Leseprobe: Sina Lippmann – “Wofür wir spielten”

Prolog

Das Unwetter kündigte seinen Auftritt mit einem tiefen Räuspern an. Als die ersten schweren Tropfen in die Oberfläche des Flusses klatschten, rafften wir Murmeln, Zinnsoldaten und den „König Forunculus“ zusammen, wieherten noch ein letztes Mal in Richtung Himmel und rannten mit zurück geworfenen Köpfen durch die Kornfelder in die rettende Deckung unserer Elternhäuser.
„Josephine, willst Du nicht mal mit der Annegret von nebenan spielen, das ist so ein nettes Mädchen?“ hatte meine Mutter am Morgen schon wieder gefragt.
Ich wollte davon nichts hören. Wollte nichts zu tun haben mit dem langweiligen Nachbarskind, das in Spitzensommerkleid und Lackschuhen einen Miniaturkinderwagen die Straße auf und ab schob, als wäre das Leben ein niemals endender Sonntagsspaziergang. Ich folgte lieber den Jungs-Banden meiner beiden großen Brüder. Sobald die Schule vorbei war, feuerten wir die Ranzen in die Ecken unserer Zimmer, bewaffneten uns mit Steinschleudern, Holzgewehren und Fesselseilen und begannen den Streifzug durch das Dorf. Ein ganzes Königreich gab es dort für uns zu erobern. Wir kletterten auf die Trümmer des abgerissenen Hauses am Ende der Straße und suchten unter den Steinen nach verborgenen Schätzen. Mit Tritten und Hieben rangelten wir um unsere Beute, als handele es sich um Stücke aus einem englischen Auktionshaus und nicht bloß um Glasscherben und Teppichreste. Unter Triumphgebrüll rannten wir hinunter zum Fluss. Wir bauten Weidenruten-Paläste an seinem Ufer, richteten sie mit unseren Fundstücken ein und gaben ihnen Namen – „Finsterkerker“, „Waffenhammerkammer“, „Trilliardenleuchtersaal“. Soldaten, Könige und Diener ließen wir aufmarschieren, während die Sonne gemächlich sank. Wir schwangen an Astschaukeln über dem wildgrünen Wasser und ließen uns mit dem Hintern zuerst hinein plumpsen, wir bewarfen uns im Sommer mit Matsch und im Winter mit Schnee, wir kugelten den Hügel hinab bis wir uns zu einem Knäuel ineinander verkeilt hatten. Wir waren Tiger und Bären, Cowboys und Indianer, wir waren Trolle und Drachen, Könige und Vagabunden. Wir lachten bis wir weinten, wir schrien, wir kämpften, wir fluchten, wir jubelten und fauchten.
Es gab keine Welt jenseits der von uns soeben erschaffenen.
Nur ein übler Wetterumschwung oder das ewig überraschende Einsetzen der Dämmerung konnte uns auf den Heimweg zwingen. Zerkratzt, verdreckt und niemals pünktlich schlichen wir von diesen Streifzügen nach Hause an den Abendbrottisch, begleitet von vorwurfsvollen Blicken unserer Eltern, die bereits in einvernehmlichem Schweigen nebeneinander auf der Küchenbank saßen und warteten.
Gegessen wurde, das war das oberste Gebot unseres Vaters, immer mit der gesamten Familie. So hockten wir drei vor unseren Tellern, mit Erdspuren unter den Nägeln und scharfkralligen Kletten im Haar. Nach außen taten wir schuldbewusst, aber heimlich zwinkerten wir uns zu, erfüllt von einer Glückseligkeit, wie sie wohl nur Eroberern neuer Kontinente bekannt sein dürfte.
Wenn wir später im Badezimmer standen, mit nackten Kinderfüßen auf eiskalten Fliesen und uns bettfertig schrubbten, spürten wir dann und wann einen plötzlichen Schmerz im Finger, den wir den ganzen Tag schon mit uns herumgetragen hatten, der sich aber erst jetzt seinen Weg bahnen konnte, die Baumkletterwagnisse, Drachenhöhlenbezwingungen und Flusswasserschlachten hinter sich schiebend. Da saß der Splitter. Kaum sichtbar und so tief ins Fleisch gebohrt, dass selbst ein Hantieren mit der Pinzette nichts gegen ihn ausrichten konnte.
„Der wächst sich raus“, sagte die Mutter dann zu uns.

Manche bleiben.

ERSTER TEIL

0.

