Leseprobe: Yannick Dreßen – “Verdichtet”

VERDICHTET

von

Yannick Dreßen

Wer das Dichten will verstehen,
Muß ins Land der Dichtung gehen;
Wer den Dichter will verstehen,
Muß in Dichters Lande gehen.

Johann Wolfgang von Goethe

Α

Im Anfang war das Wort und das Wort war bei ihm, und er war das Wort. Alles wurde durch dasselbe, und ohne dasselbe wurde nichts. Das Wort schuf die Idee und die Idee die Erzählung, und durch die Erzählung entstand die Welt, und diese Welt wurde Raum und wurde Zeit, wurde Form und wurde Sinn, wurde Kraft und wurde Tat. Das Wort wurde Wirklichkeit.

I

Ein Schrei stieß ihn aus dem Text, und er stürzte hervor wie das Kind aus der Mutter.
Plötzlich war alles Licht. Ein Feuer, das sich in seine Augen züngelte und sich bis in die Neuronenbahnen seines Gehirns brannte. Er blinzelte, mühselig, verdrießlich, kniff die Augen jedoch rasch wieder zu, als die Flammen seine Synapsen ansengten.
Hilflos prustete er, rang nach Atem. Blut und Fäkalien hafteten an ihm, Bestandteile des Romans, aus dem er gepresst worden war, Worte und Sätze, die er noch nicht abgeworfen hatte, die an ihm klebten und ihn wie eine zweite Haut umgaben, ein Mantel, der über ihm lag, eng umschlungen, aber schützend.
Als er die Lider wieder aufschlug, vorsichtig und misstrauisch, da die Glut weiterhin in seinem Sehnerv loderte, verblich zwar die Strahlkraft der Sonne, der er entgegen schaute, doch noch immer nahm er nichts wahr, erkannte nichts, fühlte nichts. Nichts, bis auf einen leichten Schmerz, der sich hartnäckig in seinem Kopf festgebissen hatte, eine Zecke, die ihn zwickte und zwackte, ein stilles Stechen und Hämmern, hinten, an der Rückseite seines Kopfes, ein Nagel in seinem Okzipitallappen, der ihn daran erinnerte, dass er lebte, dass er war.
Doch er war noch nicht. War noch nicht er. War immer noch ein anderer. Gefangen im Text, eine Figur in einem Roman. Allein sein Herz verriet ihm das Gegenteil, denn es polterte und donnerte, als begleitete es das dumpfe Dröhnen großbäuchiger Trommeln während eines Initiierungsrituals. Es kreischte neben ihm, doch er hörte es nicht. Seine Sinne waren noch nicht wiedergekehrt und so legte er gedankenverloren das Buch beiseite, aus dem er soeben gefallen war. Ehrfurchtsvoll strich er mit dem Handrücken über das verschwommene Bild, das den Schutzumschlag zierte, ein Spiel mit Brennweite und Unschärfe, hinter dem sich eine Welt verbarg, die ihn mitgerissen hatte.
Satz für Satz war er in das Labyrinth hinabgestiegen, hatte sich zwischen den Worten und Buchstaben verirrt und schien immer noch gefangen, gefangen in einem Nichts, in einer Zwischenwelt, nicht hier, nicht da, obwohl das Gebilde, das sich ihm aufgezwungen hatte, bereits wie eine Plazenta von ihm abgefallen war und in den Annalen seiner Erinnerung verging.
Die Geschichte war beendet, die letzte Seite ausgelesen, und dennoch konnte er sich nicht von den Charakteren trennen, in die er geschlüpft war. Seine Gedanken schossen umher, stoben durcheinander, wild und ungelenk, voller Misstrauen und Fragen, und prallten wie ein Wurf Murmeln an einer Häuserwand zusammen. Doch sie verharrten nur einen Augenblick, denn schon erhoben sie sich wieder wie ein Schwarm Insekten, kreisten in elliptischen Bahnen weiterhin um die Geschichte, und stürzten sich auf das offene Ende hinab, das ihn unvollendet ausgespien hatte. Immer wieder warfen sie sich hinunter, wühlten in den Eingeweiden der Erzählung, suchten nach Fleisch und Innereien, nach einem Ende, das ihn befriedigte, doch die Geschichte war zerlegt. Nichts gab es mehr zu ergattern, keine Beute mehr zu erringen, auch wenn der Hunger weiterhin in ihm tobte und nach Nahrung verlangte. Übrig blieben nur die Gebeine, auf die er schaute, als hätten sie niemals Fleisch getragen.
Sein Kopf schwirrte. Noch immer flatterte das Ende des Romans lose am Mast seines Verstandes und wurde vom Sturm seiner Gedanken mal in die eine, mal in die andere Richtung gerissen. Die Offenheit gebar Fragen, die er nicht beantworten konnte, Fragen, die in ihm brodelten und gärten, doch aus welcher Perspektive er es auch besah, das Ende blieb unentschieden, es blieb unscharf, wie das Bild, das ihn nun vom Buchdeckel hinauf anstarrte. Es dauerte einige Augenblicke, bis er es einsah, Augenblicke, in denen er sich nach und nach aus dem Buch herausschälte und die Welt aus Buchstaben wie eine Eierschale von sich abwarf, bis er es verstand, bis er begriff, dass es genauso hatte enden müssen, dass es gar keinen anderen Schluss hatte geben können, ja dass dem Anfang bereits eingeschrieben war, wie die Geschichte endete.
