Leseprobe: Kerstin Meixner – “Am Fuß des Berges”

ZWEITES KAPITEL

Ein letzter Herbstabend zu zweit auf dem Balkon, kurz bevor die erste Bombe fällt

Draußen wird es jetzt wieder früher dunkel. Sie sitzt auf dem Balkon und raucht. Hinter den Häusern auf der gegenüberliegenden Straßenseite ist die Sonne schon fast verschwunden. Den Geschmack von selbstgebackenem Butterkuchen hat sie noch immer im Mund, daran ändern auch die Zigaretten nichts. Sie zählt die Fenster, in denen das Licht angeht. Irgendwann kommt Ilija von der Arbeit heim, setzt sich neben sie und raucht ebenfalls. Seit etwa einem Jahr zieht er die Krawatte nicht mehr aus, sobald er nach Büroschluss in der U-Bahn sitzt. Er lockert sie nur so weit, dass er sein Hemd darunter aufknöpfen kann und man seine Brusthaare sieht. Bis in seine späten Zwanziger hat er an der Überzeugung festgehalten, man könne ein Roter Stern Belgrad-Trikot in allen Lebenslagen tragen, aber diese Zeiten sind nun vorbei. Sie wirft einen heimlichen Seitenblick auf die dichten, dunklen Haare auf der vom Sommer gebräunten Haut, die sich an der hellen Knopfleiste vorbeidrängen. Seine Brust gefällt ihr immer noch, aber ohne Krawatte fände sie sie schöner. Ilija bemerkt ihren Blick und lächelt. Marko und Faizah werden bald zu Hause sein. Dann werden sie alle zusammen essen. Marko wird ihnen halbwahre Geschichten über seine Stunden im Wettbüro erzählen, Faizah wird sie fragen, wie es bei ihrer Familie gewesen ist und Ilija wird mit nichts über seinen Tag herausrücken. Was in seinem Leben passiert, während er Krawatte trägt, gehört zu den Geheimnissen, die er für sich behält. Er erzählt über Begegnungen, die er in der U-Bahn hat, über die alte Frau mit dem Vogelkäfig auf dem Rollator, die versucht Stadttauben zu fangen, und darüber, dass er irgendwann einmal die Gaststätte Zum goldenen Eck kaufen wird, die auf seinem Arbeitsweg liegt, und dass er dann den ganzen Tag davor sitzen und den armen Gestalten nachblicken wird, die sich zu ihren Jobs schleppen, weil er selbst längst ausgesorgt haben und die Gaststätte nur zum Spaß besitzen wird, um schlechte Coverbands auftreten zu lassen. Alle, die ihn kennen, finden Ilija unterhaltsam und das stimmt, aber dass sie ihn kennen ist nur eine Illusion. Manchmal kommt sie darüber ins Grübeln, ob er schon immer so gewesen ist oder er einmal andere Anlagen gehabt hat, aber im Grunde ist auch das nutzlos.

»Woran denkst du?«, fragt Ilija plötzlich und bläst seinen Zigarettenrauch über ihren Kopf hinweg. »Ich denke darüber nach, ob es einen Menschen gibt, mit dem ich tanzen gehen würde, obwohl ich wüsste, dass vielleicht gleich Bomben fallen werden und ich zu Hause dann sicherer wäre.«

»Ihr Deutschen.«

Er schüttelt den Kopf. »Bist du deswegen mit uns befreundet? Weil wir etwas über Bomben wissen?« Sie nimmt eine neue Zigarette aus der Packung. »Nein. Ich bin mit euch befreundet, weil wir alle schon miteinander gefickt haben.«
Sie wählt den Ausdruck bewusst, denn sie weiß, dass Ilija der einzige von ihnen ist, dem sowohl die Tatsache als auch das Wort etwas ausmachen. »Bitte«, sagt er schulterzuckend und blickt in den Himmel, wo man jetzt die ersten Sterne sehen kann, »es ist trotzdem eine komische Frage, die du dir da stellst.« »Wäre es denn weniger seltsam, wenn sie mir jemand anderes stellen würde?« »Nein», antwortet Ilija ernst. »Es bleibt einfach eine merkwürdige Sache, die du da wissen möchtest.«

