Leseprobe: Ela Meyer – “Es war schon immer ziemlich kalt”

1

Marc und ich hatten den ersten milden Frühlingsabend auf der Hafentreppe gesessen und schweigend aufs Wasser gestarrt.
Unter uns die Elbe, die sich wie ein unruhiges Tier vorüberwälzte und die Lichter vom Freihafen und den Industrieanlagen spiegelten sich auf der schwarzen Wasseroberfläche. Es war unmöglich, zu erkennen, was sich darunter befand. Marc öffnete den Mund nur, um Bier zu trinken und ich störte ihn nicht in seinen Gedanken, war schläfrig und dankbar, nicht reden zu müssen, empfand die Stille zwischen uns wie einen Gleitflug, frei von Anstrengung. Erst auf dem Weg nach Hause, begann er zu sprechen.
„Ich zieh nach Friesland zurück. Ins Dorf“, sagte er und sah mich nicht an.
Ich grinste, sagte: „Schon klar“, wartete darauf, dass auch er grinsen würde, aber sein Gesicht blieb ernst.
„In zwei Monaten.“
„Du spinnst!“
Marc schüttelte den Kopf.
Einmal, vor Jahren, hatte ich auf einem abgeernteten Maisfeld gestanden, gleich hinter unserem Dorf. Eine riesige Fläche, und die abgemähten Stoppeln hatten wie Stacheln aus der Erde geragt. Ein Rauschen, das ich nicht hatte einordnen können, hatte sich von hinten genähert. Ich drehte mich um und sah eine Wand aus Regen auf mich zurasen. Mir blieb gerade noch Zeit, die Kapuze aufzusetzen, da erreichte sie  mich. Kaltes Wasser trommelte auf meinen Kopf, umschloss mich, drang durch meine Jacke. Innerhalb von Sekunden war ich durchweicht, hatte das Gefühl zu schrumpfen und ich hockte mich auf den Boden, umschloss meine Beine mit den Armen, um mich vor dem Regen und der Kälte zu schützen.
Jetzt kam es mir vor, als würde ich wieder auf diesem Feld stehen. Marc räusperte sich, als wollte er etwas sagen, aber es kam nichts. Ich beschleunigte meine Schritte und wir bogen in unsere Straße ein. Die Laternen versprühten weißes Licht, das nicht ganz bis zu uns nach unten gelangte. Alles viel zu dunkel: Der Spielplatz, die Büsche, die vollgesprühten Hauseingänge und Toreinfahrten. Unter einem geparkten Auto schoss eine Katze hervor und flitzte vor unseren Fü.en entlang. Für einen kurzen Moment wurde mir schwindelig, ob vom Alkohol oder Marcs Ankündigung, schwer zu sagen.
„Aber warum? Was willst du da?“, fragte ich und wühlte in meiner Umhängetasche nach dem Schlüssel.
„Die Werkstatt von meinem Opa wieder aufmachen.“
„Das heißt, du bleibst länger?“
„Ich zieh da hin.“
„Nach Friesland? Ins Dorf?“
„Ja, hab ich doch eben gesagt.“
Wir stapften hintereinander die Treppe hinauf, ich vorne, Marc hinter mir her. Durch die verglasten Eingangstüren der Wohnungen schien kein Licht, es war nach eins und ich müde, war um sechs aufgestanden. Kein Wunder, dass es mir die Sprache verschlug, Marc hatte den Moment günstig gewählt, spekulierte vermutlich darauf, dass ich zu fertig wäre, um mit ihm zu diskutieren.
Oben angekommen steuerten wir direkt die Küche an. Ich schnitt dicke Scheiben vom Brot, die er mit Käse belegte und in den Sandwichtoaster schob, eingespieltes Team, das wir waren. Marc holte zwei Flaschen Bier aus dem Kühlschrank und wir stießen an.
„Paula?“
„Hm?“
„Bist du sauer?“, fragte er.
Sauer, verwirrt, ich wusste es nicht. Hatte nicht vergessen, welche Befreiung es gewesen war, Friesland hinter uns uns gelassen zu haben, damals vor acht Jahren. Jedes Mal, wenn ich ans Dorf dachte, war dort Winter. Um zu den anderen Jahreszeiten vorzudringen, musste ich tiefer schürfen. Als erstes Bild tauchte in meinem Kopf immer das letzte Stück des Wegs nach Hause auf, eine Abkürzung, die ich jeden Tag mit dem Rad genommen hatte, nur fünfhundert Meter von der Haustür entfernt, wo ich nie anzukommen schien, ein Standbild am Ende des Hohlwegs. Pfützen, in denen sich schmierig-braun das Wasser sammelte, Nieselregen, meine Hände am Lenker wie festgefroren, die Bäume kahl, die Rinde schwarz von der Feuchtigkeit. Der graue Himmel und die kurzen Tage, die die Sonne an den Rand der Welt gedrängt hatten. Stillstand, die Stille so still, dass sie in den Ohren dröhnte. Nicht nachvollziehbar, dass er dorthin zurückwollte. Marc stapelte die fertigen Brote auf das Schneidebrett und schob es auf den Tisch. Wir hockten uns nebeneinander aufs Küchensofa, ich breitete die Wolldecke über uns aus und wir stopften die Käsetoasts in uns hinein. Seit wir zusammen wohnten, hatte ich mir das Schlingen angewöhnt. Marc war ein schneller Esser, wenn es ums Teilen ging, musste ich dafür sorgen, nicht zu kurz zu kommen. Er behauptete, ich würde mindestens so ein Tempo vorlegen wie er, weshalb er aufpassen müsse, nicht abgehängt zu werden, wollte mir nicht glauben, dass er mit dem Wettfuttern angefangen hatte. Jetzt riss ich mit den Zähnen dicke Stücke vom Toast ab und verbrannte mir den Gaumen.
„Mir wäre es auch lieber gewesen, noch zu warten“, sagte Marc, „aber meine Oma macht Druck.“
„Aha.“ Ich formte ein O mit den Lippen und sog kühle Luft ein.
„Ja, der Bauer, der seine Maschinen in der Werkstatt unterstellt, hat sich eine Scheune gebaut und gekündigt und sie meint, wenn ich jetzt nicht zusage, verkauft sie. Das ist meine letzte Chance.“
Schon als Kind hatte Marc immer nur Automechaniker werden wollen, hatte sich jede freie Minute bei seinem Opa in der Werkstatt herumgedrückt und davon geträumt, sie eines Tages zu übernehmen. Wir waren fünfzehn Jahre alt gewesen, als er Nico und mir vorgeschwärmt hatte, wie er die Wände neu kalken und in dem angrenzenden Raum eine Teeküche einbauen würde.
„Mit Sofas zum Abhängen und immer einer Kanne Tee und Rumkandis.“ Rumkandis waren damals voll angesagt gewesen bei uns.
„Und dann veranstalte ich Konzerte, Heavy Metal auf der Hebebühne.“
„Keinen Punk?“, hatte Nico gefragt.