Ein Schmunzeln huschte über seine Lippen und er schaute auf. Das Gesicht der Wirklichkeit blickte ihm entgegen und endlich löste er sich. Endlich kappte er die Nabelschnur zum Roman und erwachte im Hier und Jetzt. Das Bild schwirrte vor ihm, verzerrte sich in der Mitte und floss an den Enden aus. Erst nach und nach gewann es an Schärfe und bildete Konturen, feine Linien, Formen und Farben, die sich wie ein Puzzle zusammensetzten, Stück für Stück, bis aus Sand und Meer und Himmel ein Ganzes vor ihm stand. Wie so oft hatte er sich in der Literatur verloren und nur stockend gewann er wieder Sinn für diese Welt, für seine Erzählung.
Das Kreischen erschrak ihn und ließ ihn zusammenzucken.
Es riss ihn aus seiner Gedankenwelt und sein Blick fand die Möwe, die seit geraumer Zeit auf der Brüstung der Veranda saß und die Reste des Essens einforderte, ein paar wenige Krümel, die verstreut auf dem Tisch lagen. Unverfroren blickte sie ihn an, hielt seinem Blick stand und wägte ihre Chancen ab, und gerade, als sie auf den Tisch zu springen wagte, verscheuchte er den Vogel mit einer raschen Handbewegung und das Tier erhob sich, hoch und höher, ließ sich in den Winden treiben und landete in einiger Entfernung im Sand.
Da saß er also wieder, wie immer, wie jeden Abend. Vor ihm das Glas Wein, halb geleert. Sein Blick schweifte über den Horizont. Hinter tiefhängenden Schäfchenwölkchen, die golden rot und violett erstrahlten und so malerisch beisammenstanden, als seien sie einem Bild Caspar David Friedrichs entronnen, lugte die Sonne wie ein Fächer hervor und überzog den Himmel mit einem orange schimmernden Kleid. Nur gemächlich zogen die Wattebäusche vorüber, zogen auf das Meer hinaus, das den Schein des roten Lichts widerspiegelte und mit seiner friedlichen Ewigkeit prahlte. Mancherorts brachen sich sanfte Wellen in den Weiten, sie griffen nach den Möwen und hinterließen deckweiß farbene Schaumbäder. Eine leichte Brandung rauschte an den Strand, rhythmisch, beschwichtigend, und malte immer neue Muster in den Sand, flüchtige Bilder, die nur für den Augenblick überlebten.
Sandkörner stoben auf und eine Brise, die von der See her blies, kühlte sein Gesicht und spielte mit seinen Haaren.
Der warme Tag klang allmählich aus. Er genoss die Idylle am Meer, die Ruhe, die der Abend gebar und seine wirren Gedanken verstreute, so leichtfertig und spielerisch, als seien sie Wolken, die nur eines kräftigen Windes bedurften, um zu vergehen. Tagsüber brauten sie sich zusammen, stürmten und tobten, drohend und unheilvoll, ein Gewitter, das er selbst heraufbeschwor, indem er um die richtigen Worte rang, Worte, die seine Welt beleben sollten, die sie errichten und erbauen sollten, die Welt seines neuen Romans, an dem er unermüdlich arbeitete. Nun aber ließen die schweren Gedanken ab von ihm, stoben auseinander und schwirrten in alle Himmelsrichtungen, wo sie sich auflösten und vergingen.
Er atmete tief ein. Die Meeresluft trug eine salzige Frische in seine Lungen. Sie strömte durch seinen Körper und verdünnte das Gift der Fiktion, solange, bis die Wirkung verfiel und er wieder war, wieder da war, wieder er war. Er ließ den Blick über die Bucht schweifen, deren Enden wie ein Hufeisen ins offene Wasser ragten, und gab sich dem malerischen Ort hin, der auf ihn schaute und seine sterblichen Gedanken in den Schlaf wogte. Immer noch erschien ihm sein Leben wie ein Traum. Immer noch wähnte er sich im tiefen Dickicht seiner Phantasie, gewogen in Morpheus Armen. Manches Mal zwickte er sich, um zu erwachen, doch sooft er auch die Finger in sein Fleisch bohrte, spürte er nur den stechenden Schmerz. Das Gemälde vor ihm entsprang nicht seiner Einbildung, es war wirklich, es war real, auch wenn er es kaum fassen konnte. Noch vor wenigen Monaten hatte er in seinem engen Appartement gesessen, am Rande Frankfurts, in Zimmern, die kein Tageslicht sahen, genervt vom Rattern der nah vorbeirumpelnden Güterzüge. Und nun saß er hier, blickte auf das Mittelmeer, das sanft auf ihn zu brandete, als sei er der Mittelpunkt der Erde, und war glücklich. Dankbar leerte er sein Glas und griff nach der Flasche.