Schweigend sitzt er einige Minuten neben ihr, den Kopf in den Nacken gelegt, die Augen geschlossen, die Hände zwischen seinen Oberschenkeln ruhend. Sie nimmt ihm die Zigarette aus den Fingern, bevor er sich an dem herabgebrannten Stummel verbrennen kann. »Ich bin nämlich heute bei meiner Großmutter gewesen«, sagt sie. »Mein aufrichtiges Beileid«, kommentiert Ilija teilnahmslos, ohne die Augen zu öffnen. »Und die hat dich auf so komische Gedanken gebracht?« Sie nimmt einen letzten Zug von seiner Kippe, dann drückt sie den Rest im langsam überquellenden Aschenbecher aus. »Sie hat mir erzählt, dass sie meinen Großvater am Anfang gar nicht hat leiden können, als er ihr Patient im Lazarett war.« Überrascht öffnet Ilija nun doch die Augen. »Aber ich dachte, das sei die eine echte Liebesgeschichte, die deine Familie hat?« Sie lacht und blickt auf das Brusthaar, das tatsächlich die Luft anzuhalten scheint.

»Ist es ja auch, keine Sorge. Sie hat nur nicht gewusst, dass sie sofort in ihn verliebt war.«

»Interessant.«

»Er wollte immerzu tanzen gehen, auch wenn man mit Bomben rechnen musste, und sie ist mitgegangen und hat sich gleichzeitig darüber aufgeregt.«

»Natürlich.«

»Aber sie ist eben trotzdem immer mit ihm mitgegangen und da habe ich mich gefragt, ob es wohl einen Menschen gäbe, dem ich so folgen würde.«

»Reike, ich würde mit dir tanzen gehen, selbst wenn die Flieger schon unterwegs zu uns wären.«

»Du hängst aber auch nicht besonders am Leben.«

Ilija lacht auf. »Da hast du vollkommen recht«, bestätigt er ihre Aussage und verschränkt die Arme grinsend vor der Brust, »deswegen kenne ich solche Dilemmata nicht.«

In reinen Fakten ausgedrückt ist Ilija ein in Belgrad geborener, aber in Deutschland aufgewachsener, mathematisch hochbegabter Mann Mitte Dreißig, der als Risikobewerter für einen großen Versicherungskonzern arbeitet. Schon nach dem Abitur hatten sich verschiedene Universitäten für ihn interessiert, aber Ilija war zunächst für zwei Jahre zurück nach Serbien gegangen, hatte seine Familiengeschichte erforscht und war dann mit einem Begabtenstipendium wieder zurück nach Berlin gekommen, auch, weil er es dann doch erleben wollte, dass Deutschland sich einmal bei ihm anbiederte. In den ersten Fünfundzwanzig Jahren seines Lebens ist er zweimal beinahe gestorben und einmal beinahe Vater geworden, außerdem ist er ein passabler Sänger und ein hervorragender Fußballtorwart. Er fasst sich gerne in Listen zusammen und verschweigt den Menschen die Zusammenhänge, in denen die darin enthaltenen Informationen über ihn zueinander stehen. Die Restunsicherheit, die andere seine Person betreffend verspüren, amüsiert ihn.

»Meine Großmutter will jetzt ihr Erbe regeln«, sagt sie, als Ilija schon fast aufgestanden ist, um sich etwas zu essen zu machen. Überrascht setzt er sich wieder hin. »Und da fragt sie ausgerechnet dich?« Sie zuckt mit den Schultern.