„Doch auch, aber Metal wegen Metall, Autowerkstatt.“
„Ja, ja, schon kapiert.“
„Und in die Grube projizieren wir Horrorfilme. Oder ich spann draußen am Tor eine Leinwand und davor parken die Leute. Frieslands erstes Autokino!“ Marc war immer lauter geworden, klang wie ein Jahrmarktschreier.
„Willst du dann trotzdem noch Autos schrauben, ich meine trotz Autokino und Konzerten?“, hatte ich gefragt.
„Na, klar, ist doch das Wichtigste!“
Marcs Ambitionen waren also nichts Neues, aber wie ernst es ihm tatsächlich damit war, hatte ich unterschätzt, obwohl er seinem Ziel Jahr für Jahr, wie ein Aufziehauto, entgegengetuckert war. Lehre, Gesellenzeit, Meisterschule.
Immer am Schrauben und noch immer nicht genug davon.
„Ich sollte nicht so überrascht sein, oder?“, fragte ich.
„Ne, ich hab immer gesagt, dass ich das irgendwann machen will.“
„Eben, irgendwann, ich dachte, wenn wir älter sind, aber doch nicht jetzt. Und was ist mit deiner Band, deinen Freunden, deinen Lovern, und was wird aus mir?“
Ich hatte geglaubt, die Werkstatt gehörte zu der Sorte von Träumen, die man ein Leben lang hegt, aber nie verwirklicht, weil der Traum dann kein Traum mehr wäre, weil der Traum im Laufe der Jahre so fett geworden war, dass er niemals den an ihn gerichteten Erwartungen gerecht werden konnte.
Vielleicht hatte ich das auch nur glauben wollen. Ich ballte die linke Hand, die auf meinem Oberschenkel lag, zur Faust, hob sie auf Schulterhöhe und ließ sie knapp neben Marcs Hand auf die Tischplatte plumpsen. Unsere Blicke trafen sich und an der Art, wie er den Mund seitlich verzog, erkannte ich sein Unbehagen. Mit seiner Hand fuhr er die wenigen Zentimeter bis zu meiner Faust, die wie ein toter Vogel zum Liegen gekommen war, und machte Anstalten, sie darauf zu legen, aber ich zog sie weg und versteckte sie unter der Achsel.
„Du könntest mitkommen“, sagte er.
„Zurück nach Friesland?“
„Ja, warum nicht?“
„Ins Dorf?“
Er nickte und ich schüttelte den Kopf.
Marc lachte. „Was denn, wenn ich zurückgehe, kannst du das auch.“
„Eine Woche würde ich mir geben, höchstens. Nach einem Tag mit meiner Mutter krieg ich schon die Krise.“
„Das liegt aber nicht am Dorf.“
„Na, und? Ich will hier nicht weg.“
Unsere Wohnung war klein, die Küche mit dem Sofa der größte Raum. Marc hatte sich ein Hochbett in sein Zimmer gebaut, darunter staute sich sein auf Flohmärkten und vom Sperrmüll zusammengetragener Krempel. Fahrrad- und Mofateile, rostige Werkzeuge, seine Sammlung altertümlicher Trockenhauben, die wie Lampenschirme an den Wänden hingen und die er als Kleiderständer benutzte. Nach und nach waren aus seinem Zimmer immer mehr Sachen in die restliche Wohnung gesickert.
Mein Blick fiel auf den katzenförmigen Topfuntersetzer, seine Spielesammlung, mit der wir nie spielten, den vor Jahren angefangenen Fliegenvorhang aus Kronkorken.
Unvorstellbar der Gedanke, dass all das verschwände, wenn er auszog.
„Leicht fällt es mir auch nicht, hier abzuhauen, das kannst du mir glauben, aber ich bin ja nicht aus der Welt. Hab lange genug davon geträumt, nun ist auch mal gut. Du weißt schon, jetzt oder nie, und ich glaube, meiner Oma ist es nur recht, wenn sie nicht mehr länger alleine in dem großen Haus leben muss.“
„Du ziehst bei ihr ein?“
„In die obere Etage, in die Wohnung, die seit Jahren leer steht, du weißt schon, die von der alten Wilken. So haben wir beide unseren eigenen Bereich und ich bin bei ihr, wenn mal was ist. Sie wird langsam en beten tüdelig. Außerdem werde ich voll oft hier sein und dich besuchen und proben und Großstadtluft tanken.“
Auf dem Brett lag noch eine Scheibe Toast, ich schnitt sie in der Mitte durch, der Käse zog sich wie Kaugummi, ich wickelte mir die Fäden um den Zeigefinger und lutschte ihn ab.
„Weißt du, was komisch ist“, sagte Marc und biss in seine Hälfte. „Mit jedem Jahr, das ich nicht mehr dort wohne, erscheint mir das Dorf idyllischer. Ich weiß nicht mal mehr, warum wir es da so scheiße gefunden haben.“
„Soll ich es dir erzählen?“
„Ne, lass mal.“
Das Dorf war eine Ansammlung von Höfen und Einfamilienhäusern inmitten eines Monokulturanbaugebiets, Mais. Wenn es nicht nach Gülle stank, wurde gespritzt.
Dahinter erstreckten sich platte Wiesen, im Sommer grün, den Rest des Jahres braun oder gelb, vom Wind gekrümmte Bäume und hinter dem Deich die Nordsee. Kilometerweit graubraune Matsche, bis zum Horizont, ab und an vom Meer unter Wasser gesetzt. Ich habe die Nordsee fast nie voll gesehen, meistens streckt sie der Welt das nackte Wattenmeer entgegen. Der ewige Wind, die einsamen dunklen Winter, die Monotonie der Landschaft und die Abgeschiedenheit waren nur einige Gründe, weshalb ich froh war, nicht mehr dort leben zu müssen.
Der Kühlschrank sprang an, zwei Gläser klirrten aneinander, schienen direkt in meinem Kopf zu klirren. Entnervt stand ich auf und rüttelte daran, bis er verstummte, dann zog ich meinen Tabak aus der Tasche und drehte mir eine. Meine linke Hand war seit zwei Tagen taub, als wäre sie eingeschlafen.
Die Kippe hatte die Form eines Regenwurms.
„Solange du nicht von mir erwartest, dass ich mich für dich freue“, sagte ich zwischen zwei Zügen.
Marc nuckelte an seinem Bier und duckte den Kopf, ich kannte das von ihm, dieses Hals einziehen, als wäre der aus Gummi.
Das hatte er zu Hause bei seinen despotischen Eltern gelernt.
„Was ist mit deinen Alten, hast du ihnen schon die frohe Kunde gebracht, dass ihr bald Nachbarn sein werdet?“
„Oma hat es ihnen erzählt.“
„Und freuen sie sich?“
Marc antwortete nicht, vermied meinen Blick, sah zur Uhr, die in Form eines Apfels über der Spüle hing. Ein Rankgewächs hatte sich um das Ziffernblatt geschmiegt und es sah aus, als würde der Apfel eine grüne Perücke tragen. Es war nach zwei und ich seit über zwanzig Stunden wach.
