einzelhaft wurde Waltraut fügsam.
Ich betrachtete das beigelegte Schwarz-Weiß-Bild: ein altes Haus, daneben ein baufälliger Schuppen. Unkraut wuchs zwischen Stapeln von Müll und der Boden war erstarrt in eine Landschaft voll Furchen und Schlaglöcher, die Fahrzeuge in den Schlamm gegraben hatten. Ich blätterte um. Auf der nächsten Seite war der Bericht des Amtsarztes.
Waltraut ist 1,68 cm groß und wiegt bei der Aufnahme 43 Kilo. Die Zähne sind schief gewachsen, jedoch im guten Zustand, sie leidet nicht unter Rachitis. Handballen und Knie sind verhornt, was auf die hündische Fortbewegungsweise auf allen Vieren zurückzuführen ist. Sie befindet sich auf der geistigen Entwicklungsstufe eines vierjährigen Kindes und kann nur in einfachen Sätzen sprechen. Waltraut beherrscht nicht die grundlegenden Regeln im Umgang mit anderen Menschen und ist widerborstig. Ihre Jungfräulichkeit hat sie bereits verloren, weshalb auch von einer sittlichen Verwahrlosung auszugehen ist. Eine geistige Behinderung kann angenommen werden. Waltraut hat nicht die Anlagen, sich zu einem nützlichen Mitglied der Gesellschaft zu entwickeln. Deshalb wird empfohlen, sie in einem Heim mit festen Strukturen und strengem Regiment unterzubringen, um ihr einfachstes menschliches Verhalten und Moral beizubringen. Ist das nicht möglich, bleibt nur die Unterbringung in einer psychiatrischen Anstalt. Ein Schulbesuch würde die Fähigkeiten des Mädchens übersteigen. Jedoch sollte sie einfache Tätigkeiten erlernen, um sich nützlich zu machen. Waltraut wurde entwurmt, mit DDT entlaust und hat die notwendigen Impfungen erhalten.
Ich stand auf und ging wütend im Zimmer auf und ab. Wann hörte diese Menschenverachtung endlich auf? Vor nicht allzu langer Zeit hätten sie Waltraut wahrscheinlich erschlagen wie einen räudigen Hund.
Waltraut war wach geworden und beobachtete mich ängstlich.
“War Waltraut böse?”
“Nein”, beruhigte ich sie. “Hast du Hunger?”
Sie nickte.
“Komm her, dann essen wir jetzt ein leckeres Brot.”
Ich ging zum Herd, hob den Deckel und angelte mit einem Schöpflöffel den Markknochen aus dem Topf und legte ihn zum Auskühlen auf einen Teller. Waltraut schaute zu. Ich schnitt vom Laib zwei Brotscheiben ab, bestrich sie mit Butter, löste das Mark vom Knochen und verteilte es auf die Schnitten. “Jetzt noch Salz und Pfeffer und fertig ist der Leckerbissen.” Wir bissen in das Roggenbrot, das würzige Knochenmark zerging auf der Zunge, Waltraut lief die Brühe über das Kinn. “Das schmeckt gut.” Das Mädchen schmatzte genüsslich. Ich wischte ihr das Kinn mit dem Küchenhandtuch ab. “Und es gibt Kraft.” Ich spürte die Anstrengung der letzten Tage.  “Wenn meine Mutter früher Rinderbrühe gekocht hat, habe ich mich immer mit meinem Bruder um das Knochenmark gestritten”, erzählte ich.
Waltraut schluckte den letzten Bissen hinunter. “Du hast auch einen Bruder. Er heißt Erich.” “Erich ist böse, er hat Waltraut immer wehgetan.” Ich goss Holundersaft in zwei Gläser und füllte Wasser auf. “Hier sind Vitamine für dich.” Ich reichte Waltraut das Glas. “Was sind Tamine”, das Mädchen sprach das Wort vorsichtig aus, als würde sie versuchen, es zu schmecken. “Das sind ganz kleine Stoffe im Essen, die man nicht sieht, aber die uns helfen, gesund zu bleiben. Vi-tamine” “Vitamine”, murmelte Waltraut und trank den Saft in einem Zug. “Weißt du eigentlich, dass du mit zweitem Namen Lili heißt?” “Waltrauts Großmutter war eine Lili”, sie krauste angestrengt die Stirn, als versuche sie sich zu erinnern. “Großmutter Lili ist schon lange tot. Sie hat auf Waltraut aufgepasst, als sie klein war. Als Großmutter Lili gestorben ist, ist Waltraut zu den Hunden gegangen.” Sie sah plötzlich müde aus. “Leg dich wieder hin und schlaf noch ein bisschen.” Gehorsam trottete sie zur Decke, zog sie in den Sonnenflecken, der inzwischen weitergewandert war.

Ich setzte mich wieder an den Tisch und blätterte die letzte Seite des Berichts auf. Dort stand nur die Notiz: Am 24.06.1951 abgegeben in die Obhut der Barmherzigen Schwestern vom Kloster Tiefenbach. Unter der Akte lag ein Schreiben, vermutlich Magdalenas Handschrift, gestochen und ohne jeden überflüssigen Schnörkel: Einverständniserklärung stand in Drucklettern auf dem Kopf.
Hiermit erklärt sich das Kloster Tiefenbach damit einverstanden, dass die Lehrerin Greta Schneider die Pflegschaft für das Mündel Waltraut Moser übernimmt. Die Einzelbetreuung durch eine pädagogisch gebildete Person ist für eine positive Weiterentwicklung des Mündels wünschenswert. Schwester Magdalena, Nonne desselbigen Ordens, erhält die Vollmacht, die Belange von Waltraut Moser zu klären.
Unterschrieben war der Brief von der Äbtissin und von Magdalena. Wie hatte sie wissen können, dass ich einer Pflegschaft zustimme?
Magdalena, du hast hoch gespielt.
Und gewonnen, seufzte ich. Magdalena hatte gesagt, sie wisse, was es für mich bedeute, die Verantwortung zu übernehmen. Wie sie das wissen könne, war ich ihr erregt ins Wort gefallen. „Greta, ich werde immer für dich und Waltraut da sein.“ Wir hatten geschwiegen und ich betrachtete Magdalenas Kette, die sich golden über das Holz des Tisches schlängelte. Magdalena war meinem Blick gefolgt. Sie zögerte einen Moment, doch dann nahm sie die Kette in die Hand. Das Kreuz sei ein Erbstück ihrer Familie, schon ihre Großmutter habe sie getragen. Sie legte das Kreuz auf ihre Brust. Ob ich die Kette schließen könne? Ich trat hinter sie, schob den Schleier zur Seite und schob den Ring in den Verschluss, den ich mit dem Daumennagel entriegelt hielt.
Wie konnte sie nach der vergangenen Nacht noch an das Kreuz glauben?
Magdalena schien meine Zweifel zu spüren und drehte sich um. Schützend legte sie die Hand über das Kreuz. “Es ist das Leben, das ich gewählt habe. Und ich bin mir immer noch sicher, dass es das Richtige ist. Ich glaube an das Gute im Menschen und Jesus Christus ist für mich der Weg in eine bessere Gesellschaft.“
Sie hatte sich von Waltraut verabschiedet und versprochen, bald wieder zu kommen. Dann nahm sie mich zur Seite und fragte, wo die Kleider aus dem Kloster waren, die Waltraut getragen habe. Als sie mein fassungsloses Gesicht war, sagte sie leise, dass die Schwester, die für die Wäsche zuständig war, darauf bestanden hätte, die Kleider zurück zu bekommen, denn sie gehörten dem Kloster. Wortlos holte ich die blutigen Sachen aus dem Mülleimer und band sie zu einem Bündel. Magdalena verabschiedete sich, ohne mich anzusehen.

Ich ging zu dem Metallregal mit den Aktenordnern, das in der Abstellkammer neben der Waschküche stand. Die Ordner mit den von Blechfolie gerahmten Grifflöchern starrten an die gegenüber liegende Wand. Ich wollte nicht, dass sie im Wohnzimmer standen, mit ihren Dokumenten und Unterlagen, die ein Leben erst amtlich machten. Menschen, von denen nichts übrig blieb als Papier in dunkelgrau marmorierten Aktendeckeln.
Hier mein Bruder, das letzte Dokument die Sterbeurkunde und die Rechnung vom Friedhof, obwohl sie ihn als Selbstmörder vor der Friedhofsmauer beerdigt hatten. Ich strich über den Ordnerrücken, auf dem Martha Schneider stand. Gelocht und eingeordnet befand sich dort ihr Leben von Geburt, über Taufe, Hochzeit, Kinder bis zu ihrem Tod. Die letzte Seite, ein Testament, überschrieb mir das Haus. Großmutter hatte gewusst, dass ich eine Zuflucht brauchen würde. Ich streckte mich, um einen leeren Ordner ganz oben zu erreichen, steckte den Finger durch das Griffloch und zog ihn aus dem Regal.
Waltraut, jetzt wirst du eingedeckelt.
Aus dem Ordner stieg muffiger Geruch. Mit dem Hebel öffnete ich das Maul des Klemmbügels, heftete die Akte ab, lochte das Schreiben des Klosters, fügte es hinzu und fixierte die Dokumente mit dem Klemmer. Auf den Rücken schrieb ich ‘Waltraut’ und ergänzte nach kurzem Zögern “Lili”, bevor ich mit „Moser“ abschloss.
Wohin stelle ich dich?
Die Ordner im mittleren Regalbrett lehnten sich zur Seite, ich richtete sie auf, und stellte den Ordner in die entstandene Lücke am Ende des Regals – er passte gerade noch hinein. Elisabeth Anna stand auf dem Ordner daneben. Mein Herz zog sich zusammen, ich streichelte den Namen meiner Tochter.

“Waltraut, aufstehen, es gibt Abendessen.”
Das Mädchen hatte fast den ganzen Tag verschlafen, die Abendsonne tauchte den Garten in dunstiges Licht und ließ den herannahenden Herbst erahnen. Ich hatte das Fleisch in Stücke geschnitten und mit Suppennudel in die kochende Brühe geworfen. Auf dem Tisch standen zwei Teller mit blauem Blumenmuster auf dem Rand, zwei Löffel, zwei Gläser, ein gefüllter Brotkorb. Waren es diese alltäglichen Gegenstände, die ein Zuhause schufen? Oder war es, weil ich sie mit jemand teilte?
Waltraut streckte sich und kam zum Tisch, setzte sich auf die Stuhlkante, bereit zur Flucht. “Schlägst du Waltraut, wenn sie nicht richtig isst?”, ängstlich schaute sie mich an.
“Nein.”
Sie nahm den Löffel in die Faust und stocherte konzentriert in der Suppe. Der Löffel balancierte wackelig durch die Luft, Brühe lief ihr die Hand herunter. Es gelang ihr nur mühsam, ein Stückchen Fleisch oder Gemüse in den Mund zu stecken. Schließlich senkte sie den Kopf zum Teller und schlürfte die Suppe vom Löffel, bevor er auf dem langen Weg zum Mund verkanten konnte. Mit einem prüfenden Blick vergewisserte sie sich, ob ich ihr Verhalten duldete. Ich tat, als wäre ich vollauf damit beschäftigt, meine Suppe zu essen, und beachtete sie nicht. Als sie fertig war, leckte sie schmatzend denn Teller aus, ihre Augen strahlten.
“Na, den brauchen wir nicht mehr waschen”, lachte ich. Gemeinsam wuschen wir ab, Waltraut ungelenk und voller Angst, etwas fallenzulassen. Aber als wir fertig waren, platzte sie fast vor Stolz.
“Das hast du gut gemacht”, lobte ich sie. “Komm, ich zeig dir jetzt dein Zimmer.”
“Mein Zimmer? Waltraut wohnt hier”, sie zeigte auf den Boden vor dem Sofa.
“Du brauchst ein Bett und einen Schrank, wo du deine Sachen hinein tun kannst.”
“Nein”, sagte sie bockig. “Waltraut schläft hier.”
“Komm, wir schauen uns das Zimmer einfach mal an.” Nur schwer konnte ich sie überreden, mit mir in den ersten Stock zu gehen. Misstrauisch beäugte sie die enge Treppe. “Schau mal, hier schlafe ich”, ich öffnete die Tür zu meinem Schlafzimmer. Über das breite Holzbett hatte ich hastig die Tagesdecke aus bunten Stoffresten geworfen. Neben dem Fenster stand ein blauer Bauernschrank mit aufgemalten Rosenblüten.
“Kann ich bei dir schlafen?”
“Nein, dafür bist du schon zu alt. Schau mal, das Zimmer nebenan, da kannst du schlafen.”
Das Mädchen folgte mir widerwillig. Misstrauisch betrachtete sie das schmale Bett und die Kommode. Das Zimmer war nicht groß, aber das Fenster ging zum Garten. Man konnte direkt in den Kirschbaum schauen. “Wir können es schön einrichten.” Ich sah ihr an, dass ihr der Ausblick gefiel und auch das Marienbild, dass noch von meiner Großmutter stammte. Mit sanften blauen Augen und roten Wangen strahlte die Muttergottes ihr Kind an. “Kann ich trotzdem unten schlafen”, bat Waltraut. Zögernd stimmte ich zu.
Die Zeit wird es schon richten.
“Aber dann nehmen wir Decken mit runter, damit du es weich hast und nicht frierst.”
Im Wohnzimmer bauten wir ein Lager. Das Mädchen war aufgedreht und wälzte sich zwischen den Decken. Ich warf ihr ein Kissen an den Kopf, nach dem sie knurrend schnappte. Sie verbiss sich in den Zipfel, als ich versuchte, ihr das Kissen wieder abzunehmen. Ich verlor das Tauziehen und fiel auf Waltraut. Wir lachten, bis uns Tränen in die Augen stiegen. Plötzlich sah Waltraut müde und erschöpft aus. Sie hielt sich die Rippen. “Waltraut ist müde.”
“Dann ruh dich aus. Du musst dich erholen.”
“Greta!”
“Ja.”
“Kann ich nicht Lili heißen, wie meine Großmutter.”
“Aber Waltraut ist doch ein schöner Name.”
“Aber die Kinder haben Waltraut immer geärgert. Sie haben immer Wau-Wau-Waltraut gesagt oder Waldi. Komm her, sitz, sei brav! Waltraut ist doch kein Hund.”
Sie weinte leise, ich strich ihr tröstend über den Rücken.
“Dann heißt du jetzt Lili wie deine Großmutter und wie meine Lieblingsblume.”
“Kannst du Lili die Lieblingsblume zeigen?”
“Ja, aber erst nächstes Jahr, wenn die Lilien wieder blühen.”
“Ist Lili dann noch bei dir?”
“Ja.”
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Greta fährt mit Lili und dem Arzt Karl, der das Mädchen behandelt hat, zu dem Hof, auf dem Lili aufgewachsen ist. Lili hofft, dort ihr Hundemutter wiederzufinden.
——————————————————————————————————————————– Das Motorrad tickerte, Regenwasser verdampfte auf dem Motor. Karl schlug die Plane vom Beiwagen und reichte mir den Helm, Lili setzte die Lederkappe auf und schielte durch die Brille wie ein monströses Insekt.
“Komm, steig ein”, ich zog sie zu mir in den Beiwagen und deckte uns mit der Plane zu.
Karl startete das Motorrad und wir fuhren schlingernd über den schlammigen Feldweg zur Straße, durchquerten das Dorf und entfernten uns auf der Bundesstraße, die sich im Wald verlor. Der Wind fegte durch die Bäume, entriss ihnen die bunt gefärbten Blätter, die schwer vom Regen auf die Straße trudelten und harmlose Kurven in eine Rutschbahn verwandelten. Karl fuhr langsam, damit die Räder nicht den Halt verloren. Nebel waberte über den Baumwipfeln, verfing sich, zerriss, wehte in Fetzen über die Straße.
Der Wald spuckte uns aus, es wurde heller. Häuser tauchten auf, grau duckten sie sich am Straßenrand, daneben ein Weiher mit dunklem Wasser, ein Steg bahnte sich durch verrottendes Schilf. Ein Ruderboot hing mit Wasser gefüllt an einem Strick. Lili lehnte sich an mich, mein Helm stieß an ihren Kopf. An einer Kreuzung blieb Karl stehen: “Und jetzt?” Lili deutete auf einen unbefestigten Weg, der von den verschreckten Häusern wegführte, die vorgaben, ein Dorf zu sein. Wir fuhren an sumpfigen Wiesen vorbei. Das gelbe Gras war durchsetzt von Moos und braunen Wasserlachen, dazwischen standen Wollgrasbüschel, als hätte ein Kind schmutzige Watte verstreut. Im Nebel tauchte ein Schuppen auf. Grob vernagelte Planken versuchten, sich aus der aufgezwungenen Form zu lösen. Ein Ruck presste Lili an mich, erdiges Wasser spritzte auf, als das Rad in ein Schlagloch geriet. Der Motor heulte auf, zog den widerstrebenden Beiwagen weiter über den geschundenen Weg. Ein Stapel Holz hockte am Wegrand – ein unentwirrbarer Haufen aus Brettern und Baumstücken. Wie ein schwarzer Vogel flatterte eine Plane im Wind. Ich spürte Lilis unruhigen Atem, zog sie fester an mich.
“Wir sind da.”
Das Haus starrte uns aus blinden Fenstern an, niedergedrückt vom Dach. Ziegel klammerten sich in durchhängenden Reihen an den schiefen Dachstuhl, die Löcher geflickt mit Teerpappe. Die Fassade bröckelte, die Tür ein verschlossener Mund mit ausgefranstem Schlüsselloch.
Karl würgte den Motor ab. Die Stille klang in den Ohren. Der Regen war mehr zu spüren als zu hören. Nur das Fallen der Wassertropfen vom Dach auf die schlammige Erde hallte im Nebel nach. Wir stiegen aus, legten Helme und Lederkappe in den Beiwagen und wischten uns den Regen von den Gesichtern. Der Wind und die Kälte hatten Karls Züge hart werden lassen, zwei tiefe Falten zwischen den Augenbrauen verdüsterten seinen Blick, Feuchtigkeit glitzerte in seinem Bart. Lili nahm mich bei der Hand.
“Sie bellt nicht”, Tränen standen ihr in den Augen. “Sie ist nicht mehr da.”
Karl war um das Haus gegangen. Er versuchte, durch die verschmutzten Fensterscheiben zu sehen, klopfte leise an die Tür – nichts geschah.
“Es scheint niemand mehr hier zu wohnen.”
Unschlüssig standen wir im Regen, Lili winselte. “Zeig mir, wo du mit deiner Hundemutter gewohnt hast.” Sie führte uns einen schlammigen Pfad entlang, gesäumt von faulenden Brennnesseln. Ein Aborthäuschen stank uns entgegen, die offene Tür bewegte sich im Wind, gab den Blick frei auf einen groben Balken mit Loch. Ein Stück weiter tauchte ein Schuppen aus rostigem Wellblech auf, nach dem stachelige Ranken eines Brombeerstrauches griffen. Die Früchte waren zu schwarzen Klumpen getrocknet, von den Dornen tropfte Regen auf die letzten gelben Blätter.
“Hier habe ich gewohnt.” Lili versuchte, die Tür zu öffnen, verhakte sich in den Dornen. “Lili, halt still.” Vorsichtig befreite ich sie von der Ranke. Wir öffneten die Tür, die sich quietschend wehrte, muffiger Geruch schlug uns entgegen. Als sich meine Augen an das dämmrige Licht gewöhnt hatten, sah ich einen Haufen Stroh, zu einem Lager gehäuft, verdreckt und schimmelig. Vor einem Futternapf mit eingetrockneten Resten schlängelte sich eine rostige Kette mit einem Halsband. Dunstig fiel Licht durch ein Loch, das aus dem Wellblech heraus geschnitten war. “Mama”, Lili stürzte sich auf das Stroh, roch an dem Halsband, leckte am Napf, lief schnuppernd auf allen Vieren jeden Winkel des Schuppens ab, bellte verzweifelt. Wut stieg in mir hoch.
Ich bin deine Mutter!
“Lili!”, ich packte sie, versuchte sie auf die Beine zu ziehen. “Es reicht. Sie ist tot, begreif es endlich!”
Sie entwand sich meinem Griff, bleckte die Zähne und knurrte, die Augen zu schmalen Schlitzen verengt. Diesmal würde ich nicht nachgeben. Ich drängte sie in die Ecke. “Lili, steh auf, du bist kein Hund. Du bist ein Mensch.” Lili versuchte, an mir vorbei zu kommen, doch ich versperrte ihr den Weg. Sie starrte mich an, Speichel lief ihr aus dem Maul, tiefes Knurren drang aus ihrer Kehle.
“Greta, hör auf!” Karl versuchte, mich wegzuziehen. In dem Moment sprang Lili vor und biss mir in den Arm. Als ich erschrocken zurückwich, rannte sie aus dem Schuppen. Der Schmerz nahm mir den Atem, Blut tropfte aus meinem Ärmel, mein Brustkorb zog sich zusammen, schnürte mein Herz ein, panisch klopfend versuchte es sich Raum zu schaffen. Dann erlöste mich Dunkelheit, Stille. Von weitem drang Karls Stimme an mein Ohr, ich spürte seine Wärme, seine Arme, die mich hielten. Ich öffnete die Augen, mein Kopf verweigerte jede Auskunft, meine Gedanken verwirrten sich unauflösbar: “Wo bin ich?”
“In Lilis Kinderstube.”
“Was ist passiert?”
“Du hast sie bedrängt. Sie hat dich gebissen und ist weggerannt.”
Schmerz pochte in meinem Unterarm, um den ein blutiges Stofftaschentuch gewickelt war.
Ich erinnerte mich: Lili, zähnefletschend, in die Ecke gedrängt, sie springt auf mich zu.
“Sie soll endlich begreifen, dass sie ein Mensch ist.”
“Und du bist ihre einzige Mutter!”
„Bin ich das nicht? Muss ich mir Lilis Zuneigung mit einer Hündin teilen?“
“Greta, die Hündin hat Lili das Leben gerettet.”
“Aber es ist doch nur ein Tier.”
“Ein Tier, das getan hat, was eigentlich die Menschen hätten tun müssen.”
Ich stand langsam auf, wischte mir das Stroh von den Kleidern, Karl klopfte den Staub von meinem Rücken.
“Wo ist Lili?”
“Ich weiß es nicht.”
“Wir müssen sie suchen!”
Vor dem Schuppen empfing uns Nebel, der die Umgebung verschluckte, nur Schemen zeigte. Die Dinge dahinter schienen sich ständig im Schutz des grauen Schleiers zu verwandeln. Die Fangarme der Brombeeren griffen nach mir, ritzten meine Haut. War es die dreizehnte Fee, die mich mit der Spindel stach? Äste griffen als Hexen mit langen Fingern nach mir.
Lauf in den Wald, Gretel!
Waren es Sträucher oder graue Kobolde, die sich auf dem Boden verbargen? Begleitete uns der Schatten eines Wolfes?
Sieh dich vor, Rotkäppchen!
Hast du Angst, lacht mein Bruder, keckert eine Krähe. Karl nahm meine Hand. Hier war der Pfad zwischen den Brennnesseln, der Gestank des Klos, der Umriss des Hauses.
“Vielleicht ist Lili zum Motorrad gelaufen.”
Plötzlich ein Bellen, dann ein Jaulen. Ich hörte Lilis Angst und schrie auf. Wir rannten in die Richtung, aus der das Bellen kam. Die Umrisse von zwei Körpern formten sich aus dem Nebel, groß und massig der eine, schmal zappelte der andere daneben. “Lassen Sie sofort meine Tochter los!” Ich lief fast in den Mann hinein, der mich mit einer Armbewegung auf den Boden schleuderte, an seiner Schulter hing ein Gewehr.
“Tochter? Das ist meine Schwester Waltraut, der Hund.” Er quetschte ihren Arm, zog sie zu sich hoch, atmete ihr ins Gesicht. Lili wand sich und bellte.
“Ich sag´s ja, ein Hund, ein räudiger Köter“, er gab ihr eine Ohrfeige, Lili jaulte auf und schwieg. Verschlagene Augen starrten aus dem aufgedunsenen Gesicht , dunkles Haar kräuselte sich aus dem Kragen des karierten Hemdes wie drahtiges Schamhaar. “Lass sie sofort los!” Ich wollte mich auf ihn stürzen. Karl hielt mich zurück: “Wer sind Sie?”
“Ich bin Erich, der Bruder von diesem Köter. Und wer seid ihr?”
“Karl Schulenberg und das ist Greta Schneider. Lili gehört zu uns.”
“Heißt die feine Dame jetzt Lili.”
“Wie meine Großmutter”, röchelte Lili.
“Die alte Schreckschraube ist doch schon lange tot”, er klemmte Lilis Kopf unter seine Achseln. “Und warum sollte ich Waltraut hergeben, sie ist meine Schwester”, er rubbelte mit den Knöcheln über ihren Kopf. “Ich könnte gut einen neuen Hund gebrauchen.” Erich lachte dröhnend.
“Wo ist meine Hundemama?”, klang es dumpf aus seiner Achselhöhle. Erich zog Lili hoch, nahm ihren Kopf in seine Pranken, nikotingelbe Finger mit Schmutzrändern unter den Nägeln pressten ihr Gesicht zur Grimasse.
“Tot, der alte Teppich. Ich habe sie auf den Misthaufen geworfen wie all die anderen Köter.” Lili heulte auf, wand sich und versuchte, Erich in die Hand zu beißen. Ich sah aus den Augenwinkeln, wie Karl mit dem Fuß einen Stock zu sich zog.
“Halt, keine Tricks”, Erich umschloss mit seiner Hand Lilis Kehle, dann grinste er. “Wenn ich es mir richtig überlege, brauche ich meine Schwester ganz dringend.” Seine freie Hand fuhr über Lilis Po, der fast vollständig in seiner Hand verschwand, fuhr dann weiter zwischen ihre Beine. Übelkeit stieg in mir hoch, ich sah, wie Lilis Augen sich angstvoll weiteten. Meine Hände ballten sich zu Fäusten. Karl riss den Stock hoch, erstarrte, als Erich genüsslich die Kehle des Mädchens zudrückte. In dem Moment löste sich ein Schatten aus dem Nebel, sprang. Reißzähne bleckten hinter hochgezogenen Lefzen, gruben sich in Erichs Arm, er schrie auf und ließ Lili los. Ich zog sie in meine Arme und hielt sie fest. Ein großer Schäferhund stellte sich knurrend zwischen uns und Erich, der das Gewehr von seiner Schulter zerrte. “Du elender Köter, diesmal bist du dran.”
“Raik!”, rief Lili. Der Hund schaute sie aus schrägen grünen Augen an. Erich nutzte den Moment und legte an. Karl stürmte vor und schlug ihm den Stock gegen den verletzten Arm. Schreiend ließ Erich das Gewehr fallen, ein Schuss löste sich, hallte lange nach. Der Hund verschwand im Nebel.
Wimmernd lag Erich auf dem Boden, ein Fleischberg, in den ich gerne immer wieder getreten hätte.
“Lasst uns fahren”, ich zog Lili zum Motorrad. “Wir können Erich nicht so liegen lassen, er ist verletzt.” “Er ist ein Schwein. Es geschieht ihm nur recht.” “Greta, ich bin Arzt und verpflichtet zu helfen.” Ich schnaubte abfällig: “Ich wusste nicht, dass du auch Tierarzt bist.” Karl grinste gequält: “Wieder ganz die Alte.” Lili deutete ein vorsichtiges Lächeln an: “Ich bin ein Hund, aber Erich ist ein Schwein.” “Hilfe, ich verblute.” “So schnell geht das leider nicht”, Karl zog Erich auf die Beine, bugsierte ihn zur Tür. “Greta, kannst du bitte den Verbandskasten aus dem Beiwagen holen?” Tief im Fußraum fand ich den Kasten, und als ich wieder hochkam, sah ich Lili. Sie hatte den Kopf erhoben und schnupperte aufmerksam im Wind, ihre Nasenflügel waren gebläht. “Vielleicht ist Raik noch da, ich gehe ihn suchen.” “Nein, Lili. Für heute hatten wir genug Aufregung.” Aber Lili spähte weiter aufmerksam in den Nebel, ihre Ohren schienen gespitzt. “Bleib hier”, ich nahm ihren Arm, “Sieh mich an.” Widerwillig drehte sie den Kopf, ihr Blick war ausdruckslos, weit weg. “Kind, ich bin hier.” Sie schaute mich an, erkannte mich: “Mama?” Tränen schossen mir in die Augen, ich blinzelte sie weg. “Du wirst Raik bestimmt wiedersehen. Ich glaube, es ist der Hund, der im Wald in der Nähe des Dorfes streunt. Ich habe ihn schon einmal gesehen.” Ich dachte an meine Begegnung in der Johannisnacht. “Er weiß jetzt, dass ich da bin und wird mich suchen.”

Leseprobe: Helmut Pöll – „Die Krimfahrt”

1

Wilhelm Seidlitz war ein unauffälliger Mensch. Er arbeitete in der Verwaltung seiner Heimatstadt als Hausmeister und fuhr mit der U-Bahn zur Arbeit. Er war unscheinbar. Weder an seinem Äußeren noch an seinem Wesen gab es auf den ersten Blick etwas Auffälliges, und müsste man sich an ihn erinnern, dann mit einem leichten Erstaunen und deshalb, weil es kaum etwas gab, woran sich die Erinnerung festmachen ließ.
Es war, als bemühte man, sich ein Phantom aus dem Dunkel seiner Erinnerungen zu zerren, ein Phantom, das sich dabei vehement wehrte und nur zentimeterweise dem Licht näherte. Wie sah er aus? Normal, nicht dick, nicht dünn, das schüttere Haar des Mittvierzigers sorgsam über die mit Leberflecken übersäte Kopfhaut gezogen.
Hobbys hatte er keine, bis auf das eine, dass er gerne Bücher und Magazine las. Und selbst diese regelmäßige Beschäftigung, die sich manchmal dem Rande der Leidenschaft näherte, hätte man böswillig umdeuten können zu einem Hang zum Verweilen im Theoretischen und Drückebergerei vor dem wirklichen Leben.
Statt die günstigen Gelegenheiten, die sich in bescheidenem Ausmaß auch in seinem Leben boten, beherzt zu ergreifen, statt einmal etwas zu riskieren, bevor Verlauf und Ausgang einer Sache bis ins letzte Detail kalkuliert wären, zauderte er, starrte der Gelegenheit wie gelähmt ins Gesicht, wo sie nahe war, unfähig sie zu ergreifen, ließ sie ungenutzt vorbeiziehen und blickte ihr doch wehmütig hinterher, wenn sie endgültig verschwand wie ein Schiff, das über den Horizont davonsegelt mit anderen Passagieren an Bord.
Der schnelle Entschluss war seine Sache nicht. Eine Gelegenheit hätte bei ihm nicht langsam vorüberziehen dürfen, sie hätte auf Reede gehen und in seinem Hafen überwintern müssen, ehe er überhaupt in Betracht gezogen hätte, sich auf sie einzulassen.
Er überließ die Torheiten den anderen, den Waghalsigen, den Kurzentschlossenen, den Spontanen, die immer die Hälfte vergaßen. Er selber las lieber über diese Torheiten, als an ihnen teilzuhaben, zog sich mit seinen Büchern ins Studierzimmer zurück und ließ sich aus dritter Hand lieber berichten, was andere in ihrem Leben planten, unternahmen und welche Abenteuer rein theoretisch auch auf ihn warten könnten.
So gab es von Seidlitz’ Leben nicht viel zu berichten, außer man wollte es schon als Sensation ansehen, wenn er die Zahl der zu lesenden Seiten, die er sich für das laufende und für jedes Jahr vornahm, schon vorzeitig in einer Novembernacht erreichte, wo Winterwind wild an den Fensterläden rüttelte. Stolz über diesen Triumph stand er dann auf, wippte mit auf dem Rücken verschränkten Armen im Stehen, setzte sein zufriedenstes Gesicht auf und gönnte sich zur Feier des Tages ein Glas des teuren Roten. Jetzt konnte nichts mehr schiefgehen. Das Jahr war gerettet.
Wilhelm Seidlitz liebte die Ordnung und war froh, wenn die Dinge berechenbar blieben. Er mochte keine Kaffeeflecken auf Tischdecken, keine Brotkrumen am Teppich und Blumenvasen, die mit ihrem kalten Porzellankörper direkt auf dem empfindlichen Holz seiner Kommode standen, ohne Deckchen dazwischen, waren für ihn völlig indiskutabel. „Da kann ich mich auch gleich nackt auf die Couch setzen“, sagte er dann außer sich, mit rotem Kopf, und wippte erbost. Seine Kommode hatte schon einen Wasserfleck, links vorne am Eck, und er hatte es nicht verhindern können. Jedes Leben hat dunkle Stunden, das war die von Wilhelm Seidlitz. Den 29. August 79, einen heißen Mittwoch, an dem sich ein Gewitter zusammenbraute und dann doch nicht kam, würde er nie vergessen, sein ganzes Leben nicht, die Vorkommnisse jenes Schicksalstages waren für immer unauslöschlich in seine Erinnerung gebrannt. An diesem Tag entstand der Wasserfleck, der ihn noch heute höhnisch anstarrte, sobald er das Studierzimmer betrat. Er hatte schon alles versucht und in der ersten Zeit weiße Deckchen darübergebreitet, so wie man Verband über eine Wunde legt. Aber genauso wie der Ungeduldige den Verband hebt, um sich zu vergewissern, dass die Heilung Fortschritte machte, zog es Wilhelm Seidlitz immer wieder zu diesem Deckchen, wo er lediglich feststellte, dass der Wasserfleck blieb. Das machte ihn ganz verrückt.
Weit schlimmer noch als der Wasserfleck auf der Kommode, der sich täglich in Erinnerung brachte, aber wog der unersetzliche Verlust des Samoaberichtes, eines großformatigen Bildbandes, den er günstig in einem Antiquariat erworben und der zum Tatzeitpunkt unmittelbar in der Flutzone gelegen hatte. Dieses unersetzliche Sammlerstück wurde fast vollständig zerstört. Anfangs war die Zerstörung kaum sichtbar, nur einer Ecke des Bildbandes wölbte sich das Papier und färbte sich in Nuancen gelb ein. Seidlitz’ groß angelegte Rettungsmaßnahmen führten nicht zum gewünschten Erfolg. Er versuchte es mit dem Naheliegendsten, Trocknen und Pressen, doch das einmal gewellte Papier des Samoabandes erwies sich als von geringer Qualität und als widerspenstig. Auch den anerkannten Restaurator eines hiesigen Museums, eine Koryphäe der Buchrettung, hatte er um Rat gebeten, der zuerst auch Hilfe für das Kunstwerk in Aussicht stellte, beim Anblick von Seidlitz gewelltem Samoaband aber in schallendes Gelächter ausbrach, dann die Museumskollegen herbeirief, die Seidlitz unter Spott und Hohn aus den heiligen Hallen vertrieben. Von da an war Seidlitz bei der Rettung auf sich alleine gestellt. Ein ganzes Jahr hielt der Samoaband durch, dann war er endgültig verschlissen.