Aus dem Hals des Gallo Nero rieselten die letzten Tropfen des Chianti, dessen Reben auf den sonnenverwöhnten Hügeln des Hinterlandes heranwuchsen, nicht weit ihrer neuen Heimat, mitten zwischen Zypressen und Olivenbäumen. Dann aß er das letzte Stück Bruschetta und auf seiner Zunge mischte sich der Geschmack frischer Tomaten und Basilikum mit Olivenöl und gerösteten Brotes. Freudetrunken, ob vom Wein oder Ausblick, schaute er hinaus aufs Meer und las den Horizont wie den Vers eines Gedichts. Als die Sonne immer rascher versank und das Meer schließlich das prasselnde Feuer zu löschen begann, umwehte ihn ein Gefühl von Erhabenheit, von Vollkommenheit, hier, an diesem Ort, an dem er endlich gefunden zu haben schien, wonach er sein ganzes Leben gesucht hatte.
Die letzten Sonnenstrahlen des Tages umspielten sein Gesicht und entflammten die Narbe auf seiner Stirn. Für einen Augenblick leuchtete sie auf, hellrot, als könnte man das Magna erkennen, das sich unter ihr sammelte. Dann nahmen die Wellen endgültig, was ihnen gehörte, und verschluckten Helios Wagen. Seine Narbe erlosch und die allabendliche Aufführung war zu Ende.
In ihm applaudierte es, doch etwas stieß durch seine Muskeln vor und betäubte ihn, eine umfängliche Müdigkeit, die bis tief in seine Knochen drang. Für gewöhnlich entzündete die Dämmerung seine Kreativität, doch nicht so heute. Er fühlte sich matt und erschöpft und strich den Gedanken, sich wie jede Nacht an den Schreibtisch zu setzen und mit dem Taktstock über sein Manuskript zu fahren. Heute tat er besser daran, seiner Frau ins Bett zu folgen, in das sie sich bereits vor einer guten Stunde zurückgezogen hatte.
Und so erhob er sich, zu schnell wie es schien, denn er wankte und musste sich am Tisch festhalten, um die Welt wieder ins Gleichgewicht zu drücken. Als ihm nach einigen Wimpernschlägen endlich ein klareres Bild vor Augen stand, griff er nach der Flasche und dem Glas und schlich ins Haus. Behutsam zog er die mächtige Panoramatür hinter sich zu und suchte im Dämmerlicht den Weg in die Küche.
Zwei leere Weinflaschen blickten ihm bereits vorwurfsvoll entgegen, als er die dritte hinzustellte.
Und plötzlich zwickte ihn etwas in den Hinterkopf. Es biss ihn, fräste ein Loch in seine Schädeldecke und hustete hinein. Eine Stimme echote durch den Hohlraum, warnte und belehrte, schimpfte. Doch rasch unterdrückte er seine Gewissensbisse, erstickte sie, bevor sie sich ihm aufhalsten. Dieser Tag war ein besonderer gewesen, den man hatte feiern müssen, ein Jahrestag, der ruhig auch mit einem Schluck mehr als gewöhnlich hatte begossen werden dürfen. Denn heute war ihr Geburtstag – der erste ihres neuen Lebens.
Er schob die aufsprudelnden Bilder beiseite, die mit Schuld beladen waren, leerte den Rest des Weinglases, um sie zu ertränken, und, als nichts half, schüttelte er sich, um die Erinnerungen wie Schneeflocken von sich abzuwerfen. Doch der Alkohol waberte zu stark durch seine Adern, er verlor die Orientierung und landete wie ein Kleinkind auf dem Hosenboden.
Einen Augenblick blieb er sitzen, versuchte das Bild vor seinen Augen anzuhalten und nicht zu erbrechen. Erst als die Küche nicht mehr vor ihm zitterte, zog er sich an den Schränken hoch und torkelte in den Flur, die Treppe hinauf. Unbeholfen hielt er sich am Geländer fest, zog sich mit der einen Hand daran hinauf, um mit der anderen die Wand zu stützen, auf dass sie nicht auf ihn fiele.
Auf dem Weg ins Schlafzimmer strampelte er seine Hose ab, pellte sich aus seinem Hemd und schmiss beides an Ort und Stelle von sich. Instinktiv wankte er zu seinem Kind und kniete sich neben das rosane Babybett, ein Geschenk seiner Eltern zur Geburt. Mit dem rechten Handrücken fuhr er seiner Tochter über das pausbäckige Gesicht, sanft und zärtlich, eine Liebesbezeugung, die er ihr jeden Abend entgegenbrachte. Sie rümpfte die Nase, brabbelte unverständliche Laute. Ihr Brustkorb hob und senkte sich, wieder und wieder, und er war glücklich.
Noch lange betrachtete er sein eigen Fleisch und Blut, schaute auf die Stupsnase, die hin und wieder zuckte, auf den kleinen Mund, dessen Lippen durch die Hamsterbäckchen geschürzt wurden, schaute auf den Flaum auf ihrem Kopf, diese samtweichenen Haare, deren Farbe sie von der Mutter geerbt hatte, schaute weiter auf die Wurstfinger an ihren Händen, und auf die winzigen Nägel, die kaum zu schneiden waren. Ein Lächeln auf ihren Lippen verriet, dass sie fröhlich zu träumen schien und nichts davon ahnte, dass es nur dem Zufall zu verdanken hatte, überhaupt das Licht der Welt erblickt zu haben.
Tränen sprudelten in seine Augen. Liebevoll küsste er seine Tochter auf die Stirn, bevor er wieder aufstand.