„Macht bestimmt Spaß, sie jeden Tag zu sehen.“
Er antwortete nicht.
„Kannst Sonntags immer schön mit ihnen essen.“
„Ist gut, ich hab verstanden, du findest die Idee zum Kotzen, aber denk auch mal an meine Oma.“
„Okay, nur mal angenommen, deine Oma wäre fit oder schon tot, würdest du dann auch zurückgehen?“
„Sag so was nicht!“ Es entging mir nicht, wie Marc reflexartig mit der rechten Hand das hölzerne Tischbein berührte.
„Stell dich nicht so an. Würdest du? Ja oder nein.“
„Ja.“
„Also, dann komm mir nicht mit der Samariternummer.“
Marc wurde rot, der Kühlschrank klirrte erneut, ich trat dagegen und er verstummte. Viel lieber hätte ich Marc getreten. Ich schluckte die Tränen hinunter, die sich ihren Weg hinaus bahnen wollten, legte den Kopf in den Nacken und sah an die Decke, damit sie wieder zurückrollten, dorthin, woher sie gekommen waren. Über mir schaukelten Spinnweben und Staubfäden im Luftzug, der durch die undichten Fenster drang.
Marc war seit dem Kindergarten mein bester Freund, war wie ein drittes Bein, an das ich mich gewöhnt hatte und das mir Stabilität und Standhaftigkeit gab. Wir benutzten dieselbe Gesichtscreme, hatten Magendarmgrippen, Herpes und Läuse miteinander geteilt, und die Vorstellung, ohne ihn auf Konzerte zu gehen, in die Kneipe oder ins Kino, ohne ihn zu kochen und zu essen, Fernsehen zu glotzen und herumzuhängen, verursachte mir Übelkeit. Es war, als hätte er mir die Decke weggerissen, unter der wir beide eben noch nebeneinander gesessen hatten.
„Ich wollte nie wirklich weg aus Friesland.“ Marcs Stimme hatte einen trotzigen Ton angenommen. „Du warst die, die dauernd rumgejammert hat, wie schrecklich sie da alles findet. Mir hat es dort gefallen, die Ruhe, die frische Luft, die Weite.“
Der Stillstand, die Gülle, die dörfliche Enge, hätte ich dagegen setzen können, aber er hatte recht. Nico und ich waren es gewesen, die die Tage gezählt hatten, wann wir dem Ganzen endlich den Rücken kehren konnten. Marc war zufrieden gewesen mit dem Geschraube bei seinem Opa, seiner improvisierten Mofawerkstatt, unserem Schuppen und der Band.
Wenn er nicht so viel Stress mit seinen Eltern gehabt hätte, die weder seine Berufswahl noch sein Schwulsein akzeptierten, wer weiß, vielleicht wäre er sogar geblieben.
„Dann sei doch froh, dass du das alles bald wieder hast“, sagte ich.
„Bin ich auch.“
„Dann ist ja gut. Seit wann steht dein Plan?“, fragte ich.
„Als ich nach Neujahr meine Oma besucht habe, kam das Thema auf, aber fest erst seit gestern. Da hab ich mit der Bank geredet, wegen Kredit und so.“
Das Lachen tat mir im Hals weh. Marc auf der Bank wegen Kredit und so. Ich erinnerte mich daran, als er wieder gekommen war, am dritten oder vierten Januar. Seine Oma hatte ihm eine riesige Dose Neujahrskuchen mitgegeben, die, inzwischen leer, oben auf dem Regal stand. Mit keinem Wort hatte er die Werkstatt erwähnt, weder am Abend nach seiner Rückkehr, als wir die Dose erst bei Tee und später bei Grog fast geleert hatten, noch in den folgenden Tagen.
„Warum hast du mir vorher nichts gesagt?“
„Ich hatte Angst, dass du sauer wirst und ich wusste ja auch nicht, ob es klappt.“
Marcs Angst vor Konflikten, schnell den Hals einziehen und sich klein machen, wenn es mal ungemütlich wurde. So wie jetzt, Arme und Beine unter der Decke zusammengeklappt, die Brille schief auf der Nase, die er zu groß fand, aber ich konnte mir keine andere für ihn vorstellen. Er wirkte traurig, müde und ein bisschen betrunken. Alles in seinem Gesicht hing nach unten. Vermutlich sah ich ähnlich aus.
„Los, lass uns schlafen gehen“, sagte ich, nahm meine Tasche vom Stuhl, die ich beim Nachhausekommen darauf geworfen hatte, und verließ die Küche. Erst, als ich die Tür zu meinem Zimmer geschlossen hatte, hörte ich, wie er vom Sofa aufstand und ins Bad schlurfte. Mein Körper sank tonnenschwer auf die Matratze. Eine Wohltat, der Schmerz der Entspannung. Ich angelte nach dem Kuli, der neben mir auf dem Boden lag und markierte, bis wohin die Taubheit meiner Hand reichte, die zweite Linie, mehr als einen Zentimeter über der ersten. Mit der Rechten knipste ich die Nachttischlampe aus und als ich die Augen schloss, überfiel mich der Schlaf wie ein ausgehungertes Tier.

2

Am nächsten Morgen erwachte ich vom Zuknallen der Wohnungstür. Marcs Schritte polterten die Treppe hinunter, mein Wecker zeigte fast halb zwölf und durch das Fenster drang das Gekreische der Nachbarkinder und das monotone Gurren der Tauben. Im Zimmer war es kalt, das Fenster die Nacht über gekippt gewesen. Dies war mein einzig freier Tag der Woche und Marc und ich hatten verabredet, zusammen auf den Flohmarkt zu gehen, wollten danach in der Frühlingssonne Kaffee trinken und später ein paar Freunde zum Essen einladen. Nach dem gestrigen Abend war ich mir nicht mehr sicher, ob wir den Tag gemeinsam verbringen würden. Wie ich ihn kannte, hatte Marc sich verkrümelt, um mir aus dem Weg zu gehen. Wäre er zu Hause und zwischen uns alles im Reinen, hätte ich ihn gefragt, ob er mir einen Kaffee brächte. Ein Ritual an freien Tagen, uns gegenseitig Tee oder Kaffee ans Bett zu bringen. Dann kuschelten wir uns unter die Decke und quatschten und tranken unsere morgendlichen Heißgetränke und überlegten, was wir den Tag über unternehmen würden. Aber Marc war nicht da, mit uns war nicht alles im Reinen und meinen Kaffee würde ich mir selber kochen müssen.
In der Küche hing der Wachsgeruch des ausgeblasenen Teelichts, das im Stövchen unter Marcs Morgentee gebrannt hatte. Seine Zimmertür stand offen, genau, wie das Badezimmerfenster, und es zog kalt herein. Im Flur klingelte das Telefon.