2

Auf dem Weg zur Arbeit kam Seidlitz täglich an einem Tabakwarenladen vorbei, vor dem eine Linde wuchs, die der Vater des Tabakwarenhändlers gepflanzt hatte und die dem Sohn jetzt den Eingang beschattete. Seidlitz sagte sich jeden Morgen, dass er bis zu seiner Pensionierung nur noch 20 Jahre hier vorbeigehen würde, und wenn die Linde dereinst einmal ihren Schatten in den dritten Stock werfe, dann müsse er nie wieder das Pförtnerhäuschen der Stadtverwaltung passieren, hinauf in seine Werkstatt und Glühbirnen in verwaisten Gängen wechseln. Ängstlich und eifrig beobachtete er, ob der Baum auch der Pflicht nachkomme und über die Monate und Jahre stetig größer werde, als sei dessen Wachstum untrennbar mit seiner eigenen Pensionierung verknüpft und der Schattenwurf im dritten Stock die Messlatte, bei deren Erreichen er automatisch verabschiedet werde und ein letztes Mal mit den Kollegen beim Umtrunk die Gläser klirren lassen werde.
Er hütete den Baum wie seinen Augapfel, vertrieb entschlossen Vierbeiner samt Herrchen, die sich verdächtig in seiner Nähe herumdrückten und deren Morgenspaziergang sich schicksalhaft mit seinem Arbeitsweg kreuzte. Durch Gefälligkeiten und besondere Aufmerksamkeiten versuchte Seidlitz einmal sogar, seine Beziehungen als Hausmeister im Amt zu nutzen, um eine Umzäunung der Linde zu erreichen – vergebens. Der zuständige Beamte rief ihn zu sich ins Büro, runzelte die Stirne und murmelte „Seidlitz, lassen Sie das!“ Dann hämmerte mit Wucht der schwere Stempel ablehnend auf seine Eingabe.
Seidlitz’ Spleen ging so weit, dass sich die Sorge um diesen Teil seines Arbeitsweges, diesen Baustein seines Schicksals, so tief in ihn fraß, dass er an freien Tagen manchmal das Haus verließ, um die wenigen Straßenzüge abzuwandern und nachzusehen, ob die Linde noch stand und seine Beförderung gesichert war.
Wilhelm Seidlitz’ Frau Erika, eine brünette, herbe Landschönheit, mit der er seit 25 Jahren eine ruhige Ehe führte, bestärkte ihn in seiner Sicht der Welt. Im Grunde war sie über seine geruhsame Art und sein stilles Hobby froh und bei ihm vor Überraschungen sicher. Wenigstens schmutzte Wilhelm nicht wie die vielen furchtbaren Handwerker aus der Nachbarschaft, die nach Feierabend und am Wochenende sägten, hobelten, hämmerten oder sonst eine andere Gelegenheit zum Lärmen fanden. Besonders zu schaffen machte ihr der Spross einer Schreinerdynastie, der vor fünf Jahren die Wohnung im Treppenhaus gegenüber bezogen hatte. Der an und für sich stille Mann, der kein unnötiges Wort von sich gab und einen morgendlichen Gruß nur mit einem scheuen, kaum angedeuteten Kopfnicken erwiderte, ging dafür umso bereitwilliger bei allen anfallenden Zimmererarbeiten im Haus und der näheren Umgebung zur Hand ging und stellte in solchen Notfällen die eigene Wohnung als Werkstatt bereit.
Hatte er sich für einen guten Zweck verdingt, schabte, sägte, feilte und bohrte der Nachbar unermüdlich, als gäbe es kein Morgen und mehr als einmal hatte er die Seidlitz’ um Hilfe herausgeklingelt. Erika, gerne bereit bei häuslichen Engpässen mit Mehl, Zucker oder auch mal mit einem rohen Ei auszuhelfen, hatte bereitwillig geöffnet, fand sich aber ungewollt plötzlich in ganz anderer Rolle, eingeklemmt zwischen Treppengeländer und einem roh gezimmerten Tisch, den der selbstlose Nachbar mit ihr, in Ermangelung anderer helfender Hände, drei Stockwerke tief in den Hof tragen musste. Der Spion in der Türe rettete ihr bei weiteren Rekrutierungsversuchen das Leben.
Die schlimmeren Tage, an denen sie vor Gram und als Ausdruck ihres hilflosen Protestes Migräne bekam, waren jene, an denen Spuren von Sägemehl unter dem Türspalt durchkamen, dumpfes Brummen schon am frühen Morgen das Haus erfüllte und die Wucht schwerer Maschinen die Gläser im Schrank stundenweise klirren ließ.
So war Wilhelm nicht. Er blieb am Feierabend wenigstens in seinem Studierzimmer ruhig am Fenster sitzen, ging nicht die ganze Zeit in der Wohnung herum, machte Fingerabdrücke am Wohnzimmerschrank oder zupfte ihre Häkeldeckchen auf den Beistelltischen zurecht.
Nun war es aber nicht so, dass sich das Leben des Ehepaares Seidlitz auf gegenseitige Abgrenzung und Vermeidung des Unangenehmen beschränkte. In der Welt der beiden gab es auch eine Schnittmenge, über die sie sich verständigen konnten. Bei ihren Streifzügen durch diese gemeinsam bewohnte Insel saßen sie dann bis spät in die Nacht auf dem Sofa zusammen. Es war die Welt der Abenteuerromane und bebilderten Abenteuerberichte, die sie mit ungewohnter Leidenschaft debattieren ließ, etwa darüber, welche Länder und Gegenden man theoretisch guten Gewissens bereisen könnte.
Ein gern besprochenes Thema an diesen Abenden war Russland. Vermutlich kannten nicht einmal die Russen ihr Land im Detail so gut wie das Ehepaar Seidlitz. Aber bei näherem Hinsehen, bei wiederholter Betrachtung möglicher Reiserouten entdeckte Seidlitz hinter der Fassade der Postkartenmotive eine andere Wirklichkeit, die ihm die Haare zu Berge stehen ließ. Der russische Winter beispielsweise, dessen watteweiße Landschaften in Verbindung mit Zimtgebäck bei ihm weihnachtliche Rührseligkeit auslöste, war in seiner Vorstellung auch verantwortlich für steifgefrorene Reisende, die sich mit zweifelhaften Mietwagen auf eigene Faust in die klirrende russische Puderzucker-Landschaft aufgemacht hatten.
Und die Inflation? Was war eigentlich mit der Inflation, über die der Finanzminister oft mit strenger Miene sprach, die einen im wirklichen Leben nicht zu interessieren brauchte, die aber auf „Russland“ angewandt plötzlich bedrohlich und unberechenbar schien. Was wären die getauschten Urlaubsgelder morgen wert? Vielleicht nur noch so viel wie ein einziges rohes Ei? Und was machte man dann mit einem einzigen rohen Ei ganz hinten in Sibirien? Wenn das alles nicht gewesen wäre, dann hätte man eventuell in diesem weiten Land schon einen Flecken finden können, wo man hinfahren hätte können. Theoretisch. Darüber waren sich die beiden einig.
Andere Länder und Gegenden wurden von Anfang an aus verschiedenen Gründen als reiseuntauglich oder gar völlig diskussionsunwürdig eingestuft. „Und die Krim mit ihrem milden Klima?“, fragte einmal Anton Griebholz, ein weitläufiger Bekannter, den sie übermütig an ihren Gedankenexperimenten hatten teilnehmen lassen: „Die Krim ist nicht in Russland.“ „Doch Schatz, die Krim ist in Russland“, wagte Frau Seidlitz vorsichtig zu erwähnen. Man hätte eine Stecknadel fallen hören können. „Die Krim?“, fragte Herr Seidlitz und war einen Moment aus dem Konzept, „das weiß ich selber. Ich meine gefühlsmäßig gehört sie doch nicht zu Russland. Russland ist weit und kalt. Auf der Krim aber ist es warm. Krimsekt, und so weiter. Das weiß doch jedes Kind. Ja, die Krim – scheidet völlig aus. Das ist ja schon gar nicht mehr richtig Russisch – das ist ja schon türkisch“, erregte er sich. „Wir reden hier von Russland, mein Herr, von Russland, meine Frau und ich, die ganze Zeit, wollen Sie uns auf den Arm nehmen? Guten Tag.“
Der Besucher kippte hastig den letzten Schluck Roten in sich hinein und verschwand für immer. Wilhelm Seidlitz schimpfte noch den ganzen Abend, welche Unverschämtheit es doch sei, ihm als Urlaubsort die Krim vorzuschlagen. Er steigerte und verstieg sich darüber in wildeste Spekulationen, geriet aber mit seiner Behauptung, dass die zum milden Klima neigende Krim gewissermaßen ein Kuckucksei im russischen Eisnest sei, in eine rhetorische Sackgasse, aus der er keinen Ausweg mehr fand. Am Ende der Gasse hätte er gerne den Rückzug angetreten, aber als er sich umdrehte, stand ihm Erika im Weg.
„Jetzt reg Dich doch nicht immer gleich über alles so auf.“ „Ich rege mich nicht auf“, japste Herr Seidlitz, die Wand im Rücken, und bekam einen roten Kopf, „schon gar nicht über alles. Will der mich auf die Krim schicken in meinem sauer verdienten Urlaub, der Lump.“
Sie zankten sich, schwiegen sich schließlich an und gingen verstimmt ins Bett. Die ganze Nacht wälzte er sich unruhig im Bett und konnte nicht schlafen, so ärgerte er sich, und am Morgen danach hatte er Magendrücken. Beim Frühstück ging sein Feldzug weiter. Er warf seiner Frau vor, wie rücksichtslos es sei, ihm nach einem Abend und einer Nacht wie dieser am Morgen Kaffee vorzusetzen, der seinen strapazierten Magen zusätzlich angriff. Er hätte nach 25 Jahren Ehe schon so viel Feingefühl von ihr erwartet, dass sie zumindest nachfrage, ob ein Kamillentee für ihn in seiner geschwächten Situation nicht angebrachter sei.
Aber bitte. Dann war es halt so. Er hatte verstanden. Wenn das so war und sie sich mittlerweile so wenig verstanden, dann könnte man gleich generell getrennter Wege gehen. Seidlitz spielte den Beleidigten, stand vom Frühstückstisch auf, warf die Esszimmertüre theatralisch ins Schloss und sperrte sich in seinem Studierzimmer ein.
Auch auf das verzweifelte Flehen und ergebenste Entschuldigungen von Erika gab er bis zum frühen Abend keine Antwort, ja überhaupt kein Lebenszeichen von sich. Mit Ohrstöpseln hörte er das Hämmern an der Türe nur gedämpft, aber so konnte er den langen und unlängst begonnenen Reisebericht, der sehr engagiert geschrieben war und den er wegen der unqualifizierten Zwischenfragen von Erika nicht zu Ende hatte bringen können, endlich in Ruhe fertig lesen.
Er genoss diesen kleinen Triumph und sah die wenigen Stunden, die er so für seine stille Leidenschaft zusätzlich abzweigen und sich Erikas Forderungen entziehen konnte, als gerechte Strafe für ihre mangelhafte Sensibilität und Unachtsamkeit an. Erst spät, weit nach Mitternacht, überkam ihn die Müdigkeit. Eine Weile blieb er noch, halb vom Vorhang verdeckt, im verdunkelten Arbeitszimmer ans Fenster gelehnt und schaute auf die verlassene, unter Laternenlicht goldfarben schimmernde und ausgestorbene Stadt.
Ein Radfahrer kam entgegen der Fahrtrichtung um eine Straßenbiegung, mit flatterndem Mantel, wackelig und mit sichtlicher Mühe in der enger werdenden Kurve. Einmal kam er fast zu Fall, als er ohne Not und abrupt die Straßenbahnschienen kreuzte. Schlingernd vertrieb er mit wildem Klingeln einen herrenlosen Hund, der noch viel zu weit weg war, um ihm gefährlich zu werden, dann fuhr der Betrunkene ausser Sicht. Nachdem auch noch der Hund ums Hauseck verschwunden war, ging Seidlitz zu Bett. Als er am nächsten Morgen ausgeruht in der Küche erschien, wo ihm eine aufgeräumte Erika seinen Kaffee vorsetzte und es unterließ, ihm die Ereignisse des Vortages lautstark oder mit stummer Verbitterung zum Vorwurf zu machen, hätte er hellhörig sein können. Im ersten Moment, mit der Witterung eines Tieres, hatte er die Veränderung zwar bemerkt, jeden unschönen Gedanken aber sofort mit Griff zu Nusshörnchen und Quittengelee beiseite gewischt.
Ein Beobachter, der das Ehepaar Seidlitz nicht kannte, hätte während der nächsten Tage nichts Besonderes feststellen können und, befragt, lediglich von Alltagsroutine und korrektem Umgang miteinander gesprochen, während hinter den Kulissen tatsächlich von seiner Seite intensive Versuche der Wiederannäherung unternommen wurden. Aber irgendetwas war mit Erika geschehen. Sie, die sich ansonsten so empfänglich zeigte für die kleinste Aufmerksamkeit, blieb kühl, auf eine kalte Art höflich, aber doch seltsam unberührt von allen gut gemeinten und oft hilflos und bemüht wirkenden Gesten der Versöhnung. Sie wirkte mitunter, als wäre ein Zugang, ein Weg in ihr Innerstes, auf dem man sie bislang notfalls immer erreichen konnte, plötzlich durch einen Erdrutsch unwiederbringlich verschüttgegangen.
Vielleicht hatte sie auch nur die Pforte für jenen Boten verschließen wollen, dessen Schmeicheleien und Beredsamkeit ihre Vorsätze immer wieder zum Opfer gefallen waren. Es ist schwer zu beurteilen, ob Erika generalstabsmäßig planend oder unbewusst in dieses Fahrwasser geriet. Irgendwann stand fest: ein Urlaub musste unternommen werden. Eines Tages, als Seidlitz in die Tageszeitung vertieft am Küchentisch saß und Erika Gemüse für einen Eintopf schnitt, ließ sie plötzlich das Messer sinken, setzte sich sichtlich erschöpft zu ihm, und als er aufblickte, sah sie ihn mit steinernem Gesicht aus blauvioletten umringten Augen an:
„Wir fahren jetzt weg“, sagte sie, stand auf und nahm ihre Arbeit wieder auf, als wäre nichts geschehen. Von dieser Forderung würde sich Erika nicht mehr abbringen lassen. Das wusste Seidlitz sofort, und er war selber nicht ganz abgeneigt. Es musste ja nicht gleich ans andere Ende der Welt sein.

3

Aber wohin fahren, um konkret zu werden? Nach Afrika? Afrika faszinierte ihn, war ihm aber nicht geheuer. Er verweilte zwar oft vor dem rot marmorierten Gebilde in einem seiner Atlanten, fuhr mit dem Finger den Nil hinauf und hinunter, besah sich auch gerne Fotografien bunt bemalter und um Basthütten herumspringender Horden, und beim Anblick von Bildern des weiten Graslandes konnte man warten, bis Herr Seidlitz sagte: „Sieht aus wie die Lüneburger Heide, genauso.“ Aber insgeheim schauderte es ihn, wenn er sich vorstellte, dass er vielleicht einmal im Jeep in diese Szenerie hineinfahren und mit Sonnenhut selber Teil eines solchen Bildes sein könne.
Er sah sich krank darniederliegen, dem Ende nah, in einem stickigen sandfarbenen Zelt, die Stirne schweißtropfend und von Myriaden kampflustiger Fliegen umschwirrt, die er matt abzuwehren suchte. Erika saß stumm neben ihm, fächelte ihm mit einem zerknitterten Merian-Heft Luft zu, während von draußen allerlei bedrohliche Geräusche zu ihnen drangen, Quieken, Schnattern, Zirpen und Flüche in unbekannten Sprachen, die zeigten, dass niemand den Jeep zu reparieren vermochte. Sie würden sich zu Fuß in bewohnte Gebiete aufmachen müssen. Aber dafür war er schon zu schwach. Sollten sie ihn ruhig zurücklassen. Wenn Erika in einem jener Momente mit einer Kanne Tee das Studierzimmer betrat, hatte er vor Rührung Tränen in den Augen.
„Afrika ist zu gefährlich für Dich“, hauchte er mit versagender Stimme, sie blickte kurz auf, unverständig, runzelte die Stirne und verschwand 17 wieder. Afrika schied als Reiseziel völlig aus. Und Amerika? Die Amerikaner mochte er nicht, irgendwie, obwohl er seine ablehnende Haltung nicht genau auf den Punkt bringen konnte und bei Nachfragen in dieser Richtung gereizt reagierte. Er hatte eine diffuse Vorstellung von diesen Amerikanern. Vermutlich wären sie ihm zu überdreht, würde er sie tatsächlich treffen, zu hemdsärmelig und naiv abenteuerlustig, bedenkenlos gleich bei der Sache, wo es doch eigentlich bei jeder Sache – auch der kleinsten – so viel zu bedenken gab. Und das Schlimmste: sie würden ihn gleich mit ihrem „Du“ überfallen und war dieser Damm erst einmal gebrochen, dann hätte nichts mehr Bestand vor der nachfolgenden Flut. Dann würden sie ein Foto machen wollen, mit ihm Arm in Arm, kurzum, man würde sie nicht mehr los, und womöglich kämen Sie dann im nächsten Jahr mit dem Flugzeug zum Gegenbesuch und wollten vier Wochen bei den Seidlitz’ kostenlos wohnen. Sonst noch was!
„Auch in Europa gibt es viele schöne Flecken“, wandte Erika Seidlitz in einer dieser endlosen Diskussionen ein, in denen ihr Mann gegen Amerika wetterte. Seidlitz zeigte sich fassungslos: „Du bist es doch, die immer nach Amerika will.“ „Das habe ich nie gesagt.“ „Aber gedacht. Und Dein Vorschlag Europa“, sagte er, „ist Unsinn. Da kennst Du ein anderes Europa als ich.“ Er bewies ihr, dass es in Europa nichts wirklich Sehenswertes gab, was sich nicht besser, billiger und tiefgründiger durch Merian- Reisehefte kennenlernen ließe. Ein Urlaub in Europa? Dann konnte er gleich daheimbleiben und sich in ihrer Stadt in ein großes Hotel einmieten, wo man 18 ihm die Schuhe putzte und noch ein Frühstücksei brachte, selbst wenn die Frühstückszeit schon vorbei war. Ein Urlaub in Europa war hinausgeworfenes Geld.
Erika war in dieser Hinsicht weit weniger kompliziert als er. Sie war nicht auf ein gewisses Urlaubsziel fixiert, das sie gegen andere Optionen in Schutz genommen und verteidigt hätte. Sie freute sich nur auf einen Urlaub, den sie schon so lange Jahre nicht unternommen hatten, sie sehnte sich nach den Tagen, an denen sie der gewohnten Umgebung ihrer Wohnung und der Stadt eine Weile den Rücken kehren konnte, und ahnte dabei das Ungewisse und Überraschende, das eine solche Reise mit sich bringen würde. Sie wollte dorthin, wo es warm war, und wenn sie dann noch ein wenig im Meer plantschen könnte, wäre sie glücklich.
„Weißt Du noch, wie wir in den Flitterwochen in Italien waren?“, fragte sie jetzt oft. Das wusste er sehr wohl noch, den Stau vor Verona in ihrem Kleinwagen, und die unmenschliche Hitze auf dem Petersplatz, wo sie fünf Stunden an einem glühenden römischen Mittag ausharrten, um zwei Minuten einen stecknadelgroßen Papst anzustarren, der dann auch noch nur Italienisch sprach. Natürlich erinnerte er sich an Italien. Er sagte aber nichts. Vorbei war vorbei.
Seither waren sie nie wieder im Urlaub gewesen. Nach dem Veroneser Desaster hasste Seidlitz das Unbekannte. Am liebsten wäre er überhaupt nicht mehr aus dem Haus gegangen, hätte sich nur noch durch Reiseberichte über die Vorgänge in der Welt informiert und ab und an einem der wenigen Vertrauten seine Meinung per Telefon kundgetan. 19 Erika konnte ja hinausgehen und sich in irgendwelchen Läden und Boutiquen herumtreiben, wenn sie das wollte. Er brauchte das nicht.

4

Die Wochen vergingen, und die Urlaubszeit rückte näher. Zu Beginn des Jahres war er fest entschlossen gewesen, sich durch nichts in der Welt zu einem längeren Urlaub hinreißen zu lassen und sich eventueller Versuche Erikas mit dem Hinweis auf seine berufliche Unabkömmlichkeit zu entziehen. Ein Tag hier gezielt frei genommen, einer dort, wo man gemeinsam im Park spazieren gehen und im Straßencafé ein Eis essen konnte, dagegen hatte er gar nichts einzuwenden. Mehr musste es aber nicht sein. Es lief anders. Seine Vertretung, Olaf Berger, ein Halbschwede, Junggeselle und seltsamer Mensch, der sich von Fenstertag zu Fenstertag durchs Leben hangelte, hatte früh und vorausschauend begonnen, die Urlaubslisten mit Kreuzchen zu füllen. Hervorragender Stratege, der er war, suchte er sich gegen alle denkbaren Attacken zu wappnen, die seine eigenen Pläne hätten stören können und die vorsahen, dass er sich im Juli und September jeweils für zwei Wochen irgendwo im Süden mit einer Gruppe entwurzelter Bekannter zum Kartenspiel zusammenrottete.
Öfter schlich er um Seidlitz herum, der es zwar bemerkte, aber keine Anstalten zu einem Gespräch machte, bis Berger selber aktiv wurde: „Komm Du mir mit Deinem vielen Resturlaub ja nicht auf die Idee, dass Du Juli oder September freinehmen willst.“ „Nein, nein“, winkte Seidlitz hastig ab, der dunkel schon ahnte, worauf das hinauslaufen könnte. „Da musst Du Dir überhaupt keine Sorgen machen.“ Berger zog ab, glaubte ihm aber nicht, wurde zwei 21 Tage später beim Personalleiter vorstellig, der sich die Akte Seidlitz kommen ließ, kopfschüttelnd durchblätterte und entschied, dass Wilhelm Seidlitz im August einen ganzen Monat Resturlaub abfeiern musste.
Der Sommer kam, bange hörte Seidlitz Schulkinder die verbleibenden wenigen Wochen bis zum Beginn der Schulferien zählen, aus ihrem eigenen Haus verschwanden ganze Familien nach Italien und ließen nur Schlüssel zum Balkongießen zurück. Der August näherte sich, Woche um Woche, Tag für Tag baute er sich wie eine Gewitterfront größer und bedrohlicher vor ihm auf. Auf ein gemeinsames Urlaubsziel hatten sie sich immer noch nicht einigen können, auch wenn Erika bereits demonstrativ die verstaubten Koffer vom Dachboden geholt und zum Durchlüften auf dem Balkon platziert hatte. Je mehr Seidlitz nachdachte und überlegte, umso fragwürdiger wurde ihm die Idee des Verreisens überhaupt. Wegfahren im Urlaub, wer hatte nur als Erster diese Schnapsidee gehabt? Könnte er sich nur vier Wochen auf dem Balkon zurücklehnen, die Füße hochlegen und abends ein Bier trinken. Das wäre ihm Erholung genug.
Dabei war er aber Realist genug einzusehen, dass er diesmal keinen Ausweg mehr finden würde. Er hatte zu spät reagiert. Das zarte Pflänzchen von Erikas Urlaubserwartung, das er lange Jahre geschickt klein zu halten wusste, war, er wusste nicht wie, in kürzester Zeit zum undurchdringlichen Gestrüpp gewuchert, aus dem er keinen Ausweg mehr fand. Hund, Katze oder wertvolle Pflanzen, die die immerwährende Anwesenheit einer vertrauten Hand unbedingt erforderlich gemacht hätten, gab es nicht. Das rächte sich jetzt.
Die Fronten waren festgefahren und verhärteten sich von Tag zu Tag mehr, eine Einigung schien beiden insgeheim schon undenkbar. Tatsächlich spielte Seidlitz manches Mal mit dem Gedanken, die Urlaubspläne seiner Frau in Ermangelung eines gemeinsamen Zieles einfach auszusitzen, bis der abgelaufene August endgültig Fakten schaffte. Alle Vorschläge, die in ihren Gesprächen kurzzeitig eventuell durchführbar schienen, machte er madig. Die Fernreisen, die zur Diskussion standen, erschienen ihm entweder so teuer, dass er seinen endgültigen Ruin befürchtete, bei den billigen schimpfte er, dass er lieber tot umfallen wolle, als um die halbe Welt zu reisen, um sich dann wochenlang und verschwitzt in schmuddeligen Laken zu wälzen. Europa mochte er nicht. Er sah zwar ein, dass er sich mit seiner Behauptung, es gäbe in Europa nichts Sehenswertes, was einem Merian-Hefte nicht billiger und besser näherbringen konnten, ein wenig weit aus dem Fenster gelehnt hatte, wollte seine Aussage aber aus Gründen der Glaubwürdigkeit um nichts abmildern.
Während sie so überlegten und sich die Frage, wohin der Urlaub sie führen sollte, wie ein Wurm in ihre Hirnwindungen fraß, übersah Wilhelm Seidlitz ganz und gar, dass im Parterre ihres Mietshauses der Farbladen seine Pforten schloss und sein Besitzer in Pension ging. Sie hatten Herrn Werner noch kurz im Treppenhaus getroffen: „Machen Sie es gut, ich werde die schöne Zeit hier nie vergessen“, verabschiedete er sich bewegt, „meine Frau und ich, wir gehen jetzt nach Sizilien – für immer.“ „Jaja“, sagte Seidlitz geistesabwesend, „gehen Sie 23 ruhig.“ Obwohl ihn ansonsten jede Veränderung, die im Haus vorging, brennend interessierte, versäumte er zu fragen, was mit dem Laden nach der Abreise der Werners geschehen würde. Vielleicht meinte er insgeheim, dass ein Anderer, ein Jüngerer Werners Farbhandel fortführen werde. Bald darauf wurde das kleine Schaufenster wirklich verhängt, es blieb aber lange ruhig, nur einmal, nach Wochen, waren Handwerker zu hören. Eines Tages, am späten Nachmittag, als Seidlitz nach Feierabend mit einem Bildband am Balkon saß, kam ein Lieferwagen um die Ecke, aus dem Regale und Stühle geladen wurden. Die letzte Juliwoche kam mit ungewöhnlicher Hitze, überall auf den Straßen waren Sprengwagen unterwegs, und sogar in der Seidlitz’schen Wohnung, obwohl nach Norden gelegen, wurde es in den Nachmittagsstunden jetzt unerträglich heiß. Infolge der drückenden Zustände in der Wohnung ließ sich Wilhelm Seidlitz nun öfter nach Feierabend von Erika zu einem ziellosen Stadtbummel verleiten, was ihm mehr gefiel, als er zugeben mochte, weil er andererseits befürchtete, dass Erika seine Neigung zur Bummelei sofort mit Begriffen wie Seebad und Strandpromenade in Verbindung bringen würde. Am letzten Montag im Juli, als sie beide, Erika locker im Arm ihres Gatten eingehängt, nach Hause zurückschlenderten, waren die Schaufenster des ehemaligen Farbladens nicht mehr verhängt, ohne dass man aber gegen die blendende Sonne hätte erkennen können, um welche Art von Gewerbe es sich jetzt handelte. Jedenfalls stand die Türe des Ladens geöffnet und im Rahmen lehnte ein Mann südländischen Aussehens im weißen Sommeranzug. „Windige Gestalt“, war Seidlitz’ erster Gedanke. Erst als sie noch näher kamen, ließen sich die neuen, grünen Schriftzüge quer über dem Schaufenster entziffern. „Puschkin Reisen“ war Nachfolger des kleinen Farbladens geworden. Ein Reisebüro hatte im Parterre ihres Mietshauses eröffnet und bot seine Dienste an. Erika blickte ihren Mann vielsagend von der Seite an, und ihr Blick schien zu sagen, dass mit Eröffnung dieses Ladens, der kein Gemüse und keine Wurst, sondern Reisen anbot, die Vorsehung, eine höhere Instanz, sich jetzt in ihre unvollendeten Pläne mischte, das Wort ergriff und keine Ausflüchte mehr duldete.
„Wenigstens mal ein anständiger Name“, versuchte Seidlitz abzulenken. Aber es wirkte halbherzig, Erika ging nicht auf ihn ein und genoss still ihren Triumph.
Sie waren kaum in Rufweite des Mannes, dessen Alter Seidlitz nur schwer zu schätzen vermochte, als er sie schon taxierte, seine lehnende Haltung und lümmelhafte Gelassenheit aufgab, die Eingangsstufe herunterstieg, sie laut grüßte und beim Näherkommen in ein Gespräch verwickelte. Er machte Erika Komplimente zu ihrer Garderobe, dem schlichten, eleganten Leinenkostüm, den passenden Stiefeletten, ein paar launige Bemerkungen zum Wetter im Allgemeinen und zur Hausgemeinschaft im Besonderen.
„Das ist ein schöner Zufall. Sie mit ihrem Reisebüro“, nutzte Erika die Gunst der Stunde, „wir wollen nämlich nächste Woche in Urlaub fahren, wissen aber noch gar nicht wohin es gehen soll. Nicht wahr, Wilhelm?“ Seidlitz bebte. „Denkst Du nie?“, zischte er, „jetzt werden wir den Bluthund bestimmt nicht mehr los.“ Wieder ließ Erika die Beschuldigung unerwidert und ihren Gatten zappeln und um sich schlagen wie einen gefangenen Fisch, dem an Deck doch früher oder später die Kraft ausgehen werde. Wie schön die Gegend sei, lobte der Fremde, und insbesondere das Haus, was für ein Glück für ihn, mit so freundlichen Menschen wie den Seidlitz unter einem Dach leben zu dürfen. „Woher weiß der Kerl unseren Namen?“, schoss es Seidlitz, vor Misstrauen in äußerster Wachsamkeit, durch den Kopf. Er setzte schon zu dieser Frage an, stellte in der unerträglichen Nachmittagshitze Worte wie Armeen auf, noch verborgen im Wald seiner Gedanken. Aber Seidlitz’ Kopf war merkwürdig träge, und der Fremde, der ihn aus den Augenwinkeln ständig im Blick behielt, schien den bevorstehenden Angriff zu ahnen und überrumpelte ihn mit seiner Spontaneität. Mit „Angenehm, Zifferblatt“ ergriff er Seidlitz’ Hand und lud an den Verhandlungstisch. „Herr Seidlitz, Frau Seidlitz. Kommen Sie doch kurz herein. Es wäre mir eine Ehre. Wir haben wirklich schöne Sachen.“ Das war ganz und gar gegen Wilhelm Seidlitz’ Geschmack. Er bevorzugte die offene Feldschlacht, in Gesprächen auf gleicher Augenhöhe, die womöglich noch auf einen faulen Kompromiss hinausliefen, fühlte er sich immer unwohl, ja unterlegen. Der Entwurf seiner Gegenwehr an diesem glühenden Sommernachmittag war aber zu groß, zu schwerfällig, er suchte vielleicht eine Lösung, die er auch in 100 Jahren noch guten Gewissens hätte abnicken können, hatte aber damit gegen die geradlinige Entschlossenheit der anderen Seite nur ein unzureichendes Mittel zur Hand. „Ich bin sehr gespannt“, lachte Erika und noch ehe ihr Mann alle Kräfte gesammelt und wortgewaltig alles zunichtegemacht hätte, wurde der Feldherr mit Spontaneität überrumpelt, und nach kurzem Hin und Her fand man sich im Inneren des Reisebüros auf zwei Stühlen und studierte einen Prospekt über Bahnreisen auf die Krim. Das Reisebüro wirkte auf Seidlitz wie zufällig und schnell zusammengeschustert, die billige Kulisse eines Schmierentheaters. Hätte er es als langjähriger Bewohner des Hauses nicht besser gewusst, er wäre sicher gewesen, hinter der Türe zum Nebenraum nur Zigaretten rauchende, jugendliche Komparsen in Napoleonkostümen und hölzerne Stützpfeiler für die Pappwände vorzufinden. „Sie müssen entschuldigen. Es wirkt noch sehr provisorisch. Der Rest kommt in den nächsten Tagen“, sagte Zifferblatt, der Gedanken lesen zu können schien. Schnell verschwand er im hinteren Teil des Ladens und kam mit einer Flasche Wein und drei Gläsern zurück.
Wie ihre eigene Wohnung war auch der Laden nach Süden gelegen und – neu eröffnet – der Sonne noch völlig schutzlos ausgeliefert. Für die neue Markise, im gleichen Grün wie der Schriftzug, gab es Lieferprobleme. Erst in etwa einer Woche werde sie aus Hamburg kommen, dann selbstverständlich sofort montiert und den urlaubshungrigen Besuchern erlauben, mögliche Reiseziele bei angenehmen Temperaturen gegeneinander abzuwägen. Jetzt saßen sie in der Hölle, einer wüstenartig ausgedörrten Umgebung, in der Schmeißfliegen spiralförmig durch die glühende Luft taumelten und jede Bewegung, jeder Gedanke eine Anstrengung war. Von der Hitze gelähmt, starrte Seidlitz auf vereinzelte Strahlenfinger, in denen Staubflocken wirbelten. „Lassen Sie uns auf Ihren Urlaub anstoßen. So, hier bitte.“ „Worauf?“, schrak Wilhelm Seidlitz auf und nahm automatisch das Glas, das man ihm hinstreckte. „Was? Nein. Ich nicht. Kein Wein“, wehrte er sich zaghaft, aber ehe er sich erfolgreich zur Wehr setzen konnte oder gar aufgesprungen wäre und die Flucht ergriffen hätte, war die Flasche entkorkt. Ihm wurde eingeschenkt und als ihm der Duft des Weines in die Nase stieg, spürte er seine aufgequollene, klebrige Zunge, die gesprungenen Lippen und eine ausgedörrte, kratzende Kehle, und ohne zu überlegen kippte er wie ein Verdurstender das ganze Glas Wein in großen kräftigen Schlucken hinunter. Zifferblatt goss sofort nach. Fast augenblicklich überkam Wilhelm Seidlitz eine angenehme Schläfrigkeit, die ihn alle Urlaubspläne in milderem Licht sehen ließ. Hinlegen wollte er sich. Schlafen! Wie durch dichten Nebel gedämpft hörte er, wie Zifferblatt – konnte man so überhaupt heißen? – mit schmeichelnder Stimme die Vorzüge der Krim pries. „Warum muss es ausgerechnet die Krim sein?“, war Seidlitz’ einziger und matt vorgetragener Einwand. Es gab so viele andere Orte. Er wunderte sich. Seine Widerstandkraft war fast gänzlich zusammengebrochen. Obwohl an den Wänden und auch auf dem Verkaufstresen Prospekte für Reisen in alle erdenklichen Länder auslagen, kümmerte sie nur der eine abgegriffene, den Zifferblatt ihnen gleich beim Eintreten in die Hände gedrückt hatte: Bahnreisen auf die Krim. War es die Hitze, war es Seidlitz’ plötzliche Erschöpfung nach einem mehrstündigen sommerlichen Stadtbummel, war es der schläfrig 28 machende Wein? Als jedenfalls Erika ihn mit großen Katzenaugen anblickte, sammelte er zunächst zwar alle Kräfte, um sich ihr matt entgegenzustellen, aber dann schwebte Erikas Kopf mit riesigen violetten Augenrändern als Luftballon vor seinem inneren Auge vorbei und er konnte auf ihr „Mit dem Zug auf die Krim, nur wir beide, das wäre doch schön, Wilhelm!“, das mehrfach in seinem Kopf widerhallte, nur noch ein mattes „Ja“ hinaushauchen.