»Ich habe mich nicht erkundigt, ob ich ihre erste Wahl war.«

»Und gibt es denn wenigstens etwas zu erben?«

»Ihr Haus auf dem Land. Aber nur wenn ich dort auch leben wollen würde. Also bekomme ich kein Haus.«

»Ich würde mit dir aufs Land ziehen.«

»Soweit kommt es am Ende noch.«

Ilija schaut sie beleidigt an. »Ich habe dir heute gesagt, dass ich mit dir tanzen gehen würde, selbst wenn bald Bomben fallen würden und du willst nach all unseren Jahren zusammen nicht einmal mit mir auf dem Land wohnen. Das ist erschütternd.« Sie lehnt sich nach vorne und küsst ihn auf den Mund. »Ich würde nur nicht wollen, dass die Stadt ohne schlechte Coverband-Abende im goldenen Eck auskommen muss.« Ilja lächelt und zieht sie in seine Arme. »Also, bleiben wir hier.«

FÜNFTES KAPITEL

Drei Kinder, von denen eines noch neu ist und zwei nur im Rückblick existieren

Im Gegensatz zu Faizah weiß Reike in beiden Fällen, von wem das Kind gewesen wäre. Sie hat sich beigebracht, wenig über die Vergangenheit nachzudenken, aber die fortschreitende Schwangerschaft ihrer Freundin macht es schwieriger für sie. Sie ertappt sich jetzt häufiger dabei zurückzublicken.

Sie war gerade erst Sechzehn geworden, verbrachte den Sommer zwischen Mittlerer Reife und Oberstufe wahlweise am See, auf den Bänken vor dem Bahnhof oder auf der Terrasse hinter ihrem Haus und hatte mit noch niemand anderem als Ilija geschlafen, als sie feststellte, dass ihre Regel ausblieb. Ihre beste Freundin Hannah, die der einzige Mensch war, mit dem sie darüber sprach, war der Ansicht, das Ganze werde sich mit Sicherheit in ein paar Tagen schon als falscher Alarm herausstellen, aber Reike hatte kein Interesse an dieser Form des Selbstbetrugs gehabt. Sie klaute in einem Drogeriemarkt einen Schwangerschaftstest und pinkelte im nächstgelegenen McDonald’s auf das kleine Stäbchen, bis sowohl ihre Hand als auch die weiße Plastikhülle vor Pisse glänzten. Als nach drei Minuten zwei blaue Streifen im Sichtfeld erschienen, ging sie zurück in den Drogeriemarkt, klaute eine neue Packung, die weiter oben im Regal lag, und fragte die Kassiererin, ob es vielleicht im Geschäft ein WC gäbe, das sie benutzen dürfe, da sie gerade mitten im Laden zum ersten Mal ihre Tage bekommen habe und nun nicht so recht wisse, was sie tun solle. Die Kassiererin hatte Mitleid mit ihr. Sie zeigte ihr die Angestelltentoilette, brachte ihr Tampons und Binden und fragte, ob sie ihr noch irgendetwas erklären solle. Reike bedankte sich, nahm die Tampons zur Tarnung mit und machte in der Kabine den zweiten Schwangerschaftstest. Als er ein rotes Pluszeichen anzeigte, weinte sie hemmungslos, denn sie hatte gehofft, dass das Klo bei McDonald’s vielleicht einfach so vollgepinkelt gewesen sei, dass der Test von dem Urin einer anderen Frau positiv geworden war. Sie blieb einige Minuten lang zusammengekauert auf der Kloschüssel hocken, einen Arm fest vor den Bauch gedrückt, von dem sie nun wusste, dass ein Baby in ihm wuchs, dann verließ sie die kleine Kabine, wusch sich das Gesicht und ging zur Kasse, wo sie der Verkäuferin die leere Packung des zweiten Schwangerschaftstests auf das Laufband legte und sie mit so provozierender Kälte anstarrte, dass diese ohne zu lächeln von ihr wissen wollte, ob sie es bitte passend habe.