Josephine sah zu, wie die Wischerblätter den Schnee in parallelen Halbkreisen von ihrer Scheibe schoben.
Unaufhörlich schabten sie ein Fenster zur Welt frei, dabei blieb am Ende jeder Bewegung ein winziger Rest Schnee zusammengepresst unten auf der Scheibe liegen, so dass die Freiflächen kaum merklich immer ein bisschen kleiner wurden.
Hinter ihr hupte es. Josephine zuckte zusammen, hob entschuldigend die rechte Hand und trat aufs Gaspedal. Die Uhr unterhalb der Tachonadel zeigte halb neun an, sie war spät dran und Herr Hofstätter wartete nicht gern. Erst als sie den Häuserblock am Stuttgarter Platz zum dritten Mal umkreiste, fand sie eine Lücke hinter einem Lieferwagen, in die sie ihren alten Ford Fiesta vorsichtig hineinmanövrierte.
Sie griff nach der für diese Temperaturen eigentlich zu dünne Jacke, holte den Plastiksack mit Putzmitteln aus dem Kofferraum und lief mit eingezogenem Kopf zum Haus ihres ersten Klienten für heute. Beim Anblick des Wetters wäre sie am liebsten im Bett geblieben, außerdem schmerzten bei der Kälte ihre Gelenke. Aber sie war auf das Geld angewiesen und Herr Hofstätter gab manchmal sogar ein Trinkgeld. Er stand schon in der offenen Wohnungstür, als sie das vierte Stockwerk der Leonhardtstraße Nummer 3 erreichte.
„Na, Fräulein Josephine, haben wir etwa heute ein bisschen zu lang geschlafen?“ Ein schelmisches Lächeln huschte über seine Mundwinkel. Er trug einen seidenen roten Morgenmantel und hatte sein weißes Haar sorgsam zurückgekämmt. Sie murmelte eine Entschuldigung, huschte an ihm und der großen Bücherschrankwand im Flur vorbei und machte sich in der Küche daran, die Spülmaschine einzuräumen. Einen Teller, Messer, Gabel, ein Wasserglas, ein Weinglas, manchmal dauerte es bis zum Ende der Woche, dass es sich überhaupt lohnte, die Maschine anzustellen. Herrn Hofstätters schwindende Sehkraft hatte dazu geführt, dass seine Töchter sich bei ihren seltenen Besuchen immer häufiger über Reste von Eigelb, Spuren von klebrigen Soßen und festsitzende Krümel auf dem Geschirr beschwert und schließlich den Kampf um den Kauf einer „tosenden Minna“, wie Herr Hofstätter die Spülmaschine verächtlich nannte, gewonnen hatten. Allerdings unter der Bedingung, dass er keinen näheren Kontakt zu ihr aufnehmen müsste. Das war zu einer von Josephines Aufgaben geworden, die sie an drei Tagen in der Woche erfüllte. An den anderen Tagen, außer am Sonntag, kam eine weitere Pflegekraft, der Josephine bisher aber nur ein einziges Mal per Zufall im Treppenhaus begegnet war, weil sie sich im Datum geirrt und statt am Freitag aus Versehen schon am Donnerstag gekommen war.
Eine junge Frau war das gewesen, Mitte zwanzig, schätzte Josephine, die in einem blau-weiß geblümten Sommerkleid und mit wippendem Pferdeschwanz vor ihr die Stufen mit leichten Schritten erklommen hatte. Als sie einige Stockwerke über sich dann das Klopfen an einer Tür und ein „Herr Hofstätter, ich bin es, Bettina, ihre Betreuerin“ vernahm, erkannte sie ihren eigenen Fehler und drehte leise auf dem Absatz um.
Sie sprühte das Spülbecken mit dem Küchenreiniger an, schäumte und schrubbte mit einem Schwamm so kräftig wie möglich und beobachtete dann, wie die Seifenblasen, vom Wasserstrahl gelenkt, langsam in den Abguss trudelten.
„Josephine, wo bleiben Sie denn? Lassen Sie das mal sein, ist doch alles sauber, soviel Dreck mache ich doch gar nicht.“
Herr Hofstätter hatte offenbar bereits in seinem Sessel im Wohnzimmer Platz genommen.
„Wir haben einiges zu tun, in der Sonntagsausgabe stehen immer besonders viele drin.“
Er hatte den „Tagesspiegel“ bereits aufgeschlagen, Josephine setzte sich neben ihn auf einen Stuhl und griff nach ihrer Lesebrille. Was in der Welt, im Sport und in Berlin passierte, interessierte Herrn Hofstätter schon lange nicht mehr. Das Feuilleton durfte sie gelegentlich vorlesen, aber am wichtigsten waren ihm die Todesanzeigen. Er brannte geradezu darauf zu erfahren, wen es erwischt hatte.
Besonders die 1930er Jahre, also die seinem eigenen Geburtsdatum am nächsten gelegenen, weckten seine Neugier. Die musste sie immer als erstes heraussuchen. Er legte großen Wert darauf, dass sie den Text vollständig und exakt vortrug, mehrfach wiederholte und seine Nachfragen zur Anzahl der genannten Trauernden, zum Ursprung des jeweiligen Bibelzitats und zur grafischen Gestaltung der Anzeige geduldig beantwortete. Manchmal kannte er jemanden, dann erzählte er ihr von seinen Erinnerungen an die Person. Bei jeder Anzeige spekulierte er ausführlich über die mögliche Todesursache und fragte Josephine nach ihrer Meinung. Ihre Spezialität wiederum war das Phantasieren über die berufliche Laufbahn der Verstorbenen, manchmal anhand von vorhandenen Hinweisen, oft aber dachte sie sich eine Karriere einzig und allein anhand des Namens aus. So hatte sich ein Spiel zwischen ihnen entwickelt, dass alle Mensch-ärgere-dich-nicht-Runden und Fotoalben-Durchsichten überdauert hatte.
„Na, dann wollen wir mal,“ sie breitete die Zeitung auf ihrem Schoß aus. Die Doppelseite sah mit den schwarzen Kästen der am gleichen Tag Verstorbenen selbst beinahe aus wie ein Friedhof. Die vermeintlich Wichtigen lagen in ihren großen Schriftgräbern und dazwischen gezwängt die sogenannten Normalsterblichen, fast als lägen sie in genau dieser Anordnung bereits unter der Erde. Nicht mal ganz am Ende konnte man sich seine Nachbarn aussuchen, dachte sie und glitt mit dem Zeigefinger über die Buchstaben.
Dann sah sie ihn.
Markus Weidenberger, in der linken unteren Ecke.
Nach kurzer schwerer Krankheit hat er die Bühne der Welt viel zu früh verlassen.
Geburtsdatum, Todestag, die Namen der traurig Zurückgelassenen, Ort und Uhrzeit der Beisetzung. Heute schon, um zehn Uhr. Darunter ein Segensspruch. Das blieb?
Von einem Leben? Keine sechzig, viel zu…was? Jung? Das interessierte den Krebs nicht.
Der hätte mich genauso erwischen können, ich bin ja nur ein paar Jahre drunter und geraucht wie die Schlote und ungesund gelebt hatten wir damals schließlich alle, dachte Josephine.
Sie hätte vielleicht zu ihm gehen sollen an dem Tag, als seine Vergissmeinnicht-Karte in ihrem Briefkasten lag. Auf der Rückseite: Von Herzen alles Liebe zu Dir. Ich bin sehr müde in letzter Zeit, aber ich schreibe endlich mein Leben auf. Ihr gehört zu dem Besten darin. Danke für die Lichtjahre. Markus von den Antigonisten. Diese Karten waren ihre einzige Verbindung geblieben, als alles andere längst aufgelöst war. Markus hatte nie aufgehört zu spielen. Puppentheater mit Kindern auf Neufundland, Straßentheater mit mexikanischen Frauen, denen die Töchter gewaltsam entrissen worden waren. Von jeder dieser Reisen hatte er ihr seine Pappbildergrüße geschickt. Sie bewahrte sie alle auf, hatte sie mit rot-grün-orange-blauen Stecknadeln in die Wand neben ihrem Bett gepiekt und sich beim Einschlafen an seine Fersen geheftet. So bretterte sie auf Markus´ Beifahrersitz durch die marokkanische Wüste, begleitete ihn als Rucksacktouristin zu den umwucherten Tempeln von Angkor Wat und bestaunte neben ihm die Eisberge auf ihrer behäbigen Reise vom isländischen Jökulsárlón-Gletscher ins Meer. Wie schaffen die einen derart weiten Weg, ohne dabei zu schmelzen, fragte sie sich.
„Was haben Sie denn, Fräulein Josephine, kennen Sie etwa jemanden?“ Erst als die Stimme von Herrn Hofstätter sie aus ihren Gedanken riss, bemerkte sie, dass es auf die Zeitung tropfte und den dazu passenden salzigen Geschmack auf ihren Lippen. Sie stand auf, zog sich ihre Jacke an und steckte die Todesanzeigenseite in die Tasche.
„Es tut mir sehr leid Herr Hofstetter, ich muss mich von jemandem verabschieden, der einmal sehr wichtig für mich war. Vielleicht schaffe ich es, am späten Nachmittag nochmal bei Ihnen vorbeizukommen. Verzeihen Sie mir bitte.“
Als sie an seinem Sessel vorbei zur Wohnungstür ging, streckte er seine in ihre Richtung. Darauf lag eine Packung Taschentücher und die weiße Rose, die gerade noch in der Vase auf seinem Wohnzimmertisch gestanden hatte. Beides nahm sie dankbar entgegen. Dann spurtete sie los.
Das Ensemble aus Engeln, Kreuzen und quadratischen Steinen schaute ratlos ins Weiß und schien sich nicht mehr ganz sicher zu sein, ob jeder noch an seinem richtigen Platz stand. Der Schnee hatte die Grenzen zwischen den Gräbern des Stahnsdorfer Waldfriedhofs über Nacht verwischt.
Josephine suchte Markus und wollte ihn zugleich auf keinen Fall finden. Efeu versuchte schnellstmöglich von hier zu entkommen und nutzte jeden Ast und jeden Rindenknoten der knorrigen Buche als Trittleiter in die Höhe. Auf einen Baumstumpf hatte jemand einen sehr kleinen Schneemann gepflanzt. Er reckte das mickerige Stöckchen im Arm drohend gen Himmel, als wollte er damit seinem alten Erzfeind dort oben den Kampf ansagen.
„Aussichtslos,“ rief sie ihm in Gedanken zu.
Sie wusste keine Richtung, also folgte sie den Spuren des Morgens am Boden. Einer Dame mit spitzen Absätzen, einem Vogel mit großen Krallen, einem Rollator mit jemandem im Schlepptau, einem Schlitten gezogen von einem Mann in Wanderschuhen, einem Eichhörnchen, zwei Fahrrädern. Die hatten sicher alle ein Ziel.
Der Ausgang kam in Sichtweite und damit die Möglichkeit eines Irrtums. Vielleicht war es doch nicht sein Name gewesen auf der Todesanzeigenseite des Tagesspiegels gewesen. Sie tastete nach der Zeitung in ihrer Jackentasche und wollte schon durch die hintere Friedhofspforte hinaus huschen, da lagen sie. Auf der linken Seite, ganz nah am Weg. Die monströsen Blumenberge und das schwarze Loch im Schnee. Sein Name auf allen Schleifen. Sie warf ihre einzelne weiße Rose zu den anderen frierenden Blüten, wo sie nun auch zusammenbrechen und verenden durfte.
Den Gottesdienst und die Beisetzung hatte sie durch die Spurensuche über den Friedhof versäumt. Das kam ihr gelegen, denn die Kirche bedeutete ihr schon lange nichts mehr und sie wollte mit ihm allein sein, mit ihm da unten in seiner Kiste. Sie hoffte, dass sie ihm die löcherige Jeans und den braunen Lederhut gelassen und ihn nicht in eines dieser weißen Nachthemden gesteckt hatten. Das wäre das falsche Kostüm für den letzten Auftritt gewesen. Sie blickte sich um, ging dann in die Hocke, als könnte er sie so besser hören.
Erst wusste sie nicht, was sie sagen sollte, schließlich flüsterte sie ihm zu:
„Gestern war ich im Deutschen Theater und habe mir ein Flüchtlingsstück von diesen Doku-Theater-Leuten angeschaut. Das hätte dir, glaube ich, gefallen. Wir Zuschauer haben mit Gießkannen, Eimern, Flaschen, sogar mit Schlauchboot und Paddel das Wasserstück von John Cage nachgespielt. Weißt du noch, diese irre Nummer, wo er in der Fernseh-Show auftritt, alles in Schwarz-Weiß damals. Cage rennt wie ein Verrückter durch die Gegend, hebt den Deckel von einem pfeifenden Wasserkessel hoch, stellt eine Vase in eine Badewanne und gießt die Blumen darin, versenkt einen Gong in der Wanne, schaltet den Mixer mit Eiswürfeln an, so dass sie anfangen wie wild darin zu tanzen. Dann der Blick vom Fernseh-Moderator, als Cage das Glas mit dem Wein selbst austrinkt und Stephan kippt in deiner WG vor Lachen fast von seinem Podest.
Im Theater sollte ich auf einen Wasserspritz-Hai aus Gummi drücken, einen langgezogenen quietschenden Ton hat das Biest von sich gegeben. Über Kopfhörer haben wir dazu die Geschichten von fünf Flüchtlingsjungen gehört, die erzählten, wie sie mit einem Schlauchboot, das viel zu klein für viel zu viele Menschen war, über das Mittelmeer gekommen sind.
Wie sie nicht aufhören durften zu paddeln, wie das Wasser knapp wurde, wie sie jeden Tag die Telefonnummer ihrer Mutter angerufen haben, die zu Hause geblieben war und wie dort seit drei Jahren niemand den Hörer abnimmt. Heute leben die Jungen in der Schweiz und sagen, es ist ihnen egal, wie das Land heißt, in dem sie leben. Iran, Griechenland oder Deutschland, Hauptsache sie sind in Sicherheit. Sicher ist nur der Tod, das hast du mir damals immer gesagt.“