Leseprobe: Ina Elbracht – „Sie nannten mich den Mann mit den Goldenen Schuhen”

Goldrausch

(…) Kyrill war so etwas wie die Mutter Courage der Volkstümlichen Musik. Er begleitete uns bei allen Schlachten und stand stets mit seinem Köfferchen voller guter Waren bereit. Sein Service war diskret und schnell, und er schaffte es dabei sogar noch die allgemeine Unterhaltung mitzutragen, während er sich doch einem nach dem anderen den Bedürfnissen seiner Kunden zuwandte. Und so waren denn auch schnell alle mit dem versorgt, nach dem sie verlangt hatten, und Sandro und ich hatten uns schon fast zur Tür komplimentiert, als Kyrill einen geheimnisvollen Kasten auf den Tisch stellte. Er brachte gelegentlich Überraschungen und Neuheiten mit und unsere Neugier war unmittelbar entzündet. Wir verfügten uns augenblicklich wieder auf die alten Plätze. Nicht auszudenken, den ganzen Spaß zu verpassen! Und außerdem: Wollte man wirklich, dass das noch grüne Fritschel (wie wir ihn manchmal nannten) mehr über Rauschmittel wusste als man selbst? Selbstredend: nein. Und so befanden wir uns schon mitten drin in einer Art Tupper-Party für Drogen, einer Dauerwerbesendung unseres getreuen Marketenders, der immer für eine Belustigung gut war. Kyrill ließ den Deckel des Kästchens zunächst verschlossen und so wies es uns ab und verbarg sein Geheimnis hinter dunklem, geschwärzt aussehendem Holz. Ich konnte nicht feststellen, ob die vielen Hubbel auf der Oberfläche daher rührten, dass das Kästchen einmal mit feinen Schnitzereien überzogen worden war; es zog mich in einem Maße an, mit den Fingern darüber zu streichen, dass ich Kyrills Eröffnungsworte nur am Rande wahrnahm. Den anderen erging es wohl anders als mir, denn als ich den Blick vom Kästchen losriss und mit geheucheltem Gleichmut die Gesichter um mich her betrachtete, da konnte ich nichts von der Faszination erkennen, die von mir Besitz ergriffen hatte. Im Gegenteil. Richie Kühn störte plump die stimmungsvolle Ouvertüre, indem er losdröhnte: „Die dreckige alte Kiste interessiert mich nur, wenn da geile Kubanische drin sind“, wozu er seine unvermeidlichen Brunftschreihchen ausstieß.
„Nein, meine Herren, Aufgeschlossene, Connaisseure und Wertschätzer des Ungewöhnlichen – in dieser, wenn auch schnöden Hülle verbirgt sich etwas ganz Besonderes, etwas, das die Gedanken an alles andere vertreiben wird, das sich, so klein und unscheinbar es jetzt noch wirken mag, bald zu seiner vollen Größe und Schönheit entfalten wird. Es gibt nur wenige, die noch in diese alten Geheimnisse eingeweiht sind und in einigen Minuten, meine Herren, da werdet Ihr zu den Ausgewählten gehören, die an diesem von der Welt vergessenen tiefen Geheimnis teilhaben werden.“ Exklusivität, na klar. Welcher Verkäufer würde schon zugeben wollen, dass er bereits die ganze Welt mit dem Dernier Crie übersät hat? Und auch wenn die anderen kritische Geräusche mit Lippen und Wangen machten, meine volle Aufmerksamkeit hatte er, und ich war bereit für jedes weitere Wort aus seinem Mund. Schwer zu sagen, ob wir wirklich die Ersten waren, denen er die Ware vorstellte, oder ob er schon eine Weile mit dem Kästchen als Ladenhüter umhergezogen war. Beides wäre möglich. Ich weiß es nicht. Wohl aber kann ich mir nicht recht vorstellen, dass es je einen angespitzteren Zuhörer als mich gegeben haben kann, denn obwohl ich noch nicht einmal wusste, was sich hinter dem Holz verbarg, da spürte ich mich schon seltsam dazu hingezogen und setzte mich schließlich auf meine Hände, damit sie nicht immer wieder versuchten, in Richtung des Kästchens zu wandern. Vielleicht wollte ich es zu diesem Zeitpunkt schon besitzen, anfassen und mit mir tragen, es den Blicken und möglichen Begehrlichkeiten der anderen entziehen, aber ich mühte mich darin, genauso unschuldig auszusehen, wie jeder andere in unserer Runde. Showtime. Entertainer. Pokerface. Gelernt ist gelernt. Bloß nicht zu interessiert wirken, ganz locker tun, es nur nicht so aussehen lassen, als läge mir etwas daran. „Na, dann mal raus damit“, ölte der Blaue Bock, „was steckt denn da für ein Teufelszeug drin?“
„Teufelszeug“, wiederholte Kyrill und grinste breit, „ja, da sagst du was.“ Wenn Kyrill grinste, dann bemerkte man, wie sich die eigenen Mundwinkel mimetisch nach oben zogen und man fühlte sich immer ein bisschen ertappt, so, als ob man, ohne die Hand vorzuhalten, mit äffisch aufgerissenem Maul und gebleckten Zähnen mitgegähnt hätte. „Was Ihr hier seht, Herrschaften“ – Kyrills Grinsen senkte sich und mit den Mundwinkeln auch seine Stimme, bis sie verschwörerisch flüsterte – „ist keine gewöhnliche Droge, kein Mittel zu schnellem Rausch oder sonst ein Budenzauber.“ Budenzauber. Ich weiß noch genau, dass er dieses Wort benutzte. Plötzlich kam ich mir vor, wie in einer anderen Zeit oder als wäre ich Teil eines Films. Irgendwie wurde mir alles schwarzweiß. Die Realität verblasste mit Kyrills Worten; wahrscheinlich fühlte ich einen Anflug, eine Ahnung, von dem, was kommen sollte. Der Moment war alles andere als gewöhnlich. „Diese Kiste habe ich einem Kapuzinermönch abgekauft. Er war in wilden Geldnöten, sonst hätte er sich von seinem Kleinod wohl kaum getrennt. Er hatte finstere Gewissensbisse, es aus der Reliquienkammer seines Klosters entwendet zu haben. Ja, Ihr habt richtig gehört“, sagte Kyrill, der damit das Erstaunen in unseren Gesichtern geschickt aufgriff, „was in diesem Kasten ruht, ist eigentlich eine Reliquie, und zwar die ,geheimnisvollste und wunderbarste Reliquie‘, wie der Mönch mir versicherte, die das Kloster seiner Ansicht nach je besessen hätte. Glücklicherweise war sie etwas in Vergessenheit geraten – angeblich konnte sie niemand ohne inneren Schauer anrühren – und so war es ihm gelungen, sie gegen eine Fälschung auszutauschen. Da keiner der Brüder die Reliquie anzufassen wünschte, würde der Diebstahl, zumindest auf absehbare Zeit, unbemerkt bleiben. Der Mönch warnte mich explizit vor der zerstörerischen Wirkung, ein großer Unsinn, da wir uns doch mitten in einer Verkaufsverhandlung befanden, aber er war eben doch mindestens so viel Mönch wie Krimineller. ,Das, was darinnen enthalten, stammt unmittelbar von dem Widersacher her, aus jener Zeit, als er noch sichtlich gegen das Heil der Menschen zu kämpfen vermochte‘, sagte der Mönch. Ich schwöre Euch, er hat es genauso gesagt, es war angenehm gruselig mit ihm zu sprechen, er war fast wie ein Geist aus einer anderen Zeit.“ Ich stutzte. Ihm war es also auch wie mir ergangen; ein Gefühl, wie aus einer anderen Zeit. „Widersacher?“, fragte das Fritschel ein bisschen blöde, meine Güte, so jung war er doch nun auch wieder nicht, aber Kyrill erläuterte, ohne der Stimmung zu schaden:
„Der Widersacher. Der Teufel.“ Nun schwiegen alle. Sogar Richie Kühn hatte aufgehört, sich Bier in den Schlund zu kippen und lauschte aufmerksam. „Der Mönch fragte mich, ob ich über das Leben des Heiligen Antonius in Kenntnis sei, was ich verneinen musste. Er hatte sich einen wahrhaft gottlosen Käufer für seine heiße Ware ausgesucht, aber das war ihm sicher auch ganz recht so. Und so fuhr er in seiner merkwürdig altertümlichen Sprache fort über den Heiligen Antonius zu reden, der sich in die Wüste zurückgezogen hatte, um sich dort unter Buß- und Andachtsübungen in strenger Askese ganz dem Göttlichen zuzuwenden.“ Kyrill machte an dieser Stelle einen Exkurs zu Yogis und buddhistischen Mönchen, aber von denen hatte ich, dank meiner Kindheit in den Zacharias-Ashrams genug, gähn, vielen Dank, und ich werde auch den geneigten Leser nicht erneut damit langweilen. Ich steige in Kyrills Geschichte also erst an jenem Punkt wieder ein, an dem der Teufel auftaucht und den heiligen Antonius versucht:
„Eines Tages nahm Antonius in der Abenddämmerung eine finstere Gestalt wahr, die auf ihn zuschritt. Zu seinem Erstaunen bemerkte er, wie aus den Löchern des zerrissenen Mantels, die die Gestalt trug, Flaschenhälse hervorguckten. Der Mönch war richtig in Fahrt gekommen und sagte: ,Es war der Widersacher, der in diesem seltsamen Aufzuge ihn höhnisch anlächelte und frug, ob er nicht von den Elixieren, die er in den Flaschen bei sich trüge, zu kosten begehre.‘ Es gab einiges Hin und Her und schließlich fragte Antonius den Teufel, warum er die Flaschen bei sich trage und der antwortete ihm, und auch hier versuche ich es so wiederzugeben, wie es der Alte gesagt hat: ,Siehe, wenn mir ein Mensch begegnet, so schaut er mich verwundert an und kann es nicht lassen, nach meinen Getränken zu fragen und zu kosten aus Lüsternheit. Unter so vielen Elixieren findet er ja wohl eins, was ihm recht mundet, und er säuft die ganze Flasche aus und wird trunken und ergibt sich mir und meinem Reiche.‘ Der Widersacher musste schließlich aufgeben, ließ aber, da er sonst nichts bewirken konnte, seine Flaschen zurück. Der Heilige Antonius nahm sie mit in seine Höhle und versteckte sie, damit kein Verirrter oder gar Schüler jemals davon kosten und ins Verderben geraten sollte. Einmal öffnete er eine der Flaschen und bekam, wenn ich’s richtig verstanden habe, irre Halluzinationen von dem Zeug. Der fromme Antonius hat sie durch sein inbrünstiges Gebet natürlich vertrieben, keine Frage. Und nun befindet sich in eben jener Kiste eine ebensolche Flasche des Teufelselixiers aus dem Nachlass des heiligen Antonius.“
Ich glaube, wir hielten alle den Atem an, als Kyrill die Kiste umständlich öffnete und eine Flasche zum Vorschein kam. „Ey“, ließ sich Richie nölend vernehmen, „ich wette, dass das Elixier des Teufels weiter nichts ist, als ein mittelprächtiger alter Wein, ein Syrakuser vielleicht.“ Sandro Sabato stieß in das gleiche Horn. Ich war enttäuscht von ihm. Vielleicht bin ich damals auch etwas eifersüchtig gewesen, weil sich Sandro um ein Vielfaches besser mit Weinen und geistigen Getränken auskannte als ich, aber ich weiß noch, wie ungehalten ich wurde, als er Richie Kühn zustimmte und sich in Erklärungen darüber erging, dass die Römer ihre Weine nicht verpfropft, sondern durch das Beträufeln mit flüssigem Öl haltbar gemacht hatten und man aus diesem Grund niemals die Möglichkeit haben würde, altrömischen Wein zu probieren. Der Wein des heiligen Antonius könne zwar so alt nicht sein, aber er würde doch zweifellos zu einer Verkostung einladen. Ich musste mich zügeln nichts Böses oder Gehässiges sagen. Und da ich selbst es vor Neugier kaum noch aushalten konnte zu sehen und zu fühlen, was sich hinter den Flaschenwänden verbarg, nickte ich, gute Miene zum bösen Spiel machend, in dem zustimmenden Chor der anderen einfach mit. Kyrill öffnete die Flasche und mir war, als hätte ich in dem Moment, als der Korken den Flaschenhals verlies, ein blaues Flämmlein gesehen. Augenblicklich war die Luft mit einem ganz besonderen Duft angefüllt, den ich, obwohl ich ihn so lange genossen habe, eigentlich nicht beschreiben kann. Er roch süß und ja, auch würzig, aber das war nur das Äußere, das Offensichtlichste. In dem Duft lag eine Vielzahl von Aromen und kein noch so klugschwätziger Weinkritiker könnte sie benennen, denn was dem Duft innewohnte, das war Verheißung, als würde er sprechen können. Der Geruch schoss durch meine Nase blitzschnell in die Areale meines Gehirns, die für Lust, für Freude und auch für Laster zuständig waren. Ich konnte nicht erwarten, davon zu kosten, meine Hände versuchten nicht sich dem wunderbaren Getränk entgegenzurecken, ich war wie gelähmt, mein ganzer Körper wurde durchzogen von Verlangen, fast war es zuviel für mich, das Elixier nur zu riechen und doch wollte und konnte ich nichts anderes, als mich nach ihm zu verzehren. Am liebsten hätte ich den Mund geöffnet und mir eine paar Tropfen auf die Zunge legen lassen wie ein Hostie. Ich war so von Gefühlen überwältigt, dass ich die anderen nicht mehr beachtet hatte. Nun war es wie ein Schock als brutal die Stimme des Blauen Bocks in mein Bewusstsein drang. „Igitt, der Syrakuser ist wohl über die Zeit, der riecht ja total verdorben.“ In der einen Sekunde wollte ich die Zähne fletschen und ihm an den Hals springen für die infame Lüge, die er über das Elixier verbreitete, dann aber machte sich ein Wohlgefühl in mir breit, denn ich erkannte meine Chance. Wenn alle den Eindruck hatten, der Wein sei verdorben, dürfte ich doch leichtes Spiel damit haben, ihn in meinen Besitz zu bringen. Schon der Gedanke ihn zu haben, ließ mich glücklich fühlen. Es war völlig verrückt. Nur ruhig, sagte der gewiefte Entertainer in mir, und ich wartete ab, bis alle ihr Missfallen am Geruch des Weins geäußert hatten.
„Ach weißt du“, sagte ich betont lässig, indem ich mich an Kyrill wandte, „ich könnte mir vorstellen das Fläschlein von dir zu kaufen. Ich habe eine Schwäche für tolle Geschichten.“ Kyrill hatte die Flasche, den Ekelbekundungen der anderen Folge leistend, mittlerweile wieder verschlossen. Das ließ mich ein bisschen klarer denken. Ich versuchte, mir von meiner Begierde das Elixier in meinen Besitz zu bringen, nichts anmerken zu lassen.
„Wenn du willst, befreie ich dich davon. Was willst du dafür haben?“ „Tja“, machte Kyrill und gab sich alle Mühe ratlos dreinzuschauen, „ja, weißt du, ich habe bislang nicht daran gedacht die ganze Flasche zu verkaufen. Immerhin ist es eine Reliquie. Ich habe sogar ein Zertifikat.“ Er kramte in der Holzkiste und zog ein Pergament hervor. Dafür hatte ich nun wirklich keinen Blick übrig. „Ich hatte eigentlich vor, es auf Ampullen zu ziehen und an gläubige Reliquiensammler zu verkaufen. Da würde eine solche Phiole“ – er sagte wirklich Phiole und ich kam mir für einen Moment wirklich faustisch vor – „wohl schon ein paar hundert Mark bringen, oder?“ So schwer es mir fiel, ich gab mich locker, scherzte hier und da mit den „Jungs“ und verhandelte nebenbei mit Kyrill. Er gab mir das Elixier samt Kistchen und Echtheitszertifikat schließlich für 3.500 DM, ein Spottpreis, den ich danach nie wieder erzielt habe. Zuletzt habe ich Kyrill für ein Viertel der Menge 35.000 Euro bezahlt, aber davon konnte ich damals natürlich noch nichts ahnen. 3.500 DM, das gab der Blaue Bock leicht mal in einer Nacht für Koks und Nutten aus, das war in unseren Kreisen keine utopisch hohe Summe. Zwar wunderte man sich ein bisschen über mich, was ich denn nun mit dem stinkigen Zeug wollte, aber ich erzählte ihnen etwas von meiner Kindheit als Messdiener und dass ich das Elixier meinem lieben Jugendfreund Gottlieb zum Geschenk machen wollte, der an dergleichen Gefallen fand. Ich gab es als Spaß aus, als Spleen, den man sich doch ruhig einmal erlauben konnte. Ich vermittelte ihnen ein bisschen Wir-Gefühl, „Wir sind doch fahrendes Volk, Künstler, alle ein bisschen verrückt“ und sie waren es zufrieden. Ich hielt das Kistchen in meinen Händen und war ganz heiß darauf, davon zu kosten. Vom Gepflegt-einen-Durchziehen mit Sandro konnte da natürlich keine Rede mehr sein. Also schützte ich Müdigkeit vor und verabschiedete mich, Sandros böse Blicke geflissentlich ignorierend, und verließ die Suite des Blauen Bocks mit einem unglaublichen Glücksgefühl. Ich konnte es damals noch nicht wissen, aber ich war total high davon, nur am Elixier gerochen zu haben.
Beim Betreten meines Hotelzimmers verwechselte ich dieses Gefühl mit einer beginnenden Erektion, die glaubte zu haben, weil ich Doreen leicht bekleidet in meinem Bett vorfand. Das war für mich nicht abzusehen gewesen, ganz ehrlich, und ich will mich nicht mit müßigen Gedanken darüber quälen, wie alles hätte sein können, wenn ich Doreens Bemerkung an jenem Abend nicht missverstanden hätte. Ich verweigere es und ich verscheuche den Gedanken daran, wie ich es mit den Insekten tue, die am Plastikstuhl oder direkt an meinen nackten Beinen heraufklettern. Das Elixier hatte den Weg zu mir gefunden, ob nun vermeidbar oder nicht, und es lag angenehm schwer in meiner Hand, als ich das Zimmer betrat und ich weiß nicht, was mich euphorischer stimmte, die Aussicht darauf es zu verkosten oder Doreen, die vor dem Fernseher eingeschlafen war. In irgendeinem dritten Programm lief die Feuerzangenbowle, ein Film, der von Großmama und Tante Sophie zwar geschätzt, aber nicht geliebt wurde, zu letzterem fehlte es nach ihrem Geschmack an Musik, aber ich kannte ihn nichtsdestotrotz in und auswendig. Ich brauchte also nur einen kurzen Blick, um zu wissen, was als nächsten auf dem Stundenplan der Oberprima stand: Stichwort Baldrian. Ich schlich mich am Bett vorbei und kam an einer Tischplatte von der Größe eines Vorlegetellers zu sitzen. Neben mir hörte ich Professor Schnauz über die „Wänkelzüge“ seiner Pädagogik dozieren, zu denen es gehört alljährlich mittels einer Literflasche selbstherge-st-ellten Heidelbeerweins seiner Oberprima die alkoholische Gärung zu erklären, während ich, jedes unnötige Geräusch vermeidend, auf dem Bord über dem Fernseher nach einem Glas angelte. Behutsam zog ich nun den Korken aus der Flasche und augenblicklich verstärkte sich die erwartungsvolle Euphorie in mir, als habe man einen Regler um mindestens zehn Skalenstriche nach oben geschoben. Und das alles wohlbemerkt, bevor ich auch nur einen einzigen Tropfen des Elixiers verkostet hatte. Nun wurde mir klar, dass mein Zustand wohl doch nicht vom Anblick Doreens herrührte, obwohl sie hinreißend aussah, wie sie sich, fast unrealistisch elegant, im Schlaf rekelte. Ich bewegte die Nase nun unmittelbar über den Flaschenhals und wäre fast von geballtem Verlangen übermannt worden, nur mit Mühe konnte ich mich davon abhalten, die Flasche anzusetzen und in großen Schlücken die Verheißung in mich hineinzusaufen. Wahrscheinlich ahnte ich, dass das entschieden zu viel für mich gewesen wäre und riss mich zusammen. Nur eine ganz kleine Menge goss ich mir ein, wenig mehr nur als in einen handelsüblichen Fingerhut passen würde. Auf den ersten Blick hätte man das Elixier tatsächlich mit einem alten Rotwein verwechseln können, aber obwohl ich es nur im Halbdunkeln betrachten konnte, kaum erhellt vom zuckenden Schwarz-Weiß, da war mir trotzdem sofort klar, dass ich etwas ganz Unglaubliches sah, etwas, das anders war als alles, was ich bisher gesehen hatte. Das Elixier schien nur vordergründig den Naturgesetzen zu gehorchen, auf gewisse Weise tat es das, was man von einem Getränk, einer Flüssigkeit erwarten konnte, gleichzeitig schien es sich aber über die Sehgewohnheiten des Betrachters lustig zu machen und es entzog sich einem auf sonderbare Weise. Es war eben – anders, ein besseres Wort will und will mir nicht dafür einfallen, auch wenn mich meine Unfähigkeit es treffender zu beschreiben selbst unbefriedigt zurücklässt. Es bleibt mir nur die Bitte, sich das Elixier nicht quecksilberartig oder wie ein computeranimiertes Geistwesen vorzustellen, denn so sah es wirklich nicht aus. Auch nicht wie Flüssigkeiten in Stop-Motion-Filmen. Aber genug davon. Ich war jedenfalls vollkommen fasziniert von dem, was ich in das Glas gegossen hatte und wurde, falls das überhaupt möglich war, noch magischer davon angezogen als zuvor. Mich überwältigte Gier, aber es war eine wunderschöne Gier, ein pures Gefühl, eine nie gekannte Sensation, es drängte mich das Elixier in mich aufzunehmen und – ja, ich glaube meine Lippen hatten sich trichterförmig nach vorn gestülpt und meine Zunge stand mir aus dem Mund wie ein reifer Blütenstempel, als ich mich näherte. Und ich trank. Glut strömte durch meine Adern und erfüllte mich mit dem Gefühl unbeschreiblichen Wohlseins – und ich trank noch einmal, und die Lust eines herrlichen neuen Lebens ging in mir auf. Denn bevor ich überhaupt wusste, zu was mich das Elixier befähigen sollte, da hatte es schon die Gewissheit in mich gepflanzt, dass nichts mehr sein würde, wie es gewesen war und dass sich mein Leben vollkommen ändern würde. Ich schwebte. Mit der Zunge versuchte ich die zurückgebliebenen Schlieren aus dem Glas zu lecken, meine Finger machten sich selbstständig und holten die letzten Tropfen vom Boden des Glases empor. Dann saß ich ganz still da, meine noch speichelfeuchten Finger waren mir in den Schoß gesunken, in mir befand sich eine Art kribbelige Ruhe, ich fühlte eine Bewegung, die kommen würde. Langsam entfaltete sich ein goldenes Gefühl in meinem Solarplexus. Zuerst fühlte es sich wie eine Kugel an, dann aber bemerkte ich, dass es sich eher um eine kompakte Wolke handelte, deren winzige Teilchen umeinander tanzten. Ich fühlte, wie sich einige von ihrem Zentrum lösten und begannen, in mir aufzusteigen. Auf ihrem Weg erhellten sie alles um sich herum und hinterließen, nur weil sie vorbeigekommen waren, ihren Weg mit etwas, das sich wie Glitzern anfühlte. Ich sage „Glitzern“, obwohl ich weiß, dass dieses Wort vermutlich unerwünschte Assoziationen hervorrufen wird, denn eine bessere Beschreibung fällt mir auch hierfür nicht ein. Ich atmete tief und frei als die Partikel meine Kehle passierten und als sie meine Stirn erreichten, da ereilte mich ein Kreativitätsschub bislang ungekannten Ausmaßes. Augenblicklich griff ich nach einem Kugelschreiber und begann wie wild auf einen Umschlag zu kritzeln, der auf dem Tisch gelegen hatte. Professor Schnauz’ Klasse johlte unter dem Einfluss der alkoholischen Gärung, eine Brust war im Schlaf aus Doreens Top entkommen. Pfeiffer mit drei f, eins vor dem Ei zwei hinter dem Ei, dachte ich und in meinem Kopf passierte alles gleichzeitig: Melodie und Text entstanden nebeneinander. Jede Idee ließ sich augenblicklich umsetzen und zog andere nach sich. Was hätte ich in diesem Augenblick für ein Klavier gegeben! Ich muss wohl mit den Fingern auf den Tisch getrommelt und vor mich hingesummt haben, denn Doreen erwachte.
„Was machst du denn da mitten in der Nacht?“, murmelte sie. „Ich komponiere“ antwortete ich und warf ihr einen schnellen Blick zu, bevor ich das Bord über dem Fernseher nach Papier absuchte. „Was suchst du?“, fragte Doreen und ich nuschelte: „Hast Du Papier?“ Ich blickte erst auf, als sie vor mir stand, einen Block mit Hotelbriefpapier in der Hand. Sie hatte die entflohene Brust nicht in ihr Top zurückgezwängt, sondern stand mit nacktem Oberkörper da. Einige Goldpartikel bewegten sich nur von ihrem kreisenden Kern aus abwärts. Trotzdem nahm ich ihr den Block aus der Hand und schrieb Wörter und Notenkürzel in einem Tempo, das mich selbst in diesem besonderen Moment an Erbrechen erinnerte. „Theo, komm“, sagte sie und kniete sich vor mich. Ich befand mich ihr gegenüber in einer Stimmung, die ich rückblickend nur als „exaltiert“ bezeichnen kann, denn ich unterbrach meine Arbeit nur für die wenigen Sekunden, die ich benötigte, um meine Hose zu öffnen. „Pfeiffer mit drei f, eins vor dem Ei, zwei hinter dem Ei, ich hab ein Ei, sogar zwei, nun kenne ich das erste F, doch was zum Teufel sind die anderen zwei?“ Der Text glitt nur so aus mir heraus, die Goldpartikel tanzten nun in meinem ganzen Körper umher. Ich reimte Zeterundmordio auf Fellatio, was mir wohl unter anderen Umständen unerträglich albern erschienen wäre. Ich ließ los. Ich war in einer Art Superflow, der sich nicht einmal durch das Ergebnis von Doreens Bemühungen unterbrechen ließ. Doreen wurde irgendwann klar, dass es weder zu einer Revanche noch einem anderen F kommen würde. Ich winkte ihr zum Abschied und sagte etwas wie „beim nächsten Mal, ja?“. Sie hat es mir übrigens nicht dauerhaft übel genommen, aber in jener Nacht hätte es mich auch nicht interessiert, wenn es so gewesen wäre. Ich schwamm auf einer Welle von Glück, ich war der Nabel der Welt und dachte, vom Elixier vollkommen in Bann geschlagen, dass sich Gott wohl so ähnlich gefühlt haben musste, als er alles erschuf. In meiner Vorstellung ging es nicht darum, was man schuf, sondern um die schöpferische Kraft an sich. Ich schreibe das alles auf in dem Bewusstsein, wie peinlich und erbärmlich es ist, aber ich fühle mich dazu verpflichtet, meine ersten Erfahrungen mit dem Elixier so wahrheitsgetreu wie möglich zu schildern und dazu gehört leider auch eine Beschreibung meines Größenwahns, den ich damals als etwas ganz Natürliches wahrnahm. Ich wusste um die Endlichkeit dieses Gefühls, schließlich war ich unter dem Einfluss des Elixiers kein Vollidiot geworden und es schien mir absolut notwendig, alles aus mir herauszuquetschen, der schöpferischen Wirkung das Letzte abzuringen. Es war also kein passiver Trip, sondern etwas, das an Anstrengung und leidenschaftlicher Hingabe nicht zu überbieten war. Gegen fünf Uhr verließ ich das Hotel. Die Papierseiten mit den Notizen trug ich unter meinem Hemd. Dazu hatte mich weniger die Sorge vor einem Diebstahl bewogen als das Gefühl sie auf der Haut tragen zu wollen, sie während der Autofahrt zu spüren. Auf der Landstraße wunderte ich mich kurz über das Ausbleiben von Müdigkeit, aber dann nahm ich es hin wie alles andere aus, das mit dem Elixier zu tun hatte. Im Hotel hatte mich nichts halten können, es drängte mich an die Tastatur eines Klaviers und dafür war ich bereit lange vor dem Morgengrauen den weiten Weg nach W. zu fahren. Unterwegs trällerte ich Teile des Songs vor mich hin. Vor allem der Teil: „Jeder nur einen wänzigen Schlock“ auf den ich im Geiste einen Chor „Schlöckchen, Schlöckchen, Schlöckchen, Schlock!“ antworten hörte, hatte es mir angetan und beim Betreten des Doerffer-Hauses wusste ich, dass der Titel „Schlöckchen-Song“ sein würde. Es war kein „vielleicht nenne ich es Schlöckchen-Song, vielleicht fällt mir aber auch noch was Besseres ein“, nein, der Titel stand fest, es war so, als würde ich ihn bereits auf dem Cover einer CD lesen. Tante Sophie und Großmama schliefen noch, als ich im Wohnzimmer die Schiebetüren zur Seite schob und den Salon betrat. Es wäre mir nicht in den Sinn gekommen darauf Rücksicht zu nehmen. Welcher große Komponist hätte wohl nach schlafendem Weibsvolk im Haus gefragt, wenn ihn die Muse küsste? In Windeseile verteilte ich die Papiere auf dem Flügel, gierig griffen meine Hände erst nach frischem Notenpapier und dann in die Tasten. Wenig später stand Tante Sophie im Türrahmen und schüttelte den Kopf.
„Deine Großmutter denkt es wären Einbrecher hier“, sagte sie und ich musste lachen. Vielleicht sollte man einmal eine Revue schreiben über eine Bande brotloser Künstler, die nur deshalb einbrechen, um einmal auf einem prächtigen Flügel zu klimpern. „Ich komponiere“, erwiderte ich aber bloß, ungefähr in dem Tonfall, mit dem man schschsch macht. „Ich höre es“, grummelte Tante Sophie und verschwand in die Küche. Später schob sie einen Beistelltisch neben den Flügel und brachte mir Frühstück. Ich vertilgte es atemlos, nur den Kaffee rührte ich nicht an. Ich war bereits vollkommen wach, noch wacher konnte ich nicht werden. Meine Großmama blieb im oberen Geschoss, sie war schon krank und stieg ungern die Treppen, was sie aber nicht dazu bringen konnte, unserem Drängen auf den Einbau eines Treppenlifts nachzugeben. Ich hörte sie mehrmals rufen, stellte mich aber taub. Erst als ich meine fertige Komposition in den Händen hielt, huschte ich die Treppe hinauf, gab ihr einen Kuss und verabschiedete mich bis zu den Feiertagen. Ich konnte es nicht wissen, aber es würde das letzte Weihnachtsfest mit meiner Großmama sein.
Wieder stieg ich ins Auto. Wieder kein Zeichen von Müdigkeit. Die Wirkung des Elixiers war abgeflaut, das schon, aber allein der frei flottierende Rest hätte ausgereicht den Unbescholtenen in Ekstase zu versetzen. In meinem Zustand freudiger Erregtheit machte ich mir keine Gedanken darüber, wie ich P. Leonard von dem Potenzial meines Songs überzeigen wollte, ich fühlte einfach, dass alles den richtigen Weg gehen würde. Meine Komposition würde für sich selbst sprechen, dessen war ich mir sicher. P. Leonard war dann aber nicht so begeistert, wie ich es erwartet hatte. Zwar gefiel ihm die Melodie, aber er fand den Text zu zotig. Ich war nicht verhandlungsbereit. Entweder er würde den Song so nehmen, wie er war, oder ich würde ohne Umschweife zu einem anderen Management wechseln. Ja, die brave Milchkuh stemmte die Paarhufe in die Stallgasse und ließ sich nicht wieder in ihren Pferch treiben. Alles oder nichts. Nie war ich selbstbewusster aufgetreten, nie hatte ich meine Interessen eigensinniger vertreten. P. Leonard war nicht mehr auf der Höhe der Zeit. Wie auch immer die Sache ausging, bald würde unsere Zusammenarbeit Geschichte sein, das fühlte ich deutlich. Auch wenn in meinem Solarplexus kein goldener Schwarm mehr schwebte, ich hatte die Zukunft gesehen. Der Schlöckchen-Song würde erfolgreich sein, das wusste ich, auch wenn ich natürlich keine Ahnung hatte, wie erfolgreich er tatsächlich werden würde. Wer hätte das auch vorhersehen können? Das Elixier hatte mir die Lust eines herrlichen neuen Lebens gezeigt und der Schlöckchen-Song war die Tür dazu. Ich durchschritt sie ohne zurückzublicken, und mit dem großen Erfolg lebte ich tatsächlich ein neues Leben, das für mich zunächst einfach nur unbeschreiblich großartig war. Kann jemand wirklich so naiv und dumm sein?, wird sich mancher zu Recht fragen. Und ich selber frage mich: Bin denn das wirklich ich gewesen, so naiv und dumm? Die Antwort lautet zu meinem Bedauern: Ja. Leider. Ich will versuchen es zu erklären: Eine der vertrackten Eigenheiten des Elixiers war das Ausbleiben eines Katers nach den ersten Einnahmen. Es gab noch keinen bösen Fall, der auf den herrlichen Rausch folgte, es war vielmehr so, als glühte ich noch eine Weile nach, wie ein wohliger von Muttergottesmilch vollgesogener Zufriedenheitsstern, bevor ich wieder meinen Ausgangszustand erreichte. Oder vielmehr das, was ich dafür hielt. War ich wirklich so einfältig zu glauben, etwas so Gewaltiges könne keine Nebenwirkungen haben, nicht früher oder später doch seinen Tribut fordern? Ich war. Ich war, ich war, ich war. Verdammt! Das Elixier hatte mich längst verzaubert, aber ich hielt mich für viel zu schlau, mich davon korrumpieren zu lassen. Ich hatte alles im Griff, ich großer Glückspilz, dem der pure Zufall den Stein der Weisen in die begabten Hände gelegt hatte. Denn ich hielt mich für begabt, geradezu begnadet, denn was ich unter dem Einfluss des Elixiers erdachte und komponierte, auf das war ich nach dem Abklingen der Wirkung nicht weniger stolz. Schließlich war es aus mir herausgekommen, das Elixier als Mittel zum Zweck, eine Art Ritalin des Kreativitätsschubs, eine Mini-Pipeline, etwas, durch das ich freien Zugang zu dem Reservoir der Musik hatte, das in mir lag und danach rief, angezapft zu werden. Ja, so dachte ich damals. Mr. Superschlau auf der Überholspur. Wie peinlich, wie erbärmlich! Ich fühle, wie mir die Haut unter meinem wildwuchernden Bart heiß wird. Bevor mich die Gefühle der Scham unfähig zum Weiterschreiben machen (wie es schon allzu oft geschehen ist) vertiefe ich das Thema an dieser Stelle nicht weiter. Zwangsläufig wird davon noch häufiger die Rede sein müssen. Kommen wir zu etwas anderem. Kommen wir zur geschäftlichen Seite des Erfolgs: Mit dem Schlöckchen-Song war mir etwas gelungen, das nur sehr wenigen Künstlern meiner künstlerischen Herkunft gelingt. Sind wir doch mal ehrlich: Die meisten Schuster bleiben ein Leben lang bei ihren Leisten, selbst dann, wenn sie heftige Allergien gegen Lösungsmittel entwickeln. Normalerweise ist man in einem Bereich der Unterhaltungsbranche verhaftet und – warum auch nicht? – es spricht nichts dagegen; niemand, der als Musiker seine Brötchen oder sogar Eigenheime und Ferienwohnungen verdient, glaubt ernsthaft daran ein Weltstar zu werden. Man hofft auf den Erfolg, nicht aber auf den Riesenerfolg. Mit dem Schlöckchen-Song kam mein Riesenerfolg, und ich wurde – meine Fans der ersten Stunden mögen mir den Ausdruck verzeihen – „salonfähig“. Mit dem Schlöckchen-Song war ich nicht mehr auf bestimmte Formate festgelegt und ich werde nie das Gefühl vergessen, als ich mein Video auf einem Musiksender für Teenager sah, oder als das erste Poster von mir in der Brambilla auf Geheiß meiner Großmama von Tante Sophie in einen Bilderhalter gesteckt und im Salon an die Wand gehängt wurde. Das Elixier und ich hatten einen ultimativen Stimmungshit geschaffen, einen Kracher. Einfach jeder schien sich damit zu amüsieren, es war vollkommen verrückt. Viele Künstler behaupten von sich, ihre Musik würde vom Kleinkind bis zum Greis gemocht. Selten genug stimmt es. Oft sind es nämlich nur die Kleinkinder und Greise und niemand dazwischen. Bei mir hingegen traf es tatsächlich zu. In P. Leonards Agentur wurde eigens jemand eingestellt, der meine Fan-Post beantwortete. Dieser Job war aber nur von kurzer Dauer, denn ich wechselte wenig später, meinen zweiten Hit „Du wirst sie verlieren“ im Gepäck, ins Management von Ignaz Denner. Die gemeinsame Zeit von P. Leonard und mir war abgelaufen. Wie bei jeder Scheidung ging es am Ende ums Geld. P. war der Meinung „Du wirst sie verlieren“ stünde ihm zu, weil ich den Song geschrieben und in einem anderen Studio aufgenommen hatte, während ich noch bei ihm unter Vertrag stand. Ignaz hielt diese Dinge weitgehend von mir fern, konnte aber auch nicht verhindern, dass P. Leonard und ich uns vor Gericht wiedersehen mussten. Ja, es lässt sich doch alles mit Geld aus der Welt räumen. Aber das ist keine schmerzhafte Lektion, wenn man genug davon hat. (…)