Zwei Wochen erzählte sie niemandem außer Hannah von der Schwangerschaft und erlaubte Ilija, der zu dieser Zeit von nichts anderem redete, als davon, nach dem Abitur wieder zurück nach Belgrad zu gehen, nicht mehr, sie anzufassen. »Ich verstehe es nicht, hast du einen anderen?«, fragte er sie immer wieder, wenn sie ihre Hand aus seiner zog oder sich wegdrehte, wenn er einen Arm um ihre Hüfte legen wollte. »Ich brauche keinen anderen, wenn ich schon auf dich keinen Bock habe«, antwortete Reike ihm schroff und hoffte, Ilija werde einfach verschwinden, bevor er merkte, was mit ihr los war. Die Sommerferien waren fast zu Ende und auch wenn sie die Schwangerschaft früh bemerkt hatte, wusste sie, dass sie nicht mehr viel Zeit hatte, wenn sie die Sache, wie sie es nannte, regeln wollte, ohne für große Aufregung zu sorgen. Abgewiesen zu werden jedoch, war ein Umstand, mit dem Ilija seit frühester Kindheit vertraut war und mit dem er sich schnell arrangierte, also blieb er trotzdem. Er versuchte nicht mehr, ihre Hand zu halten oder seinen Arm um sie zu legen, aber er tauchte einfach weiterhin im Garten ihrer Eltern auf, sprach von Belgrad, las oder rauchte schweigend ein paar Zigaretten und ging dann wieder nach Hause. Erst, als sie ihm sagte, es sei Schluss zwischen ihnen, kam er nicht mehr.

Hannah hatte ihr die Telefonnummer eines Mädchens besorgt, das vor ein paar Jahren auf ihre Schule gegangen und in der gleichen Situation wie Reike gewesen war. Von ihr bekam sie die Adresse eines Arztes, der ihr gerne helfen wollte, wie er es formulierte. Seit dem letzten Sommer hatte Reike ihr Geld gespart, um Ilija möglichst bald in Belgrad besuchen zu können, sollte er wirklich gehen, jetzt hatte sie es sich auszahlen lassen, um sein Kind wegmachen zu lassen. Und alle Leute, die sie aus der Schule kannte und denen sie nicht rechtzeitig aus dem Weg gehen konnte, fragten sie erstaunt, warum Ilija und Reike so plötzlich Geschichte geworden waren.

Früh am Mittwochmorgen in der Woche ihres Abtreibungstermins fand sie ihren Exfreund unerwartet vor ihrem Haus sitzend vor, wo er die ganze Nacht gewesen war, weil er so viel Angst davor gehabt hatte, dass sie ihn vielleicht gerade für etwas Schreckliches verstieß, das er getan hatte und an das er sich nicht erinnern konnte, dass er sich am Abend vorher nicht getraut hatte, zu schellen, um sie danach zu fragen.

»Sag mir bitte, warum Schluss ist«, bat er sie, »es war doch alles so schön bis vor kurzem.« Reike setzte sich auf den Bordstein, von dem er aufgestanden war, als er sie aus dem Haus hatte kommen sehen, und blickte zu ihm auf.

»Und welchen Sinn hat es, dass es schön ist, wenn du sowieso weggehen willst? Dann lass es uns doch lieber jetzt beenden.«

»Wegen Belgrad, meinst du? Belgrad ist doch nur Gerede. Spinnerei. Was soll ich denn da?«