Eine Drossel huschte unter den tief hängenden Zweigen einer Tanne hervor, hielt inne, schaute mit schwarzen Augen und geneigtem Kopf zurück in den Baum, strich sich mit dem Schnabel über den zerzausten Flügel und hüpfte davon.

Josephine griff in den Schnee, formte eine Eiskugel und schleuderte sie ins Zentrum des Blumenbergs.
„Au revoir, du verrückter Markus, ich werde dich schon nicht vergessen, keine Angst. Mach es gut.“
Langsam stand sie auf. Es hatte erneut zu schneien angefangen, dicke Flocken suchten Halt in ihren Haaren, auf ihrer Jacke, ihren Stiefeln. Sie spürte ihre Finger kaum noch, die Kälte hatte die Muskeln lahmgelegt. Sie schlug die Hände gegeneinander, wandte sich von Markus ab, wollte gehen.

Da standen sie.

Sylvie.
Tom.
Stephan.
Hans.

Ihre Splitter.


Die beste Zeit ihres. Als es mit ihnen zu Ende. Schlimmste.
Der Rest war. Schweigen. Aber ihre Gesichter, Stimmen, Gerüche. Jeden einzelnen Tag. All die Jahrzehnte. Kein. Jetzt waren sie plötzlich. Älter geworden. Sie ja schließlich.
Beinahe nicht erkannt, aber nur. Genauso wie. Damals.