„Hallo.“
„Hi, ich bin‘s.“
Nicos Stimme war mir fast so vertraut, wie meine eigene, auch wenn wir uns nur noch alle zwei oder drei Monate sahen.
Er wohnte in Hannover, wo er studiert hatte und nun als Musikpädagoge arbeitete. Den Hörer zwischen Ohr und Schulter geklemmt, drehte ich die Espressokanne auf und befüllte sie mit Wasser und Pulver. Nico klang beschwingt, kam gerade vom Joggen, war schon immer ein ehrgeiziger Renner gewesen und bei jedem Wetter den Fluss im Dorf entlang geprescht. Selten hatte ich ihn so gelöst gesehen, wie nach einem ausgiebigen Sprint, wenn er sich ins Gras fallen ließ, die Kiefer entspannt, das schweißige Gesicht und der Blick weich von den Endorphinen, die ihm beim Laufen durch den Körper gespült wurden. In solchen Momenten wollte ich mich ganz nah neben ihn ins Gras legen.
Während ich darauf wartete, dass der Kaffee nach oben blubberte, öffnete und schloss ich meine linke Hand, in der Hoffnung, sie so aus dem Tiefschlaf zu erwecken.
„Wie lange geht dein Job noch?“, fragte er.
„Zwei Wochen.“
„Perfekt! Und danach?“
„Keine Ahnung, warum?“
Ich arbeitete als Aushilfsbriefträgerin. Gute Bezahlung und viel Bewegung. Mit dem schwer beladenem Rad gelangte ich in Ecken Hamburgs, die mir so fremd waren, als wäre ich in einer anderen Stadt. Angenehmer wäre die Arbeit im Sommer, da bei Regen und Kälte das Briefeaustragen schnell zur Qual wurde. Mit rot gefrorenen Fingern die Post heraussuchen, die Umschläge und Zeitschriften, die klamm und nass aneinanderklebten. Morgens vor Sonnenaufgang aufstehen, auch Samstags. Die Temperaturen waren zwar in den letzten Tagen gestiegen, trotzdem hatte ich nichts dagegen, dass mein Vertrag bald auslief, und ich wieder Arbeitslosengeld beantragen konnte.
„Hast du Lust, mitzukommen, meine Mutter besuchen?“, fragte Nico.
„Deine Mutter?“ Das hatte ich nicht erwartet, hatte er sie doch, seit sie sich vor über zehn Jahren nach Spanien abgesetzt hatte, nicht mehr gesehen, hatte ihr nie verziehen, dass sie damals, er war sechzehn gewesen, ohne Vorankündigung oder Erklärung, ihre Sachen gepackt und abgehauen war. Nur zu gut erinnerte ich mich an den Morgen, der auf den Abend ihre Verschwindens gefolgt war. Nico war kurz nach Sonnenaufgang bei mir zu Hause aufgetaucht, unter seinen Augen so dunkle Schatten, dass ich im ersten Moment gedacht hatte, er wäre verprügelt worden. Seine Lederjacke hing ihm von den Schultern, die Schnürsenkel seiner Doc Martens flatterten um seine Knöchel und die dunklen Haare hingen wirr um seinen Kopf und verliehen ihm das Aussehen eines Welpens, der sich im Sturm verlaufen hatte. An diesem Morgen hatte ich Nico das erste Mal weinen gehört, ein rostiges Schluchzen, das sich in meine Brust bohrte.
„Wann denn?“, fragte ich jetzt und schloss Marcs Zimmertür.
„In zweieinhalb Wochen.“ Robert, sein Vater, hatte ausgemistet und wollte die letzten Sachen seiner Exfrau loswerden. Nico sagte, er hätte ihm angeboten, sie ihr zusammen mit Marc und mir zu bringen, vorausgesetzt, wir hätten Zeit und Lust mitzukommen. Er schlug vor, mit Marcs und meinem hundertfach geschweißten Mercedesbus zu fahren, quer durch Frankreich, dann ein paar Tage bei seiner Mutter zu bleiben und wieder zurück. Drei bis vier Wochen insgesamt. Da ich nicht weiter, als bis zur Beantragung des Arbeitslosengeldes geplant hatte, kam mir der Urlaub gelegen. Er würde mir Aufschub geben und mit dem Abstand hoffentlich die nötige Klarheit bringen, was ich als nächstes tun sollte.
„Warum nicht“, sagte ich.
„Cool, dann muss ich nicht alleine mit ihr sein.“
„Ist Leo denn nicht da?“
„Interessiert mich nicht, ob der da ist oder nicht!“
Leo war sein leiblicher Vater und der ehemals beste Freund von Robert. Nico hatte erst von ihm erfahren, als seine Mutter abgehauen und zu ihm gezogen war. Bisher waren sie sich weder begegnet, noch hatten sie den Versuch unternommen, Kontakt zueinander aufzunehmen. Beide schienen so tun zu wollen, als ob der jeweils andere nicht existierte. Nico aus Solidarität mit Robert, wie ich vermutete, über Leos Motive würde ich in wenigen Wochen sicherlich mehr wissen. Mir war bekannt, dass das Leo-Thema, genau wie das Mutter-Thema, tabu war, doch da er das eine aufgemacht hatte, war ich davon ausgegangen, dass das andere nun auch diskutiert werden durfte.
„Ja, ja, sorry, war ja nur eine Frage. Und du bist sicher, dass du deine Mutter sehen willst?“
„Ja, klar, aber ich hab auch Schiss, ist doch normal.“
„Vermutlich.“
Seine Mutter war mir immer verdächtig vorgekommen. Allein, wie sie jeden Morgen, nach allen Seiten grüßend und lächelnd, mit dem Rad durchs Dorf zur Arbeit gefahren war und am Nachmittag, die Fahrradkörbe vollgestopft mit Blumen und Obst und üppigen Salatköpfen, zurückgeradelt kam. Als wäre sie direkt aus der Rama-Werbung gefallen. Viel zu positiv war mir das alles vorgekommen, um echt zu sein. Und recht hatte ich behalten.
„Keiner zwingt dich, hinzufahren, sie kann sich ihren Kram doch auch selber abholen“, sagte ich, setzte mich mit dem fertigen Kaffee aufs Küchensofa und wickelte die Decke um mich.
„Ja, aber ich kann auch nicht ewig vor ihr wegrennen.“
„Können schon.“ Dass Nico bei dem bevorstehenden Besuch mulmig war, verstand ich, was ich nicht verstand, war, warum er sie auf einmal unbedingt sehen wollte. Bestimmt nicht wegen der Kisten. Ich drehte mir eine Kippe, inhalierte den Rauch und hustete. Der erste Zug am Morgen war immer hart.
„Ich glaub, ich bin nie drüber weggekommen, dass sie einfach abgehauen ist. Nicht, dass ich ständig daran denke, aber die Nummer, die sie gebracht hat, und dann noch ohne Vorwarnung, das kann nicht spurlos an mir vorbeigegangen sein. Ich hab dir doch mal erzählt, nachts, wenn es still ist, dann hab ich so ein Summen im Kopf. Das kommt bestimmt von dem Trauma.“
Nico hatte vor vier Monaten eine Therapie begonnen und ich vermutete, sein Therapeut nötigte ihn, in den alten Geschichten herumzuwühlen.