Leseprobe: Doris Brockmann – „In Bhutan steckt Hut”

Du denkst dir das aus. Ein Bild von Rosa. Das hat die Welt noch nicht gesehen und ist nicht nur eins und nicht deins und nicht meins. Rosa denkt sich was aus, am Ende wird ein Hut daraus. Rosa ist Putzmacherin. Es heißt, die gäbe es nicht mehr. Das kann nicht stimmen. Denn Rosa ist ja Putzmacherin. Die beste im Ort, wie einige sagen, die beste weit und breit, wie andere sagen, ach was, die beste der Welt. Für manche im Ort ist der Ort die ganze Welt. Für Rosa ist das Anfertigen schöner Hüte die ganze Welt.

Jetzt beginnt es. Um vier Uhr. Oder ist es erst drei oder schon fünf? Wird jedes halbe Jahr die Zeit umgestellt, kannst du dir zu keinem Zeitpunkt sicher sein, wie spät es eigentlich ist, wirklich. Auch wenn der Wecker vier anzeigt. Also noch einmal und anders: Jetzt beginnt es zwischen 3:30 und 4:30 Uhr. Mit der Angabe einer Zeitspanne bist du aus dem Schneider. Die dehnt und lockert das Terminieren und ist selbst dann noch vorzuziehen, wenn sie im Einzelfall heikel ist. Glaubt man den Quellen, ist es nämlich so, dass zwischen drei und fünf Uhr der menschliche Organismus vollkommen im Leistungstief steckt, das höchste Risiko für einen Asthmaanfall besteht, Nachtarbeiter die meisten Fehler begehen, die Körpertemperatur auf das niedrigste Niveau sinkt und Melancholiker am stärksten selbstmordgefährdet sind. Rosa hingegen liegt, jetzt, da alles beginnen wird, entspannt unter der Daunendecke, halb wach, halb träumend, im Kopf ein Bilderkarussell, hell und schnell wie eine Schlummerlampe, vollgekritzelt mit Hutskizzen, die mühelos umsetzbar scheinen, solange man im Zwielicht döst, jedoch bei Tageslicht höchst selten bis fast nie zustande gebracht werden können. Zum Beispiel die persische Tiara komplett aus Blättern, kleinen roten und gelben Buchen-, Heidelbeer-, Erlen- und Weißdornblättern, die schuppenförmig aufeinander liegen. Eher eine Art Jakobinermütze, jedoch ohne Ohren- und Nackenlasche. Der Zipfel ein wenig kürzer und leicht aufgestellt, eher wie bei einem Gartenzwerg. Es müsste ein Untergerüst aus Hutdraht gebaut werden. Ob das für Stand und Halt ausreichen wird? Wie die Blätter fixieren und wie am Gerüst befestigen? Ein Lichtkegel huscht über die Zimmerdecke, der Briefkastendeckel klappert, schon braust die Zeitungsfrau weiter durch die Nacht. Mit etwas Glück rutscht Rosa bei all dem Ausdenken und Entwerfen wieder zurück in tiefen Morgendämmerschlaf. Und mit noch etwas mehr Glück schleicht sich ein jakobinischer Zwerg mit blätterübersätem Zipfelhut in ihre Träume und verrät ein paar Konstruktionsgeheimnisse.

Jetzt genau beginnt es mit Schlag acht der Kirchturmuhr. Und mit Augenblicken. Erst das rechte Auge. Dann das linke. Dann beide. Den Tag anblinzeln. Vielleicht hilft das. Der Morgen drängt durch die Rolladenschlitze. Rosa streckt die Beine hoch, lässt die Füße kreisen, schiebt sie abwechselnd Richtung Decke. Man solle sich einen Luftballon vorstellen, den man vorsichtig nach oben stupst, so mache es gleich viel mehr Spaß und käme auch keine Langeweile auf, hat die Therapeutin gesagt. Als nächstes nehmen wir die Hände hoch und spielen ein wenig Luftklavier. Nun die Fäuste ballen und wieder auf und wieder zu. Dann mit dem Daumen der Reihe nach die Fingerkuppen abklopfen, und bitte nicht schummeln, wirklich jeder Finger, das Ganze zweimal vor, zweimal zurück. Schon ist die Morgengymnastik erledigt. Gerade rechzeitig, bevor sie noch unvergnüglicher und langweiliger und richtig schmerzhaft wird. Mit dem Stock den Schalter antippen, fahren die Holzrolladen hoch. Sonnenlicht ergießt sich in den Raum. Ein schöner Tag. Was für ein Tag! Kaltes Wasser ins Gesicht werfen. Tief einatmen. Gleich noch eine Handvoll. Und noch eine. Wasser weich wie aus dem Bergsee. Braucht man sein Lebtag nichts weiter als Nivea. Nichts weiter als vier Hornklammern und – wenn es kein schlechter Tag ist – eine Minute braucht Rosa, um die dunkelbraunen Haare verzwirbelt und verschlungen am Hinterkopf hochzustecken. Das türkisfarbene Wollkleid mit den schwarzen Schnittmusterlinien scheint genau richtig für einen Tag wie diesen. Alsdann eine Kanne Tee aufbrühen, einen Kanten Brot abschneiden und dick mit Butter und Marmelade bestreichen.

Draußen wird Laub gefegt und im Rinnstein zu dicken Würsten zusammengeharkt. Heute kommt die Laubkehrmaschine vorbei. Wird es schwer haben bei so viel Laub. Wird nicht mal eben drüberbrettern können und schon ist Frühstückspause. Wird mehrmals retour zum Bauhof fahren müssen, um alles wegzuschaffen, und dann stammt ein Großteil davon wahrscheinlich noch nicht mal von den Bäumen der Gemeinde, oder sieht irgendjemand hier einen Kirschbaum an der Hauptstraße? Müssen halt alle sparen, zum Leidwesen des Laubkehrmaschinenfahrers, der um seine Frühstückspause fürchten muss. Andauernd zum Bauhof hin und gleich wieder los. Das kostet Zeit. Die hat ja kaum einer. Drum ist er schlecht gelaunt, der Laubkehrmaschinenfahrer. Warum nicht die ein oder andere Straße, in denen fegewütige Hausfrauen das Regiment führen, einfach auslassen? Reicht doch, wenn er nächste Woche dort vorbeikommt. Abfuhrplan hin oder her. Sollen sich nicht so anstellen. Ist ja nur Laub. Das weht, wo es will, wie es will und so viel es will. Wird man eh nicht Herr drüber.

Rosa geht in die Werkstatt und legt letzte Hand an den Hut. Den hat die Frau des Landrats bestellt. Einen Hut, passend zur Eröffnung der Umgehungsstraße. Mausgrau und mit rundgeführtem Putz, gleich der Trasse, die in weitem Bogen um den Braberg gebaut wurde und kommenden Sonntag eingeweiht werden soll. Für diesen Anlass stelle sie sich einen Aufschlaghut vor, ja, ein Aufschlaghut, das wär es doch, hatte die Frau des Landrats lachend gesagt und dazu heftig in die Hände geklatscht, dass sich der Gedanke aufdrängte, sie könnte es doppeldeutig gemeint haben. Rosa legt dunkelgrün und lila gefärbte Hahnenfedern um das schwarze Samtband. Ein warmfarbiger Hutschmuck, der auch bei ungünstigem Wetter wirkungsvoll und stabil bleibt, und sollte die Sonne scheinen, entfalten die Federn ein faszinierendes Farbenspiel, da, schauen Sie. Dezent soll er sein, hat die Frau des Landrats gesagt. Dezent, aber aus dem Rahmen fallend. Klassisch, doch keineswegs langweilig. Ein wenig auffallend durchaus, aber im guten Sinne. Auf jeden Fall Federn. Wissen Sie, mein Mann ist begeisterter Jäger, Federn am Hut werden ihm gefallen, das ist schon die halbe Miete. Grün natürlich auch. Aber Lila, ich weiß nicht, meine Mutter hat immer gesagt: Lila – der letzte Versuch. Und das glauben Sie? Glauben das nicht alle? Ich wüsste im Moment niemanden. Tja, Sie sind ja auch Künstlerin. Man muss auch mal was wagen, jaja. Ich möchte nur nicht Gefahr laufen, mich lächerlich zu machen. Da besteht keine Gefahr, vertrauen Sie mir. Na gut, schön soll der Hut sein. Ja, schön, unbedingt.

Wenn es ein schlechter Tag ist, beträgt die Wartezeit zwei Stunden vom Aufwachen an, bis die Stecknadelspitzen ihren Rückzug aus den kleinen Gelenken angetreten haben, bis Fäden, Perlen, Schleier und Federn sich gut greifen lassen, das Bügeleisen angehoben, die Appretur aufgesprüht werden kann. Am Nachmittag und Abend geht da mehr. Drum ist der Hutladen erst ab halb drei geöffnet, schließt dafür auch erst um halb acht. Eine gute Zeitspanne für den Kauf eines Hutes. Von morgens bis mittags sind die wenigsten Menschen in der Lage oder Stimmung, sich einen Hut anzuschaffen. Treffen mithin zwei Unpässlichkeiten aufeinander und passen gut zusammen. An manchen Abenden ist auch nach halb acht noch was los im Laden. Meist sind dann an der Ortseinfahrt auffällig flache und auffällig hohe Autos zu sehen. Sie gehören mittleren bis kleinen VIPs aus der Stadt oder von noch weiter her, die während einer kleinen Landpartie die Gelegenheit beim Schopfe packen, in Erfahrung zu bringen, ob das hier im Versteck ein echter Geheimtipp ist. Fashionistas schlägt keine Stunde. Und Rosa ist weder in der Lage, Kundinnen die Ladentür vor der Nase zuzuschlagen, noch der Ansicht, Gastfreundschaft sei ein Gut, das zur Verhandlung steht. Teelichter flackern auf der Theke und den Fensterbänken. Rosa reicht Getränke und Käsegebäck aus eigener Herstellung. Niemand zeigt falsche oder echte Hemmungen: Anfassen, anprobieren, anstoßen, anfeuern, anzweifeln.Die Fashionistas machen Fotos, wollen rauchen und tanzen. Schon möchte man Rosa zurufen: Vorsicht mit dem Feuer und vor Fett- und Rotweinflecken! Da steckt sie sich eine Nil an und nimmt Fahrt auf. Wer heute nur an morgen denkt, hat kein Heute. Es wird eine Flasche Champagner aus einem der auffällig hohen Autos geholt und in kleine grüne Wassergläser gegossen. Prompt wollen alle Anwesenden ihren Lieblingshut vorführen und laufen wie geschmiert über den vier Meter langen Catwalk vor der Ladentheke. Tosender Applaus. Da schlägt die Kirchturmuhr zehnmal. Eine mittlere VIP hat vielleicht einen Hut gekauft, vielleicht sogar zwei, eine andere verspricht, einem guten Bekannten, der eine Sendereihe über aussterbende Berufe, ich meine altes Handwerk, gutes altes Handwerk, produziert, auf diesen wundervollen Hutladen hinzuweisen. Alle stecken Visitenkarten ein, steigen dann winkend in ihre auffällig flachen oder hohen Autos und setzen die Landpartie fort. Rosa stellt die Fenster auf Durchzug, schaut noch ein wenig in den klaren Nachthimmel und summt dieses Lied.

Jetzt ist jetzt und noch eine Stunde Zeit, bis geöffnet wird. Genug Zeit für eine Hühnersuppe und die Tagezeitung. Die vermeldet fünf Todesfälle. Einer plötzlich und unerwartet, die anderen alles über Achtzigjährige. Eine Geburt und eine Vermählung. Fünf Todesfälle, da hat Konrad viel zu tun. Der Gesangsverein feiert fünfundsiebzigjähriges Bestehen. Schuhmachermeister Kamitter schließt seine Werkstatt zum 1. November – fünfzig Jahre, Tag für Tag, keine Schwäche, kein Ausfall, immer Verlass drauf, gehen zu Ende. Wo bringt man fortan die Schuhe hin? Oder muss man sie jetzt wegschmeißen, wenn sie kaputtgehen? Aus aller Welt wird an die revolutionären Jersey-Kollektionen von Coco Chanel erinnert, bequem und schlicht und edel, ein Meilenstein in der Geschichte der Mode, vor hundert Jahren der internationale Durchbruch, der Ritterschlag durch eine Zeitschrift, die amerikanische Vogue, in der die garniturlosen Jacken, Hosen, Röcke, Hüte, Kleider und Mäntel aus der Rue Cambon als Inbegriff der Eleganz gefeiert worden waren. Wie viel von so wenig abhängen kann. Rosa schaut aus dem Fenster. Sonnenglanz, der alles überbelichtet. Ja, sie wird weiterhin Fotos von ihren Hüten an die richtigen Adressen schicken.

Konrad vor dem Schaufenster. Die Hände wie ein Kappenschirm über der Stirn, die Nase dicht an der Glasscheibe, riechkussbereit wie ein neuseeländischer Eskimo bei der Begrüßung. Konrad möchte sehen, was vor sich geht. Möchte Rosa sehen. Und sieht sie. Nach drei Atemzügen aber nur noch im Nebel. Konrad macht einen Schritt zurück, lacht und malt ein großes R auf den Nebelfleck. Das erscheint auf der Gegenseite der Scheibe als kyrillischer Buchstabe. Der, der wie ein Ja ausgesprochen wird. Rosa lacht und nickt und winkt den Beobachter herein. Der zwinkert, reibt sich die Nasenspitze, tippt an den wirklichen Kappenschirm und läuft davon.

Konrad ist mit Rosa zur Schule gegangen, später auch in den Hollerbusch hinter der stillgelegten Schiefergrube, wo keiner einen sieht und die ungesehenen Verliebten sich schon nach kurzer Zeit nicht mehr vom Bahnübergangsgetute der herannahenden Kleinbahn haben schrecken lassen. Auch nicht von den Ameisen, die stets in der Nähe sind, unsichtbar, allzeit bei der Arbeit und lauernd, um in einem unerwarteten Moment Oberschenkel hinauf- und Schultern hinabzumarschieren, stets in großer Besetzung, unerschrocken, alle gegen einen und eine, die schlagen zurück und lachen und drücken und reiben und quetschen, reißen die Arme hoch, kreischen und legen eine Kampfpause ein, legen die Hände in den Schoß, in den Schoß des anderen, drücken und reiben und quetschen, Blick in die Wolken, Sonnenblinzeln und warten, alle Zeit der Welt, Windhauch, Blick zur Seite, Auge in Auge. Kastanien fallen in sternenbestickte See.

„Päckchen oder versichert?“ Karin, die Kioskbesitzerin, setzt den kleinen Karton auf die Waage. Seit einem Jahr ist die postalische Versorgung vor Ort wieder sichergestellt. Dank Karin. Die hatte drei Jahre nach der Schließung der hiesigen Postfiliale keine Lust mehr gehabt, für jede Briefmarke und Paketsendung nach Z. zu fahren. Hier der Ort ist eigentlich auch Z., verwaltungstechnisch, aber nicht gefühlt. Für seine Bewohner und Bewohnerinnen ist und bleibt er B. bzw. das Dorf. Gebietsreform hin oder her. Wer als Neubürger von Z., sich in deren Stadtteil B. niederlässt, findet reichlich Gelegenheit, zu staunen, etwa wenn die Nachbarin erzählt, sie sei gestern nach Z. gefahren, lange nicht mehr dort gewesen, die hätten drüben jetzt tatsächlich da, wo sie ihr Auto immer abstelle, Parkscheinautomaten aufgebaut, die spönnen doch, die in Z., nur gut, dass wir in B. wohnten. Entweder denkt und redet man als Zugezogener irgendwann wie die Alteingesessenen über Z. und B., oder man kommt aus dem Staunen nicht mehr heraus. Karin, die den Kiosk in zweiter Generation betreibt, hatte sich mit der Post in Verbindung gesetzt und erfahren, dass es für sie nur von Vorteil sei, wenn sie in ihrem Verkaufsraum auch Postdienstleistungen anböte: mehr Kunden, mehr Umsatz, stärkere Kundenbindung, Wettbewerbsvorteil gegenüber der Konkurrenz, etc. – und allzeit Briefmarken im Haus, hatte Karin ergänzt. Mehr als ein bloßer Paketshop sollte es schon sein, hatte sie entschieden, aber auf keinen Fall was mit Geldaus- und -einzahlung, da wäre das Raubüberfallrisiko viel zu hoch. Also wurde der Kiosk eine sogenannte Partner-Filiale. Und man kann nur staunen, wieviel verschiedene Postdienstleistungen da anfallen: Portoberatung, Brief- und Paketannahme, Telefonbuchausgabe, Verkauf von Sondermarken, Glückwunschkarten, Briefumschlägen, Paketabgabe gegen Abholschein und so weiter und so fort.
„Päckchen reicht“, sagt Rosa, „sind bisher immer noch alle angekommen.“
„Oh, es geht ins Ausland.“ Karin schiebt den kurzgeschnittenen Zeigefingernagel über die Gebührentabelle: „Also … da, EU-Zone. Einen Moment“, nun misst sie das Päckchen, „so, okay, alles im Rahmen. Dann bekomme ich neun Euro von dir.“
Rosa zählt das Geld ab, Karin mustert den Adressaufkleber: „Hoeden van den Brink, Grote Gracht 12, Maastricht. Wen du nicht alle kennst. Verbirgt sich dahinter vielleicht ein Mann, hinter diesem van den Brink?
„Nein, ein Hut.“
„Ist klar. Du kannst es mir doch ruhig sagen, Rosa.“
„Hab ich doch.“
„Hm. Also ein Auftrag. Du hast wirklich in Holland Kunden? Hatten wir nicht neulich erst ein Päckchen für Wien? Oder ist das hier wieder für so einen Wettbewerb?“
„Nein.“
„Was nein?“
„Nein ist nein.“
„Wie jetzt?“
Das Postgeheimnis bleibt einfach so gewahrt.

Wer sich die Werkstatt der Putzmacherin vorstellen will, beginnt am Besten bei den Fenstern. Es handelt sich hierbei um breite Sprossenfenster mit jeweils tiefer Fensterbank, die, ausgelegt mit Lammfell oder Seidenkissen, einen idealen Ort für Pausen abgeben würden. Bei freundlichem Wetter erstreckt sich die Landschaft davor wie auf einem bis zum Horizont ausgerollten Stoffballen. Im Fluchtpunkt der Hainberg (314, 7 m ü. d. M.), westlich davon der Kempelberg und im Osten der Kartoffelstein. Alle vollgestellt mit Kiefern und Tannen. Zu ihren Füßen ein weites Feld aus Äckern, Wiesen und Wegen. Inmitten ein paar Zäune und Scheunen. Und Kühe, schöne schwarzbunte und braunbunte, neuerdings auch ein paar cremefarbene, Charolais-Rinder, mit wenig Fett, also begehrt, also teuer. Zehn Minuten Gehweg vom Haus aus in nordwestlicher Linie der kleine Steg über die Hoppecke. Grau, verwittert und windschief wie im Bilderbuch. Auf dem Geländerpfosten ein Habicht, gelangweilt ins Rund schauend wie ein unterbeschäftigter Türsteher. Nix los. Wetzt sich den Schnabel. Peilt die Lage. Fliegt von jetzt auf gleich auf und davon. Vielleicht hat er eine Feder hinterlassen. Vor den Fensterbänken steht ein langer Holztisch, bedeckt mit Filzstoffen, Borten, Scheren, Tüll, Nadelkissen, hölzernen Hutformen, einer Dampfglocke, Zeichenpapier, Stiften und Federn. Vor der Wand zur Rechten eine Nähmaschine der Marke Veritas. Man möchte den Namen kaum glauben, und doch ist er nicht erfunden, sondern auch noch die Firmenbezeichnung der damaligen Nähmaschinenfabrik in Wittenberge. Vor der Wand zur Linken ein deckenhohes Regal mit weiteren Hutformen, Filzstumpen und diversen Kartons, in denen Perlen, Strass, Kordeln, Ripsbänder, Zierknöpfe, Federn, Stoffblüten, Schleier und Nähseiden lagern. Gegenüber der Fensterfront die Trennwand zum Laden, eine Seite aus Glas, die andere aus Holz, dazwischen ein Vorhang aus tiefseeblauem Brokat. An der Holzwand hängt ein Porträt von Mademoiselle Coco aus dem Jahr 1910, daneben der Entwurf von Rosas Gesellenstück und darunter das Foto von der Abschiedsfeier: Rosa und Konrad Arm in Arm, Kopf an Kopf, den Selbstauslöser auslachend, als würden sie hindurchschauen auf alles, was sich dahinter auftut, also vor ihnen liegt. Unter dem Foto die Gedichtzeile: und am ende, ganz am ende wird das meer der erinnerung blau sein.