Dichte Flocken fielen vor ihren Gesichtern. Wie eine Bildstörung im eigenen Blickfeld, dachte sie.
Der Grund unter ihr schwankte, taute, gab nach. Sie rannte weg, bedeckte sich mit schaufelweise Schnee, wartete, zu einer Mumie erstarrt, dass die anderen verschwinden würden.
Sie spuckte ihnen ins Gesicht, stieß sie alle ins offene Grab, warf Steine nach ihnen. Sie stürzte sich in ihre Arme. Nichts davon geschah.
Stattdessen versuchte sie sich an ihnen vorbei zu schieben, sich einen Weg durch ihren Halbkreis aus schwarzen Wintermänteln zu bahnen. Sie versuchte zum Friedhofstor gelangen. Fast war sie entkommen, setzte ihre Füße schon auf den Weg, der zum Ausgang führte, sog die eisige Winterluft tief in die Lungen. Da griff Stephan nach ihrem Handgelenk und machte die Flucht unmöglich. Seine Hand war warm und trocken, die Haut eines Elefanten. Dabei hatte sie immer gedacht, dass es ihn zuerst erwischen würde, dass er der erste von ihnen sein würde, den der Tod sich schnappt. Aber er schien den Tanz am Rande des Abgrunds, den er damals so intensiv getanzt hatte, halbwegs unbeschadet überstanden zu haben. Er zog sie zu sich heran. Immer noch die gleichen Eiswasseraugen.
„Josie, warte. Bitte.“

Black.

West-Berlin, 1987

1.

Josephine drückt die Klinke des Hoftors nach unten und bringt sich in Kontakt zur Stadt. Vorbei an dem Graffitivogel, der an der Hauswand sitzt, die Muskauer Straße entlang. Premierenabend. Auf dem Weg zum Theater muss sie noch einmal durch den Text. Sie lernt ihn immer im Gehen. Nur so verfangen die Worte, die Schritte pressen sie in ihre Hirnwindungen.
An gewöhnlichen Tagen zieht sie sich in ihre Rolle wie in ein Schneckengehäuse zurück, blendet den Weltrest völlig aus.
Andere Passanten halten sie wahrscheinlich für leicht verrückt, wenn sie beobachten wie sie, murmel, murmel, über rote Ampeln läuft, plötzlich mitten in der Bewegung stehen bleibt, zum Himmel blickt, murmel, murmel, auf dem Absatz kehrt macht, um dann, murmel, murmel, schnell in die entgegengesetzte Richtung weiterzulaufen. Manchmal trifft sie auf diesen Wortspaziergängen einen anderen Murmeler, als begegneten sich zwei Außerirdische zufällig auf der Erde. Ein kurzes Erkennungsnicken und weiter geht die Reise. Murmel, murmel. Es sind Zeiten höchster Konzentration, mühevoll und intensiv.
Aber heute ist kein gewöhnlicher Tag und das Premierenadrenalin macht ihren Körper federleicht. Etwas verschiebt sich, Welt und Text sind nur zwei Varianten desselben Gedankens.
Eine Tür fällt ins Schloss und einer alten Dame, die davor steht, ein 50-Pfennigstück aus der Geldbörse. Es rollt in Richtung Gulli im Rinnstein.
„O Grab, o Brautgemach, o unterirdische Behausung, die mich ewig in Gewahrsam hält, wohin ich gehe zu den Meinen, deren meiste schon Persephone im Totenreich empfangen hat, nachdem sie umgekommen.“
Josephine stellt geschwind ihren Schuh auf die Münze und gibt sie der Frau zurück. Die dankt. Weiter, weiter jetzt. Ein Mädchen mit blondem Pferdeschwanz läuft aufgeregt zu seiner Mutter, die ein Baby im Kinderwagen schiebt. In den Händen hält die Kleine einen toten Schmetterling, aufgebahrt.
„Doch starke Hoffnung heg ich, wenn ich komme, dass lieb ich komm dem Vater, und geliebt dir, Mutter, lieb auch dir, du brüderliches Haupt. Denn als ihr starbt, hab ich mit eignen Händen gewaschen euch, geschmückt und Güsse über eurem Grab gespendet; aber jetzt, da Polyneikes, deinen Leib ich habe hergerichtet, ernt ich solchen Lohn, und tat doch recht im Urteil der Vernünftigen, zu ehren dich.“
Da ist sie, die niedrige Bank vor dem Straßeneck-Haus, von der die rosa Farbe abblättert und die so aussieht als würde sie sich genauso verdrießlich wie vergeblich nach einem müden Passanten sehnen, der sich auf ihr niederlässt.
„Denn nie, wär ich von Kindern Mutter auch gewesen, noch wär ein Gatte mir im Tod dahingeschwunden, hätt ich den Bürgern trotzend diese Müh mir auferlegt. Stürb mir der Gatte, könnt ich einen andern finden, bekäm von ihm ein Kind auch, hätt ich eins verloren. Da aber Mutter mir und Vater ruhn in Hades´ Reich geborgen, gibt´s keinen Bruder mehr, der je mir wüchs heran.“
Ein Großvater zerrt seine Enkelin von den bunten Kaugummikugeln fort, die hinter den Plexiglasscheiben eines mit Aufklebern übersätem Automaten liegen und die sie wahrscheinlich so gern befreien würde.
„Und nun führt er mich weg, mit Händen so mich greifend, ohne Brautbett, ohne Hochzeit, nicht der Ehe Teil erlangend, nicht das Glück, mir Kinder großzuziehn, nein, so verlassen von den Lieben gehe ich, die Unglückselige, lebend in der Toten Gruft.“
Ein Löwenzahn, der sich durch eine Ritze im Asphalt gekämpft hat und nun seine Blätter in Richtung der Wasserpumpe reckt.
„Welches Recht der Götter hab ich denn verletzt? Was soll ich Arme noch zu Göttern aufblicken? Wen zum Beistand rufen? Denn – das alles ist jetzt klar – den Ruf unheilgen Tuns erwarb ich durch mein heilges Handeln.“
Da ist das kleine Kreuzberger Kieztheater, das sie für diese Inszenierung angemietet haben. Das Bettlaken-Transparent „Heute 20:00 Uhr – Premiere: Antigone-Variationen“ hängt schon über dem Eingang. Sie nimmt Kurs auf die schwere Metalltür und wechselt die Welten.

2.