„Du meinst deinen Tinnitus.“
„Ja, genau. Und weißt du was krass ist, manchmal erinner ich mich nicht mal mehr genau daran, wie sie aussieht. Ich hab Angst, dass ich es bereue, wenn ich ihr nicht noch mal eine Chance gebe.“
Ich hoffte, seine Mutter würde die Chance zu nutzen wissen.
Wie ich Nico einschätzte, würde es so schnell keine weitere geben.
Schon einmal, wenige Monate nachdem sie sich davon gemacht hatte, hatten er und ich und Marc zu ihr nach Spanien fahren wollen. Nico und ich waren siebzehn gewesen, Marc ein Jahr älter. Er hatte gerade erst seinen Führerschein bestanden, das Abi ein Jahr vor den Prüfungen geschmissen und war einige Wochen zuvor von zu Hause abgehauen. Einen so radikalen Schnitt hätte ich ihm niemals zugetraut. In der Nacht unserer Abreise hatte Marc seinen Eltern einen letzten Besuch abgestattet. Nico auf der Rückbank, ich auf dem Beifahrersitz, im Kofferraum unser Gepäck. Er hatte mit der Motorhaube Richtung Straße geparkt und war zur Haustür gerannt, hatte den Finger auf die Klingel gedrückt, die wie ein Alarm schrillte, bis sie herausgekommen waren, sein Vater und seine Mutter, beide in Bademänteln.
„Übrigens, ich bin schwul und fahr jetzt nach Spanien!“
Seine Stimme gellte durch die Nacht, Nico und ich johlten und klatschten Applaus. Ohne ihnen Gelegenheit zu geben, zu reagieren, war er ins Auto gesprungen und mit quietschenden Reifen losgerast. Weiter als bis nach Holland waren wir nicht gekommen, weil das Auto unter uns zusammengebrochen war. Marc und ich wären auch noch weiter getrampt, aber Nico hatte seine Meinung geändert und entschieden, seine Mutter nie wieder sehen zu wollen.
„Schon das Neuste gehört?“, fragte ich. „Marc will zurück nach Friesland.“
„Ich weiß. Er hat mich vor zwei Wochen oder so angerufen.“
Asche fiel auf die Wolldecke und als ich darüberwischte, blieb ein grauer Schatten auf dem orangefarbenen Stoff zurück. Marc hatte Nico vor mir von seinen Plänen erzählt.
Mein Magen zog sich zusammen, der bittere Geschmack der Eifersucht. Sie hatten ohne mich darüber geredet und dann offensichtlich beschlossen, mir nichts zu verraten.
„Der Arsch! Ihr beide! Wieso habt ihr mir nichts gesagt?“
„Er hat Angst, dass du es ihm ausreden willst“, sagte Nico.
„Natürlich will ich das, was sonst?“
„Siehste! Genau darum. Ich glaub, er wollte nie wirklich weg aus Friesland. So oft, wie er seine Oma besucht, hatte er die ganze Zeit Heimweh, wenn du mich fragst. Für ihn ist das bestimmt das Richtige.“
„Aber nicht für mich.“
„Es geht aber nicht immer nur um dich und außerdem, wer weiß. Tut euch bestimmt ganz gut.“
Ich hätte mir gewünscht, Nico auf meiner Seite zu wissen. Er hatte Einfluss auf Marc, fand immer die überzeugendsten Argumente, schien immer besser als andere zu wissen, was richtig oder falsch war, als hätte er eine Art moralischen Kompass eingebaut. Wenn er seine Meinung sagte, war es, als würde er eine Wahrheit verkünden. Die erste Zeit unserer Freundschaft war ich gleichermaßen fasziniert und eingeschüchtert von ihm gewesen. Ich war gerade aufs Gymnasium gekommen und saß zunächst neben einem Mädchen aus dem Nachbardorf, das ständig in der Nase bohrte und die Popel danach aufaß. Niemand wollte mit ihr befreundet sein. Mir war das Gepopel egal und wir taten uns zusammen. Zu zweit waren wir nicht länger allein. Die Popelfresserin wollte nicht, dass ich meine Pausen mit Marc, der einen Jahrgang über uns war, verbrachte, sie forderte alleinige Aufmerksamkeit, und ich wechselte meinen Sitzplatz. Von da an saß ich neben einem schmächtigen Jungen, der finster blickte und nie etwas sagte. Marc hatte mir erzählt, dass er gerade erst bei ihm gegenüber eingezogen sei, sie aber noch kein Wort miteinander gewechselt hätten. In den Pausen saß er alleine auf einem Hügel, der mit alten, halb eingebuddelten Autoreifen bedeckt war. Die Schulhofausstattung hatte die Stadt nicht viel gekostet. Autoreifen und Asphalt und Bänke aus Beton. Der Neue hockte oben auf dem Autoreifenhügel, mümmelte an seinem Brot und guckte finster. Kopfhörer saßen auf seinen Ohren und er nickte zum Takt einer Musik, die wir nicht hören konnten. Marc fand, wir sollten ihm eine Chance geben. Meine erste Frage an ihn lautete, ob er eine Klasse übersprungen hätte. Die Frage lag nahe, er reichte mir nur bis zum Kinn. Sein finsterer Blick kannte noch eine Steigerung und ich schloss daraus, dass die Antwort negativ war. Meine zweite Frage war, wie es ihm hier gefalle.
„Scheiße“, sagte er und Marc und ich klopften ihm auf die Schulter. Nico war zwar gerade erst zu uns ins Dorf gezogen, aber hatte die begrenzten Möglichkeiten der friesischen Einöde bereits erkannt. Sein finsterer Blick beeindruckte mich. Wenn die Lehrer ihn etwas fragten, er angepöbelt wurde oder geschubst, starrte er sein Gegenüber an und kein Muskel bewegte sich in seinem Gesicht. Schon bald stand er in dem Ruf, irgendwie gestört zu sein, was ihn für uns erst recht interessant machte.
Seitdem waren wir zu dritt und ich wusste, ich konnte mich auf die beiden verlassen. Ich war mir sicher, wenn ich auf die Idee käme, auf einem Seil über einen Abgrund zu balancieren, würde Marc seine Höhenangst überwinden und mich, an meine Hand geklammert, begleiten, nur um mich nicht alleine zu lassen. Nico würde unten aufpassen, um uns aufzufangen, um ein Netz zu organisieren, oder was auch immer nötig wäre, damit uns nichts passierte, falls wir abstürzten.
[…]
„Gib mir mal Marc. Ich will ihn fragen, ob er auch mitkommt“, sagte Nico.