Als er sich umwandte, erhoben sich bereits die Umrisse zweier Schmetterlinge und flogen auf ihn zu, Seite an Seite. Sie erwachten vor seinen Augen und tollten in den Lüften umher, umkreisten sich und spielten miteinander, hingebungsvoll, als seien sie auf ewig vereint. Die goldene Kette um den Fußknöchel fing das Tattoo jedoch wieder ein. Das Gelenk, fein und zartgliedrig, brachte sonnengebräunte Beine hervor, so fest und ebenmäßig, so makellos, als seien sie aus Marmor gemeißelt. Aufreizend überkreuzten sie sich, umschlungen den Deckenbezug wie eine Schlange. Bewundernd fuhr sein Blick Wade und Oberschenkel hinauf, fuhr über ein schwarzes Höschen, das die Hälfte eines Hinterns umspann, in dessen Apfelform es ihn zu beißen gelüstete, fuhr über die Senke der Taille und über ein weißes T-Shirt, auf dem Surfer die Wellen ritten, die die festen Brüste darunter aufwarfen. Blonde, dicke Locken lagen wild um eine entblößte Schulter und verdeckten Hals und Gesicht.
Verlangen stieg in ihm auf, doch übermächtig war die Müdigkeit, die sein Feuer löschte, bevor es aufflammen konnte. Ehe er sich an die Seite seiner Frau legte, um dem Schlaf zu geben, wonach er verlangte, stand er vor ihr wie der Sternenhimmel, dessen Maserung aus dem Schoß der Nacht spross und sich allmählich durch das Fenster abzeichnete, stand still und bewegt. Sein Auge ruhte auf ihr wie auf einem Gemälde. Tränen stiegen ihm in die Augen vor dem Heiligen, das so anspruchslos und reizend dalag. Er liebte sie und Freude und Stolz tobten in ihm, von ihr geliebt zu werden. Seit dem ersten Augenaufschlag war er ihr verfallen, seit dem ersten Erröten, das mehr versprochen hatte als eine windige Liebschaft, war er ihrer Aura erlegen, eine Aura, aus der er sich bis heute nicht zu lösen vermochte, obgleich er es niemals versucht hatte. Denn ewig wollte er in ihrem Bann leben, ewig ihre Wärme spüren, ewig ihr sein. In ihr hatte er seine Welt gefunden und niemals hätte er sich verziehen, wenn sie gestorben wäre, niemals hätte er die Last tragen und weiterleben können, wenn sie ihr Leben verloren hätte – damals, vor einem Jahr.
Und so legte er sich, wenn auch vom Tage erschöpft, so doch trunken vor Glück, an ihre Seite. Sogleich umwehte ihn ein Geruch, der ihn kitzelte und umgarnte, ein Duft nach Jasmin, der in seine Nase kroch und sich entfaltete. Zärtlich griff er in die Lockenpracht neben sich und roch an ihr, vergrub sich zwischen den Strähnen und atmete tief ein. Seine Finger glitten ihren starren Körper entlang, strichen sachte über die Rundungen, die wie gemeißelt vor ihm lagen. Und plötzlich fuhr Leben in ihr Fleisch. Als sei sie Galatea, öffneten sich ihre Augen, zärtlich und sanft, wie sich eine Knospe aufschließt, und mit gläsernem Blick, halb erwacht, sah sie ihn an. Ein müdes Lächeln zupfte an ihren Lippen und riss an Friedrichs Herzen.
Es ist alles gut! Schlaf ruhig weiter, sagte er und versuchte, sie durch seine beruhigenden Worte wieder in den Schlaf zu wiegen.
Immer noch mehr im Traum gefangen als in der Wirklichkeit, lächelte sie ihn an und er vergaß die Welt um sich herum.
Ich liebe dich, Friedrich!
Ich dich auch, Susette!
Glücklich schlang er seinen Arm um sie und gab ihr einen Kuss auf die Stirn, bevor der Schlaf auch ihn der Welt entriss.

2

Friedrich erwachte aus ruhigen Träumen.
Sachte glitt er in den Schoß der Wirklichkeit hinüber, glitt aus dem Muttermund einer Welt, die ihn eben noch fürsorglich ernährt und wie eine zweite Haut ummantelt hatte. Wohlwollend verabschiedete ihn der Traum aus seinem Reich und Friedrich hopste bereits vergnügt auf der dünnen Schwelle zum Wachsein. Es bedurfte nur noch einer kleinen Gewichtsverlagerung, um sich in die Arme des neuen Tages fallen zu lassen. Schon jetzt verblasste das Land, aus dem er zu schweben schien, schon jetzt versagte ihm die Erinnerung, wo und was und wer er gewesen sein sollte. Doch der Schlaf wirkte noch nach, beruhigend und versöhnlich.
Gerne hätte er sich noch einmal von der Schwelle abgewendet, gerne wäre er noch einmal umgekehrt, um in den Traum zurückzueilen. Aber mit jedem neuen Moment, in dem er sich seines Zustandes bewusster wurde, mit jeder neuen Sekunde, die verstrich und ihn ins Leben drückte, verschwand das Gebilde hinter ihm, fiel wie ein Kartenhaus in sich zusammen und war für immer vergangen.
Vergeblich versuchte er, sich an die letzten Fetzen seines Traumbildes zu klammern, um noch einmal in die gebrechliche Welt einzutauchen, sie noch einmal mit dem Bewusstsein einer Scheinwelt zu formen, ja sich diese Welt, wie in seinen Dichtungen, Untertan zu machen.