Der Geruch macht wie immer den Auftakt. Das vertraute Elixier aus Adrenalin, Schweiß, Tränen, Zigarettenrauch und 100fach getragenen Kostümen, das sie nur vom Theater kennt und von dem sie vermutet, dass es sich bis auf kleine Nuancen an allen Bühnen gleicht.
Ein bisschen wie das Parfüm „Übersüßter Hagebuttentee und Scheuermilch“, mit dessen Hilfe auch Blinde erkennen sollen, dass sie es in die Jugendherberge geschafft haben.
Nur besser natürlich, dachte sie.
Ihre Augen brauchen einen Moment, um sich an die Dunkelheit zu gewöhnen, die Boden, Decke und Molton abstrahlen. Umrisse schälen sich aus dem Schwarz, die anderen sind bereits da. Sylvie, Markus, Stephan, Tom. Eine Zigarette wird herumgereicht.
„Hey Josie, alles klar bei Dir? Tom, der Black in der dritten Szene muss glaube ich früher kommen, eigentlich sofort nachdem Stephan den Stuhl umwirft.“
Alles wie immer offensichtlich. Markus hat noch hektisch-wirre Änderungsvorschläge für das Beleuchtungskonzept, die er in bester Dozentenmanier und in letzter Sekunde, vorträgt.
Seine Hände fliegen durch die Luft, unsichtbare Muster zeichnend. Tom nimmt es gelassen auf und will dann mal spontan gucken, was sich da so auf die Schnelle noch machen lässt. Sylvie, mit ihrer 1000Volt-Energie, von der Josephine nie weiß, wie sie in diesem fragilen Körper Platz findet, ohne ihn von innen zu verbrennen, rupft nervös an vermeintlich kaputten Haarspitzen. Vergnügt schaut Josephine aus der kurzen Distanz zu, wie sie versucht, sich ihre Ungeduld auf keinen Fall anmerken zu lassen. Stephan ist still und konzentriert, zieht den Zigarettenrauch tief in sich hinein, fokussiert einen Schmutzfleck auf dem Bühnenboden.
Er ist wahrscheinlich bereits nur noch Text und Rolle. Dabei stört man ihn besser nicht.
Josephine nickt ihrer kleine Theaterfamilie zu und geht schon mal in die Umkleide. Die anderen nicken zurück, sie kennen ihr Bedürfnis, eine Weile allein in der Garderobe sein zu wollen. Damit sie sich der Rolle ungestört nähern kann. Auf der Garderobenstange hängen schon der lange schwarze Ledermantel und das indigofarbene Seidennachthemd.
Schnell rein in die fremde Haut, die sie mit ihrem Körper ausfüllt. Sie schminkt sich selbst, wie alle hier. Viel schwarzer Kajal für Antigone. Ein letzter Blick in den Spiegel. Fertig.
Die anderen kommen herein, der Geräuschpegel in der engen Garderobe verdichtet sich.
„Hat jemand meine Haarspange…diese rote…ich hatte die doch gerade noch…verflixt…das gibt es…“
„Lässt du mich mal ganz kurz…ich habe da hinten…Stiefel…“,
Markus schiebt Sylvie vorsichtig zur Seite.
Reißverschlussschnurren.
„Ja, das ich sterben würd: Ich wusst es wohl – wieso auch nicht? – und hättest du es auch nicht öffentlich verkündet!“
Schnallenklipsen.
Dann sind sie soweit. Warm-Up hinter der Bühne. Sie stehen in einem kleinen Kreis, Markus gibt einen Ton, die anderen steigen ein bis sie sich auf derselben Frequenz begegnen.
„Mmmmmmmmmmmmmmmmmmmm.“
Sie kreisen die Schultern, die Hüften, das Becken, die Knie, die Knöchel, die Handgelenke, die Finger. Sie schreiben mit den Ellenbogen unsichtbare Wünsche auf den Vorhang, klopfen einander ab, die Brust, die Schenkel, die Rücken der anderen. Der Körper muss geschmeidig sein. Sie befreien auch die Stimme.
„Tatata. Papapa. Fafafa.“
„Hallo! – Sie da!“
„Warum? Wieso? Weshalb? Wer? Wo? Was? Wann?“
„Schhhhhhhhhhhhhh!“ „Brrrrrrrrrrrrrrrrr!“ „Ffffffffffffffffffffffffff!“ Lippenflattern.
Sie werfen Geräusche. Einen Soundball.
„Kawusch!“ „Kawusch-Razong!“ „Razong-Schnirp!“ „Schnirp-Hep!“ „Hep-Psssssst!“
Der Kopf muss wach sein. Sie assoziieren, stampfen mit den Füßen im Rhythmus.
„Blau“ – „Beere.“ „Blaubeere – taramtamtam.“ „Baum“ – „Schwein.“ „Baumschwein – taramtamtam.“ „Lampen“ – „Hut.“
„Lampenhut – taramtamtam.“
Josephines liebste Übung. Auf die besteht sie jedes Mal. Die anderen rollen gespielt mit den Augen, machen aber doch immer mit.
„Nur, weil sich Josie dann wieder freut wie eine Schneekönigin.“
Stephan zündet sich eine Zigarette an für einen schnellen Zug bevor der Lappen hochgeht.
„Toi, toi, toi!“
Dreimal bei jedem über die Schulter gespuckt.
Das Adrenalin kommt. Jetzt. Sie weiß es, hat es erwartet und ist überrascht wie beim ersten Mal. Ihr Blut im Kriegszustand.
Sie rettet sich mit ihrem Auftritt. Eine Flucht in die Dunkelheit, die heute von gerade einmal etwa zwanzig Augenpaaren bewohnt wird. Der Scheinwerfer knallt sein Licht auf Josephine. Die Zuschauer verschwinden im Schwarz. Sie ist zu Hause.
„Ja, ich gestehe die Tat und streite sie nicht ab.“
Pause. Atmen. Warten.
„Ja, dass ich sterben würd: Ich wusst es wohl – wieso auch nicht?“
Pause. Der Text kommt von ganz allein. Sie braucht jetzt keine Spaziergänge, keine Schneckenhäuser und kein murmel, murmel mehr. Ihre Stimme ist fest und klar, als Antigone gleiche Rechte für Frauen und Männer einfordert.
Die Zeit fliegt.
Josephine geht ab. In der Gasse steht Sylvie bereit für die nächste Szene, in der sie als Ismene, Antigones Schwester, sprechen wird. Sie steckt sich eine widerspenstige Haarsträhne unter die rote Spange, dann spannen sich ihre Muskeln und Sehnen. Es sieht aus, als würde sie größer werden, als hätte sie einen mutigen Entschluss gefasst. Als würden an all ihren Gelenken plötzlich strahlende Lichter entzündet. Mit einem großen Schritt geht sie auf die Bühne und Josephine in die Garderobe, um sich für ihre Medea-Rolle umzuziehen. Die starken Frauen sind heute im Mittelpunkt des Stücks, das sie als Monolog-Collage präsentieren.
Spot off. Ende. Geschafft. Entspannung. Der Glücksrausch am Ende vom Auftritt wird weggespült durch das nur freundlich verhaltene Klatschen des Publikums. Es klingt doch eher nach Mitleid als nach Begeisterung. Wieder einmal. Sie fassen sich an den Händen, Josephine greift die von Stephan, der rechts neben ihr steht. Seine Schultern hängen schlaff herunter, sein Blick ist gesenkt.
Gleichzeitig machen alle einen Schritt vor und blicken in fragende Gesichter. Tom schickt ihnen zwar ein aufmunterndes Zwinkern von seinem Lichtpult, aber noch während der Vorhang fällt, denkt Josephine, dass es so nicht weitergehen kann.
Und dann rasen ihre Gedanken schon in die Cuvrystraße.
Dort werden sie sich nächste Woche, wenn die „Antigone-Variationen“ abgespielt sind, einen neuen Raum anschauen.
Vielleicht kann dort alles anders werden.