„Der ist nicht da und ich glaub kaum, dass er noch Zeit hat zu verreisen.“
Ich musste ihm versprechen, Marc auszurichten, dass er ihn zurückrufen sollte, legte auf und kochte mir einen zweiten Kaffee. Die Dielen unter meinen nackten Fü.en waren kalt.
Krümel klebten unter meinen Sohlen, es war an der Zeit, mal wieder zu fegen.
[…]

3

Während Marc die letzten Tage in seinem alten Betrieb arbeitete, sein Zimmer ausmistete und die neue Wohnung renovierte, verbrachte ich den Großteil meiner Zeit in Gesellschaft von Ärzten und Pflegepersonal. Das taube Gefühl in meinem Arm war weiter Richtung Schulter gewandert, und trotz aller Taubheit fühlte es sich an, als würde er in heißem Wasser hängen. Meine Hausärztin hatte Alarm geschlagen und mich ins Krankenhaus überwiesen und ich ließ mich von der ärztlichen Alarmstimmung anstecken. Im Krankenhaus erwartete mich ein strammes Programm. Ich starrte auf Bildschirme mit herumirrenden Punkten, mein Hirn wurde gescannt und man zapfte mir Blut und Rückenmarksflüssigkeit ab, letzteres eine Erfahrung, die ich nicht wiederholen wollte. Marc besuchte mich und fragte, was genau los sei, aber ich konnte es ihm nicht sagen, noch gab es keine klaren Ergebnisse. Der ein oder andere Diagnoseverdacht stand im Raum, aber ich hatte kein Verlangen, mit Marc, dessen Panikanfälle in Krankheitsdingen kein Limit kannten, darüber zu spekulieren. Er brachte mir eine Tupperschüssel mit Kartoffelpuffern von seiner Oma mit und erwürgte mich fast mit seiner Umarmung. Ich verbot ihm, meine Mutter und Nico zu informieren, wollte mit niemandem reden. Obwohl es keinen eindeutigen Befund gab, wurde mir Kortison verabreicht. Die ersten beiden Tage waren ein Höhenflug, ein Energieschub, wie ich ihn selten erlebt hatte. Ich rannte die Flure rauf und runter und zeichnete stundenlang. Dann, am dritten Tag der Absturz, nach einem Höhenflug kam immer ein Absturz.
„Der Verdacht, dass es sich um multiple Sklerose handelt, Ela Meyer: Es war schon immer ziemlich kalt 21 von 30 kann nicht ausgeschlossen werden“, teilte mir ein Arzt mit und ich wurde entlassen. Mir blieb nichts anderes übrig, als das MRT in drei Monaten abzuwarten und darauf zu hoffen, dass sich kein weiterer Schub einstellte. Ich belauerte meinen Körper, als wäre er ein Raubtier, das nichts besseres zu tun hatte, als mich anzugreifen und zu zerfetzen. Jedes Kribbeln, Zwicken und Ziepen, jeder leichte Schwindel und jedes kleinste Flackern vor den Augen ließen alle Sirenen in meinem Kopf schrillen und mich in Schweiß ausbrechen.
Marc holte mich mit unserem Bus vom Krankenhaus ab. Er redete die ganze Fahrt davon, was er alles noch vor dem Urlaub erledigen musste und zählte auf, was er schon geschafft hatte.
„Ölwechsel, die Scheibenwischer und Innenbeleuchtung und in der neuen Wohnung die Regale, den alten Teppich raus, roch voll nach der alten Wilken, haha, und morgen wird der Sperrmüll abgeholt, hast du auch noch was?“- „Nein.“
Ich sehnte mich nach jemandem, an dem ich mich festhalten konnte, der mir Mut machen und mich aus dem Nebel, der mich einhüllte und zu verschlucken drohte, ziehen würde. Aber Marcs undifferenzierte Furcht vor Krankheiten hätte mich nur immer weiter hineingeschubst. Außerdem nahm ihn die Planung seiner Zukunft voll in Anspruch, während mir meine Zukunft vor allem Sorge bereitete. Er driftete von mir fort. Es war, als ob wir bisher zusammen auf demselben Gleis gefahren wären und nun in entgegengesetzte Richtungen rollten. Sein Hauptinteresse galt seinem Umzug, für alles andere war kaum Platz. Bei einer Werkstattauflösung hatte er Schnäppchen geschlagen.
„Da hätte ich sonst das Dreifache für geblecht!“
„Glückwunsch.“
„Bist du immer noch sauer?“, fragte er.
„Ne, warum sollte ich?“
„Weil ich ausziehe. Du klingst so.“
„Bin ich aber nicht.“
Ich lag auf meinem Bett und starrte auf die Flecken an der Decke, Zeugnisse erschlagener Mücken aus vergangenen Sommern. Aus den Boxen, die auf dem Boden standen, dröhnte EA80, die Bässe vibrierten durch die Matratze.
„Was machen wir denn nun mit meinem Zimmer?“, fragte er mich später am Tag. Er saß, verschwitzt vom Ausmisten, auf meinem Schreibtischstuhl und trank aus einer Coladose.
„Keine Ahnung, hab ich mir noch nicht überlegt.“
„Wenn wir wiederkommen aus Spanien, bin ich ja nur noch eine Woche oder so hier, und ich hab gedacht, dann könnten wir auch vorher schon jemand Neues suchen und ich spare mir den Monat Miete. Aber nur, wenn das für dich okay ist.“
„Mir egal.“
Er sah mich an, das Gesicht angestrengt in Falten gelegt.
Ich sprang auf und riss das Fenster auf. Unter meiner Haut krabbelten Millionen von Ameisen. Die Panik drohte mich von Innen aufzufressen. Tief atmen, redete ich mir zu. Los, atme! Luft holen!
„Du siehst nicht wirklich so aus, als ob es dir egal wäre“, sagte er.
Ich hörte, wie Marc aufstand, von seiner Cola trank und rülpste. Er schob sich neben mich ans Fenster und legte mir den Arm um die Schulter.
„Ich kann auch noch warten. Aber gestern hat Jochen mir erzählt, dass seine Schwester ein Praktikum beim NDR macht und was für drei Monate sucht.“ Jochen spielte Bass in Marcs Band. „Dann musst du dich nicht gleich fest für jemanden entscheiden.“
„Wenn sie nett ist.“
„Ich kenne sie nicht, aber Jochen meinte, ja.“
„Sehr witzig.“
Er grinste. „Hier, die Telefonnummer.“ Er reichte mir einen Zettel, den ich in die Tasche meiner Jogginghose stopfte.
Marc zog die Augenbrauen zusammen und ich schüttelte seinen Arm ab.