Doch die Pforte war verschlossen. Es gab kein Zurück mehr. Das verschwenderische Land, aus dem er zu reisen schien, da er sich kräftig und erholt fühlte, nahm ihn nicht mehr auf. Ihm blieb nichts übrig, als sich abzuwenden. Im nächsten Augenblick würde ihn die Wirklichkeit empfangen, der Tag würde ihn begrüßen, ein neuer Tag, an dem er sich seiner Welt widmen dürfte, seiner eigenen Geschichte. Nur ein Schritt fehlte noch, ein Ruck und er würde erwachen.
Sein Bewusstsein regte und streckte sich, befreite sich aus dem Spinnennetz seiner Phantasie, doch noch balancierte er weiter auf dem dünnen Seil, das sich über dem Abgrund seines Erwachens spannte. Noch schlug er die Augen nicht auf, sondern hielt das Gleichgewicht, um den Zustand zwischen Wachen und Schlafen auszukosten und sich im Klangraum der Inspiration zu baden. Bilder fielen wie ein warmer Sommerregen auf ihn hinab und malten den kommenden Tag bereits in bunten Farben aus. Wie auf ein Gemälde, das vor seinen Augen entstand, blickte er auf eine Person hinab, der er sich langsam näherte. Ihre Züge, zunächst verschwommen und unkenntlich, spiegelten bei näherer Betrachtung sein Gesicht wider. Die Skizze, die in jedem Augenblick mehr an Farbe und Detailreichtum gewann, zeigte ihn am Schreibtisch, wo er entfesselt an seiner Geschichte schrieb. Glücklich schaute er zu, wie das expressionistische Bild um ihn herum Kontur annahm und eine Verheißung in sein Ohr flüsterte. Denn tagelang hatte er nach Worten gerungen, tagelang hatte er aus dem Kessel der Wörter keinen Satz schöpfen können, hatte sich in den tausenden Gängen und Zwischengängen der Syntax und Grammatik verloren, bis er in eine Leere gefallen war, die ihn unversöhnlich mit der Sprache gestimmt hatte. Und nun schaute er zu, wie seine Hand den Stift rauschhaft über das Papier schwang, Wort an Wort aneinanderreihte und etwas Einzigartiges erschuf, etwas Unerhörtes – Leben.
Und plötzlich spross aus seiner Schrift ein anderes Bild hervor. Wie eine Blume schoss es vor seinen Augen in die Höhe und fesselte seine Aufmerksamkeit. Glücklich hielt er sein Kind im Arm, wiegte und tätschelte es, brachte es zum Lachen und lachte selbst, so ausgelassen, wie es nur wahre Lebensfreude zuließ. Er warf seine Tochter in die Höhe, erfreut über das Phänomen der Liebe, über die Frucht, die sie gebar, und fing sie wieder auf, wieder und wieder. Sie lallte und kicherte und offenbarte ihm durch ihre Existenz das Wunder des Lebens.
Berauscht von den Bildern, ergriff ihn eine fiebrige Ungeduld. Nun wollte er aufwachen, wollte den Schlaf endgültig abschütteln und den Tag beginnen, der mit solch sehnsuchtsvollen Versprechungen auf ihn wartete. Und so wandte er sich endlich ab und übertrat die Schwelle, um zu erwachen.
Doch es gelang ihm nicht.
Wie Blei drückte etwas seine Lider hinab, eine Schwere, gegen die er nicht bestand. Er mühte sich, die Augen zu öffnen, bot all seine Kraft auf, um den Vorhang zu lichten, doch vergebens. Seine Wimpern lagen starr auf seinen Wangen, einbetoniert im Fundament seines Fleisches, so schwer ruhte der Traum noch immer auf seinen Augen. Sie schienen verschlossen und versiegelt, und unweigerlich flogen seine Gedanken die Jahre zurück, flogen zu den Märchen seiner Kindheit, die seine Großmutter ihm erzählt hatte, flogen zum Sandmann, der die Augen der Kinder bestreute und in dessen Körnern wilde Träume schlummerten.
Der Sandmann.
Erinnerungen bestürmten ihn. Die unheimliche Erzählung Hoffmanns breitete sich plötzlich als verworrenes Gemälde vor ihm aus und sog ihn in sich ein. Mit einem Mal fand er sich neben Nathanael wieder und erschauderte.
Verbissen bemühte er sich, die Augen aufzuschlagen.
Krampfhaft wollte er sie dem Schlaf entreißen, doch noch immer gelang es ihm nicht. Sein Wille reichte nicht aus, gegen diese merkwürdige Macht zu bestehen, die auf seinen Lidern lastete. Ein Schwall Nervosität überfiel ihn, summte durch ihn hindurch wie ein Schwarm Bienen, die ihre Stacheln in seinen Magen schlugen.
Er entschloss sich, aufzustehen. Entschloss sich, einem Blinden gleich, den Weg ins Badezimmer zu ertasten. Er wollte den Schlaf abwaschen, von dem er annahm, dass er ihm die Augen verklebte. Wollte endlich den Tag beginnen, der auf ihn wartete. Doch seine Glieder gehorchten ihm nicht. Er war keiner Bewegung mächtig. Konnte sich nicht rühren, nicht den Arm heben, nicht das Bein recken. Es schien, als sei er gefesselt, als sei er einbetoniert, begraben – lebendig begraben.