Ist von Konrad die Rede, ist immer von zwei Konrads die Rede. Von Konrad, der auf dem Schulweg gern Abzweigungen nahm oder nach der großen Pause schon mal entschied, es reiche für heute mit dem Lernen, er habe nun genug gehört und jetzt andere Dinge zu erledigen, zum Beispiel mit dem Fahrrad in den Wald zu fahren und an den Fischteichen von Metzgermeister Oppen ein wenig zu angeln. Huckleberry Finn sein. Forellen überm Lagerfeuer braten und die Maiskolbenpfeife stopfen. Wo es keine Original Missouri Corn Cab zu kaufen gibt, tut es auch die im Mülleimer gefundene Meerschaumpfeife des Großvaters. Hauptsache Dampf. Sommertags im Freibad Bahnen ziehen, als gälte es, den Missisippi zu durchpflügen. Konrad, beim Wettschwimmen immer der Erste, der am Beckenrand anschlägt. Konrad, stets lieber draußen als drinnen, spekulatiusbraun gebrannt, das ganze Jahr über. Die Haare immer ein wenig länger als die der anderen, da konnte die Mutter reden, so viel sie wollte. Die Haare blieben lang. Tagelang Streifzüge dem Wild hinterher. Auf den Achtender anlegen, mit dem Zeigefinger, Peng!, knapp vorbei, Gnade walten lassen. Sind viel zu schön zum Sterben, sollen noch ein bisschen weiter äsen, röhren und die Geweihe krachen lassen. Konrad schaut ihnen dabei vom Hochsitz aus zu. Am Himmel der kreisende Adler und direkt darüber Gott, der Allesseher, der angeblich auch Konrad auf dem Hochsitz sieht. Das kann doch nicht. Wie soll das gehen? Hier und gleichzeitig drüben am Missisippi und bei den Eskimos und auf Madagaskar? Wie viele Augen sollen das denn sein? Es ist nicht möglich. Das schafft kein Blick. Man kann ihm entgehen. Unsichtbar bleiben im Hinterhalt. Konrad, der sich seine Gedanken macht. Auf der Wildblumenwiese liegend, über ihm der Wanderfalke, scheinbar ziellos schwebend, und plötzlich setzt er zum Sturzflug an. Auseinandergenommen und neu zusammengesetzt ergibt der WANDERFALKE: FAD WAR ENKEL. FAD WAR NELKE. FAD WAR EKELN. Gar nicht fad war für Konrad die Entdeckung, dass ENKEL, NELKE und EKELN aus ein und demselben Holz geschnitzt waren. Man konnte mit ihnen wie ein Artist im Zirkus jonglieren. Fünf Bälle hoch in die Luft geworfen, kam immer wieder etwas Anderes dabei heraus. Was gerade noch ein KLEEN war, war kurz darauf eine NELKE, dann ein KENEL, von dem man nicht so recht wusste, was das sein sollte, plötzlich flog ELKEN durch die Luft, gefolgt von dem Gedanken, es könnte sich um die Mehrzahl von Mädchen mit demselben Vornamen handeln. Alle bestimmt flachsblond und blauäugig, die Elken.

Und dann Konrad, der am letzten Tag der Semesterferien noch mal eben zum Hochsitz musste, kurz vor Abfahrt des Zuges, unbedingt die Markierung einritzen musste, wie bei jedem Besuch, es nie-nie-nicht versäumen durfte, weil das sonst Unglück bringt. Sogleich wieder aufs Rad und mit fliegender Hast zurück, den Berg hinab, die langen Haare wehend im Wind, Konrad, jubelnd und schreiend vor jeder Kurve, schneller und immer schneller, frei und ohne Angst, und noch eine Kurve, scharf und eng und unübersichlich, Konrad johlend und unbedingt. Dann der weiße Kastenwagen. Kein Rechts und kein Links. Im hohen Bogen durch die Luft. Kein Schrei, ein Seufzen, langgezogen und heiser, dann der Aufprall, dumpf und trocken, übertönt vom Flügelschlagen und Kreischen der aufgeschreckten Vögel. Und plötzlich tiefe dunkle Nacht. Danach war Konrad ein anderer. Einer, der statt Ärger Mitleid erregte, statt Neid und Bewunderung, Angst und Ablehnung auslöste. Niemand kam damit klar. Am Anfang Entsetzen und große Anteilnahme, wird schon, wird schon, vielstimmige Gebete und ach, der Konrad ist ein Teufelskerl, der kommt wieder auf den Damm. Wenig später dann: Wieso ist er denn auch? Warum hat er nicht? Wie konnte er nur? Bald schüttelten die Leute verständnislos die Köpfe, wenn der Teufelskerl laut grüßend durch den Ort spazierte, gepflückte Blumen verteilte, im Schneidersitz vor dem Brunnen am Marktplatz saß und in der grünmarmorierten Kladde las oder die Seiten mit winzigen Zeichen beschrieb. Die Kleineren und Schwächeren traten hervor und trauten sich, ihren Spott mit ihm zu treiben, grölten: Ja, mir san mim Konradl da! Ja, mir san mim Konradl da!, überredeten ihn zu Schaukämpfen, Wettschwimmen, die er nur verlieren konnte, oder banden Konservendosen an sein neues Fahrrad mit den drei Rädern. Konrad spielt die Spielchen mit und lacht, schreit lauter als die Konservendosen scheppern können, stürzt sich in die Fluten, verliert die Orientierung, wo ist Halt im Schwindel, wo rechts, wo links, überall Wasser und kaum noch Luft zum Atmen, schwerelos hilflos wie durch die Luft gewirbelt, wer holt ihn da raus? Konrad der Vogelfreie. So einen findest du in jedem Ort. So einen braucht jeder Ort.

Rosa ist in dem Ort zur Welt gekommen und geblieben. Einmal hat sie ihn verlassen. In weinroter Cordjacke und schwarzer Schlaghose, das goldene Zunftzeichen – ein Frauenkopf mit Schutenhut – baumelnd am linken Ohr. Nichts weiter als hochprozentigen Schnaps, einen Hammer, einen Nagel und einen Wirtshaustisch braucht es, um den Handwerkswappenohrring zunftgerecht einzusetzen. Zwei Schläge genügen. Die Wandergesellinnen und -gesellen berichten hernach, keinen Schmerz verspürt zu haben. Der tritt, wie man hört, nur bei Schlitzohren auf. Ein solches will niemand haben noch sein. Obwohl. Die Wegstrecke der fremd und frei reisenden Putzmacherin folgte Plan und Zufall, verlief in Schleifen und Geraden, führte über Land und in Metropolen, echte und sogenannte: London, Berlin, Wien und München, Lauterbach in Hessen, Lindenberg, das Klein-Paris im Allgäu, und Bad Homburg, Patenort des hohen Herrenhutes mit eingerollter Krempe, den man von Konrad-Adenauer- oder Winston-Churchill-Fotos kennt. Schließlich und endlich ging es nach Paris. In die Rue Cambon 31. Das Beste kommt immer zum Schluss. So stellt man sich das vor. Und dann hat am Ende der Teufel die Hand im Spiel und nichts läuft so, wie man sich das vorgestellt hat.

Drei Jahre und ein Tag war Rosa auf Wanderschaft. So will es der Brauch. Am tausendsechsundneunzigsten Tag ist sie über das Schild am Heimatortseingang geklettert, hat sich rücklings in die Arme der Wartenden fallen lassen und den Schlehenbrand, den sie beim Abschied vergraben hatte, wieder ausgegraben. Alle waren zum Wiedersehensfest gekommen. Rosa sollte erzählen, wie es draußen in der Welt zugeht. Und Rosa hat erzählt. Dass es dort wonnig sei, milchwarm, sternenklar und moosweich, aber auch Unschönes gäbe, Menschen, Tiere, Sensationen und Dinge wie aus Schleifpapier, von denen sie besser nichts wissen wollten. Die Leute haben Ooh und Tja gerufen, Bier und Schnaps getrunken, sich auf Schenkeln und Hintern geklopft, am Kopf gekratzt, anderntags in der Früh ein Butterbrot geschmiert und wieder ans Tagewerk begeben. Man müsse tun, wofür man gemacht ist, allda, wo man ist, mit dem, was man hat und kann. So ist es, haben die Leute gesagt, genau so.

Der Vater, überzeugt, dass diese Tochter nicht heiraten wird, zahlte die angesparte Mitgift an seine Schwester aus. Die wollte ihren Lebensabend lieber im frisch gebauten Bungalow ihres Sohnes verbringen als in dem Bruchsteinhaus, in dem sie seit ihrer Heirat gewohnt und eine Heißmangel betrieben hatte. Das Haus schien wie kein zweites für eine Hutwerkstatt geeignet. Es war an Dampf gewöhnt. Zwei Wänden hinterm Laden konnte man das sogar ansehen. Keine große Sache, hieß es. Das haben wir schnell im Griff, hieß es. Ein paar kleine Renovierungsarbeiten fallen bei jedem Umzug an, hieß es. Für das Geld hätte man neu bauen können, hieß es am Ende. Diesen Satz sagte Rosas Vater. Und er sagte ihn nicht nur einmal. Er sagte noch einen anderen Satz mehr als einmal: Mit seiner Schwester, dem frechen Luder, habe er nichts mehr am Hut. Das wird kaum verwundern. Immerhin ist er der Vater einer Putzmacherin. Da fällt das Wort Hut nunmal häufig.

Rosa wohnt und arbeitet in dem Haus seit gut zwanzig Jahren. Acht Meter Luftlinie von dem Verkehrsschild entfernt, über das die fremd und frei reisende Putzmacherin einst geklettert ist. Wer die Ortsgrenze überschreitet, passiert den Laden der Putzmacherin. Da führt kein Weg dran vorbei. Es führt auch kein Weg dran vorbei, einen Blick auf die Schaufensterauslagen zu werfen. Dem kann sich keiner entziehen – dem dargebotenen Spiel aus Farben, Formen, Federn, Fell und Filz. Jeden Monat entsteht ein neues Bild und bleibt nie, wie es war. Wer in diesem Moment am Schaufenster vorbeikäme, sähe hinter der Scheibe einen Teppich aus Moos, darin drei Pilze, hoch wie Congas, der Form nach wie Braunkappen. Auf jedem Pilz ein kleiner Hut: links ein brombeerfarbener, der wie eine umgedrehte japanische Schale aussieht, daneben ein trachtenhutartiger mit winzigem pink gefärbtem Gamsbart und daneben ein frisbeescheibenförmiger in Ochsenblutrot, aus dem ein giftgrüner Stummel wächst. Links in der Ecke ein Jäger, kaum höher als eine Bongo. Er trägt auf dem Kopf ein Geweihhütchen und späht durch ein Opernglas. Schräg vorm Jäger ein hutloser Dackel, der sein Beinchen an einer Braunkappe hebt. In der rechten Ecke ein durch eine verspiegelte Sonnenbrille unkenntlich gemachter Tanzbär. Er lehnt an einem Tannenbaum, das Gewehr im Anschlag, den Jäger im Visier.

Man mag den Kopf darüber schütteln, was Rosa alles einfällt, muss aber jedesmal wieder hingucken. Ein ganz normaler Hut täte es doch, möchte man meinen, einer, der vor Sonne, Wind und Regen schützt und vor Kälte. Nichts gegen Kopfschutz, sagt Rosa, aber ein Hut ist ein Hut ist ein Hut. Seine Bedeutung liegt nicht in seinem Nutzen. Sie liegt in der Gestalt und Schönheit. Er teilt etwas mit und zeigt etwas neu. Ginge es nur um Nutzen, täten es auch ein Papierschiffchen oder ein vierknotiges Taschentuch oder ein Blechnapf.

„Na, das nenn ich einen Hut!“
„Alsdann, schnell auf den Kopf mit ihm. Ich würde ihn rechts ein wenig übers Ohr ziehen. Ja, so.“
Die Frau des Landrats dreht sich vor dem Spiegel, blickt grüßend in alle Himmelsrichtungen, versucht ein Lächeln, aber das misslingt: „Ist er vielleicht doch etwas zu auffällig?“
„Das ist er ganz bestimmt nicht.“
„Heißt das, Sie finden ihn eher zu dezent? Langweilig?“
„Langweilige Hüte werden hier nicht hergestellt.“
„Nein, natürlich nicht, ich meine nur, ob man mehr hätte wagen sollen?“
„Ich finde, der Hut passt zu Ihnen, und das ist entscheidend.“
„Ja, darauf kommt es an. Ich finde eigentlich auch, dass er mir steht, er hat so ein bisschen diesen englischen Stil, das wollte ich haben.“
„Für Ascot müssten wir allerdings noch ein bisschen was drauflegen, am besten gleich einen ganzen Hahn, ausgestopft und königsblau gefärbt.“
„Einen ganzen Hahn – Sie kommen auf Ideen! Ascot, ich glaube nicht, dass ich in diesem Leben mal dorthin kommen werde. Ich war überhaupt noch nie in England, das glaubt man nicht, dabei liebe ich die Royals und Filme aus Cornwall.“
„Einfach auf den Weg machen, das geht leichter, als man glaubt.“
„Jaja, wahrscheinlich haben Sie recht.“
„Kommen Sie mal ans Fenster, jetzt hier in der Sonne, wie die Federn leuchten.“
„Ja, er ist wirklich schön, ein besonderer Hut zu einem besonderen Ereignis.“ Die Frau des Landrats nimmt den Hut vom Kopf und reicht ihn Rosa. „Ich will Sie dann auch nicht weiter aufhalten, packen Sie mir das gute Stück ein, und schicken Sie die Rechnung an meine Adresse, die haben Sie ja.“
„Sie können auch gerne bar bezahlen.“
„Tja, so viel habe ich jetzt nicht dabei, aber ich könnte Ihnen eine Anzahlung, wollen wir es so …“
„Gut, so machen wir es.“
„Die Presse wird auch da sein, sagt die Frau des Landrats beim Anzahlen, „wenn ich da ein bisschen für Sie schaulaufe, können Sie sich bald vor Anfragen nicht mehr retten.“
„Ihr Wort in Gottes Ohr. Und Ihr Hut auf Ihrem Kopf. Sie setzen ihn jetzt schön wieder auf.“
„Ich kann doch nicht, jetzt und hier und so durch den Ort.“
„Warum denn nicht? Einen Hut zu tragen, ist etwas völlig Normales. Die Leute reden sich das leider nur immer wieder aus.“
„Haben Sie nicht so eine schöne Hutschachtel für mich?“
„Die habe ich, aber die wird Ihnen nicht weiterhelfen.“

Gut gegen Kälte, Feuchtigkeit und Schimmelbildung im Haus helfen Heizen und Lüften, dozieren der Architekt, der Maurer, der Anstreicher, der Parkettleger und schauen drein, als hätten sie das Rad neu erfunden. Stoßlüften, nicht mal nur kurz auf Kippe. Ach tatsächlich? Ordentlich heizen. Ach was. Kommen vermutlich tagein tagaus an einem komplett verbarrikadierten Haus vorbei, aus dessen Schornstein niemals nicht Rauch entweicht. Da wird es natürlich schwierig mit der Gewährleistung. Aber man will mal nicht so sein und auf jeden Fall einen fairen Preis machen, man kennt sich ja schon ewig und drei Tage. Jeder müsse zusehen, wo er bleibe. In diesen Zeiten, wo Handwerk keinen goldenen Boden mehr habe. Hutmacherei sei gewiss auch kein leichtes Brot. Früher die Leute trugen doch alle einen, wären doch nie ohne Hut zur Kirche gegangen, die Mutter, der Vater, die Großeltern. Und heute? Überall nur Baseballkappen. Bei der Arbeit gar nicht mal schlecht, aber doch nichts, wovon man leben könne, also jemand wie sie, eine Frau vom Fach, mit so viel Wissen und Können. Wie sie das überhaupt hinkriege, über die Runden zu kommen mit ihrem Laden, Respekt. Nun aber genug der Vorrede, jetzt mal Butter bei die Fische, also dann wollen wir mal! Hochgezogene Stirnen, zusammengepresste Lippen, wiegende Köpfe, ernste Blicke – eine Hausbesichtigung wie ein Trauermarsch. Tja Rosa. Also ehrlich gesagt, Rosa. Also, wenn du mich fragst, Rosa. Hm, hm, hm. Die Renovierungsphantasien der Handwerker schießen ins Kraut. Alles von Grund auf, denn wenn, dann auch richtig und mit allem Zipp und Zapp. Baupläne und Kalkulationen aus dem Vollen. Dafür könnte man neu bauen. Aber das kann Rosa nicht. Darum wird sie weiterhin fünfmal täglich je drei Minuten lang jeden, der des Weges kommt, in ihre Zimmer hineinschauen lassen. Sie wird die grünen, blauen und gelben Punkte an Decken und Wänden mit verdünnter Essigessenz abtupfen und warten und hoffen. Sie wird die Punkte irgendwann mit Lehmfarbe überstreichen, die kleinen Stellen vielleicht zu Aquarellen übermalen. Sie wird den Ofen befeuern und das Geld zählen und sich ausrechnen, dass es keinen Ausweg im Sinne der Kostenvoranschläge gibt. Allenfalls die Werkstatt einmal mit Schimmelschutz streichen lassen, eine Handwerkerleistung, die von der Steuer abgesetzt werden kann, aber erstmal bezahlt werden muss und nur ein Tropfen auf den heißen Stein und keine Lösung für das Ganze ist. Ob die Beschwerden vom Raumklima herrühren? Nein, sicher nicht. Sind auch schon Leute in Biohäusern krank geworden. Gut gegen Feuchtigkeit und Kälte helfen die Holzscheite, die Konrad in dem kleinrädrigen Korbkinderwagen, den er an sein Fahrrad angehängt hat, anliefert, trockenhell wie die Farbe der Charolais-Rinder. Ja, das ist ein Brennwert, da verkommt nichts, das heizt und duftet und wärmt.

Konrad vor dem Ortseingangsschild, die Hände in den Gesäßtaschen, hebt und senkt die Fersen, wird größer, wird kleiner und immer ungeduldiger, lacht und späht und kann den Blick nicht vom Ende der Straße in weiter Ferne wenden, wo die Kurve unterm Dach der Ahornbäume ins Ungewisse führt. Die Umstehenden hört und sieht er kaum, als steckten sie in durchsichtigen Schonbezügen, können ihm nichts anhaben, sind auf leise gestellt und kommen mit ihren Fäusten und spitzen Fingern nur bis zu den elastischen Wänden ihrer Schutzhüllen. Es ist der tausendsechsundneunzigste Tag. Konrad hypnotisiert die Kurve, er starrt und wünscht, er starrt und bittet, er starrt und hofft, er starrt und fordert, – und tatsächlich taucht auf einmal ein Punkt in der Kurve auf, ein beweglicher. Eigentlich sind es drei Punkte: oben ein kleiner schwarzer, in der Mitte ein großer weinroter und unten wieder ein schwarzer, etwas langgezogen. Um diese drei Punkte bewegen sich noch weitere Dreipunkte, eine richtige Gruppe. Jetzt ist auch noch eine Mundharmonika zu hören. Die Punkte werden immer größer, die Leute in den Schonbezügen flatteriger und lauter. Die Gruppe geht nun im Gänsemarsch Schlangenlinien, bleibt wieder stehen, stößt mit Bierflaschen an, singt ein Lied und marschiert weiter. Die Mundharmonikamusik wird lauter. Jetzt, jetzt gleich. Doch wieder bleiben alle stehen, laufen umeinander, prosten sich zu, singen ein Lied. Wie das dauert. Endlos lang. Jetzt kann man schon Gesichter erkennen. Ja, da, ganz vorne, dieses eine. Hah. Und dann stehen vierzehn Wandergesellen und Wandergesellinnen hinter dem Ortseingangsschild, legen die Stöcke übereinander und die in der weinroten Cordjacke steigt auf das Schild und breitet die Arme aus. In diesem Moment reißen die Schutzhüllen auf, die Leute rennen johlend und klatschend zum Schild, einige stellen sich im Spalier davor auf, geben sich überkreuz die Hände, rufen: Hey hoh, sie is wieder do! Indem lässt die da oben sich rücklings auf die überkreuzten Arme fallen und wird sogleich noch dreimal in die Luft geworfen. Als Rosa wieder Boden unter den Füßen hat, machen die Leute Platz für die Wichtigsten, schieben Konrad beiseite, zuerst kommt die Mutter, dann der Vater, die Schwester, der Bürgermeister, und, und, und, die Heimkehrerin zu begrüßen, so will es das Protokoll. Doch was interessiert Konrad das Protokoll. Er drängt sich durch die Menge, packt Rosa am Arm, legt seine Hand an ihre Wange und sieht diese Augen wie Kastanien und Rosa sieht diese meerblauen Augen mit den winzigen Flecken darin, als sei das Meer mit Sternen bestickt. Alles wie gestern. Rosa legt die Arme um Konrad und drückt ihn fest an sich. Der Geruch in seinem Nacken ist noch immer derselbe: frisch gepflückte Brombeeren mit feuchtem Laub. Du riechst anders, denkt Konrad, irgendwie riecht sie nicht mehr wie früher, vielleicht kommt das von der Weltläufigkeit, wer so viel in der weiten Welt herumgelaufen ist, von all ihren Gerüchen umweht wurde, wie soll der sich seinen eigenen Duft bewahren. Das geht doch gar nicht. Macht aber auch weiter nichts, Hauptsache, Rosa ist wieder da.

Fee ist seit Sommerferienende kein Kindergartenkind mehr. Geht jetzt in die Schule und will nicht mehr Fee genannt werden, weil sie keine ist, obwohl sie gerne eine wäre, jetzt aber doch schon so groß, das heißt, zu alt dafür ist. Feli, ehemals Fee, hat Rosa schon ein paarmal in der Werkstatt besucht. Möchte Hutmacherin werden. Da will sie früh mit dem Üben anfangen und braucht Tipps und Material. Seit Kurzem interessiert sie sich besonders für diese prächtigen Omastoffe. In der Klasse tragen alle nur Anziehsachen mit Streifen, Zahlen oder kleinen Tierfiguren, immer in Hellrosa, Jeansblau oder Knallbunt. Das ist langweilig und will nicht mitgemacht werden. Der Omastoff heißt Omastoff, weil er dick und gemütlich ist, alt und kostbar aussieht, meist Blumenmuster hat und weil Feli das Wort Jacquard schwierig bis doof findet. Das klinge wie Schakal, und so einer solle nicht auf den Stoffen sein. Der Vorhang vor der Werkstatt ist aus Omastoff. Er hat sogar Glanzfäden, und wird darum Brokat genannt. Auch Feli nennt ihn so. Gegen Brokat ist nichts einzuwenden.
„Ob von dem wohl noch was in der Restekiste ist? Oder vielleicht von einem ähnlichen, vielleicht in dunkelgrün?“
„Was wollen wir daraus machen?“
„Einen Hut wie der im Fenster, der brombeerfarbene.“
„Das würde gehen. Wir könnten auch auch ein Barett daraus machen, eine schirmlose Ballonmütze.“
„Eine Ballonmütze?“
„Die sieht ungefähr so aus wie eine Kochmütze in Märchenbilderbüchern.“
„Ja, die sind schön. Aber nicht so viel Ballon.“
„Du hast recht, wir lassen ein bisschen Luft raus.“ In der Restekiste findet sich tatsächlich noch ein Stück von dem tiefseeblauen Brokat. Und ausreichend groß ist es auch. Jetzt muss zuallererst der Kopfumfang gemessen werden. Rosa weiß zwar, was dabei herauskommt – nach fünfundzwanzig Jahren Berufserfahrung kann sie jedem, seine Hutweite auf den Kopf zusagen -, aber Feli weiß es nicht und will lernen, wie das Hutmachen geht, und das beginnt nunmal mit der Kopfumfangmessung.
„Pass auf: über Augenbrauen und Ohren – nicht auf die Ohren, sondern oben drüber – und das Maßband weder zu stramm noch zu locker halten. Donnerwetter! Wer hätte das gedacht. Ein echter Vierundfünfzigender.“
Feli zuckt mit den Schultern und strahlt. Vierundfünfzigender hört sich toll an.
„Das müssen wir jetzt aufschreiben. Kannst du schon große Zahlen?“
„Klar.“
Rosa holt eine Kundenkarte, schreibt darauf „Feli“ und darunter „54 cm“.
„Die Vier kommt vor der Fünf“, sagt Feli, „eins, zwei, drei, vier, fünf.“
„Das stimmt. Doch wenn sie in diesem Fall vor der Fünf käme, kriegtest du die Mütze nicht über den Kopf. Ist ein bisschen vertrackt mit den großen Zahlen, bei denen kann die Sieben auch schon mal vor der Zwei stehen, machen einfach ihre eigene Reihenfolge.“
„Hauptsache die Mütze passt.“
„Genau. Darum müssen wir jetzt ein bisschen rechnen, die Mütze aufzeichnen, das Schnittmuster erstellen und …“
„Puh, ganz schön viel Arbeit.“

Man sieht es ihr nicht an, sagen die Leute. Wie sollten sie? Geht es schlecht, gibt sie nicht das freilaufende Huhn. Schaulaufen hilft nicht. Draußen nur ohne Stock. Aufregung bringt keinen Schritt voran. Abwarten und Tri Top trinken. Fliegen dir die Vitamine um die Ohren und die Geschmacksverstärker. Oder noch besser einen Wein. Remedium analgeticum nobiscum. Auch Schmerztabletten greifen die Leber an, schmecken aber viel schlechter. Vergleich mal einer die Nebenwirkungen. Pest oder Cholera? Hauptsache Medizin. Du kannst dir nicht sicher sein, bei dem, was du siehst. Ist vielleicht keine Täuschung. Du kannst dir nicht sicher sein, wie es morgen sein wird. Läuft vielleicht alles fehlerfrei. Stattdessen kocht das Kartoffelwasser über, während der Paketbote schellt und ein gerüttelt Maß an dunklen Wolken bringt. Die schaust du dir an und behauptest: Steht mir nicht, passt mir nicht, gefällt mir nicht, schlechtes Material. Gleich wieder retour. Kostenlose Rücksendung. Gottseidank. Wenn das ginge. Wieder ein bisschen besser. Oder eine Einbildung? Nein. Fünf Schritte. Nun den Grashalm greifen. Feste zupacken und halten. Ich ging in den Busch und brach mir …, der Mai und der war grüne. Jetzt aber ist Oktober. Ende Oktober. Der Grashalm hält. Siehst du, man sieht dir nichts an, und es geht weiter. Schließ die Ladentür, mach dir den Rest der Hühnersuppe warm und eine Flasche Wein auf, steck dir eine Nil in die Zigarettenspitze, von der es heißt, Tante Rosa habe sie an einem schönen Tag im November gekauft. Wo Rauch ist, ist auch Feuer, haben die Leute gesagt. Recht haben sie, hat Tante Rosa gesagt und sich nicht weiter um die Leute geschert. Von ihr hat sie alles gelernt. Wie man den Hutstumpen über die Form zieht, die Hutschnur fixiert, den Rand zuschneidet und mit Band einnäht. Von ihr hat sie die Hutformen, die Dampfglocke und Schachteln mit Garniermaterial. Von ihr hat sie den Namen. Und die Lust, Hüte zu machen.

Am siebten Tag kommen die Blätter aus den Büchern. Zuerst wird der Garderobenständer entkleidet. Der steht schwarz und schmiedeeisern in der Werkstatt, wie ein Christbaum vollbehängt, allerdings mit schwererem Material. Rosa kippt ihn ein wenig zur Seite und zieht den Weltatlas, das Köstliche-Kuchen-Backbuch und Die Geschichte der Mode von den Anfängen bis zur Gegenwart unter dem gusseisernen Fuß hervor und schaut, ob es gut geworden ist. Alle zwanzig Seiten zwei Stück Butterbrotpapier und dazwischen die Blätter, tatsächlich rot und gelb geblieben und so schön rösch, dass es knistert und bei zu starkem Druck alles zwischen den Fingern zerrieselt. Achtung, Achtung. Her mit der Pinzette und sogleich ein Blatt nach dem anderen ab ins vorbereitete Wachsbad. Zum Trocknen kommen sie erneut aufs Butterbrotpapier, das auf den ersten Blick eine echte Konkurrenz zur zartmatten Perlmuttschicht der röschen Schuppen darstellt. Aber nur fast. Ist eben doch bloß Papier. Ein paar der gebadeten Blätter sind mit wächsernen Adern überzogen wie Lebkuchenherzen mit Zuckergussstreifen, müssen also aussortiert werden. Mal probieren, ein paar Schuppen schräg aufeinander zu legen. Schnell, solange das Wachs noch Restwärme hat. Sie wollen sich nicht aneinander schmiegen, bleiben nicht plan aufeinander liegen, wellen sich, zum Teil in der Mitte, zum Teil am Rand. An einigen Stellen reißt die Perlmuttschicht auf und blättert ab. Immer mehr Wachskrümel auf dem Butterbrotpapier und Blätter mit Einrissen. Versuch gescheitert. Bis auf Weiteres.

Manchmal verschickt Konrad leere Geschenkkartons, um sich auszumalen, wie die so Beschenkten reagieren und ihre Phantasie in Gang kommt. Phantasie stellt er sich als eine Art Lastkraftwagen vor, der während der Fahrt sowohl beals auch entladen werden kann. In diesen Tagen des Staunens, sagt Konrad gern, warten jeden Morgen Buchstaben auf der Fensterbank und wollen Worte werden. Weil aber das Russisch Brot sehr lecker schmeckt, verflüchtigen sich die meisten Worte, noch ehe sie zu lesen waren. An diesem Morgen konnten sich ein BART, ein EI und eine KUH retten. Sie dürfen nun den ganzen Tag auf der Fensterbank neben dem Ofen liegen und schön zimtig vor sich hin duften. Konrad justiert hier und da noch ein wenig nach, damit jedes gut für sich ist und nicht plötzlich ein KUHBART da liegt, denn den gibt es nicht. Kühe haben keinen Bart. Nachdem alle Worte am richtigen Platz sind, kann Konrad sich Frühstück machen, ein Ei in die Pfanne schlagen und Milch erwärmen. Milch ist genug vorhanden. Die reicht sogar noch für eine deftige Kohlrabisuppe am Mittag. Bloß nicht den Schnittlauch vergessen. Eben schnell in den Garten, ein Sträußchen schneiden, für das Spiegelei und die Suppe späterhin. Und der Bart? Der wird heut’ nicht rasiert.

Im Fluchtpunkt der Hainberg ist nicht mehr zu sehen. Die Wipfel der Kiefern und Tannen auf dem Kempelberg und Kartoffelstein wie wegradiert. Nur vereinzelt scheint ein wenig Grün durch die Nebelwand. Die Landschaft versteckt hinter einem fadenscheinigen Bettlaken. Der Regen ergießt sich perlschnurartig, was eine viel zu freundliche Beschreibung für das ist, was man sieht. Aber wie Bindfäden sieht es nun mal nicht aus. Die Perlen sind auch keine Perlen, sondern Graupelkörner gemischt mit kleinen Schneeflocken. Es ist kalt. Aus den Schornsteinen tuckern weiße Wölkchen. Der Geruch von verbranntem Buchen- und Tannenholz erfüllt die Luft. In den Küchen dudelt das Lokalradio. Jeder möchte am liebsten zuhause bleiben. Aber das geht nicht. Einige müssen hinaus. Die Arbeit will getan werden.