„Ich ruf sie an, versprochen.“
Er seufzte. Diese Seufzer, die er von tief unten aus der Lunge holte, genau wie sein Vater. Ich war froh, diese Seufzer, in denen immer ein subtiler Vorwurf mitschwang, bald nicht mehr hören zu müssen. War froh, mich nicht mehr aufregen zu müssen, weil er nie Klopapier einkaufte und den Käse höhlte, ohne vorher die Rinde abzuschneiden. Er säbelte einfach die Mitte heraus, bis der Käse aussah wie die Kufen eines misshandelten Schaukelpferdes. Ganz zu schweigen von den Resten, die er in seiner Teetasse ließ. Der letzte Schluck, den er nie trank. Überhaupt, sein Spleen mit den Teetassen, es gab nur zwei, aus denen er trinken wollte, alle anderen waren ihm zu dickwandig, zu groß, oder hatten die falsche Form.
Marc zog los, um die Bananenkartons, die der Gemüsehändler von der Ecke für ihn aufbewahrt hatte, abzuholen. Die Tür knallte ins Schloss und ich schmiss mich wieder aufs Bett. Nebelfelder, immer mehr Nebelfelder breiteten sich vor mir aus und ich hatte keine Ahnung, wohin ich trieb, wohin es mich trieb.
Um nicht völlig abzuschmieren, zeichnete ich. Insekten.
Schon als Kind hatte ich tote Käfer, Motten und Spinnen eingesammelt, sie untersucht, sie in ihre Einzelteile zerlegt und alles mit spitzem Strich aufs Papier übertragen. Auf meinen Bildern krabbelten sie aus Ohren, Nasen und Augen, krochen zu Tausenden durch Blutgefäße, legten ihre Eier ins Fleisch, zersetzten, zerkauten, trieben die Auflösung voran. Wenn ich die Augen schloss und lange genug die Luft anhielt, spürte ich sie in mir, wie sich sich unter meiner Haut wanden, an mir nagten, mich zerstören wollten.
Meine Finger fuhren über die Narben, die Schnitte waren längst verheilt. Ich war stolz, mir seit Jahren keine neuen zugefügt zu haben. Aber der Druck nahm zu, das Tosen und Reißen in mir, und ich befürchtete, ich würde dem nicht mehr lange standhalten können, wusste, mir war nicht zu trauen.
Dann würde meine Hand die Klinge in die Haut drücken und wenn sie eindrang, würden die ersten Tropfen Blut fließen und mit dem Blut die wimmelnde Masse hinausgeschwemmt werden. Und mein Herz würde schlagen und erst käme der Schwindel, dann die Erleichterung, und die Scham, die käme erst später.
[…]
Meine Angst vor Marcs Panik in seinen Augen, wenn ich ihm von dem Diagnoseverdacht erzählte, davor, dass wir uns in unserer Angst gegenseitig hochschaukeln würden und sie sich so ins Unendliche multiplizieren würde, hielt mich davon ab, was zu sagen. Das und der Gedanke, wenn ich es erst einmal ausgesprochen hätte, würde es wahr werden. Marc gab sich Mühe, kochte abends meine Lieblingsgerichte, Linsensuppe, Ofengemüse, mit Grünkern gefüllte Paprika, und erinnerte mich an einen Hund, der Wurst geklaut hatte und sich, aus schlechtem Gewissen, unauffällig aber zuvorkommend verhielt.
Aus seinen Äußerungen schloss ich, dass er dachte, meine miese Stimmung hinge ausschließlich mit seinem bevorstehenden Auszug zusammen und ich ließ ihn in dem Glauben. Am letzten Tag vor unserer Abreise lud er Freunde ein.
„Pizza und Wein, das wird fein!“, reimte er und grinste verlegen.
„Ich mach Salat.“ Ich wunderte mich nicht weniger als er über mein Angebot.
„Schreib auf, was du brauchst, ich kauf ein. Heut geht alles auf mich!“, sagte er und knuffte mich gegen die Schulter.
Als Marcs Schritte im Treppenhaus verklangen, kramte ich meinen Rucksack aus dem Kabuff neben der Haustür. Es war keiner dieser bunten Plastikrucksäcke, sondern ein ausgeblichener Armeerucksack, der meinem Vater gehört hatte.
Nach seinem Tod hatte meine Mutter ihn in einer Truhe mit anderen Erinnerungsstücken von ihm aufbewahrt. Mit vierzehn war ich darauf gestoßen und seitdem begleitete er mich auf meinen Reisen. Ich stopfte alles, was ich nach Spanien mitnehmen wollte, hinein. Meine Armsymptome waren dank des Kortisons fast verschwunden. T-Shirts, Regenjacke, kurze Hose. Ich wollte daran glauben, dass sie nicht wiederkämen, war entschlossen, meine Gedanken und Gefühle zu kontrollieren, so dass kein Platz blieb für die Paranoia.
Socken, Unterhosen, Sonnencreme. Doch wie sich mein Körper in Zukunft verhalten, wann und wie er wieder zuschlagen würde, war nicht absehbar. Zum Schluss packte ich meine Zeichensachen und den Schlafsack ein und duschte das erste Mal seit Tagen.

Nico würden wir in Friesland treffen, wo wir erst Marcs Kartons ausladen und danach die Kisten seiner Mutter einladen würden. Es war einige Monate her, seit ich meine Familie besucht hatte. Meine Mutter wohnte noch immer mit meiner zehn Jahre jüngeren Schwester in dem Haus, in dem ich aufgewachsen war. Ich war zwei gewesen, als sie mit mir ins Dorf gezogen war und die alte Dorfschule gemietet hatte. Ein grau verputztes Gebäude mit großen Fenstern. Gurgelnde Wasserleitungen sangen uns in den Schlaf und unter der Treppe wohnte ein gigantischer Koksofen, der das ganze Haus über ein krakenartiges Rohrsystem heizte. Trotz neuer Holzböden blieb es selbst im Sommer fußkalt und wir trugen immer mehrere Paar Socken übereinander.
Als ich jetzt davor stand, wirkte das Haus viel heruntergekommener, als ich es in Erinnerung hatte. Die Tür vom Hühnerstall, den ich als Jugendliche ausgebaut hatte, hing nur noch an einer Angel und klapperte im Wind. Die Hühner pickten auf dem Komposthaufen, der unter einer Schicht Laub vom Vorjahr lag. Selbst nach den acht Jahren, die ich schon fort war, überrumpelte mich die Vertrautheit meines alten Zuhauses. Als würde man einem Körperteil von sich selbst unvermutet gegenüberstehen. Unsere Schaukel mit dem ehemals roten Brett, die an einem Ast der Kastanie baumelte, deren Wurzeln quer über den ehemaligen Schulhof reichten. Der gepflasterte Weg, der in einem Bogen vom Tor zur Tür führte und deren Steine seitlich wegrutschten. Die abblätternde Farbe der Scheune. Der Silogeruch der umliegenden Höfe. Die Schrotträder, die unter dem Scheunendach vor sich hingammelten. Ein Verflossener meiner Mutter hatte sie reparieren wollen, aber ihre Beziehung ging, wie nicht anders zu erwarten gewesen war, in die Brüche, bevor er auch nur eine Schraube gelöst hatte. Der Kombi meiner Mutter parkte vor dem Tor. Rot mit blauer Motorhaube. In Hamburg fuhr einer herum, der genauso aussah.