Sein Atem stockte. Etwas kroch aus seinem Magen hervor, langsam aber bestimmt, und drückte seinen Hals zu. Er hörte, wie etwas nach Luft schnappte, wie jemand röchelte und japste. Panik schrillte plötzlich durch seinen Körper, tönte durch jeden Muskel, als befände er sich in Lebensgefahr. Er versuchte, sich zu beruhigen, versuchte, Erklärungen für seine Situation zu finden. Doch noch immer konnte er sich nicht rühren, noch immer konnte er seine Glieder nicht regen. Die Verbindung zwischen Gehirn und Muskeln schien gekappt. Schutzlos war er den äußeren Umständen ausgeliefert. Ein wacher Geist in einer toten Hülle. Gefangen in einem starren Körper. Machtlos und schwach.
War er bereits tot?
Die Frage durchschoss seine Synapsen und durchwühlte seine Neuronen. Es dauerte einige Augenblicke, unruhige Momente, in denen der Schwarm Bienen seinen Magen verwüstete, bis er sich besann. Die merkwürdige Situation erschien ihm wie ein Traum, in dem oft Widersprüchliches zusammenfiel, es war wie das Verharren auf einer Stelle, obwohl man sich mit aller Kraft mühte, wegzulaufen. Immer noch musste ihn der Traum gefangen halten, immer noch musste er ihn hinter den Gitterstäben seines Reiches verschlossen haben und mit Unmündigkeit strafen.
Er beruhigte sich und konzentrierte sich darauf, aufzuwachen. Er strengte sich an, fokussierte sich, spannte seine Muskeln, bündelte seine Kraft, mühte und quälte sich, schwamm und rann, stieß und drückte, hinaus, nur hinaus. Er wollte aufwachen, endlich aufwachen.
„Aufwachen!“
Da hörte er plötzlich Stimmen. Mit einem Mal stachen sie in sein Bewusstsein vor. Zunächst war es nur ein Flüstern in der Ferne, tief und eintönig, mehr ein Brummen denn ein Sprechen. Wie durch einen langen Tunnel hallte es zu ihm, ein dumpfer gregorianischer Gesang.
Doch je mehr er sich mühte, den Traum hinter sich zu lassen, desto klarer formten sich aus dem unverständlichen Gebrabbel Worte, ja ganze Sätze, die ihn schließlich aus seinem Traum befreien sollten.
„Er wacht auf“, überschlug sich eine dieser Stimmen freudig und erbrach sich so hell und scharf durch sein Trommelfell, als hörte er zum ersten Mal, „er wacht tatsächlich auf!“
„Er kommt zurück! Sieh doch nur, er kommt zurück!“, schrie eine andere, sanfter im Ton, dennoch ebenso beschwingt und klar. „Lauf, Heinrich! Lauf schnell und hol den Arzt!“
Friedrich blinzelte. Die Neugier verlieh ihm den letzten Schwung, den er benötigte, um die Augen endlich zu öffnen. Doch grell war das Licht, das wie eine Armee in ihn einfiel. Zu grell. Es stach in seine Augen vor, bohrte sich wie Messer in seine Pupillen. Unweigerlich musste er die Augenlider wieder schließen, um nicht Gefahr zu laufen, mit einem Schlag zu erblinden.
„Friedrich, oh mein Friedrich, du kommst zu dir!“
Eine Frauenstimme war es, die ihm entgegenschlug. Sie schluchzte und jammerte, doch Euphorie und überschwängliche Freude klangen in ihr mit. Er wollte etwas entgegnen, wollte etwas erwidern. Doch seine Lippen wollten sich noch nicht formen, seine Stimme sich noch nicht erheben. Gerne hätte er etwas gesagt, um dem Gewirr um ihn herum zu begegnen, gerne hätte er reagiert, um sich seiner und der Situation bewusst zu werden. Doch er konnte nicht. Und so unternahm er erneut einen Versuch und blinzelte in das schneidende Licht hinein, das ihm schier die Sehkraft rauben wollte. Er brauchte einige Augenblicke, um sich an die Helligkeit zu gewöhnen. Augenblicke, die ihm endlos erschienen.
Augenblicke, in denen er in ein hell erleuchtetes Nichts gepresst wurde, nackt und blind. Erst dann zeichneten sich allmählich die Umrisse seiner Umgebung ab und aus dem Licht- und Schattenspiel manifestierte sich nach und nach ein Augenpaar. Es schwebte über ihm, blickte auf ihn nieder, besorgt, doch zugleich freudig. Tränen waren in ihnen zu lesen, doch die Augen strahlten, strahlten vor Begeisterung, strahlten vor Freude.
Er kannte diese Augen. Er kannte dieses Grün, das auf ihm ruhte und ihn umschloss. Kannte diesen Blick, den er schon so oft in seinem Leben auf sich gespürt hatte.
Kannte die Person, deren Konturen sich mit jedem Wimpernschlag schärfer stellten, erkannte die Gesichtszüge, in denen er sich selbst wiederfand.
Doch er verstand es nicht.
„Was machst du hier?“
Er hörte seine Worte wie aus dem Mund eines Fremden dringen. Leise presste er sie hervor, einzeln, als müsste er sich vor jedem Laut wieder von neuem sammeln. Das Sprechen erforderte eine unheimliche Anstrengung, die rasch den Rest seiner Kraft vertilgen sollte.