Er lächelte erleichtert. »Also, sei bitte wieder meine Freundin.« Reike hatte gehofft, dass es einfacher sein würde, aber eigentlich hätte sie wissen müssen, dass Ilija es einem selten leicht machte. »Es ist nicht nur Belgrad«, sagte sie, »es sind viele Dinge.« Aber ihr fiel nichts ein, was sie noch hätte aufzählen können und was von Bedeutung gewesen wäre, denn tatsächlich war es sehr schön gewesen, mit Ilija zusammen zu sein. Schweigend hatten sie nebeneinander auf dem Bordstein gesessen, Ilija hatte abwechselnd auf seine Hände oder hinüber zu den Häusern auf der anderen Straßenseite geguckt und Reike hatte ihren Arm fest vor ihr Baby gepresst, das es bald nicht mehr geben würde. Als sie ihm schließlich doch erzählte, dass sie schwanger sei, aber von einer Freundin bereits eine Adresse habe- von einem Arzt, der das regeln könne, ohne dass es jemand erführe- fing Ilija an zu weinen und fragte sie, ob sie sich denn nicht mehr daran erinnern könne, wie sie einmal zusammen Dirty Dancing gesehen hatten, und dass er ihr nicht würde helfen können, wie Baby damals Penny nach der stümperhaften Abtreibung geholfen hatte, als alles schief ging, weil er niemanden kenne, der Arzt sei, und den er im Notfall würde holen können. Also hatten sie mit ihren Eltern gesprochen. Ihr Vater hatte Ilija einige Schläge verpasst, noch bevor er seine Tochter angeschrien hatte, und anschließend den weiteren Verlauf in die Hand genommen, ohne Reike ein einziges Mal zu fragen, ob sie das Kind vielleicht doch behalten wolle. Ilijas Vater hatte zunächst nur erfahren, dass ein fremder Mann seinen Sohn geschlagen hatte und dann warum und nie wieder ein Wort darüber verloren.

Seit diesem Tag hatte Reike die Familie ihres Freundes nicht mehr besucht. Für die Schule hatte man ihr ein Attest aufgrund einer zu behandelnden Pilzinfektion in der Scheide geschrieben. Ihre Lehrerin hatte versucht, nicht darauf zu reagieren, aber doch angeekelt die Nase verzogen und keine weiteren Fragen gestellt. In der ersten Woche nach den Ferien war ihr Baby tot gewesen.

Fünf Jahre später war sie von Marko schwanger gewesen. Sie hatte ihn am Ende ihres ersten Semesters an der Universität auf einer Party kennengelernt, zu der sie eigentlich mit einem Kommilitonen gekommen war, den sie seit einigen Monaten regelmäßig traf, aber Marko hatte einen Blick, der so etwas schnell vergessen ließ. Bereits am Ende der Nacht hatte sie ihn mit in ihre neue, noch halbleere Wohnung nehmen wollen. Stattdessen hatten sie schon in dem kleinen Park am Ende des Campus Sex miteinander gehabt. Marko war trotzdem mit ihr nach Hause gekommen, hatte sich das zu vermietende Zimmer angesehen und am nächsten Vormittag hatte sie all ihre Aushänge an den Informations-brettern der Universität wieder abgehängt, damit er es sich nicht doch noch anders überlegte, falls jemand des Zimmers wegen anriefe und ihm so eine Ausstiegsmöglichkeit böte. »Nur besitzen, besitzen darfst du mich nie wollen«, hatte er gesagt, als er seine Sachen in die Wohnung gebracht hatte und sie hatte genickt und es auch so gemeint. Es war da schon drei Jahre her gewesen, dass sie das mit dem Besitzen aufgegeben hatte.

Als sie festgestellt hatte, dass sie möglicherweise zum zweiten Mal in ihrem Leben schwanger sein könnte, war Marko noch nachts losgefahren, um einen Test zu besorgen. Sie machte ihn in ihrem eigenen Bad und er saß bei ihr und wartete das Ergebnis in solcher Gelassenheit ab, dass sie wirklich zu glauben begonnen hatte, sie würden eine Familie gründen können. Die Zuversicht hatte bis in die sechste Woche angehalten. Reike hatte die Blutung erst bemerkt, als sie aus der Dusche gestiegen war und sich abgetrocknet hatte. Sie hatte Marko auf dessen Arbeitsstelle angerufen, der sofort gekommen war, und sie zu ihrer Gynäkologin gebracht hatte. »Das passiert bei ersten Schwangerschaften leider häufig«, sagte eine Frau in der Praxis zu ihr, die erkannte, was mit ihr los war, und Reike nickte stumm und versuchte nicht zu weinen.