Auch Georg Kleinsorge, den hier alle Schorsch nennen, musste hinaus. Heute zur Donnerstagsroute. Gegen Mittag parkt er den weißen Kastenwagen am Ende der Hauptstraße, stellt die Verkaufsklappe hoch und ein paar Wurstdosen, Honiggläser und Rosinenstuten auf die Theke. Dann ertönt ein greller Klingelton. Einmal lang, zweimal kurz. Das heißt: Schorsch hat geöffnet. Die ersten Kundinnen, die schon einige Zeit hinter den Gardinen gewartet haben, eilen mit vorsorglich umgebundenen Regenhauben zum Wagen. Die Alten zurerst. Eine der wenigen Gelegenheiten, mal ein paar Worte zu wechseln. Kleinsorge ist Verkäufer mit Leib und Seele. Mit sehr viel Seele. Manchmal nennt er seinen Verkaufswagen Beichtstuhl mit Wurstangebot, manchmal aber auch einfach nur das Schorschimobil. „Da seid ihr ja endlich! Kommt der Schorsch zu euch nach Hause, macht der Regen eine Pause!“ Kleinsorge füllt herübergereichte Netze und Körbe, schreibt, die einzelnen Preise aufs Einpackpapier, rechnet hie und da stillschweigend ein paar Euro herunter und reicht die Ware im großen Bogen über die Theke. Derweil wird Wissenswertes ausgetauscht. Man stellt Vermutungen an, wie das Wetter in den kommenden Tagen werden wird, ob die traurige Fürstin von Monaco wohl wieder schwanger ist – „Da fällt mir ein, ich muss heut noch zu Karin!“ -, und ob Konrad das mit den vielen Beerdigungen wohl auf die Reihe kriegt. „Macht euch mal keine Sorgen. Der kriegt das schon auf die Reihe“, sagt Kleinsorge energisch. Indem setzt der Regen wieder ein, und die Kundinnen eilen zurück hinter ihre Gardinen. Kleinsorge schließt die Verkaufsklappe und zwängt sich hinters Lenkrad. Oben im Wald hängt der Nebel und will nicht weichen. Es bringt nichts, sich darüber aufzuregen. Es bringt ja auch nichts, sich über den Regen aufzuregen. Rosa sagt immer, man darf seine Stimmung nicht vom Wetter abhängig machen, das habe sie auf der Walz gelernt. Kleinsorge hat es auf seinen Verkaufstouren gelernt. Doch jetzt schnell nach Hause. Bald wird das Halbdunkel des Tages in die Dämmerung des späten – Nachmittags übergehen. Dann werden Zwielicht und Tageszeit zusammenpassen. Es wird dämmrig sein, weil es an der Zeit ist. So wie sich das gehört.

„Ich hab dir was mitgebracht.“
Feli zieht zwei Knäuel Wolle aus der Anoraktasche und braucht jetzt ein Schälchen Seifenlauge. „Man muss einen kleinen Strang abtrennen, einen Wunsch hineinflüstern und den Strang verzwiebeln, sehr, sehr vorsichtig, damit der Wunsch nicht kaputtgeht. Schön viele Lagen von der shaunweißen Wolle um den Zwiebelkern legen, jetzt auch ein paar von der anderen Wolle, der balubraunen, mit der das Ganze am Ende schön marmorkuchenartig wird. Dann das Knäuel in die Seifenlauge tauchen, tief hinein und abwarten, siehst du? Ist gar nicht schwer.“
Rosa soll sich auch eine Wunschperle machen.
„Hier, nimm, ist genug Wolle da, und wünsch dir was.“
Rosa muss nicht lange überlegen, hat gleich eine Handvoll Wünsche zur Hand. Schwierig, sich für einen zu entscheiden. Nun gut, also diesen, ja, den. Hineinflüstern und verzwiebeln. Stehen alsdann anderthalb Hutmacherinnen mit schaumüberschäumten Fingern vorm Waschbecken und rollen Wollknödel um die Wette. Erst einen, dann zwei, dann drei, dann vier. Die Werkstatt aufgeladen mit Wünschen. Ein Wollknödel schöner als der andere. Am Ende liegen sie duftend und nassschwer nebeneinander, brauchen Zeit, um zu werden, was in ihnen steckt, müssen trocknen über Nacht. Derweil kann die Arbeit an der Mütze weitergehen. Zu Sankt Martin soll sie erstmals gezeigt werden. Das Kopfteil ist über Nacht schon fast fertig geworden, mit dunkelblauer Seide unterfüttert und nicht zuviel Ballon.

Leseprobe: Katharina Radtke – „Schneestolz”

I.  

Am Ende der Straße erhob sich majestätisch die weiße Villa wie ein Riese, der aus dem Meer steigt. Ihre helle Fassade und die lackierten Dachziegel strahlten vor dem Kontrast der rostfarbenen Bäume, die in diesem September früher als sonst ihre Blätter zu verlieren begannen. Am Horizont konnte man den Strand erahnen. Clio wandte ihren Blick unwillkürlich von der Szenerie ab, als der schwarze Jeep knirschend auf die Auffahrt rollte und dabei viele kleine, weiße Kieselsteine in den Boden drückte. Warum fühlte sie sich wie ein Eindringling, jetzt wo sie an diesen Ort zurückkehrte? In dem großen, teuren Auto, ganz ohne die Unbeschwertheit ihrer Jugend – und mit Marcus. Ihre Blicke kreuzten sich.
„Die frische Luft wird dir guttun, mein Schatz.“, tönte er etwas zu selbstbewusst vom Fahrersitz. „Und am Wochenende komme ich dich besuchen. Es wird schon werden, ja?“
Clio nickte und stieß einen leisen Seufzer aus, während 1sie in ihrer Handtasche nach dem Hausschlüssel kramte. „Ich war zu lange nicht hier. Ich hatte vergessen, wie schön es ist“, bemerkte sie.
Marcus öffnete den Kofferraum und nahm ihr Gepäck heraus, während sie vor zur Haustür ging. Der Wind rauschte durch die hübsche Allee im gehobenen Viertel, am Himmel schrie irgendwo eine Möwe und langsam begann es, sich wirklich wie eine Auszeit anzufühlen. Nicht, dass sie überarbeitet gewesen wäre, sie liebte ihre Arbeit als Journalistin, aber schließlich war sie auf ärztliche Anweisung hier. Mit zwei Fingern strich Clio den Staub von der geschwungenen Türklinke. Es war lange niemand hier gewesen. Vielleicht schon ein Jahr lang? Oft hatte sie ihre Eltern dafür getadelt, dass die Villa selbst in der Hochsaison leer stand und nur ab und zu ihre Schwester dort ein paar Tage verbrachte oder die alte Linda, die das Haus in Ordnung hielt, nach dem Rechten sah. Es war ein Relikt aus vergangenen Zeiten, als ihre Eltern noch frisch verliebt gewesen waren und in ihrem jugendlichen Eifer dieses Haus gekauft und liebevoll renoviert hatten. Ganz in weiß. Damals hatte es sicher noch spektakulärer gewirkt als heute, wo sich die High Society in bester Timmendorfer Strandlage mit ihren Bauten gegenseitig zu übertrumpfen versuchte.
„Du hättest Linda gestern herbestellen sollen,“, stöhnte Marcus, als er ihren Koffer die steile Wendeltreppe hochhievte, „es ist doch alles ziemlich eingestaubt hier.“
Clio lachte. „Du weißt doch, dass ich alte Dinge mag. Das Meiste kann ich wohl noch selbst machen und wenn du unbedingt willst, kann sie ja nächste Woche kommen.“
Sie ließ ihren Blick durch die Loggia schweifen und fühlte sich schlagartig zuhause. Es war nur wie das kurze Aufflackern eines bekannten Gefühls, wie das Ankommen nach einer langen Reise. Die muffige Luft der ungelüfteten Räume und der Duft von altem Holz passten ganz wunderbar zu ihrer Stimmung. Sie hing ihre Jacke an die Garderobe und folgte Marcus die Treppe hinauf ins Schlafzimmer. Von der langen Autofahrt erschöpft ließ sie sich auf das Bett fallen und streckte die Arme von sich, während die Füße über dem Boden baumelten. Marcus stand an der Balkontür zu ihrer Linken und sah über das Meer hinweg. Dann drehte er sich um und lächelte sie an, bevor er sich auf die Bettkante setzte.
„Glaubst du an uns?“, fragte er mit zuversichtlichem Blick.
Clio erwiderte sein Lächeln halbherzig. Er war ein sehr erfolgreicher und einflussreicher Mann, ohne Frage. Aber manchmal sah sie in seinen Augen dieses naive Funkeln eines Menschen, dem es das Leben zu einfach gemacht hatte. Ja, wenn sie darüber nachdachte, konnte sie regelrecht wütend auf ihn werden – auf seine unbeirrbare Zuversicht. Sie zuckte mit den Schultern.
„Natürlich“, erwiderte sie schließlich.
Er strahlte sie an. „Dann werden wir hier bald schon zu dritt ein paar schöne Tage verbringen, hm?“, neckte er sie.
Clio konnte nicht verhindern, dass ihre Mundwinkel verschmitzt nach oben zuckten. „Vielleicht.“
Marcus beugte sich über sie und küsste sie ein bisschen zu stürmisch. Langsam aber bestimmt schob sie ihn mit einer Hand von sich weg.
„Du kommst in den Stau, wenn du nicht bald losfährst.“ „Das ist mir ganz egal“, erwiderte er.
Sie sah ihn auffordernd an. „Na los, wir sehen uns ja schon Ende der Woche wieder!“
Marcus seufzte und nahm ihre Hand. „Gut. Aber bis dahin möchte ich, dass sich meine Frau eine ganz wunderbare Zeit hier macht, einverstanden?“
Clio küsste ihn auf die Wange. „Natürlich. Ich werde viel spazieren gehen und schwimmen. Und jetzt wünsche ich dir eine gute Fahrt!“
Marcus drückte ihre Hand noch einmal, stand auf und sah prüfend durch den Raum. Dann nickte er ihr zu und wandte sich zum Treppenabsatz. Clio folgte ihm und blickte durch die offene Haustür, bis der dunkle Jeep ansprang, auf der breiten Auffahrt wendete und schließlich mit demselben unangenehmen Knirschen langsam in der Ferne verschwand. Endlich war alles wieder wie früher, endlich herrschte wieder die betäubende, weiße Ruhe des Hauses und sie war ein Teil davon.

II. 

Am nächsten Morgen nutze Clio die milden spätsommerlichen Temperaturen, um mit großen, kräftigen Zügen auf das Meer hinauszuschwimmen. Der Himmel war wolkenverhangen, lediglich am Horizont konnte man die aufsteigende Sonne beobachten, die über dem Wasser funkelte wie ein winziger, roter Edelstein. Bald würde sie alles in ein pinkfarbenes Licht tauchen, aber noch war es dunkel. Unter ihrem Körper, der stromlinienförmig durch die sachten Wellen glitt, konnte Clio die schwarze Tiefe spüren, die sich mit kaltem Griff an ihre Beine klammerte. Sie konzentrierte sich auf ihre Bewegungen und sog den salzigen Geruch der frischen Meerluft ein, aber in der Stille dieses Morgens kreisten die Gedanken unaufhörlich in ihrem Kopf. Wie ich ihnen schon sagte, es gibt keine körperliche Ursache. Ihr Zyklus ist nicht regelmäßig, das kann viele Gründe haben…
Die dünne Stimme der Ärztin, die sie dabei eindringlich aus schmalen Augen ansah, der sterile, lieblose Raum und das unbarmherzige Ticken der Wanduhr hatten sich wie jedes andere Detail dieses Tages in Clios Gedächtnis eingebrannt. Ohne jedes Verständnis und fast ein wenig vorwurfsvoll hatte die Ärztin dann zwischen ihr und Marcus hin- und hergeblickt. Clio hatte geschluckt und etwas erwidern wollen, als ihr Mann antwortete. Wie oft hatte sie seine Worte von damals schon gehört! Es war schon über ein Jahr, seitdem sie es versuchten. Ein endloses Jahr für Clio, die unzählige Tests durchgeführt, Tee getrunken, ihre Körpertemperatur gemessen und sich jede kleine Veränderung notiert hatte. Aber es hatte alles nichts genutzt und somit hatte sie die Buchführung schließlich aufgegeben.
„Es muss doch eine Möglichkeit geben, endlich etwas zu unternehmen!“, forderte Marcus. Man merkte ihm an, dass der unerfüllte Kinderwunsch allmählich an ihrer Ehe und vor allem an seiner sonst so unumstößlichen Gelassenheit nagte. Er war es gewesen, der damals den ersten Schritt gemacht und den Wunsch nach einer Familie ausgesprochen hatte. Clio war anfangs zögerlich gewesen. Sie hätte gern noch ein, zwei Jahre gewartet, aber wie konnte sie ihm so etwas abschlagen, wo er sie sonst stets auf Händen trug? Außerdem war er älter als sie und bereits 38. Sie konnte verstehen, dass er nicht mit dem Gehstock im Türrahmen lehnen wollte, während seine Kinder draußen spielten.
Die Ärztin hatte schließlich ihre Brille zurechtgerückt, beide ernst angesehen und mit einem Seufzer vorgeschlagen: „Gönnen Sie sich doch mal eine Auszeit, wenn Sie können. Vielleicht fahren Sie weg? Irgendwohin, wo Sie innerlich zur Ruhe kommen und loslassen können.“
Obwohl Clio der bemutternde Ton ihrer Ärztin nicht gefiel, hatte sie schließlich eingewilligt, wegzufahren. Für Marcus war es allerdings als Geschäftsführer eines großen Verlages undenkbar, sich spontan frei zunehmen. Eigentlich war sie auch froh darüber, jetzt fernab von alldem zu sein: vom unerfüllten Kinderwunsch, von ihrem Mann und ihrer Ehe. Als sie vor drei Jahren recht plötzlich geheiratet hatten, war Clio sich sicher gewesen, die richtige und vor allem eine vernünftige Entscheidung getroffen zu haben. Er war immer zuvorkommend, gebildet und höflich und dabei so bodenständig. Ja, aber manchmal wurde ihr diese Harmonie zu eintönig und zu viel, die stete Reibungslosigkeit ihrer Beziehung, in der sie sich meist schrecklich schuldig fühlte, wenn es doch einmal Streit gab. Von Anfang an hatte es ein gewisses Ungleichgewicht zwischen ihnen gegeben: Er verherte sie wie nichts außer seiner Arbeit, aber sie konnte diese überschwänglichen Gefühle nicht auf dieselbe Art erwidern, dafür war sie früher zu tief verletzt worden. Sie liebte ihn – aber auf ihre leise Art und Weise. Außerdem fiel es ihr schwer, sich ihm zu öffnen. Sie hatte ihm noch nicht alles von sich erzählt: kaum von der traumatischen Trennung ihrer Eltern, als sie die Schule beendet hatte, von ihren Studienjahren und davon, dass sie insgeheim einen Verdacht hegte, warum es mit dem Kinderkriegen einfach nicht klappen wollte.
Ein plötzliches Frösteln riss Clio aus ihren Gedanken. Die Sonne war nun vollends aufgegangen und nur noch ein rosafarbener Schimmer war am Horizont zu sehen, als sie bemerkte, wie weit sie rausgeschwommen war. Sie drehte und steuerte auf den Strand zu. Bereits jetzt war die Wassertemperatur sicherlich auf unter 20 Grad gefallen und in ein paar Tagen konnte man vielleicht gar nicht mehr baden. Als sie den Strand erreicht hatte, war sie daher froh, heute Morgen so früh aufgestanden zu sein. Sie hatte die Küste fast für sich allein gehabt, bis auf ein älteres Ehepaar, das seinen Hund ausführte. Sie trocknete sich ab, warf ihr Kleid und die Tasche über und stieg auf das alte Hollandrad ihrer Mutter. Ihre Glieder fühlten sich allmählich schwer und müde an und der Fahrtwind blies ihr die nassen Haarsträhnen aus dem Gesicht. Als sie endlich die Villa erreichte, ließ sie erschöpft die Tasche neben die Tür fallen und eilte die Treppe hinauf ins Badezimmer, um eine lange, heiße Dusche zu nehmen.
Es war schon Zehn Uhr, als sie schließlich die Treppe herunterkam, um zu frühstücken. Sie öffnete die Kühlschranktür, sah, dass er leer war und fluchte leise, als sie sachte jemand an der Schulter berührte. Blitzschnell fuhr sie herum und sah in zwei liebevolle, blaue Augen.
„Linda! Was machst du hier so früh?“, entwich es ihr.
„Wonach sieht es denn aus?“, entgegnete Linda verschmitzt, stellte den Putzeimer auf den Boden und wischte sich die Hände an der Schürze ab, „die Fenster putzen sich leider nicht von alleine. Und außerdem muss ich sagen, dass deine Schwester einen ziemlichen Saustall hinterlassen hat.“.
Clio nahm ihre alte Freundin in den Arm. Linda hatte hier bereits für Ordnung gesorgt, als sie mit ihren Eltern fast jeden Sommer in der weißen Villa verbracht hatte, wenn deren Hamburger Arztpraxis für zwei Wochen geschlossen blieb.
„Marcus hat dich geschickt, stimmt’s?“, fragte sie und zupfte Linda ein Blatt aus dem Haar, dass sich in einer graumelierten Strähne verfangen hatte.
Linda nickte und deutete auf die Tür. „Frühstück steht draußen auf dem Esstisch und die Post liegt auch daneben. Es ist ganz schön was zusammengekommen.“.
„Danke. Es ist schön, dich zu sehen“, erwiderte Clio und verließ den Raum. Erst jetzt fiel ihr auf, dass die großen Fensterflügel, die auf die Veranda hinaus führten, geöffnet waren und ein leichter Wind hereinwehte. Auf dem Tisch stand eine Papiertüte mit Croissants, ein Kaffee vom Bäcker und ein Korb voller Einkäufe. Clio streckte sich und gluckste zufrieden. Es war sehr aufmerksam von Linda, ihr das Frühstück vorbeizubringen und sie freute sich über die Gesellschaft. Zuhause in Frankfurt war sie meistens alleine. Da konnte sie auch darüber hinwegsehen, dass sie sich wieder ein wenig wie ein kleines Mädchen fühlte, wenn jemand Anderes für sie putzte und ihr das Essen brachte. Was soll’s, dachte sie, immerhin war sie zum ausspannen hier und einen Tag lang konnte sie sich ja verwöhnen lassen. Später würde sie sich vielleicht revanchieren und Linda zum Essen einladen.
Ihr Blick fiel auf den Papierstapel auf den Tisch. Sie hatte gestern ganz vergessen, nach der Post zu sehen. Aber Linda hatte einen Schlüssel und leerte den Briefkasten alle paar Tage. Wenn etwas Wichtiges dabei gewesen wäre, hätte sie also sicher Bescheid gegeben. Gelangweilt blätterte Clio durch die Briefe. Rechnungen vom Telefonanbieter – die wurden automatisch eingezogen – , dutzende Werbeprospekte vom lokalen Supermarkt, Einladungen zu einer Gala und einem Konzert im Maritim-Hotel, aber beides war schon vorüber, das  Gemeindeblatt … Plötzlich fiel ein schwerer Großumschlag aus dem Stapel. Clio hob ihn auf. Dem Gewicht nach musste ein ganzes Buch darin stecken. Als sie ihn umdrehte, stockte ihr plötzlich der Atem. Sie stellte ihren Kaffeebecher ab und sah ungläubig auf die Buchstaben: Der Brief war an sie persönlich adressiert und sie erkannte die Handschrift sofort. Es war Vincents. Als sie den Umschlag umdrehte konnte sie auf der Falz eine Adresse und seinen Namen erkennen: V. Artmann.
Das Herz klopfte ihr bis zum Hals und in ihrem Kopf überschlugen sich die Gedanken. Was wollte er plötzlich von ihr, ausgerechnet jetzt? Suchten sie die Geister ihrer Vergangenheit zur Strafe heim, weil sie jetzt glücklich war? Wie von fern erklang Lindas gedämpfte Stimme.
„Erkälte dich nicht, meine Kleine“, rief sie, „ich lüfte gerade ein bisschen.“.
„Ja – lass dich von mir nicht stören, ich geh‘ wieder rauf“, antwortete Clio geistesabwesend und schob die restliche Post zusammen. Dann klemmte sie sich den Brief unter den Arm und ging raschen Schrittes die Treppe hinauf ins Schlafzimmer. Von innen lehnte sie sich gegen die Tür und atmete tief durch. Zitternd wog sie den Brief in den Händen. Wenn sie zur Balkontür sah, war ihr, als stünde Marcus noch immer dort und sähe anklagend zu ihr herüber.
Aber warum hast du denn nichts gesagt, mein Schatz?, würde er fragen. Und dann: Jetzt kann ich das alles viel besser verstehen und sie wäre wieder in der Opferrolle, die sie so hasste. Aber sie hatte auch mit Vincent an einem stürmischen Dezembertag auf dem Balkon gestanden, eingehüllt in eine warme Decke und aufs Meer hinunter gesehen, damals als sie frisch verliebt waren und in den Ferien eine Woche an der Küste verbracht hatten. Wütend schmiss sie den Umschlag aufs Bett und sah aus dem Fenster, als ob sie seine Existenz einfach ignorieren konnte. Vincent war Vergangenheit, sie hatten ohnehin nur ein paar schöne Monate zusammen verbracht, bevor alles ein sehr unschönes Ende genommen hatte.
Sie schloss die Augen und versuchte, Abstand zu den aufkeimenden Erinnerungen zu bewahren. Was dachte er sich bloß, nach all den Jahren einfach so zu schreiben? Es waren schon über sechs Jahre vergangen, seitdem sie aus Oxford weggegangen und in Frankfurt ein neues Leben begonnen hatte. Ihr Vater war gestorben, ihre Mutter lebte in einem gutbezahlten Alterswohnsitz, sie hatte Marcus geheiratet und mit ihm ein neues Leben begonnen. Aber jetzt dieser Brief. Mit einem störrischen Seufzer tippte sie langsam den Zeigefinger gegen die Nase, wie sie es immer tat, wenn sie nachdachte. Vincent musste doch wissen, dass sie nur noch selten herkam. Ja, es hätte sogar sein können, dass die Villa inzwischen verkauft wäre. In der Tat hatte sie schon öfter darüber nachgedacht – die Preise auf dem hiesigen Immobilienmarkt explodierten immerhin geradezu – aber es hingen zu viele Erinnerungen an dem Haus. Jedenfalls konnte sie nicht zulassen, dass dieses kleine, unscheinbare Päckchen ihr Leben durcheinanderbrachte.
Sie legte den Brief auf den kleinen Sekretär in der Ecke und schob ihn unter einen Stapel mit Gartenzeitschriften ihrer Mutter. Ich habe dich einfach nie bekommen, sagte sie zu sich und dem Papierbündel, das ganz in seinem Grab aus Hochglanzmagazinen verborgen war. Dann griff sie zu ihrem Handy auf dem Nachttisch: Zwei neue Nachrichten. Sie lächelte. Marcus musste sie wohl sehr vermissen. Er erkundigte sich, wie es ihr bisher gefiele und ob sie sich schon zu Tode gelangweilt hätte. Am Wochenende, wenn er sie wie versprochen besuchen kam, wollte er sie nach Hamburg ins Theater ausführen. Ihr zuliebe, das wusste sie. Marcus war es eigentlich lieber, in der Freizeit seine Ruhe zu haben. Das Verlagsgeschäft bei „Schwartz auf Weiß“ war unter der Woche anstrengend genug.
Sie überlegte kurz, ob sie ihn anrufen sollte, um ihm zu sagen, dass sie sich auf ihn freute. Das war nicht gelogen. Sie freute sich darüber, dass er sich so sehr um sie bemühte, aber im Moment war ihr ein bisschen Einsamkeit lieber, also schrieb sie nur eine SMS und bedankte sich. Dann überlegte sie kurz, öffnete rasch die Tür und rief die Treppe hinunter:
„Linda? Bist du noch da?“.
„Jawohl.“, ertönte die Antwort vom Treppenabsatz. „Aber ich wollte gerade gehen. Ist noch was?“
Clio ging mit langsamen Schritten die Treppe herunter. „Ach, eigentlich nicht … Ich dachte nur, vielleicht hast du heute Abend Lust, mit einer alten Freundin essen zu gehen?“
Linda lachte und strich ihre Schürze glatt. „Für dich hab‘ ich immer Zeit, weißt du doch“, sie kratzte sich am Kinn, „allerdings ist heute Abend schlecht. Vielleich morgen?“
„Ja, gerne. Ich ruf dich morgen an.“ Clio hielt ihr die Tür auf und winkte, als Linda zu ihrem Twingo stapfte und den Putzkorb im Kofferraum verstaute. Als das Auto langsam die Einfahrt herunterrollte, befiel Clio ein ungutes Gefühl.

 

[…]

XIV. 

Als Clio wieder in der Villa war, war es Mittag. Sie goss sich ein Glas Wasser ein und ging zielstrebig zurück in Wohnzimmer. Es war ihr egal, dass ihr Frühstücksgeschirr noch unaufgeräumt im Wohnzimmer stand und sich im Schlafzimmer die Wäsche häufte. Sie sah zu dem Bild ihres Vaters hinüber, das auf der alten Kommode neben dem Kamin stand. Ihre Mutter hatte es nach der Trennung weggeworfen, aber Clio hatte es aus dem Mülleimer gefischt.
Dann, als er krank wurde, hatte ihre Mutter begonnen, über die vielen kleinen Streitereien hinwegzusehen und ihr Eltern hatten sich wieder besser verstanden. Clio hatte das Bild erst auf ihrem Schreibtisch im Collegezimmer stehen, später hatte sie es dann hier aufgestellt. Einfach, weil sie die Villa viel mehr mit ihrem Vater verband, als das Haus in Frankfurt.
Ihr Vater lächelte sie von dort aus still und gutmütig an. Es ging etwas so Kraftvolles von diesem Bild aus, das hatte Clio immer schon gedacht. Dabei war es ein altes Bild von der Soldatenzeit ihres Vaters, als er als vor dem Studium als Sanitäter im Lazarett eingesetzt war. Es war in Sepia und er war noch ein junger Mann mit dunklem, buschigem Haar, hochgekrempelten Hemdsärmeln und einem breiten Lächeln.
Es war schade, dass sie ihn zu dieser Zeit nicht gekannt hatte, dachte Clio oft. Diese Bild sagte ihr viel mehr zu, als das Foto ihres Vaters, das schließlich in der Todesanzeige abgedruckt worden war und welches das letzte war, das sie von ihm besaß. Es war kurz bevor er von der Krankheit erfahren hatte bei einem Spaziergang aufgenommen worden und darin lag gerade die Heimtücke.
Die gesamte Trauerfeier über hatte sie das Bild auf dem Programmheft angestarrt, den sorglosen Mann, der an einem Baum lehnte und in die Kamera lächelte, die ihre Schwester in der Hand hielt. Dabei hatte das schreckliche Geschwulst schon damals in ihm gewütet.
Nein, es war kein gänzlich sorgloses Lächeln, hatte sie sich eingebildet, als sie während des Gottesdienstes unablässig auf das kleine Foto gestarrt hatte: Wenn man genau hinsah, konnte man schon erkennen, wie die Krankheit ihn gezeichnet hatte. Es war kaum merklich, aber es war da – sie war sich sicher. Sie hätte es früher erkennen können! Sie hätte noch Zeit mit ihm verbringen können, stattdessen hatte sie ihr Studentenleben mit Vincent genossen, ohne an Morgen zu denken.
Als sie dann später am offenen Grab stand, hatte sie sich gefühlt wie eine Heuchlerin. Von ihrem Schwager hatte sie erfahren, dass ihre Mutter und ihre Schwester schon viel länger um die Krankheit gewusst hatten, sie damit während ihres Studiums im Ausland aber nicht belasten wollten. Dort standen sie neben ihr und empfingen Beleidsbekundigungen,  hatten ihren Frieden gemacht und konnten in Ruhe Abschied nehmen. Clio fühlte sich wie der einzige Mensch auf der Welt, der nicht noch einmal sein wahrhaft glückliches Lachen zu Gesicht bekommen hatte und der jetzt für immer die Erinnerung an einen gebrochenen Mann im Herzen tragen musste.
Trotzig hatte sie die fremden Hände seiner vielen ehemaligen Patienten geschüttelt und sich geekelt vor der Falschheit der Leute, die herausgeputzt vor ihr standen und sie mitleidig ansahen wie ein Kind. Wahrscheinlich hatte sie sich damals auch so verhalten, aber der Gedanke daran erzürnte Clio immer noch: Sie hatte sich von ihrer Familie um die letzten schönen Tage mit ihrem Vater betrogen gefühlt.
Verstohlen warf sie dem Bildnis auf der Kommode einen Kuss zu und nahm nach einem Moment der Stille, in dem ihr das lebensbejahende Lächeln ihres Vaters Mut zuzusprechen schien, den Brief wieder an sich.
Nach meiner Rückkehr Mitte April sahen wir uns nicht wieder. Ich hörte von Bekannten, dass dein Vater gestorben war und dachte oft daran, eine Kondolenzkarte zu schreiben, aber wieder einmal fehlten mir die Worte. Die Wochen des Trinity Terms zogen dahin und wir trafen uns nicht. Wir hatten unterschiedliche Kurse belegt und schrieben beide in unsere Zimmer zurückgezogen die Abschlussarbeiten.
Die Stille und Einsamkeit dieser Zeit brachte mich dazu, über die Geschehnisse nachzudenken. Oxford war nicht mehr dasselbe ohne dich. Ich fasste mir schließlich ein Herz und beschloss, dass ich dich zumindest noch einmal sehen und mich verabschieden musste, bevor ich England am Ende des Trimesters wahrscheinlich für immer verließ. Über dein Postfach ließ ich dir eine Nachricht zukommen und zu meiner Überraschung stimmtest du einem Treffen zu. Aber was dann geschah, sollte für mich alles nur noch schlimmer machen.
Verärgert warf sich Clio gegen die Sofalehne. Für ihn sollte es alles noch schlimmer machen! Ob er auch einen Gedanken daran verschwendete, wie sie sich gefühlt hatte? Wie sie bis heute noch Albträume verfolgten und an den meisten Tagen dieses Gefühl innerer Leere?
Mit zusammengebissenen Zähnen zwang sie sich, wieder auf das Papier zu sehen.
Ich sollte erfahren, wie viel du meinetwegen gelitten hast. Glaube mir, diese Vorstellung deiner Qualen macht mir jeden Tag des Lebens zu meiner eigenen Hölle.
Wir trafen uns in ‚The Mitre‘, unserem Lieblingsrestaurant, in dem wir so oft zusammen High Tea getrunken oder Burger gegessen hatten. Ich saß schon lange am Tisch und blätterte nervös durch die Karten, die ich beinahe auswendig kannte, um meine Finger zu beschäftigen. Du warst mir längst nicht egal und auch, wenn ich mich auf meiner Europareise mit unbedeutenden Affären abgelenkt hatte, dachte ich noch viel an dich. Ich wusste aber auch, dass es zwischen uns nie wieder so werden konnte, wie früher. Trotzdem wollte ich dir zumindest mein Beileid aussprechen.
Als du endlich durch die Tür kamst, traf mich dein Anblick wie ein Stich ins Herz. Dein zierliches Gesicht war gänzlich fahl und die Schatten unter deinen Augen ließen dich matt und abgeschlagen wirken.
Ich bemerkte, dass du dir Mühe gabst, möglichst gefasst zu wirken, aber diese Fassade durchschaute ich sofort. Und was sich dahinter verbarg – noch heute packt mich beim Gedanken daran das blanke Entsetzen und Reue, tiefe, unvorstellbar schmerzhafte Reue. Mit einem Mal konnte ich all die Qualen sehen, die du ausgestanden hattest: Die durchwachten, tränenreichen Nächte voller Ungewissheit zwischen Hoffnung und Aussichtslosigkeit, die nackte Angst im Angesicht des Todes mitten unter deinen Lieben und die schreckliche Einsamkeit, der ich dich ausgeliefert hatte. All das hattest du meinetwegen erlitten. Weil ich zu feige war. Ich wusste es und fühlte mich wie der letzte Mensch auf der Welt, schuldig und des Lebens unwürdig.
Clio hielt einen Moment inne. Diese Worte verschafften ihr nicht die Genugtuung, die sie sich erhofft hatte. Es stimmte, was er schrieb. Sie hatte unvorstellbar gelitten. Nichts in ihrem Leben war seitdem dasselbe gewesen und sie hatte nie wieder etwas Vergleichbares erlebt. Die stete Angst, verlassen zu werden oder etwas zu verlieren, war seitdem tief in ihr verwurzelt.
Aber Vincents Zeilen bewirkten nur, dass sie sich kalt fühlte. Nicht mehr wütend oder empört. Es behagte ihr nicht, dass Vincent so über sich selbst sprach. Erneut sah sie zu dem Bild herüber – war das etwa ihres Vaters Tochter?
Sie wusste, welche Wendung die Szene jetzt nehmen würde und las nur widerwillig weiter.
Du kamst an meinen Tisch und unsere Blicke kreuzten sich kurz, als du dich setztest. Statt des liebgewonnenen Strahlens konnte ich in deinen einst so warmen Augen nur eine kalte Leere erspähen. Sie waren glanzlos und trüb.
Und plötzlich hatte ich, als ich dich ansah, einen riesengroßen Kloß im Hals. Was hatte ich mir dabei nur gedacht? Ich saß dort und bekam kein Wort heraus, legte mir in Gedanken tausend unpassende Sätze zurecht und schwieg dich an. Dann überraschtest du mich wieder einmal.  „Wie geht es dir?“, fragtest du. Du fragtest mich das. Und es war keine rhetorische Frage, in deinem Gesicht konnte ich sehen, dass du es ernst meintest. Mir fiel eine solche Last von den Schultern! Immerhin, du hasstest mich nicht. Dabei hatte ich das geglaubt und war mir sicher gewesen, du hättest nur noch Verachtung für mich übrig gehabt.
Aber mit diesem einen Satz, mit dieser simplen Frage und dem kurzen Augenblick ehrlichen menschlichen Interesses hast du mir damals die Absolution erteilt. Du warst also immer noch dieselbe, liebenswerte Person, die ich zu kennen glaubte! Mein Herz machte einen kleinen Hüpfer und für den Bruchteil einer Millisekunde sah ich uns in einer möglichen Zukunft, uns beide, wieder Hand in Hand durch Oxfords Straßen laufen. Aber es sollte nicht sein.
Oh, wenn ich doch nur in diesem Augenblick hätte verweilen können, mehr wollte ich nicht! In diesem Moment, der scheinbar meine ganze Schuld fortgewaschen und meine Seele besänftigt hatte. Dann könnte ich jetzt in Frieen sterben.
Clio fuhr mit dem Finger über das letzte Wort. Nein!, dachte etwas in ihr und die ersten Tropfen vielen auf das Blatt. Er durfte es nicht. Er durfte nicht gehen, so wie ihr gemeinsames Kind nicht hätte gehen dürfen und wie das alles nicht hätte passieren dürfen!
Sie raufte sich mit dem Papier in der Hand die Haare und verteilte dabei die schwarze Tinte in ihrem Gesicht, die an den tränennassen Fingern klebte. Dann brach sie in lautes Schluchzen aus, rief immer wieder laut „Nein!“ und küsste das nasse Papier mit aufgequollenen Lippen, bis die Schrift kaum noch zu erkennen war. Wenn sie jetzt wenigstens ein Bild hätte, das sie beweinen könnte!
Aber vielleicht gab es ja noch Hoffnung?, ging es ihr nach einer Weile durch den Kopf. Die Tränen hatten sie beruhigt und sie sammelte wieder Kraft, um die nächste Seite zu lesen.
Ich stammelte irgendetwas, dass es mir ganz gut ginge und stotterte wie ein kleiner Junge. Dann, nach ein paar Worten, sprudelte es zusammenhanglos aus mir heraus. Mir war auch egal, ob meine Sätze vernünftig oder wohlgeformt waren – dieser ganze Ballast musste einfach von meiner Seele. Ich habe sicher ein dutzend Mal die Worte „Entschuldigung“ und „verzeihen“ benutzt und wusste am Ende selbst nicht mehr, was ich gesagt hatte. Zu meiner Überraschung wurde dein Blick nur noch trauriger.
Du nahmst meine Hand – ganz kurz und förmlich – und betrachtetest eine gefühlte Ewigkeit lang die vertrauten Linien und Fältchen. Dann sagtest du etwas, das mich für immer verändern sollte:
„Vincent, so sehr ich dir verzeihen möchte, ich kann nicht. Ich habe ein Kind von dir erwartet, damals, und als mein Vater gestorben war, habe ich es verloren.“
Du sprachst die Worte so ruhig und gefasst aus, als ob du sie dir schon monatelang überlegt hattest. Wahrscheinlich war es auch so. Die Gedanken in meinem Kopf überschlugen sich und ich war nicht in der Lage, irgendwie zu reagieren.
Stattdessen starrte ich in deine dunklen Augen, die mich groß und erwartungsvoll ansahen und mich immer tiefer in sich hineinzuziehen schienen. Ich konnte nichts mehr denken, nichts mehr fühlen und nichts mehr sehen, außer dieser großen Dunkelheit, die mich zu verschlingen drohte. Wie von fern hörte ich deine Stimme, als du dich erhobst, um zu gehen:
„Mach‘s gut, Vince.“
Dann tratst du durch die Tür und ich sollte dich nie wiedersehen. Erst, als der Kellner an meinem Tisch stand und mich fragte, was ich trinken wolle, kam ich wieder zu mir. Du warst fort, nur die Türglocke schellte noch wie ein leiser Nachklang deiner Präsenz und ich lauschte ihr, bis auch das letzte Tönchen verklungen war.