3.

„Hier ist es“, sagt Markus, der über die Anzeige in der Berliner Morgenpost „Etwas in die Jahre gekommenes ehemaliges Bühnenhaus in Kreuzberg sucht Nachmieter, gern zum Spielen“ und nach stundenlangem Telefonzellen-Anstehen am Bahnhof Zoo tatsächlich diesen Ort gefunden hat. Markus wirft den Schlüsselbund, den ihm der Vermieter zur „Besichtigung in Eigenregie“ ausgehändigt hat, hoch in die Luft, fängt ihn wieder auf. Sie drängeln sich durch den Torbogen in den Hinterhof, vorbei an rostigen Fahrradständern, die unter einem löchrigen Wellblechdach stehen. Josephine folgt Markus die ausgetretene schmale Betontreppe nach oben.
„Welcher von diesen könnte denn wohl den Zugang zum Palast freigeben?“ Josephine zeigt ohne Zögern auf einen Eisenschlüssel mit hervorstechenden Zacken und tatsächlich passt er in die hellblaue Holztür. Es folgt ein kurzer Gang, dann stehen sie vor einer Metalltür. Hier passt erst der letzte Schlüssel aus der Versuchsreihe. Sie tasten nach dem Lichtschalter, finden aber nur die Hände der anderen.
„Ich hab ihn,“ Stephan triumphiert und mit einem Flackern gibt die Glühbirne den Blick ins Höhleninnere frei. Josephine sieht sich um. Es stand lange leer, es ist heruntergekommen.
Es wäre hirnrissig hier zu spielen, denkt sie. Und gleichzeitig wunderbar. Auf dem schwarzen PVC-Boden hat sich ein zusätzlicher Belag ausgebreitet, eine Schicht aus Staub, Abgeaschtem, Verschüttetem. Tom entzieht seine Schuhe dieser Mischung mit einem schmatzenden Geräusch.
Vereinzelt liegen Möbelstücke herum. Eine Matratze, deren buschiges Innenleben sich, in der Vergangenheit offensichtlich unterstützt durch die Arbeit verschiedener Nagetiere, nach draußen ergießt. Eine Stehlampe, deren Schirm so abgewetzt ist, dass sich sein Muster aus Schlingpflanzen mit Vögeln darin nur noch erahnen lässt.
Sylvie reißt das einzige Fenster an der Rückwand des Raumes auf, die Frühlingssonne macht das Theater hell.
Sie lassen sich auf einer Ansammlung wackliger Stühle nieder.
Stephan zündet sich eine Zigarette an.
„Also mir gefällt es. Ein bisschen räudig, aber das passt doch ganz gut zu uns.“
Markus, Tom und Sylvie stimmen sofort zu.
Josephine versucht sich den ganzen Dreck und Plunder wegzudenken, es sich vorzustellen mit Zuschauerreihen, einem kleinen Bartresen, einem neuen schweren Vorhang.
Wie sie vor ihrem Garderobenspiegel sitzt und sich die Wimpern tuscht während Tom an seinem Pult den letzten Lichtcheck macht, wie später die Leute zur Tür hereinströmen und an einem Bistrotisch mit der Kasse sagen: „Zweimal, bitte.“ Wie sie dann neugierig und gespannt auf ihren Stühlen sitzen und auf den Beginn der Vorstellung warten.
„Wir sollten es nehmen,“ sagt sie.
Eine Woche später stehen sie als neue Mieter mit Eimern, Besen, Wischlappen, Schrubbern und Putzmitteln am gleichen Ort und legen los. Einfach. Irgendwo. Sie werfen Flaschen, Matratze, Holzlatten, Kartons, leere Farbeimer, Stofffetzen, einen kaputten Fernseher in den Müllcontainer an der Straße und behalten die wenigen Dinge, die noch als Requisiten einsetzbar sein könnten. Tom findet in einer Kiste einen Baustellenscheinwerfer, der funktionstüchtig ist.
Es kommt Josephine vor, als würden sie einen gestrandeten Walfisch von seiner pockennarbigen Verkrustung befreien. Als Stephans Versuche scheitern, den Boden mit einem Wischlappen und Spülmittel vom Schmutz zu befreien, flutet er den Raum eimerweise mit Wasser, kippt eine ganze Flasche Lauge darauf und fegt die ganze Soße zur Tür heraus. Es wird nicht vollkommen sauber, aber es ist ein Anfang.
„Okay Leute, hört mal her, als erstes brauchen wir jetzt mal einen vernünftigen Namen.“ Markus winkt die anderen zu sich. Sie rufen durcheinander, wie sie jetzt heißen wollen.
„Theater im Hof”, „Bühne der Galanten”, „Forum B-West”, „New Off”.
Sie steigern sich, werden immer lauter, beschimpfen einander, verfluchen die Vorschläge der jeweils anderen, stimmen einander doch zu, stimmen ab, verwerfen die Ideen wieder. Dann beschließen sie, noch einmal alles fallen zu lassen und von vorn anzufangen.
„Theater der Antigonisten!“ ruft Sylvie in das Schweigen.
Das ist es. Das wissen sie alle sofort. Josephine denkt, das passt so gut zu ihnen, als wenn man zum ersten Mal erfährt, dass der unbekannte Vogel, der da so lustig ruft, tatsächlich „Kuckuck“ heißt. Sie kann es kaum fassen, dass sie bald ein eigenes Theater eröffnen werden.
Stephan hat für jeden ein Bier dabei. Sie stoßen an. Der Schaum läuft aus der Flasche und ihnen über die Hände. Nur noch ein letzter Schluck Zaubertrank und die große Schlacht kann beginnen.
Sylvie hat einen Sack voller Kostüme mitgeschleppt und kippt den Inhalt auf die neue Bühne. Da sind sie. Ineinander verschlungen, leuchtend, verknüllt, teilweise verdreckt.
Leonce und Lena, Kasimir und Karoline, Antigone und all die anderen. Das Verkleiden beginnt. Josephine zieht die weiten Röcke der Heiligen Johanna der Schlachthöfe über ihre Jeans, Tom ist plötzlich Hedda Gabler im Bademantel, Markus schlüpft in die Stiefel des jungen W. und stampft die Absätze wie ein Cowboy in den Böden, Sylvie ist Desdemona im Negligé, Stephan verwandelt sich in eine Hamletmaschine mit Kunststoff-Kettenhemd und Palästinensertuch.
„Mit diesem Rettich erdolche ich Dich!“ ruft er und schnellt mit einem Hirschgeweih in der Hand auf Tom zu. Der zuckt gespielt erschrocken zurück.
„Seins oder nicht seins!“ krakeelt Sylvie. Dabei fuchtelt sie Markus mit einem gebrauchten Taschentusch vor der Nase herum.
Sie tanzen im Licht des Baustellenscheinwerfers und singen aus all ihren Kehlen. „Yes I think to myself, what a wonderful world!”
Josephine hält inne. Ihr Atem jagt ihrem Herzschlag hinterher.
In der Luft tanzen Millionen Kristalle, der Staub rieselt aus den Ritzen. Sie schließt die Augen.
Nicht aufhören. Niemals. Bitte, denkt sie.