Jedes Mal, wenn er mir entgegenkam, durchfuhr mich eine Mischung aus Freude und Fluchtimpuls.
Sie winkte mir vom Küchenfenster aus zu, formte mit dem breiten Mund, den sie mir vererbt hatte, übertrieben Wörter, die ich nicht verstand. Ich verließ meinen Zaunplatz und ging im Slalom um die Pfützen herum, die sich zwischen den Pflastersteinen gesammelt hatten. Das Windspiel, das vor der Tür im Luftzug bimmelte, war neu. Sie wartete im Eingang auf mich. Die blonden Haare trug sie auf den Kopf getürmt und zwei Strähnen kringelten sich an ihren Schläfen. Mit ausgebreiteten Armen empfing sie mich und drückte mich an sich, schaukelte uns, als würden wir uns zu einem albernen Tanz wiegen. Ich widersetzte mich dem Geschaukel und ließ den Rucksack von meinen Schultern auf den Boden rutschen, wo er neben der Treppe liegen blieb. Im Flur roch es nach Erde, Rauch und Essen.
„Die Sauce!“, rief sie und rannte aufgeregt lachend in die Küche. Ich folgte ihr. Dort war alles wie immer. Die vollgestopften Regale, die Eckbank, der zerkratzte Tisch, die Hängekörbe mit Obst und eingestaubten Kräutern und die Rankgewächse, deren Nachkommen sich auch in meiner Wohnung rankten.
„Ich dachte, du kommst früher“, sagte sie und ihre Stimme, die immer eine Spur zu laut war, schabte mir übers Trommelfell.
„Ich hab Marc beim Kistenausladen geholfen und danach bei seiner Oma noch einen Tee getrunken.“
Sie zupfte an ihrer Schürze, die sie über dem grünen Hemd trug und warf einen Blick auf ihr Handy.
„Setz dich, willst du Tee?“
„Ich hatte schon einen, gerade eben, bei Marcs Oma.“
„Wie weit ist er denn mit seinem Umzug?“
„Fast fertig, fehlt nur noch Kleinkram.“
„Und? Fällt dir sicher schwer, ihn ziehen zu lassen, was?“
Ihr schräg gelegter Kopf, der empathische Blick, der Geruch des Hauses. Meine Tränen kamen unerwartet, ich hatte nicht gewusst, dass sie so nah gelauert hatten.
„Ach, Süße. Komm mal her.“ Sie drückte mich an sich und ich wollte versinken in ihrer Umarmung, mich verkriechen, verstecken vor der Welt. Ihr Handy piepste und sie ließ mich so abrupt los, dass ich beinahe umgefallen wäre. Der Vanilleduft ihrer Creme hing in meinem Pulli, lag auf meinem Gesicht, hatte sich in meinen Haaren verfangen.
„Wo ist Katinka?“
„Die kommt heute erst spät, hat sie gesagt.“
Meine kleine Schwester hatte mich schon häufiger in Hamburg besucht. Beim letzten Mal hatte sie an allem herumgemäkelt, dem Essen, der Matratze, die ich ihr neben meine gelegt hatte, dem Krach der Nachbarn, der U-Bahn, den Kneipen, dem Wetter. Nichts hatte ihr gepasst. Seit einem Jahr war sie nun nicht mehr bei mir gewesen und wenn ich kam, sorgte sie dafür, dass wir uns kaum sahen.
„Wie geht es ihr?“
„Kennst sie ja.“ Meine Mutter wedelte mit der Hand, was alles Mögliche bedeuten konnte. Ich nahm zwei Teller aus dem Regal, sagte: „Sie geht mir aus dem Weg.“
„Nimm das nicht persönlich, mir auch. Das ist das Alter, das war bei dir auch nicht anders.“
„Trotzdem komisch.“
„Sonst alles gut bei dir?“ Ihr Handy piepste erneut.
Plötzlich der Wunsch, ihr vom Krankenhaus und dem MS-Verdacht zu erzählen. Ich wartete auf den richtigen Moment, einen, in dem sie nicht abgelenkt wäre, in dem ich all ihre Aufmerksamkeit für mich alleine hätte. Mir brach der Schweiß aus bei dem Gedanken, es auszusprechen, wollte es schnell hinter mich bringen. Eine kindliche Hoffnung flatterte in mir, dass dann alles nur noch halb so schlimm wäre, weil sie, als meine Mutter, die Macht hätte, alles ungeschehen zu machen und die Angst wegzupusten. Heile, heile Gänschen. Mit zittrigen Fingern stellte ich die Teller auf den Tisch.
„Mama, ich muss dir was Wichtiges sagen.“
„Ich dir auch!“ Sie sprang zum Kühlschrank und zupfte ein Passbild unter einem Magneten in Kartoffelform hervor und hielt es mir vors Gesicht. Ein Mann war darauf, dunkle Locken, Schnauzer und Ohrring. Wie ein Bilderbuchpirat, ganz ihr Typ.
„Das ist Bernd!“ Sie strahlte mich an, ihre blauen Augen glitzerten. Ohne zu antworten drehte ich mich um und riss die Besteckschublade auf. Ich fühlte mich wie ein Vogel, der immer wieder gegen die selbe Scheibe knallt, weil er glaubt, der Himmel, die Bäume, die Idylle, die sich darin reflektieren, seien echt.
„Vor drei Monaten hat er bei uns als Rettungssanitäter angefangen.“ Seit ich vier war, arbeitete sie als Köchin in der Krankenhauskantine. Mit eckigen Bewegungen platzierte ich Gabeln und Messer auf den Tisch. Sie griff über mich ins Regal und stellte einen dritten Teller dazu.
„Ich dachte, Katinka kommt nicht.“ Meine Stimme hallte in meinem Kopf wie in einem leeren Raum wider. Das Gesicht meiner Mutter leuchtete vor Aufregung.
„Du und Bernd, ihr müsst euch unbedingt kennenlernen, bevor du morgen gleich weiterfährst.“ Sie klatschte in die Hände und lachte dieses alberne Lachen, das ich nicht ausstehen konnte. Durchs Fenster sah ich, wie ein Auto vor dem Tor hielt, gleich hinter dem ihrem, ein Golf oder Polo. Der Passbildpirat stieg aus. Mein Gesicht fühlte sich wie eingefroren an und Säure schoss in meinen Magen. Ich hätte ihr das ätzende Zeug am liebsten ins Gesicht gespuckt.
„Scheiße, muss das sein! Du hättest mich wenigstens fragen können! Ich wollte dir was Wichtiges sagen!“
Ich knallte die Besteckschublade zu, die sofort wieder aufsprang und haute noch einmal dagegen. Meine Mutter reagierte weder auf meine Schubladenattacken noch auf mein Geschrei. Sie riss die Küchentür auf und rannte nach draußen. Ich sah, wie sie sich umarmten und küssten, schnappte mir mit zittrigen Händen meine Jacke von der Eckbank und entwischte durch die Hintertür.

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