Einen Monat später hatte Ilija plötzlich vor der Tür gestanden. Er war mittlerweile Informatikstudent, auch wenn er nie in irgendwelche Seminare ging. »Kann ich bei dir pennen?«, hatte er gefragt, als seien keine drei Jahre vergangen, seit sie sich das letzte Mal begegnet waren. Sie hatte ihm gesagt, dass sie das zunächst mit ihrem Mitbewohner besprechen müsse. Marko hatte Ilija einige Augenblicke gemustert, vor allem die eng sitzende Hose zwischen dessen Beinen, dann hatte er zustimmend genickt und dem Neuen die Hand gereicht.

Als sie an einem Dienstag drei Monate später früher als geplant von ihrem Job in einem Biergarten nach Hause gekommen war, war ihr Ilija nackt aus Markos Zimmer entgegengekommen. »Tut mir leid«, hatte er sich verlegen nuschelnd entschuldigt, aber sie hatte nur mit den Schultern gezuckt und gesagt, dass sie es verstehe. Marko hatte einen Blick, bei dem man mehr als eine Sache vergessen konnte.

Gemeinsam hatten die Jungs kurz nach ihrem Hochschul-abschluss schließlich Faizah mit in die Wohnung gebracht und sie in der ersten Zeit untereinander geteilt, als sei sie ein besonders schönes Diebesgut, das keiner für sich allein behalten dürfe. Faizah jedoch war nicht dafür gemacht, sich herumreichen zu lassen, wie es anderen gefiel. Wie Marko ließ sie sich nicht besitzen, damals noch nicht, sie eroberte lieber selbst. Und so war Reike eines Abends von der Uni nach Hause gekommen und hatte Faizah nackt und mit gespreizten Beinen auf ihrem Bett sitzend vorgefunden, ein selbstverständliches Lächeln in ihrem Gesicht, das sich erst in einen anderen Blick verwandelte, als auch sie sich ausgezogen hatte.

Marko ist fest davon überzeugt, sie habe sein Kind nicht bekommen können, weil sie Ilijas nicht bekommen hat. Er erzählt gerne von bedingten Wahrscheinlichkeiten, die er im Wettbüro beobachten könne und die den Menschen häufig erst hinterher bewusstwürden. Unmittelbar nach der Fehlgeburt hatte Reike geglaubt, dass eine solche Feststellung das Ende sein müsse, aber Marko hatte trotzdem weiterhin sowohl mit ihr als auch mit Ilija geschlafen. Jetzt jedoch hatte er ein gemeinsames Schlafzimmer mit Faizah und das Babybettchen für ihr Kind in seinem Schlafzimmer aufgebaut.

Sie selbst und Ilija blieben außen vor und manchmal machte es Reike Angst, sich in dieser Konstellation wiederzufinden. Marko und Ilija hatten noch einige Male am Nachmittag miteinander geschlafen, aber da es Faizah zu stören schien, hatten die Männer damit aufgehört und Ilija hatte zufrieden damit gewirkt, dass all das Durcheinander nun beendet war. Vielleicht hatte er schon seit langem mehr zum Schein dieses Leben geführt, damit er bei ihr bleiben konnte. Sie fragte ihn nie danach.

Wäre Ilija es gewesen, der Faizah fest in seinem Schlafzimmer aufgenommen hätte, sie würde ihn wohl vermisst haben. An Marko dachte Reike jedoch nie und an Faizah hatte sie mit dem Sichtbarwerden der Schwangerschaft das Interesse verloren, weil sie mit dicken Brüsten, in die die Muttermilch schoss, nichts anzufangen wusste.