4.

Es ist der zehnte Abend von „Landschaft mit Argonauten – durch die Augen des jungen Woyzeck betrachtet“, ihr erstes Stück am neuen Ort in der Cuvrystraße ist. Josephine blinzelt durch den Vorhang in den Zuschauerraum. Höchstens zehn Gäste heute, mehr nicht. Davon sind die Hälfte Freunde, die aus Solidarität erschienen sind und von denen sie keinen Eintritt nehmen wollen. Es kommt fast niemand zu den Vorstellungen in ihrem kleinen Theater.

Das Geld, das ihnen die Eltern aus westdeutschen Kleinstädten jeden Monat nach Berlin überweisen, ist seit jeher schnell verbraucht. Es geht in die Raummiete, in die Kostüme, die sie sich auf Flohmärkten zusammensuchen, in das Holz, aus dem Tom seine minimalistischen Bühnenbilder sägt. Ich weiß, dass es dauern wird, dass wir einen langen Atem haben müssen, dass wir nicht aufgeben können, zumindest jetzt noch nicht, wo wir endlich einen eigenen Spielort gefunden haben. Die Inszenierungen der Stücke sind vielleicht zu ungewöhnlich, zu unvertraut, aber sie sind gut.
Das Andere hat es eh immer schwerer als das Angepasste. Aber wir wollen hier schließlich etwas erschaffen, das es so zuvor noch nicht gegeben hat, eine Avantgarde von neuen Inszenierungen und ungewöhnlichen Formaten, Stücke, die von den hohen Häusern der staatlichen Theater niemals gezeigt würden. Die Revolution braucht eben Zeit, bis ihre Qualität erkannt wird.

Josephine versucht geduldig zu sein und den anderen Mut zu machen, vor allem an Abenden wie heute.
„Es kommen auch andere Zeiten, seid zuversichtlich, an uns lag es nicht, wir waren toll,“ sagt sie.

Wir rasen direkt in den Abgrund, wenn nicht bald etwas passiert, denkt sie.

Das Stück ist zu Ende. Die Gäste, die keine Freunde sind, haben sich schon auf den Heimweg gemacht. Da entdeckt Josephine ihre beiden Kolleginnen aus dem Café „Muskau“, in dem sie tagsüber arbeitet am Tresen. Sie geht zu Katharina und Veronica, denen Tom gerade zwei Flaschen Bier rüberschiebt. Die Bar hat er selbst gebaut. In einer Nacht- und Nebelaktion hatten sie Holzlatten von einer Baustelle in der Schlesischen Straße geklaut und ins Theater geschleppt, wo Tom sie auf die Unterseiten gestapelter Bierkästen genagelt hat.
„Das ist ja super von euch, dass ihr es noch geschafft habt.“
„Du warst der Hammer, dein Aufruf zum Widerstand am Anfang, Josie ich hab echt fast geheult.“ Katharina strahlt über das ganze Gesicht.
„Und diesen Federfummel, wo hast du den aufgetrieben? Wenn es geht, würde ich mir ihn gern für die nächste Party im „Dschungel“ ausleihen.“ Veronica zupft an Josephines Kostüm.
Sie schwimmt in den Komplimenten der beiden, ist dankbar dafür. Sie sieht ihnen an wie stolz sie sind, eine Schauspielerin zu kennen. Eine, die auf einer richtigen Bühne steht und sei sie auch noch so klein. Zugleich denkt sie an den abendlichen Kassensturz, nach dem es vermutlich wieder nur für eine Pizza „Ali´s“ und eine Runde Bier für alle reichen wird.
Als Katharina und Veronica sich verabschieden und zum Ausgang gehen, lächelt Stephan ihnen aus seiner Ecke neben der Garderobentür zu. Seine Hände halten eine Bierflasche so fest umklammert, dass es fast so aussieht, als wäre sie sein letztes kostbares Besitzstück. Etwas, das er unbedingt gegen Diebe verteidigen muss.
„Komm, lass uns nach Hause gehen, Stephan“, Josephine will sich bei ihm unterhaken.
„Nein, geh du ruhig“, murmelt er, „ich muss noch in den Elefanten.“
Seine Augen fallen auf den Grund der Flasche.

5.