[…]

XXV.  

Clio ließ den Blick über die kunstvoll gestalteten Grabmäler schweifen, während sie über den breiten, asphaltierten Weg schritt. Jedes davon schien das vorherige noch zu übertrumpfen und die feierliche Andächtigkeit geradezu zu zelebrieren. So etwas hätte Vincent nicht gewollt, das wusste sie. Wenn es nach ihm ging, würde er wohl ohne Grabstein unter einem Baum liegen.
Als sie fast da war, erkannte sie seine Ruhestätte schon aus der Ferne. Etwas abseits von einem pompösen Familiengrab war eine Parzelle mit frischer Erde aufgeschüttet, noch ohne Grabstein und nur mit einem Holzkreuz gekennzeichnet, damit sich alles erst noch einige Wochen setzen konnte. Das musste es sein!
Wie in Trance trat sie näher heran, in der einen Hand die Karte, die andere immer noch schmerzhaft um das Blumennetz gekrampft.
Die Zeit schien für einen Augenblick stehenzubleiben, als sie die Inschrift auf dem breiten Holzkreuz las: Vincent Artmann, geliebter Sohn und Bruder. Darunter seine Geburtsdaten und in Kursiven ein Gedicht:
Frisches Leben keimt aus der Erde.
An den Ästen ein leichter, grüner Flor.
Mir ist, als ob es Frühling werde
und Hoffnung findet, wer sie jüngst verlor.
Clio sah zu Boden und sofort fielen ihre Tränen in kleinen, kristallenen Tropfen auf die duftende Erde. Sie kannte diese Zeilen – sie waren natürlich aus Vincents Feder. Er hatte sie ihr aufgesagt, als sie an einem schönen Frühlingstag im Hilary Term Hand in Hand durch Port Meadow gewandert und den endlosen Ufern des Cherwell mit seinen unzähligen, possierlichen Hausbooten gefolgt waren. Die ersten Sonnenstrahlen des Jahres hatten ihre Nasen gekitzelt und die jugendliche Ausgelassenheit in ihren Gemütern überschäumen lassen, sodass Vincent auf ihr Drängen hin einige seiner alten Werke zu rezitieren begonnen hatte.
Clio hatte lange nicht mehr daran gedacht und war sich sicher gewesen, diese Zeilen längst vergessen zu haben, aber jetzt wo sie die Inschrift las, war alles wieder da.
Überwältigt von der Rührung über diese Erinnerung und dem Schmerz beim Anblick des Kreuzes sank sie vor dem Grab auf die Knie. Neben ihr fielen die Zwiebeln in ihrem Netz auf  den Grasboden und die gesamte Erschöpfung und Anspannung der letzten Wochen brach sich flutartig Bahn. Lautlos schluchzte Clio, rang verzweifelt nach Luft und hielt die Hände auf, um zu spüren, wie die Tränen ihre taube Haut benetzten. Sie wollte schreien, aber ihre Stimme versagte.
Mit geschlossenen Augen versenkte sie sich in die Erinnerung, wollte zeitreisen und die Gegenwart gegen eine unmögliche Vergangenheit eintauschen. Kraftlos sprach sie seinen Namen, rüttelte im Geiste an dem leblosen Körper, wollte ihn anflehen und wachküssen. Aber die schwarzen Buchstaben, die wie Wunden in das Holz gebrannt waren, starrten nur stumm zurück und ihre Verzweiflung verhallte ungehört.
Die Zeit lief weiter: Ein paar Sperlinge hüpften hinter dem Grab durch das Gras und pickten im weichen Boden nach Käfern. In einiger Entfernung konnte man die Autos vorbeirauschen hören und irgendwo klapperten Gießkannen.
Mit brennender Kehle sah Clio auf die Zwiebeln. Ihre weißen Finger rissen das Netz auf ohne zu bemerken, wie das Nylon in die Haut schnitt. Sie entdeckte einige wenige rote Tropfen, mit denen die blutleeren Finger die Knollen benetzt hatten und lächelte ein trauriges Lachen. Ja, das sollte ihr Abschiedsgeschenk an Vincent sein: Blumen für sein Grab, die sie selbst genährt hatte. Diese Kinder konnte er nicht verstoßen, ging es ihr durch den Kopf und sie erschrak  sofort über diesen Gedanken.
Sie hatte kein Werkzeug dabei und so rutschte sie auf Knien so nah wie möglich von der Seite an das Grab heran, lehnte sich zum Kreuz und begann, die Erde mit den Händen abzutragen. Heute trage ich nicht nur dich zu Grabe, dachte sie voller Bedauern, sondern auch unsere Liebe, unser Kind und die Unbeschwertheit unserer Jugend. Sofort fühlte sie, wie ihre Augen brannten und wieder Tränen ihre Wangen hinabflossen.
Ungefähr dreimal so tief wie die Zwiebeln musste sie graben, das hatte Linda ihr schon als kleines Mädchen beigebracht. Oh Linda, meine liebe Linda! rief sie in Gedanken aus, ich habe dir solches Unrecht getan, ja und nicht nur dir – aber bald werde ich alles erklären!
Andächtig nahm Clio die erste Zwiebel aus dem Netz und setzte sie in die Erde. Ein, zwei Tränen fielen noch darauf, ehe sie etwas von dem lockeren Mutterboden durch ihre Finger rieseln ließ. Just, als die erste dünne Schicht den Schneestolz bedeckte, brach aus der Wolkendecke über ihr ein feiner, dünner Sonnenstrahl und fiel auf dieselbe Stelle. Voller Glück sah Clio erst auf ihren in goldenes Licht getauchten Schützling und dann auf zum Himmel. Auch, wenn Vincent trotz seiner Internatszeit kein bibeltreuer Katholik gewesen war, so war er doch auf seine Art religiös gewesen und Clio war sich sicher, dass er jetzt an den richtigen Ort geleitet würde.
Sie pflanzte noch sechs weitere Blumenzwiebeln, bevor sie sich von den geschundenen Knien erhob. Wehmütig und zufrieden betrachtete sie ihr Werk. Sieben Zöglinge, alle mit ihren Tränen begossen und mit ihrem Blut genährt.
„Mach’s gut, Vince,“, flüsterte sie mit gebrochener Stimme, als sie sich umdrehte, „Ich muss jetzt gehen und das Leben leben, das du mir gewünscht hast.“

 

Leseprobe: Micaela Daschek – „Polareule“

ΑΩ – Prolog

Draußen bellen die Hunde. Stiefel trampeln, Schlüssel klappern. Die Sichtklappe fällt. »Wolkow – in die Ausgangsposition!« Die zweite Klappe fällt. »Dawai! Hast du nicht gehört? In die Ausgangsposition!« Auf dem Gang wird es hektisch; sie laden die Gewehre. »Genosse Oberstleutnant – der Gefangene Wolkow rührt sich nicht.« »Tür öffnen!« »Tür ist geöffnet!« »Wie konnte das passieren?« »Das weiß ich nicht, Genosse Oberstleutnant.« »Was ist dort oben?« »Wo …?« »Da draußen, hinter dem Fenster!« »Genosse Oberstleutnant – dort hockt eine Polareule.« »Verscheuchen!« »Jawohl – Polareule verscheuchen!«, bestätigt der Diensthabende und greift nach dem Gewehr. »Nicht schießen, Sie Idiot, verscheuchen habe ich gesagt!« Mit einem kräftigen Satz nach vorn wirft der Oberstleutnant ein Paar Handschellen ans Gitter. Er trifft; das Glas dahinter zerbirst. Die Polareule hebt ab. Der Oberstleutnant schaut verwundert: Die Schwingen des Vogels wirken beladen, als trügen sie eine Last hinfort.

Α – Jamal (1.Kapitel)

Es gibt Orte, die erfüllen mich mit Schrecken. Dieser nicht. Es ist ein schweigsamer Ort, verschlossen und karg. Nur Schnee und Wind, Kälte und Eis – sonst nichts. Jenseits des Polarkreises flüchtet die Nacht über den zugefrorenen Ob, da erreicht das Luftkissenboot die andere Seite des Flusses und das ohrenbetäubende Dröhnen der Propeller erstickt. Beim Öffnen der Luke klatschen mir Schneeflocken auf die Augenlider. Der Raureif krallt sich harsch in meine Lungenflügel, dass ihnen ein quälend fiepender Ton entweicht. So habe ich mir die Unendlichkeit vorgestellt, leer und unwirtlich … Manch einer wähnte sich hier in der Hölle auf Erden. Ich nicht, ich bin vollkommen ruhig. Vielleicht liegt es an der Färbung des Schnees, die das Kobaltblau des Himmels spiegelt, oder es ist der aufstrebende Morgen am Horizont, der mich an die rosige Haut von Aprikosen erinnert. Über uns kreist einsam eine Polareule. Auf der Jagd nach Lemmingen sinkt das schneeweiß gefiederte Tier tiefer und tiefer. Lautlos nähert es sich der Erde, schlägt in Windeseile seine Beute, schleift sie über den Boden und hebt dann schwer beladen wieder ab. Wunderbar! Die meisten Eulenarten jagen nachts, diese nicht. Sie jagt am Tage, so wie ich. »Dawai!«, brüllt jemand von hinten. Mit voller Wucht rammt er mir seinen Gewehrkolben in den Rücken, doch er trifft mich nicht. Weder Trauer noch Schmerz sind in mir. Alles wurde gelöscht, sogar die Angst. Schmerz und Angst hemmen den Verstand. Aber ich will denken, ich muss denken!
Drei Bewaffnete springen von Bord, dann der Hund, dann ich, dann wieder drei mit Kalaschnikow im Anschlag. Der Sturm treibt uns vor sich her. Wie übriggebliebene Herbstblättchen schaukeln wir über das Eis hinüber ans Festland. Der Hund gebärdet sich wild. »Aus Artijom, aus!«, brüllt der Sergeant. Sein grobschlächtiges Gesicht ist breit und kantig, die Haut, von Nikotin aschgrau gefärbt, knittert wie Pergamentpapier. Unter der platten Nase blinken Goldzähne auf beiden Kauleisten – ein Boxergesicht. Doch der Hund kläfft und kläfft. Ohnmächtig vor Wut zerrt der Unteroffizier an der Leine. Als alles nichts hilft, folgt ein Tritt und das Tier springt jaulend zurück. Es muss wohl an der Einöde liegen, dass der Frost frostiger, das Eis eisiger und die lebenden Kreaturen spröder wirken als anderswo. Die Mienen der Anwesenden gefrieren wie das Wasser des Flusses auf dem sie stehen. So ist die Ankunft im trüben Licht der Hafenanlage nicht allein wegen des Permafrostes schroff und abweisend. »Genosse Oberstleutnant – keine Vorkommnisse während der Überfahrt nach Jamal!«, meldet das Boxergesicht. »Danke, Sergeant!« Ein Wortschwall begleitet ihr vorgeschriebenes Händeschütteln. Ich höre nicht hin. »Wolkow – in die Ausgangsposition! Beine breit, Hände nach oben! Sie kennen sich doch mit dem Rudelkodex aus!« Die Mannschaft grinst. Dass Wolkow, unser Familienname, ausgerechnet auf den Beutegreifer, den Wolf hinweist, ist Zufall – dachte ich immer. Jedenfalls bis zu jenem Tag, da ich in unserer Waldsiedlung entdeckte, dass ich anders bin. Ich, Daniil Stepanowitsch Wolkow, Sohn des Biologen Stephan Stepanowitsch Wolkow, der inmitten der Taiga das Verhalten von Wölfen erforschte. »Hände nach hinten! Na, wird’s bald?« Ihre Griffe sind hart, sie drücken mich auf die Knie nieder. Während jemand meinen Kopf mit dem Stiefel auf die Eisdecke stößt, klicken die Handschellen. Die Stiefelspitze glotzt mich an. Sie hält mich am Boden, sie sagt: Halte die Ordnung aufrecht, befolge die Regeln, respektiere den Kodex! Unter mir höre ich es rauschen. Ich kann ihn riechen, den Fisch. Nicht mehr lange, und die splitterige Eisschicht über dem Fluss bricht auf. Es schmilzt früher als sonst. Viel früher! »Aufstehen! Kopf nach rechts drehen, Mund auf!« Ich belle ihnen meinen stechenden Atem entgegen. Aber sie, sie sehen nichts, sie riechen nichts, sie hören nichts! Sie sind ja so dumm! Sie kennen nur eines: Aufrüsten. Ein Lastkraftwagen schlingert heran. Jetzt sind sie zu elft. Zwei vorn, neun hinten. Allen vorweg der Oberstleutnant in einem nagelneuen Geländewagen mit Allradgetriebe aus Uljanowsk. »Aufsitzen!« Das Boxergesicht prügelt mich auf die Pritsche. Wir scheppern über zugiges Gelände. Auf dem Schnee glänzt eine dünne Eishaut, und der Tatra-Kolos kommt unablässig ins Schleudern. »Idiot!«, schimpft das Boxergesicht, dem durch das ewige Auf und Ab das Feuerzeug abhandengekommen ist. Genervt hangelt er mit den Füßen danach, erreicht es aber nicht. »Durak, elender!«, flucht er. Seine Stimme zischt dabei wie feucht geschlagenes Holz im Kaminfeuer. Missmutig saugt er am Stummel der erloschenen Zigarette, saugt und saugt – ohne Hoffnung auf Erfolg. Sein Nuckeln erinnert mich an das gierige Schlotzen von Jungtieren an prallen Zitzen ihrer Mütter. Ziegen, Schafe, Kälber. Meinen Blick auf sich spürend, stutzt der Sergeant. Plötzlich weiß er nichts mit sich anzufangen und steckt die erloschene Kippe in die Uniformtasche. Gleichwohl umgarnt ihn das teuflische Gefühl von Macht: Auf seiner Seite sitzen sie zu fünft; die Kalaschnikow zwischen den Beinen, jederzeit zum Schlag bereit. Gegenüber, links und rechts von mir je zwei. An der Heckklappe, die Zähne fletschend, knurrt der Hund. All das meint: Kein Entkommen! Meine Augen treffen den Rüden wie ein Blitz. Jaulend duckt sich das Tier und verdeckt seine Schnauze mit den Pfoten; es wagt nicht mehr aufzusehen, nur die Ohren bleiben gespitzt. In Gedanken kraule ich sein stumpfes Fell: Tut mir leid, mein Alter, wirklich, aber Strafe muss sein! Schau nur, wo es uns hingetrieben hat, uns beide! Wir sitzen jetzt im selben Boot. Bis ans Ende unserer Tage – ein ganzes, beschissenes Leben lang. Zum Schutz und Wohl der Staatsmacht. Denn wir, mein Alter, sind Freigeister, du und ich. Wir stellen unsere eigenen Regeln auf. Aber dafür muss man die Angst überwinden. Denn nur wer frei von Angst ist, ist wirklich frei! Diese Lektion habe ich in Viktorino gelernt, von meinem Vater. Stepan Stepanowitsch lehrte sie mich auf seine Weise, da war ich gerade zehn …

Viktorino – Sommer 1974

In den Weiten der südwestlichen Taiga endete der erste Sommerferientag so lau, wie er begonnen hatte. Doch als der Abendwind den süßlich schweren Brombeerduft unter die schlanken Lärchen fächelte, zerknitterte der Horizont und der Himmel hüllte sich in gewitterschwangere Wolken. In aller Eile jagte Vater den jungen Hengst in das frisch umzäunte Gehege. Das ungestüme Pferd scheute, sobald er sich ihm näherte. Ängstlich wieherte der Braungelbe und schlug mit den Hinterhufen aus, bis Vater endlich den Bogen raus hatte, eine Handvoll getrockneter Beeren weit genug auf die Koppel zuwerfen, wohin das Tier nun freudig trabte. Vaters Körper entspannte sich. Erschöpft wischte er sich mit dem Hemdsärmel den Schweiß von der Stirn, bevor er das Gatter schloss. Dann drehte er sich flugs in meine Richtung, fuchtelte aufgeregt mit den Gliedmaßen, als hätte ihn eine Hornisse gestochen. Und obwohl mehr als hundert Meter zwischen uns lagen, drang sein dämonisches Gebrüll herüber, was mir einen eisigen Schauer auf den Rücken legte. »Hu-ah«, schrie Vater und näherte sich dem Blockhaus, vor dem ich hockte, mit Riesenschritten, »diese Nacht, Söhnchen, wird mondlos sein, feucht und dumpf!« Als er den maroden Holzschuppen erreicht hatte, sah ich, wie gespenstisch er die Augäpfel rollte. Noch unheimlicher aber war seine hohle Stimme. »In so einer Nacht, Söhnchen«, drohte er mir mit dem Zeigefinger, während er die Erde von den Stiefeln klopfte und dann polternd die Vortreppe zur Terrasse erklomm, »glaub mir, da kommen sie vom Hügel! Sie kommen, um dich zu holen, hu-ah!«
Sein Monstergeschrei hallte so Furcht erregend zwischen Dielenboden und Altandach, dass ich johlend unter den Kieferntisch floh, den Mama neben einer Menge Küchenkram zum Hausputz nach draußen geschleppt hatte. Prompt steckte sie den Kopf durchs Küchenfenster; das mit Asche bestäubte rote Tuch auf dem aufgelösten Haar war verrutscht, und der Zipfel über ihrem Nacken wippte auf und nieder. »Lass den Quatsch, Stepan Stepanowitsch«, rief sie gut gelaunt, »hilf mir lieber, sonst gibt es heute kein Abendessen, und wir müssen draußen schlafen!« Schwupp, war der Kopf wieder verschwunden. Noch schien sie guter Dinge, aber ihre letzten Worte hatten wie der rostige Bass eines alternden Rittmeisters geklungen. Vater wusste es, genau wie ich es wusste: Sprach Mama ihn in dieser Tonlage mit Vor- und Vatersnamen an, war Dringlichkeit geboten. Und nichts lag ihm ferner, als den Haussegen zu gefährden – nicht schon am allerersten Tag! Beflissen setzte er sich in Bewegung, stoppte jedoch am Tisch, unter dem ich kauerte, und hockte sich zu mir. Der Spott in seinen blitzenden Augen schien zu sagen: Nimm dir die Freiheit, keine Angst zu haben, dann ergreift sie auch keine Macht von dir! Stepan Stepanowitsch hatte gut lachen. Als Biologe stand er mit wilden Tieren auf DU & DU. Ich hingegen war ein Stadtkind, gewöhnt an Metro, Wachmaschine und Kühlschrank. Bei mir floss Milch aus Flaschen oder weißen Plastikschläuchen, und nicht aus Zitzen einer Ziege! Natürlich gab da, wo wir eigentlich zuhause waren, auch Tiere. Katzen und Vögel zumeist, seltener Hunde. Es reicht aber nicht, ihnen nur Fressen zu geben, man muss sie auch ausführen. Doch dafür haben die Leute in Moskau keine Zeit, nicht einmal Großmutter Olja. Hier hingegen, in Viktorino, war alles anders … Aus dem Inneren des Hauses gellte ein Pfiff; Mama war eben dabei, den verrußten Kohleherd aus der Kochnische zu reißen, um ihn einer Generalreinigung zuzuführen. »Stepan Stepanowitsch«, rief sie, »würdest du vielleicht die Güte haben und die Ratten aus meiner Küche entfernen! Gegen wilde Wölfe habe ich nichts einzuwenden, aber diese Viecher, nein, das geht entschieden zu weit, am Ende bekommen sie noch Junge!« Vater lachte auf. »Oui, Madame Wolkowa, wir sind schon unterwegs!« Wieder schaute er mich an und lockte: »Nun komm schon, Daniluschka, Rattenjagd! Wenn deine Mutter der Waldkoller überkommt, sind wir geliefert, und es gibt heute kein anständiges Abendbrot, und dann … vielleicht nie wieder!« Er zwinkerte mir zu; also musste ich mit. Keine halbe Stunde später war es geschafft. Die Wolken hatten sich auf wundersame Weise verzogen, und das spartanische Mobiliar des Vorpächters stapelte sich auf dem ausgeblichenen Dielenboden der Terrasse vor dem Blockhaus der weitgehend menschenleeren Siedlung. Zur Sicherheit wies ein Schild am Fassadenbalken darauf hin, wie dieses Nest am Ende der Welt hieß: VIKTOR_NO. Dem letzten ›I‹ fehlte zwar die schwarze Farbe, aber ich sah die Umrisse des Buchstabes, sodass der Name im Ganzen zu erahnen war: VIKTORINO. Während sich meine Mutter nun zufrieden trällernd ihrer Kochkunst hingab, machte es sich Vater draußen unter dem Vordach auf einem abgewetzten Lehnstuhl bequem, um Bücher zu sortieren. Eigentlich! Tatsächlich vertiefte er sich in ›Schuld und Sühne‹ von Dostojewski.
Es waren immer furchtbar dicke Wälzer, die Vater las. Tschechow, Tolstoi. Auch Verbotenes von Bulgakow oder Verse von Wladimir Majakowski.
Ein Werk von diesem schwermütigen Förstersohn hatte er uns auf der Fahrt hierher vorgelesen. Vorher gab er mir allerdings folgenden Hinweis: »Ein Poem, Daniluschka, kommt ganz ohne metrische Struktur aus!«
Aha!
Eigentlich hätte ich gern gewusst, was überhaupt ein Poem ist. Aber so weit ging die väterliche Aufklärung nicht, und ich wagte nicht zu fragen. Schon den Titel des Werkes ›Wolke in Hosen‹ fand ich eindrucksvoll. In dem Text ging es um einen dunkelhaarigen Hund, der heult, weil seine Pfote von einer Lok platt gefahrenen worden war. Dann kommen nacheinander Sutane, Salome und Iokanaan, die im Haus des Vaters (wessen Vater eigentlich?) Tacheles reden wollen. Sie streiten mit Gott über die Liebe und über das Küssen. Komisch, am Ende landen sie immer irgendwie bei der Liebe, ob nun bei Majakowski oder Lermontow, den Mama so gern las. Ich kannte jedenfalls weder alle Vor-, Vaters- und Familien-namen der Schriftsteller, die meine Eltern lasen, noch erschloss sich mir der Inhalt ihrer Bücher! Kaum hatte ich mich mit Arkadi Gaidars ›Timur und sein Trupp‹ unter den Tisch auf der Terrasse verkrochen, tönte ein mächtiges Geheul vom Hügel herab und zerriss die Ruhe der einsetzenden Dämmerung. »Pst …, der Altwolf!«, flüsterte Vater, legte den Zeigefinger auf den Mund und setzte sich tiefer in den Lehnstuhl. Dann bettete er die Füße salopp auf einen Holzhocker davor und platzierte das aufgeschlagene Buch auf seinem Gesicht; er lauschte dem Geheul des Wolfes, als wäre es Musik. Erschrocken verließ ich meinen Unterschlupf, kauerte mich zu Vater auf die frisch gescheuerten, aber von der Sonne schon wieder erhitzten Dielen, ließ meinen Kopf zwischen die Knie gleiten und umklammerte meine nackten Füße oberhalb der Knöchel. »Wann werden sie kommen?«, fragte ich so leise es ging, wobei meine Stimme wohl ein klitzekleines Bisschen zitterte. »Immer noch Angst?«, murmelte Vater unter seinem Buch. Ich zuckte mit den Schultern, aber mein banger Blick schweifte über seine Schulter hinweg bis hinauf zum Hügel. »Nun sag schon, Papa! Wie viele?« »Kommt darauf an.« »Worauf?« »Ob die Einjährigen noch da sind. Wenn das Futter knapp ist, dann kommt es vor, dass sie früh aus dem Rudel vertrieben werden. Doch dieser Sommer …« »Wie viele, Papuschka?« »Gut, gut! Die beiden Leittiere, also Mutter und Vater, und bis zu sechs Welpen. Die habe ich aber selbst noch nicht gesehen! Dann drei oder vier andere Alttiere und die Einjährigen – schätze ich.« Glaubte er. Ahnte er. Vielleicht! An diesem Abend wusste mein allwissender Vater nicht mehr als sein zehnjähriger Sohn. Irgendwie beruhigte mich das. Die Hände in den Hosentaschen, schlenderte ich hinüber in die Küche, wo es nach Borschtsch und frischem Brot duftete. Mama spürte meinen Blick in ihrem Rücken und wandte mir das verschwitzte Gesicht zu. »Na, Hunger?« Scheinbar lässig in der Tür lungernd, wollte ich das Rätsel lüften, warum sie Angst vor Ratten habe, aber keine vor Wölfen. »Angst?«, meinte Mama überrascht und warf mir einen ofenwarmen Brotlaib zu. »Nein!«, beteuerte sie. »Ich finde sie nur abstoßend, mit ihren nackten Schwänzen, und …«, ihr Mienenspiel verriet den Ekel, den sie empfand, sofern sie auch nur an die Viecher dachte, »… in einer ordentlichen Küche haben die nun wirklich nichts zu suchen! Oder möchtest du morgen gegrillten Rattenschwanz essen?« Wir lachten. In der folgenden Nacht lag ich unruhig auf meinem Bett; vor den fremden Geräuschen schauderte mich. Überall sah ich gelbe Augenpaare. Ringsherum flammten sie auf: da, neben dem Bücherregal! Nein, da – am Bettende! Und dort, hinter dem Fenster! Regelrecht umstellt war ich von listig verschlagenen Augenpaaren. Darunter öffneten sich grimmig fletschende Riesenmäuler mit spitzen weißen Zähnen, die nach meinem Leben trachteten. Ich wälzte mich hin und her, fuhr hoch, als ich irgendwo ein Kratzen zu hören glaubte, starrte in die rabenschwarze Nacht, bis Mama zu mir gekrochen kam, meine Füße wärmte und mich mit ihren starken Armen umschlang. Als endlich der Schlaf über mich kam, erwachte draußen bereits der neue Tag.