„Ach Friedrich, mein Kind“, sagte die Person und lächelte ihn an, tief ergriffen und erleichtert, beinahe fassungslos. Als sie sich über ihn beugte, löste sich eine Träne aus ihrem Augenwinkel und fiel auf seine Wange. „Wie sehr habe ich dich vermisst! Sprich noch nicht! Komm erst einmal zu Kräften! Nun bist du ja wieder hier! Nun wird alles gut!“
Wie einem Kleinkind streichelte sie ihm über die Stirn.
Sie küsste ihn auf die Wange und drückte seine Hand so herzergreifend, dass er sich wunderte, was passiert sein mochte.
„Was…was ist denn geschehen, Mutter?“
„So vieles, mein Sohn, so vieles!“ Sie schüttelte gedankenverloren den Kopf. „Aber die Hauptsache ist doch, dass du wieder bei uns bist, dass du wieder hier bist! Und dieses Mal musst du bleiben, hörst du!“
Sie wischte sich mit einem Taschentuch die Tränen von der Wange, damit nicht weitere auf ihren Sohn niederregneten. Auch ihm tupfte sie über die seine, liebevoll, behutsam. „Dieses Mal musst du bleiben, hörst du, dann wird sich alles klären, dann wird alles wieder gut! Verstehst du?“
Er verstand nicht.
Die Worte drangen in sein Bewusstsein vor, doch sie entfalteten keinerlei Wirkung. Es war, als spräche seine Mutter eine andere Sprache. Verwirrt sah er sich in seinem Schlafzimmer um. Auch wenn ihm die Augen wieder und wieder zufielen und er sich mühen musste, gegen die tonnenschwere Last anzukämpfen, die ihn wie ein Stein in die Matratze drückte, hielt ihn der Schrecken wach. Denn wie er nun feststellen musste, war er nicht zu Hause, lag nicht in dem Zimmer, in dem er sich wenige Stunden zuvor noch freudetrunken zu Bett gelegt hatte.
Es war eine unvertraute Umgebung, in der er sich wiederfand, unheimlich und rätselhaft. Ein Bett lag unter ihm, das nicht das seine war, und ein Zimmer erhob sich um ihn herum, dessen Mauern ihn einkesselten. Ein auffällig dezentes Weiß beherrschte den Raum. Es übertünchte die anderen wenigen Farbtupfer und prasselte von den Wänden, von der Decke, ja beinahe von allem, was sich in diesem Raum befand, auf ihn nieder. Spärlich war das Zimmer ausgestattet, sein müder Blick fand nur ein Bett, eine Lampe, einen Schrank, einen Tisch und zwei Stühle, allesamt in Weiß gehalten. Eine einzelne Blume stand als Widersacher gegen die farblose Dominanz vor einem Fenster, verloren in einer zu großen Vase. Zwar ließ sie traurig ihre Köpfe hängen und einzelne Blätter verwelkten bereits im Kreisrund neben ihr auf der Fensterbank, doch das zarte Blau des Vergissmeinnichts sorgte immerhin für ein wenig Abwechslung in dem Raum.
Seine Kraft erlahmte bereits und Verwirrung legte sich wie Nebel auf seine Sinne. Wie in Zeitlupe wandte er den Blick wieder seiner Mutter zu. Dicht saß sie an seinem Bett und ließ ihn keinen Augenblick unbeobachtet. In ihren Augen standen weiterhin Tränen der Rührung und Freude. Tränen, die sie erfolglos zu verbergen versuchte.
„Wo bin ich hier?“, fragte Friedrich unsicher.
„Der Doktor kommt sogleich und wird dir alles Weitere erklären“, sagte sie und mahnte, „du darfst nur nicht wieder fortgehen, hörst du! Du darfst nicht fortgehen!“
Sie betonte die Worte, als ginge es um Leben und Tod.
Hob sie hervor, als wäre es ein Befehl, den zu verletzen Lebensgefahr bedeutete, und Friedrich wunderte sich.
„Wo sollte ich denn hingehen, Mutter? Ich kann mich kaum bewegen. Kann kaum sprechen.“ Angestrengt musste er schlucken. Seine Zunge lag wie Blei in seinem Mund. Auch das Atmen fiel ihm schwer und so brauchte er einen Augenblick, bis er weiterreden konnte. „Mama, sag mir doch bitte, was geschehen ist! Wo bin ich hier? Was mache ich hier? Wie bin ich hierhin gekommen?“
„Oh Friedrich, ich darf es dir nicht sagen, es ist auf Anordnung des Arztes. Ich darf dich nur nicht fortlassen!“ Nervös lächelte sie ihn an und blinzelte immer wieder zur Tür hinüber, verstohlen, aber doch sichtbar, als erwarte sie baldige Rettung aus ihrer misslichen Lage.
„Hab nur noch ein klein wenig Geduld! Der Arzt wird jeden Moment kommen.“ Sie streichelte ihm über den Kopf, liebevoll, zärtlich, und strahlte. „Ach Friedrich, ich bin so froh, mein Sohn!“
Er war ratlos, verwirrt, besorgt. Er verstand nicht, wo er war, er verstand nicht, was geschehen sein mochte, verstand nicht, wie er hierhin gelangt war. Sorgen türmten sich zu riesigen Wellen in ihm auf, die gegen die Felsen seines Verstandes brandeten, denn allem Anschein nach befand er sich im Zimmer eines Krankenhauses. Doch seine Erinnerung versagte. Er wollte sich bewegen, wollte seinen Körper spüren, wollte Arme und Beine regen, seine Muskeln spannen, aber auch das gelang ihm nicht. Seine Verunsicherung wuchs und seine Mutter, die sich immer noch über ihn beugte und ihn wie ein Neugeborenes anstarrte, voller Erwartung und Hoffnung, peitschte seine Verwirrung auf durch die Art, wie sie mit ihm sprach, geheimnisvoll und flüsternd, zugleich erfreut und bedrückt.