Am Abend sitzt Reike allein auf dem Boden des Balkons und raucht ihr letztes Gras. Wenn Faizah wüsste, dass noch Drogen im Haus sind, sie würde sie vermutlich rausschmeißen, auch wenn sie es eigentlich nicht darf, weil ihr Name als Hauptmieterin in den Mietvertrag eingetragen ist. Diese Tatsache jedoch würde weder Faizah noch sie interessieren, wenn es soweit käme. Bevor sie schwanger geworden war, hatte Faizah spät in der Nacht oft Albträume gehabt. Dann war sie aufgewacht, hatte den Körper neben sich gesucht und ihre Haut, denn sie schlief immer nackt, so fest gegen die fremde Wärme gedrückt, dass es einen beinahe erstickt hatte. Mit der Schwangerschaft wurden die Träume nicht weniger schlimm, aber sie umarmte nun in der Dunkelheit ihren wachsenden Bauch und vergaß die fremden Körper neben sich. Manchmal treibt diese Tatsache Marko hinaus auf den Balkon, doch heute bleibt drinnen alles still. Er versteht nicht, dass es egal gewesen wäre, von wem Reikes zweites Baby war. Sie hatte das zweite nicht auf eine Welt bringen können, auf der es das erste nicht gab und sie hatte es schon als Sechzehnjährige gewusst, dass es so sein würde – schon als sie von ihrem Vater zur Abtreibung ins Krankenhaus gebracht worden war. »Du bist noch jung, das wird sich noch ändern«, hatte der Arzt gesagt, als sie ihn nach einer Sterilisation gefragt hatte, »es wäre unverantwortlich, dir das wegzunehmen, deswegen ist es verboten.« Doch sie hatte Recht behalten. Mit den Vätern hatte es nichts tun. Marko aber glaubte ihr nicht und vielleicht war Faizahs Kind in Wahrheit Ilijas Tochter und er nahm sie ihm aus Rache weg.

»Wenn Faizah dich sieht, schmeißt sie dich raus.« Ilija ist im Rahmen der Balkontür erschienen und blickt zu ihr herunter. »Lass uns zusammen nach Belgrad gehen«, schlägt Reike ihm vor. Ilija lacht. »Na, aus dem Land jagen wird sie dich schon nicht. Und ob ich mit dir mitgehen würde…« Er wiegt den Kopf abschätzend grinsend hin und her, bis er erkennt, dass sie nicht gescherzt hat. Er setzt sich neben sie. »Was sollen wir denn in Belgrad?« Sie hat darauf keine Antwort.

»Aber etwas Eigenes, das können wir uns auch hier besorgen. Nur für uns. Zwei Zimmer, Küche, Bad. Das schaffen wir selbst mit unseren Gehältern.«

»Es war ja nur so ein Gedanke«, sagt sie, »aber wenn du das natürlich möchtest.« Ilija seufzt. »Warum klingt es immer, als wäre ich der Trostpreis in deinem Leben?« Sie zieht seinen Kopf auf ihren Schoß. Er rollt sich zusammen wie ein Embryo und drückt seine Stirn gegen ihren Pullover. Wenn er in ihren Bauch kriechen könnte, er würde es jetzt vermutlich tun. Sie streichelt seinen Kopf. Seine dunklen Locken sind härter als Faizahs weiche Haare und Marko hat nun schon bald eine Glatze. Sie summt leise vor sich hin. »Ich verstehe eben nur nicht, warum es jetzt nicht so sein kann, dass Faizah Marko hat und du hast mich«, sagt Ilija. »Ich muss noch etwas rauchen«, antwortet sie. Er reicht ihr den Joint. Sie hält ihn noch in der Hand, als Faizah nach Hause kommt, aber sie bekommt es nicht mehr mit.

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