Nach den Vorstellungen verschwindet Stephan immer regelmäßiger im „Grünen Elefanten“. Er sagt, er braucht das, um sich noch intensiver zu spüren. Außerdem könne er dort ein hervorragendes Rollenstudium betreiben, denn im „Elefanten“ würden sich all die düsteren Typen herumtreiben, die er so gerne spielt. Die Kneipe ist nur wenige Meter vom neuen Theater entfernt und nicht viel größer als das Wohnzimmer von Josephines Eltern in Niedersachsen. Ein bisschen erinnert sie die abgeschabte Teppichverkleidung aus goldenen Verschnörkelungen auf dunkelblauem Grund tatsächlich an das Sofa, auf dem ihre Mutter früher unter leisen Flüchen die aufgerissenen Hosen und löcherigen Strümpfe ihrer Kinder ausbesserte.
Im „Elefanten“ ist die Luft immer schwer. Tannenbaumförmige Salzkristalllampen sind unter geringelten Wollsocken versteckt, aus einem Stapel leerer Getränkekisten lugen zwei ausgestopfte Hasen hervor, ein Blechschild über der Tür kündigt „Natur und Terror“ an. In den Ecken Altäre mit Flohmarktfundseligkeiten. Lederne Drehhocker an einem Tresen, hinter dem sich eine Unzahl farbiger Flaschen auf verspiegelten Regalböden drängen. Uwe, hager und haarlos, mit massiven Ringen an den Händen und einer beinahe unsichtbaren Herzstein-Kette um den Hals, spielt Musik ausschließlich von Schallplatten und gibt der einzigen Überlebenden eines Rosenstraußes die Chance auf einen weiteren Tag im Wasserglas.
Über allem kreist wie der Suchscheinwerfer eines Leuchtturms zuckend eine rot angestrahlte Diskokugel.
Am Anfang hat Josephine Stephan ab und zu noch Gesellschaft geleistet, aber schon bald gemerkt, dass sie hier überflüssig ist. Mühelos findet er auch ohne sie seinen Platz an der Theke, zwischen Jochen, dem frisch geschiedenen UBahnfahrer und Martin, der Sozialpädagogik studiert. Er braucht nicht zu bestellen, ein Nicken gibt Uwe zu verstehen, dass es an der Zeit ist, ein Bier auf dem Tresen zu platzieren.
Wie bei einer präzise eingestellten Maschine verläuft Stephans Reaktion auf die sich stetig verdichtende Konzentration des Alkohols in seinem Körper. Erst findet er die Sprache und aus dem abseits der Bühne meist stillen, hageren jungen Mann wird eine Wortfeuermaschine. Silbe um Silbe türmt er auf und reiht Satz an Satz, bis ein schwankender Turm zu Babel ihn umgibt. Nach der siebten Flasche allerdings kommt dieses Gebilde ins Rutschen, die Vokale sind zu lang, die Endungen wollen nicht mehr vollständig herauskommen, die Kontrolle über die Reihenfolge der Konsonanten entgleitet ihm. Am Ende verliert er den Kampf, die ganze Konstruktion zerbricht. Mit einem leisen „uh“ sackt er in sich zusammen, seine blonden Haare kleben nass an der Stirn.
Erst in den Morgenstunden schafft Stephan es aus dem „Elefanten“, bleich und übel riechend, seine Augen zu Schlitzen verengt. Er schleppt sich in seine WG. Auf dem Küchensofa schläft er ein und bleibt dort liegen, bis ihn seine Mitbewohnerin Tine am Nachmittag weckt. Ihr verdankt er, dass er die Proben nicht jedes Mal versäumt. Nach einer Nacht im „Elefanten“ ist Stephan fahrig, vergisst häufig seinen Text. Das bringt ihn so auf, dass er mit den Händen hart gegen die Wände schlägt. Markus und Hans stützen ihn in seinen taumelnden Momenten. Sylvie versucht ihm starken schwarzen Tee zu beleben, Josephine reicht ihm ein volles Wasserglas nach dem anderen, während sie ihm das stinkende Haar aus der Stirn streicht. Sie hat Angst um ihn.
Wenn er es nicht hören kann, sagen die anderen, sie auch.
Wenn er es hören kann, sagen sie: „Stephan, verdammt nochmal, jetzt reiß Dich zusammen!“
Sobald er den Alkohol abgestoßen hat und der Nebel sich hebt, ist er brillant. Er scheint von innen zu leuchten, sie sehen sein Glühen auch ohne Scheinwerfer. Er stößt seine Faust in den Himmel, spuckt die richtigen Flüche an der richtigen Stelle in die Gassen, schnurrt ihnen allen verschwörerische Formeln ins Ohr. So tief taucht er in seine Rolle ein, dass er beinahe darin verschwindet. Seine Tränen sind meistens echt. Sobald der Vorhang sich senkt, geht er in die Knie.
Am fünften Abend des „Argonauten“-Stücks erscheint Stephan nicht zur Vorstellung. Dreißig Zuschauer sitzen auf den Bänken und schauen auf einen Vorhang, der sich nicht hebt. Stephans Part ist wichtig, sie können ihn nicht ersetzen.
Während Markus, Tom und Sylvie hinter der Bühne diskutieren und mit jeder Minute wütender werden, „warum ausgerechnet heute, wo endlich mal ein bisschen Publikum da ist“, rennt Josephine in den „Grünen Elefanten“ und findet Stephan mit auf dem Tresen abgelegten Kopf, ein Speichelfaden tropft aus seinem rechten Mundwinkel. Sie zieht ihn hoch, will ihn stützen, wegziehen, auf die Bühne bringen, den einzigen Ort, an dem er vor sich selbst in Sicherheit ist. Aber als sie die Ausdruckslosigkeit seiner Augen auffängt, kapiert sie auf einen Schlag die Sinnlosigkeit meines Vorhabens. Da ist heute kein Woyzeck. Sie legt seinen Kopf vorsichtig wieder ab, bittet Uwe um ein großes Glas Leitungswasser und kein weiteres Bier für ihn. Auf dem Rückweg zum “Theater der Antigonisten” sucht sie nach beruhigenden Worten, die die anderen davon abbringen könnten, mit ihrer Wut in den „Elefanten“ zu stürmen und Stephan trotz all seiner Trunkenheit doch noch auf die Bühne zu zerren. Die Vorstellung werden sie abblasen müssen.
Eigentlich hatten sie sich geschworen, das niemals zu tun.
Josephine tritt vor die Zuschauer und stammelt eine Entschuldigung, irgend etwas von einer plötzlichen und schweren Erkrankung ihres Hauptdarstellers, vom großen Bedauern des gesamten Ensembles, an diesem Abend das Stück leider nicht spielen zu können, von der selbstverständlichen Rückgabe der gezahlten Eintrittsgelder und einem Freigetränk an der Bar für jeden Gast. Sie bittet um Verständnis und verspricht eine neue Gelegenheit in der kommenden Woche. Beinahe flehentlich sagt sie, die Leute mögen doch ein andermal wiederkommen. Die Zuschauer erheben sich mit enttäuschten Gesichtern von ihren Plätzen und gehen in Richtung Bar oder gleich in Richtung Ausgang. Ein Mann mit blauem Kapuzenpullover und schwarzer Hornbrille berührt Josephine vorsichtig am Arm, bevor er durch die Tür geht.
„Hoffentlich ist es nichts Schlimmes, wünschen Sie dem jungen Mann doch bitte gute Besserung.“
Dieses Mitleid für etwas, das sie erlogen hat, ist Josephine unangenehm. Mit einer schnellen Bewegung schlüpft sie hinter den Vorhang, wo sich die anderen schon zur Krisensitzung versammelt haben. Wie versteinert starren sie vor sich hin, geben eine Zigarette im Kreis herum. Ein Pantomimenensemble aus traurigen Clowns, denkt sie.

6.

Josephine hatte von Markus´ Idee einer Zweitbesetzung für Stephan nichts hören wollen und stattdessen bei den anderen immer wieder gute Worte für ihn eingelegt. Nach dem heutigen Ausfall schmilzt ihr Widerstand. Sie will nach wie vor,

[…]

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