Und dann stach ihn etwas. Plötzlich drang etwas in ihn ein. Wie ein Stachel bohrte es sich durch sein Fleisch, bohrte sich in seinen Geist, schmerzhaft und stürmisch, immer wilder, immer tiefer. Etwas schlitzte ihn auf, und er erschrak. Der Schreck fuhr bis in seine Augen, die mit einem Mal zu flattern begannen.
„Was ist mit Susette?“, fragte er verängstigt. „Und wo ist Desiree? Wo ist mein Kind?“
Wie Pfeile schnellten die Fragen hervor. Und wie Pfeile trafen sie ihr Ziel. Auf einmal wandte sich seine Mutter von ihm ab. Das erste Mal, seitdem er in diesem Zustand erwacht war, nicht wusste, wo und was er war, traf ihr mitleidiger Blick nicht mehr den des Sohnes. Er glitt fort, fort von dem Gesicht des Erwachten, hin zur Tür.
„Was ist mit meiner Familie, Mutter? Warum schweigst du?“
„Ach Friedrich, warte doch nur noch einen Augenblick! Ich kann dir nichts sagen, ich darf dir nichts sagen.“
Ihre Stimme zitterte.
„Was ist geschehen?“, brüllte er plötzlich und seine Augen gruben sich aus den Höhlen hervor. „Was geht hier vor sich, Mutter? So rede endlich mit mir! Wo ist meine Frau, wo ist meine Tochter? Was ist mit ihnen passiert?“ Seine Worte platzten wie Kanonenkugeln aus ihm hervor.
Sie hallten im Zimmer nach und rissen einen Graben zwischen ihn und seine Mutter, einen Graben, der sie voneinander trennte, sie wie Feinde gegenüberstellte.
Sein Ton zeugte von Aggressivität und war doch lediglich Ausdruck seines verwirrten Zustandes, in dem er sich gefangen sah.
„Beruhige dich bitte, Friedrich. Es ist gut. Es ist alles gut.“
Mit neu empor stürmenden Tränen versuchte seine Mutter, ihn zu beschwichtigen, versuchte das Feuer zu löschen, das in ihm entbrannte, doch es gelang ihr nicht mehr. Die Sorge um seine Familie hatte zu stark Besitz von ihm ergriffen, sie loderte wild auf und verbrannte ihn.
„Lass mich los!“, schrie er und riss sich aus der Umarmung seiner Mutter, stieß sie wütend zur Seite und forderte seinen Körper unter allem Kraftaufwand auf, ihm zu gehorchen. Seine Beine, seine Arme, alles sollte seinen Befehlen Folge leisten. Das Feuer glühte und peitschte ihn an. Er schwitzte, vor Anstrengung, vor Aufregung. Und mit ungeheurer Willenskraft erhob er sich, setzte seine Füße auf den Boden und stand auf. Zu hitzig, wie es schien, denn seine Kraft versagte. Seine Muskeln waren so schwach, dass sie ihm den Dienst verweigerten.
Und schon stürzte ihm die weiße Keramik des Bodens entgegen. Hart schlug er mit dem Kopf auf den Fliesen auf, ein stechender Schmerz bebte von seiner Schläfe durch seinen ganzen Körper. Seine Mutter schrie auf, und er merkte, wie in rhythmischen Abständen etwas aus ihm hinausbrach und auf den Boden tropfte. Schwindenden Sinnes sah er noch, wie die Tür aufgerissen wurde und eine Person in einem weißen Kittel hereinstürmte. Aus ihrer Schulter wuchs der Kopf seines Vaters, der beim Anblick des Vorgefallenen die Hände vor das Gesicht schlug.
„Um Himmels Willen, was ist geschehen, Johanna?“
Friedrichs Kopf schwirrte. Schwindel übermannte ihn.
Alles verschwamm vor seinen Augen. Unscharf erkannte er noch, wie sich der Arzt über ihn beugte und versuchte, sein Bewusstsein aufrechtzuerhalten. Doch es entglitt ihm mehr und mehr.
Dann wurde ihm schwarz vor Augen. Er konnte nichts mehr sehen und hörte nur noch die ängstlichen und besorgten Stimmen seiner Eltern und jene dieses Mannes, die in dem langen Tunnel, aus dem er eben gekommen war, wieder verschwanden.
„Friedrich“, schrie seine Mutter verzweifelt, „Friedrich, bleib hier! Bleib in der Wirklichkeit!“
Doch alles verwischte vor ihm. Alles fuhr in einem Strudel hinab. Und so war das Letzte, was er als Flüstern in der Ferne noch vernahm, bevor alles verstummte und er sich in einem Nichts, in einer endlosen Leere befand, die Stimme eines Dritten, wohl des Arztes, die leise nachhallte.
„Es tut mir leid, wir haben ihn wieder verloren!“

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