*

Um die Mittagsstunde lugte die Sonne gelbgolden durch die Baumkronen, und unter meinem Fenster wurde es stickig heiß. Ich wankte vom Bett zur Küche hinüber.
»Mamulja, ich habe Durst!«
»Na, du Langschläfer?« Liebevoll strich Mama durch mein zerzaustes Haar und drückte mir ein Glas Milch in die Hand. »Hier nimm, frisch von der Ziege gezapft!« Hm, gezapft. Schon wieder so ein Wort, das ich nicht verstand. Ich schwieg: aus kindlicher Scham darüber, dass ich so vieles nicht wusste, aus Panik, weil wir hier mit wilden Tieren leben mussten und irgendwie aus Dankbarkeit, dass ich schweigen durfte – bei ihr.
»Magst du Bliny mit Fisch oder lieber Borschtsch und Smetana?«, fragte Mama und pustete sich den feuchten Pony aus der Stirn.
Ich wollte beides, erst die Suppe mit einem Kleks saurer Sahne und dann die gefüllten Eierkuchen aus Buchweizenmehl. »Bei so einem Wolfshunger musst du heute aber kräftig helfen, Daniluschka«, sagte sie lächelnd, »sonst wirst du noch dick und rund wie Großmutter Olja!« Mama zeichnete mit den Händen eine deutliche Wölbung vor ihren Bauch. »Nie und nimmer wird er so fett wie deine Mutter, Katja!«, meinte Vater, der durch die Küchentür trat. »Der Junge kommt schließlich nach mir, hat Wolfsblut in den Adern, ist flink und behände!«
»Stiefel aus, du Unhold«, rief Mama, jenen Lappen nach ihm werfend, den sie eben noch zum Putzen benutzt hatte. Papa fing das klatschnasse Küchentuch mit einer Hand. »Sohn, sieh genau hin: Das ist Macht!«, sagte er scheinbar verstimmt und wirbelte den Stoff wie ein Lasso in der Luft, bevor er ihn sich als Turban um den Kopf wickelte. »Es ist nicht wichtig, dass ich im Schweiße meines Angesichts den Zaun ausgebessert habe, der dich und deine Mutter vor räuberischen Tieren beschützen wird. Nein! Es ist auch nicht wichtig, dass Pferd, Ziege und Hühner im Gehege sind und ich reichlich Wasser ins Haus geschleppt habe. Nein, das alles ist unwichtig! Wichtig ist, dass ich meine Stiefel vor dem Haus ausziehe, sonst …«
Mama küsste ihn auf das stopplige Kinn und deutete eine Art Hofknicks an. »Oh Gospodi, mein Herr und Gebieter, darf ich Ihnen zum Ausgleich einen Borschtsch servieren?« »Sie dürfen nicht nur, ma chère épouse, Sie müssen! Dawai, bystro, bystro!«, trieb Vater sie zur Eile an und gab ihr einen Klaps auf den Po.
Beim Essen machte er mir einen Vorschlag: »Daniil, draußen, gleich neben dem Unterstand mit der zweiten Feuerstelle, gibt es eine alte Regenwasserzisterne. Im Augenblick ist sie trocken. Was hältst du davon, wenn du sie auf Schäden überprüfst? Du bist klein genug und schaffst es bestimmt hineinzuklettern. Bis der Regen in einigen Wochen einsetzt, könnten wir sie mit ein paar Brettern als Speisekammer umfunktionieren. Deiner Mutter würde das sicher helfen.« »Oh ja, die Hausfrau ist dafür!«, jubelte Mama. Sonst waren sie sich nie einig, was ich durfte und was nicht. Normalerweise stritten sie stundenlang darüber. Diesmal hatten sie sich offenbar im Vorhinein abgestimmt, damit ich was zu tun bekam.
»Klar«, spielte ich mit. »Wo liegen die Bretter?« »Tja, die meisten müssen wir noch schlagen. Schließlich sind wir hier Selbstversorger!«
»Darf man das denn, Papa …, einfach einen Baum fällen?« »Wer sollte uns das verbieten, Daniluschka?« »Na, zuallererst die Sowjetregierung. Mindestens aber der Revierförster. Der Gemeindebürgermeister, der örtliche Parteisekretär oder der Vorsitzende der Kolchose …« »Schon gut, schon gut!«, unterbrach er mich und feixte. »Nein, niemand hindert uns daran, auf diesem Grundstück einen Baum zu fällen. Das Land mit der Waldstation bis hoch zum Hügel hat das Institut für uns gepachtet. Hier dürfen wir alles. Nur Leute dürfen nicht zu Schaden kommen.«
»Und im Wald?«
»Im Wald kann ich das Verhalten der Tiere erforschen, Pilze und Beeren sammeln. Rein theoretisch ist es mir aber nicht gestattet, dort etwas zu verändern. Wie gesagt, theoretisch!« »Und praktisch«, mischte sich Mama ins Gespräch, »stellt das illegale Abholzen eine große Gefahr für unsere Wälder dar.«
»Sicher, meine Sonne! Aber im Falle des Falles gibt es praktisch niemanden, der mich daran hindern wird. Denn außer dem Revierförster lebt hier weit und breit keiner – nur wir. Alle anderen sind weg. Dazu kommt der sumpfige Boden im Frühjahr, der viele Schnee im Winter. Wer, frage ich euch, wer sollte mich daran hindern, einen Baum zu schlagen?« Vater schaute sich um, als erwarte er, irgendwo im Haus einen Spion zu entdecken. Flüsternd fügte er hinzu: »Das sollen sie mal wagen, die sind doch alle selbst korrupt!« »Stepan Stepanowitsch, nun ist es genug, das versteht der Junge noch gar nicht!«
»Zeit wird’s, Katjuscha, Zeit wird’s!« Vater sprang auf und griff nach seiner Pfeife.
Oho, jetzt geriet der Haussegen doch noch ins Wanken; die Gelegenheit, sich auf den Hof zu verdrücken!
Mit Fernglas und Taschenmesser ausgestattet, machte ich mich daran, besagte Zisterne zu erkunden. Was ich jedoch vorfand, war enttäuschend – ein leeres Erdloch, das man mit einem Deckel verschlossen hatte. Zu diesem Zweck waren einige Bretter aneinander genagelt worden, die wiederum ein großes rundes Ganzes ergaben. Ziemlich primitiv!
Ich schob den aufgeweichten Deckel beiseite und schaute mich um, ob sich in der Nähe eine Leiter finden ließ, die ich hineinstellen konnte. Das Glück war mir hold; unweit der Feuerstelle entdeckte ich ein Tau. Es war mit einem Karabinerhaken versehen, der wiederum an einem Haken in der Hauswand steckte. Wahrscheinlich hatte die Konstruktion schon früher dazu gedient, Eimer oder Menschen herabzulassen. Zur Probe zog ich kräftig an dem lockeren Tauende; schließlich wollte ich mein Dasein nicht unversehens in ‘zig Metern Tiefe fristen.
Das Tau schien zu halten. Ich ließ das Seil in den schwarzen Erdschlund gleiten, wo es schwer gegen die Seitenwände aus Ziegelstein schlug und ein dumpf klopfendes Geräusch von sich gab. Dann stieß das Tauende auf den Boden. Jetzt musste ich nur noch fix Gummistiefel anziehen und die Handschuhe in meinem Koffer finden, dazu eine Taschenlampe.
Das hieße: Zurück ins Haus! Als ich auf leisen Sohlen ins Kämmerchen schlich, zankten sie in der Küche, und ich zog möglichst geräuschlos den Koffer unter meinem Bett hervor.
»Das sind doch alles Idioten, Katja …!«, rief Vater, wobei sich seine Stimme überschlug; offensichtlich hatte ihn die Diskussion mit Mama in Rage gebracht. »Mit dieser Einstellung verhindern die Apparatschiks doch lediglich den Fortschritt, sonst nichts. Sie sichern ihre winzig kleine Macht auf Kosten der Bevölkerung! Ich sage nur: Diktatur des Proletariats! Diktatur wie Tyrannei, wie Gewaltherrschaft, wie Absolutismus!«
Irgendwas splitterte auf dem Küchenboden. »Stepan, lass das Geschirr in Ruhe! Was willst du eigentlich? Sie haben uns doch hergelassen! Hier, mein Lieber, kannst du endlich in Ruhe forschen … und ich, ich auch.« »Du – hier forschen? Ha, du willst wohl die Wolfskinder erziehen, ja? Ich sag dir was: Abgesetzt haben sie uns in diesem Urwald! Ohne Forschungsmittel, ohne geeignete Technik, ohne Kontakt zum Institut. Sollen wir vielleicht nach Moskau trommeln? Weißt du, Katja, wie ich das nenne? Verbannung nenne ich das, jawohl, kalte Verbannung!« »Schrei doch bitte nicht so, Stepan, der Junge muss ja nicht gleich alles mitbekommen, er ist verängstigt genug!« »Ja, ja … – auch so ein gutes Beispiel!« Vater wurde immer wütender. »Wo bitte, frag ich dich«, brüllte er, »wo soll Daniil jetzt zur Schule gehen?« »Ich werde ihn unterrichten.«
»Aha, und wie nennst du das?«
»Selbstversuch; wie in der pädagogischen Forschung der Sowjetunion vorgesehen: Experiment und Beobachtung!« »Na klar, ich seh’s schon vor mir: Unterricht eines Zehnjährigen auf dem Bärenfell – eine pädagogische Abhandlung von Katharina Wolkowa. Pah, ausgerechnet von dir werden sie eine Studie akzeptieren! Nein, sieh es endlich ein, du passt nicht in ihr Denkschema! Duu warst nur der hässlich kleine Appendix des letzten wahren Professors der pädagogischen Wissenschaften, an den sie sich nicht rantrauten in Moskau. Und nach dessen frühen Tod – übrigens habe ich Grund zur Annahme, dass das kein Zufall war – haben sie dich eins, zwei, fix fallen lassen. Wie eine heiße Kartoffel! Wissenschaftlich gesehen bist du tot.«
Tot …, was Vater damit wohl meinte?
Mama schien mir ziemlich lebendig. Sicher hatte es damit zu tun, dass sie nicht als Wissenschaftlerin arbeiten durfte. Weshalb, verstand ich nicht. Es störte mich auch nicht, so hatte sie viel Zeit mit mir und Großmutter Olja im Moskauer Zoo verbracht, war mit uns sogar in den Vergnügungspark gegangen, und abends hatte sie stundenlang vorgelesen. Die Stimmung in der Küche änderte sich von einem Moment auf den anderen.
»Ha, ha … ups«, kicherte Vater plötzlich. »Eher wird sich … ha, ha, Nadeschda Krupskaja im Grab umdrehen! Wobei, die Pädagogik als sowjetische Wissenschaft, hi, hi, hi … muss ja vor allem in die Zukunft gerichtet sein. Und da …, lass das doch, Katja! Da Systemkritiker, wie wir, zukünftig ihre Kinder mit in die Verbannung nehmen werden, wäre dein Werk zum Privatunterricht vielleicht genau das Richtige. Aber nein, was rede ich da: privat! Das ist ja Anarchie! Nein, Selbsterziehung muss es heißen. Denn Achtung, Frau nimm die Hände weg! Ich zitiere jetzt nämlich deinen geliebten Herbart: Man erhalte dem Zöglinge die Kräfte, die er hat. Einen Menschen schaffen oder umschaffen kann der Erzieher nicht; aber manche Gefahren abwenden und sich eigner Misshandlung enthalten, das kann er, und das ist von ihm zu verlangen.« Plötzlich war Ruhe in der Küche. Nur das wohlige Stöhnen meines Vaters war zu vernehmen. Dann forderte er: »Nicht aufhören, weitermach…«, und eine ganze Reihe schmatzender Geräusche folgte.
Verflixt, es wurde Zeit, dass ich die Handschuhe fand! »He – Stepan, weißt du eigentlich, dass die Krupskaja immer unter der Fuchtel ihrer Mutter stand? Elisawjeta Wassiljewna war überall dabei, selbst in der Verbannung mit Lenin in Schuschenskoje! Kannst du dir das vorstellen? Zu dritt! Wann hatten die jemals ungestört Sex?« »Das fehlt mir noch, dass deine Mutter hier auftaucht!«, unterbrach Vater sie und legte seine Schmusebärstimme auf. »Nee du, die dicke Olja lass mal lieber in Moskau, sonst gibt es nie eine kleine Katjuscha, und das wäre doch sehr schade!«
Sie prusteten los.
Ich verstand kein Wort, trotzdem war alles klar. Man hatte uns nach Viktorino gelassen, damit Vater seine kritischen Schriften über den unzulänglichen Naturschutz in der Sowjetunion weder hier noch anderswo veröffentlichen würde. Stattdessen bot man ihm an, den Feldversuch mit Wölfen in der Taiga durchzuführen – ein lang gehegter Traum! Einzige Bedingung: Er sollte Mama mit ihren verdrehten pädagogischen Ansichten gleich mitnehmen. Vornehmlich, damit er in den folgenden zehn Jahren Gesellschaft hatte. Oder zum Schutz gegen die wilden Tiere. Oder vor wer weiß wem. Jahre später erfuhr ich, wir waren politische Gefangene wie er. Ein Garant, dass Vater keine Verbindung mehr zur Zivilisation aufnehmen konnte und ihn seine Leute auf diese Weise nach und nach vergessen würden. Einziges Ziel des KGB war es, die Starken zu schwächen, bis man sie vernichten oder zu willfährigen Vasallen machen und sie schließlich eingliedern konnte. Es sei denn, die Starken waren vorher eingeknickt und hatten sich auf die eine oder andere Art selbst zerstört. Gelegenheiten dazu gab es ja viele. Endlich, da waren ja die Lederhandschuhe! Vorsichtig raffte ich meine Sachen zusammen und stahl mich aus der Hütte, denn in der Küche war es verdächtig still geworden. Gut, dass draußen auf mich eine Aufgabe wartete! Die Sonne schien gleißend, aber aus dem Erdloch kroch Sumpfkälte. An diesem düsteren Loch verspürte ich auf einmal eine merkwürdige Verlassenheit. Wie vor einem tosenden Meer am Rande einer Klippe. Ehe mich jedoch ein leichtfertiger Schritt zum Absturz führen konnte, griffen meine Hände nach dem Tau. Ein letzter Blick nach unten, dann ging’s Stück für Stück abwärts. Ganz so, wie ich es im Moskauer Kino mit Großmutter Olja gesehen hatte: Hand, Hand, Fuß, Fuß. Den Rücken fest an die Wand gepresst, drückte ich die Stiefelsohlen an die gegenüberliegende Seite und glitt die fünf, sechs Meter vorsichtig hinab. Auf der Hälfte der Distanz verlor sich allmählich das Licht, und trotz des Leders über meinen Händen, brannten die Innenflächen wie Feuer. Die Muskeln in den Oberarmen spielten verrückt, aber ich hielt durch. Der Zisternenboden war muffig und klamm; zum Hinsetzen völlig ungeeignet.
Ich lehnte mich an die Steinmauer und schnaufte. So mussten sich Kolja und Geika in der Gefangenschaft von Kwakins Bande auch gefühlt haben, dachte ich, bis Timur und sein Trupp sie befreiten. In diesem Moment schwor ich, nie mehr Angst zu zeigen. »Nie mehr«, flüsterte ich. »Nie, nie wieder!«
Das Geräusch war wohl bis nach oben gedrungen, denn plötzlich rief Vater: »Daniil, bist du etwa da unten?« »Natürlich, ich muss doch meine Aufgabe erfüllen!« »Oh, Gospodi!«, rief Vater stolz und stierte herab; sein Kopf war nur schemenhaft zu erkennen. »Und, schon wilde Tiere gesichtet?«
»Nein, nur einen verrosteten Dosenöffner und jede Menge Nägel, sonst nichts.«
»Gut, dann komm wieder hoch!« Der Schattenkopf verschwand. »Paapa, Pap…!« Der Kopf tauchte wieder auf. »Ja?« »Gibt es irgendwo eine Leiter? Ähm, mit dem Tau wird’s hinauf ziemlich schwierig.« »Warte, ich glaub, ei… Strickleiter, ich hole sie!« Tatsächlich schleppte er wenig später zwei Seile heran. Links und rechts waren alle halbe Meter Knoten gebunden, die jeweils eine ziemlich marode Holzsprosse aus Buche hielten. Achtsam ließ Vater das Gebilde zu mir hinab. Welche Wohltat, einfach Stufe für Stufe hinauf zu klettern!
»Gratuliere, Söhnchen!«, jubelte Vater, als er mich über den Sims zog. »Und, ab heute keine Angst mehr, ja?!« »Angst, was ist das? Kenn ich nicht!« Ich plusterte mich auf wie unser Hahn Juri, wenn er auf dem Misthaufen kräht, und zeigte meine zuckenden Armmuskeln.
Papa nickte. »Dagegen hilft nur Training. Also, wir holen jetzt Holz zum Abdecken des Zisternenbodens! Liegt ja noch genug rum. Dann kannst du damit schon mal unten die Vorräte aufschichten! Übrigens, Daniluschka: Hiermit ernenne ich dich zum staatlich anerkannten Aufschichter!« Wir lachten. Vaters Bauch schwabbelte dabei ein wenig über dem Hosenbund, während ich meinen absichtlich aufblasen musste, damit er überhaupt zu sehen war. Wir lachten und wieherten, schlugen uns auf die Schenkel, bis wir erschöpft auf die Wiese fielen. Den ganzen restlichen Nachmittag arbeiteten wir Hand in Hand, sprachen wenig, und jeder dachte sich seinen Teil: Ich dachte darüber nach, wie ich es fertigbrachte, keine Angst mehr zu zeigen. Sie zu haben, an einem Ort, wo die Nacht gelbe Augen hat, war gewiss nicht sträflich. Mein Vater dagegen sann wohl darüber nach, wie er aus mir schnellstens einen Mann machte, damit ich in der Wildnis überleben konnte. Wir dachten nach, und nebenbei stapelten wir die herumliegenden Bretter auf; der eine Stoß würde gutes Brennholz abgeben, der andere sollte als Baumaterial für Mamas Speisekammer dienen.
Bis weit nach Einbruch der Dunkelheit schufteten wir ohne Unterlass. Doch irgendwann kam die Erschöpfung, und wir wankten in Mamas Refugium, die Küche, um endlich ein üppiges Mahl zu uns zu nehmen.
Vater schlug auf die Tischplatte. Er rief: »Frau, wir haben hart gearbeitet, bring Fleisch und Bier!« Dabei blinzelte er mir zu, und ich fühlte mich wie ein richtiger Mann. »Ich werd‘ euch – Bier, sauren Kwass könnt ihr haben!« Mama lachte und bewirtete uns mit allem, was die Vorräte hergaben.
Obwohl ich mir sicher war, dass in dieser Nacht bernsteingelbe Augenpaare um mein Bett herumgeisterten, schlief ich ruhig, träumte von ausströmender Milch, die aus einem Messinghahn floss, der unter Mascha, unserer Ziege, angebracht war. Und Juri, der Hahn, hüpfte Sprosse für Sprosse über eine Strickleiter auf Maschas Rücken!

Ankunft im Straflager Nr. 18 – Polareule

Der Lastkraftwagen bremst ohne Vorwarnung. Wir stürzen von den Bänken. Der Hund jault auf; wahrscheinlich ist ihm jemand auf den Schwanz getreten. »K tschortu!«, wünscht das Boxergesicht jemanden wütend zum Teufel. Sie sind konfus, sie sind gereizt. Mit dem Gewehr im Rücken hetzen sie mich runter in den Schnee. »Na los, mach schon – in die Ausgangsposition!« Auf vereisten Wegen treiben sie mich: »Marsch, Marsch!«, an fünf Sperrzäunen vorbei bis in die Strafanstalt. Aber irgendetwas irritiert sie. »Sergeant Koslow …!« »Zu Befehl, Genosse Oberstleutnant!« »Nachschauen, was mit den Hunden ist!« »Jawohl – nachschauen, was mit den Hunden ist!« Das Boxergesicht greift nach der Hundeleine, zerrt den aufsässigen Rüden hinter sich her und begibt sich hinüber zu den Käfigen.
Ich bin mir sicher: Die Hunde liegen im Schnee, sie heben nicht einmal ihre Köpfe. Das Boxergesicht kommt ohne Hund zurück. »Genosse Oberstleutnant – die Hunde … Sie liegen im Schnee.« »Wie, im Schnee?« »Sie liegen nur so da.« »Sind sie tot?« »Nein, Genosse Oberstleutnant – sie liegen nur.« Der Oberstleutnant fixiert mich mit grimmigen Augen. Grundgütiger, er hat eine Vorahnung! Aber er kann es sich nicht erklären. Noch nicht. Und er ist viel zu schlau, um darüber zu reden. Nicht hier! »Darum kümmern wir uns später!«, bestimmt der Oberstleutnant. »Sergeant Koslow …!«
»Zu Befehl, Genosse Oberstleutnant!« »Führen Sie den Gefangenen Wolkow in die Zelle!« »Jawohl – den Gefangenen Wolkow in die Zelle führen!« Es geht los!
Vorbei an ‘zig Wachtürmen schinden sie meinen Körper im Laufschritt durch den Sicherheitskorridor: Vom Gatter aus nach links, den schneebedeckten Trampelpfad entlang, dann die Treppenstufen hoch … Mintgrüne Fassaden? Hm, auch eine Form der psychologischen Kriegsführung. Es geht weiter!
Im Laufschritt hinein in das zweistöckige Gebäude. Links, rechts, links. Ein Labyrinth aus Gängen, und am Ende Türen, nichts als Türen! Türgitter, gepanzerte Türen, Türen aus Eisen oder Stahl, Türen mit Vorhängeschlössern, Türen mit Riegeln, blaulackierte Tü… Sie führen mich im Kreis. Drei-, nein viermal kommen wir am selben Wachmann vorbei. Sie wissen, dass ich es weiß. Sie haben Angst. Darum! Jetzt wird sie übermächtig, ihre Angst. Sie verbinden mir die Augen. Ein schwarzer Gang; und nichts ist, wie es aussieht! Menschliche Gerüche werden von Rattenpisse überdeckt: die schweißige Beklommenheit der Wachleute, das Dahinsiechen der Insassen, selbst der frische Kreideschlamm an den Wänden …
(Ende der Leseprobe 1. Kapitel)

Γ– HOFGANG (3. KAPITEL)

… an irgendeinem Tag
Jetzt habe ich nicht aufgepasst! Das Boxergesicht brabbelt etwas von: »Aufruhr im Außenkäfig«, in sein Funkgerät; ein deutsches Fabrikat. Wasserdicht, drei vorprogrammierbare Kanäle … Im Moskauer Gefängnis hatten sie dasselbe. Seit der deutsch deutschen Wiedervereinigung ist ja alles möglich: Feinde werden zu Freunden, Waffengegner zu Waffenbrüdern und umgekehrt. Während die arme DDR früher nichts zu bieten hatte, brennt das fette Deutschland nun darauf, seinen Einfluss im Osten zu erweitern. Schließlich wollen Ölfelder und Erzvorkommen erschlossen werden. Joint Venture heißt das Zauberwort in allen Branchen. Warum also nicht auch mit deutscher Technik in russischen Gefängnissen? Unsere Blicke treffen sich durch das Gitter im ausgekotzten Blaugrau des Himmels. Das Boxergesicht fixiert mich und grient. Die Eisenstäbe in der Hand, starre ich hoch. Jetzt haben sie einen Grund. Nicht, dass sie Gründe bräuchten, das nicht! Aber muss man sie ihnen liefern? Stiefel trampeln, Schlüssel klappern – sie kommen! »Gefangener Wolkow – in die Ausgangsposition!« Ich kralle mich an den Eisenstäben fest und summe: »Der Morgen dämmert leise, schickt mir die Vögel übers Meer – anderswo erwartet niemand meine Wiederkehr …« Ein Schlagstock drischt auf das Gitter; die Knochen bersten, sie gleiten von den Stäben. Mein Gott, war das einfach! »Wohl von Mut geträumt – Wolkow, oder haste ’nen Zellenkoller?« Ha, sie bieten mir eine Ausrede! »Hände vor, dawai! Nun los Mann …, keine Faxen, Wolkow! Ziehst sowieso den Kürzeren!« Sie bringen mich in den Zellenblock. Einer links, ein Zweiter rechts von mir. Die drahtigen Soldatenhände fest unter meine Achseln geklemmt, schleifen sie mich zum Verhör. Der Oberstleutnant sitzt am Schreibtisch; ein schönes Stück mit Intarsien aus Perlmutt in der Randverzierung aus Trauben und Blättern. Die Soldaten sperren mich in die zweimal ein Meter große Gitterzelle an der Wand. Die Tür kracht, das Vorhängeschloss schnappt zu. »Genosse Oberstleutnant, der Gefangene Wolkow ist zum Verhör bereit.« »Danke, abtreten!« Die Soldaten verschwinden. Der Oberstleutnant schweigt eine Weile und poliert mit einer Feile seine Fingernägel. Sein Gesicht wirkt vollkommen entspannt. »Wolkow«, sagt er irgendwann und blickt auf. »Sie werden beschuldigt, einen Ausbruchsversuch unternommen zu haben. Was sagen Sie dazu?« Scheinbar bedauernd wiegt er leicht den Kopf hin und her. »Das war kein Ausbruchsversuch!« »Sondern?« »Eine Schutzhandlung.« »Interessant, eine Schutzhandlung also.« »Ja, laut Gefängnisverordnung bin ich verpflichtet, mich gesund zu erhalten.«
»Laut Gefängnisverordnung sind Sie auch verpflichtet, den Anweisungen des Diensthabenden Folge zu leisten!« »Steht das da?« »Das steht da. Haben Sie diese Passage nicht gelesen?« »So weit bin ich nicht gekommen.« »Hm, das steht auf Seite eins, Wolkow. Wohlgemerkt, auf der ersten von zwei Seiten!« »Seite eins?« Vor Staunen reiße ich die Augen weit auf. »Also, ich beginne mit dem Lesen immer von hinten.« »Ach, sind Sie Araber? Nein? Dann Jude oder was? Ansonsten haben Sie eine verdammt gefährliche Zunge, Wolkwow! Passen Sie auf, dass Sie die nicht verlieren! Was ist denn mit Ihren Händen passiert?« »Eine Verletzung.« »Aha, dann haben Sie also gleich gegen zwei Direktiven der Haftanstalt Polareule verstoßen: gegen die, zur Gesunderhaltung des eigenen Körpers und gegen die, zum Gehorsam!« Der Oberstleutnant kratzt sich nachdenklich das Kinn; irgendetwas beschäftigt ihn. »Haben Sie schon mal versucht, einem Wasserfall zu entkommen?«, frage ich mit kehliger Stimme und versuche, meine Hände auf den Oberschenkeln abzulegen. Der Schmerz ist ungeheuerlich. »Wie?« »Nun, wenn beispielsweise die Kaskaden vom Talkowny-Wasserfall im Putorana-Gebirge aus 482 Metern Höhe auf Sie niederprasseln, ist Ihre Angst zu ertrinken dann real?« »Hm, wahrscheinlich.« »Intuitiv suchen Sie Halt, nicht wahr?« »Kann schon sein, aber was hat das mit Ihrer Verletzung zu tun?«, zankt er. »Nun, aus irgendeinem Grund trifft mich beim Hofgang regelmäßig ein gelblicher Wasserfall, wenn Sie verstehen, was ich meine. Da ich nicht ausweichen kann, ist die Angst vor dem Ertrinken also real, und ich suche Schutz.« »So, so, ein Wasserfall. Nun gut, Wolkow. Unterhalten wir uns über was anderes. Wie geht das?« »Was?« »Das mit den Hunden. Nehmen wir den stinknormalen Haushund, nicht solche speziell abgerichteten, wie wir sie hier haben. – Also, der Haushund wird doch so abgerichtet, dass er Haus, Hof und Besitz verteidigen soll. Dazu gehört, dass er durch lautes Bellen vermeintliche Eindringlinge anzeigt, den Eigentümer also warnt. Klar?« »Klar!« »Nun weiß man, dass sich Diebe häufig Zugang verschaffen, indem sie durch Zuführen von Leckereien das Vertrauen des Hundes erlangen. Die Frage, die ich mir stelle, ist nun, wie es dem Dieb ohne Leckereien gelingen kann, das Zutrauen des Hundes zu gewinnen, sodass dieser nicht anschlägt, wenn der Dieb das Grundstück betritt.« »Das ist keine Frage des Vertrauens, Genosse Oberstleutnant – hier geht es um Respekt.« »Verstehe, aber vor seinem Herrn hat der Hund doch auch Respekt, nicht wahr. Warum gehorcht er dann dem Dieb, und nicht ihm?« »Viele Besitzer, Genosse Oberstleutnant, verwechseln Respekt mit Angst. Sie richten ihre Tiere nicht mit Würde ab, sondern nutzen deren Furcht vor Gängelung, um sie an sich zu binden.«
»Und was wirkt nachhaltiger?«
»Ist das eine Frage?«
»Natürlich ist das eine Frage!«, ruft der Oberstleutnant und wirft mir einen giftigen Blick zu. »Nun, wenn man Respekt vor jemandem hat, ordnet man sich freiwillig unter, andernfalls …« »Andernfalls?« Ich schweige. Der Herr des Straflagers kennt die Antwort so gut wie ich. Warum soll ich ihm sagen, was er schon weiß? Es ist eine Machtfrage. Und der Mächtige entscheidet sie so oder so für sich. Der Oberstleutnant nagt auf dem Radiergummi seines Bleistifts, lässt seinen Blick stumm über mich gleiten, kritzelt dann etwas auf einen Block und ruft nach Sergeant Koslow. Der tritt ein und stutzt: Ich sitze in derselben Position wie vorhin. Unbehelligt! Ganz ruhig hocke ich auf dem Holzschemel in der blaulackierten Gitterzelle. Das ist neu für ihn. Der Oberstleutnant lehnt sich im Sessel zurück, grinst anzüglich und deutet mit dem Kopf in meine Richtung. »Bringen Sie den Gefangenen Wolkow in die Krankenstation, Sergeant!« »Zu Befehl – den Gefangenen Wolkow in die Krankenstation bringen!« Das Boxergesicht nestelt an dem Vorhängeschloss der Gittertür, das mit einem Zahlencode zu öffnen ist. »Ach, Wolkow!«, nimmt der Oberstleutnant das Gespräch wieder auf. »Wie ist das mit den Wölfen, lassen die sich zähmen?« »Natürlich, aber die Frage ist: Wozu? Der oberste Vorsatz eines erwachsenen Wolfes ist doch, Ärger zu vermeiden.«
»Man braucht also kein Wasser, um ihn zu bändigen?«
»Wasser? Nein, Wasser braucht man nicht.«
»Gehört, Sergeant Koslow?« Das Boxergesicht lässt das Schloss aufschnappen und klappt dann die Hacken aneinander. »Zu Befehl – Genosse Oberstleutnant, Wasser braucht man nicht!« »Allerdings«, schränke ich ein. Der Oberstleutnant zieht die Augenbrauen hoch. »Ja?« »Erweist sich der Mensch oft als des Menschen Wolf.« »Und?« »Im Innenbereich wäre Wasser zur Gesunderhaltung durchaus hilfreich, Genosse Oberstleutnant. Zumal …« Ich strecke meine gebrochenen Hände durch das Gitter. »Was meinen Sie, Wolkow?« »Die Wasserspülung, Genosse Oberstleutnant, sie geht nicht. Man muss das Wasser nach der Verrichtung gewisser Dinge mit dem Eimer ins Klosett schütten.« »Sergeant Koslow, wussten wir davon?« »Nein, Genosse Oberstleutnant.« »Sehen Sie Wolkow«, deutet der Oberstleutnant süffisant auf das Boxergesicht, »was wir nicht wissen, können wir auch nicht ändern, nicht wahr!?« An das Boxergesicht gewandt, fordert er zackig: »Abführen, Sergeant!« »Zu Befehl – abführen!« Das Boxergesicht zerrt mich durch die schmale Gittertür hinaus auf den Flur. »An die Wand!«, knurrt er. Die Handschellen auf meinem Rücken klickten. Jetzt nur nicht ohnmächtig werden, bloß nicht fallen! Die Soldaten grabschen nach meinen Armen. Sie pressen ihre Hände fester als sonst in mein Fleisch. Sie fühlen sich verraten. Darum! Zur Krankenstation geht es über den Hof. Sie zerren mich über nicht geräumte Wege. Das tun sie extra! Sie schubsen, keifen, treten. »Das wirst du büßen – Wolkow«, zischt das Boxergesicht, als wir den Gang zur Krankenstation betreten. Er greift nach meinen Händen und drückt zu. Mir wird schwarz vor Augen. »Verzeihung!«, sagt er später, als ich wieder zur Besinnung komme und mich erbreche. Zufrieden hebt der Sergeant die Augenbrauen. »Alles klar, Wolkow?« Er steht breitbeinig vor mir und grient. Ich nicke schwerfällig. – Klar, ist alles klar, Schattenmann! Sie schieben mich durch eine Tür. Eine robuste Schwester behandelt mich. Alles an ihr ist dick und abstoßend. Aber sie hat diese Augen, dunkle Augen mit dem Bernsteinkranz! – Anastasias Augen!

Viktorino – ein Sommer im nächsten Jahrtausend

Angetrieben von ihren märchenhaften Vorstellungen über die abenteuerliche Taiga, kamen zur Jahrtausendwende all die Raissas, Ludmillas und Julias nach Viktorino. Etliche Artikel in der Presse führten sie her. Berichte, die es nur gab, weil ich unbedingt Geld zum Unterhalt der Forschungsstation brauchte …
(Ende der Leseprobe 3. Kapitel)