Leseprobe zu: Kristin Lange, die Gefahr des Gelingens
Anmerkung zur Leseprobe: Der Roman erzählt abwechselnd aus der Perspektive des Mannes und der Frau. Die Parts der Protagonistin sind anfangs noch sparsam eingestreut und kurz. Als zweite Leseprobe habe ich daher ein Stück aus der Mitte gewählt, das einen aussagekräftigen Eindruck von der Stimme der Frau vermittelt und gut zum Anfang passt.
Leseprobe 1, der Romananfang:
I
Mai 2000
„Möwe vier sieben, kommen.“
Erik drückt die Empfangstaste. „Möwe, kommen.“
„Schienenunglück mit Personenschaden zwischen Kiel und Preetz, Suizid vermutet, auf Höhe der Kleingartenkolonie am Kuckucksweg ‒ sorry, Erik, ihr seid am nächsten dran.“
Bitte nicht. Bitte endlich nach Hause. Kaffee, duschen.
Er angelt sich das Sprechteil. „Moin, Roland. Ist verstanden, sind unterwegs.“
Ulli neben ihm am Steuer stöhnt. Erik fummelt mit dem Sprechteil an der Halterung, rutscht ab, flucht, kriegt das Ding eingehängt und drückt eine Statustaste.
Der Waldboden federt unter seinen Schuhen, als sie aussteigen. Den Ablauf kennt Erik. Der Strom in der Oberleitung ist abgeklemmt, der Streckenabschnitt gesperrt. Zwischen Kiel und Plön geht in den nächsten Stunden gar nichts mehr.
Ein einsamer Sanitäter lehnt am Rettungswagen, auf dem Dach kreiselt das Blaulicht, nutzlos und wie vergessen. Auf den Gleisen steht ein Kurzzug. Hinter den Scheiben morgenmüde Schemen, sie alle mit einem unschönen Ruck in den Gliedern und einer Lautsprecherstimme in den Ohren: Personenschaden, Verzögerung, Schienenersatzverkehr, die Deutsche Bahn bedauert das.
Den Ablauf kennt Erik. Gewöhnen wird er sich nie daran.
Er setzt die Mütze auf und tritt auf den Sanitäter zu, der sich beim Versuch, ein Gähnen zu unterdrücken, fast den zartbeflaumten Unterkiefer verrenkt.
„Moin. Rieper. Was haben wir hier?“
„Moin. Mommsen. Mann gegen Regionalexpress.“ Der Junge zieht an seiner Zigarette, kneift die Augen gegen den Rauch zusammen und grinst. „Eins zu null für den RE. Keine Rückrunde.“
„Okay.“ Erik überlegt einen Moment. „Und Sie sind hier für die Späße zuständig?“
Der andere antwortet nicht.
„Ist der Leichnam geborgen?“
Der Junge nuschelt etwas von „Kollegen suchen“, und „Bestatter verständigt“, zieht ein letztes Mal an der Kippe, lässt sie dann fallen und drückt sie mit dem Absatz seiner Profilschuhe in den weichen Boden.
„Und der Zugführer?“, fragt Erik weiter. „Wo finde ich den?“
„Sie. Zugführerin.“ Der Junge weist mit dem Kopf Richtung Rettungswagen, ohne Erik anzusehen.
Erik geht um den Wagen herum zum Heck. Eine stämmige Mittfünfzigerin mit erdbeerroten Strähnchen im Aschblond hockt auf der Kante der Ladefläche und zittert trotz der Wärmedecke um ihre Schultern. Eine Notärztin steht bei ihr.
Nachdem er die Personalien der Frau aufgenommen hat, beginnt sie stockend zu berichten. Die letzte Fahrt vor Schichtende; auf einmal steht da einer. „Das kommt vor, hat normalerweise nichts zu sagen, trotzdem kriegt man jedes Mal Zustände.“ Ihre Rede gerät in Fluss. „Der hat noch einen Schluck aus seiner Flasche genommen. Die Flasche abgestellt, sich hingelegt. Auf den Bauch, ganz in Ruhe, Hals auf die Schienen, Gesicht zu mir. Ich hab sofort eine Schnellbremsung eingeleitet, natürlich hab ich das, aber wissen Sie, wie lange es dauert, bis …“ Sie bricht ab und blickt ihn an.
Ja. Weiß Erik.
„Der hat mich angeguckt, die ganze Zeit angeguckt.“ Ihre Stimme schwankt. „Der hatte einen Bart, oder?“
Das mit dem Bart scheint ihr wichtig, sie fragt ein paar Mal danach, dann bricht sie in Tränen aus. Die Ärztin legt ihr eine Hand auf die Schulter.
„Wir wissen es noch nicht“, sagt Erik. Er schaut einen Moment auf die weinende Frau hinunter. „Wie kommen Sie denn nach Hause?“
„Die Lebensgefährtin weiß Bescheid“, sagt die Ärztin. „Sie ist unterwegs.“
Oh, okay. Erik verabschiedet sich von den Frauen und macht sich auf den Weg entlang der Gleise zu Ulli, der sich dem kleinen Suchtrupp angeschlossen hat.
„Hier rüber, Erik, wir haben ihn.“
Erik beeilt sich, über die rutschenden Geröllbrocken zu dem Grüppchen zu gelangen und sieht zuerst eine Jacke neben den Gleisen liegen, die hat es dem Typen vom Leib gerissen. Er hebt den Fetzen auf und geht weiter zu Ulli, der neben einem Körper kauert, oder dem Großteil eines Körpers.
Die beiden Sanitäter nicken ihm zu und gehen dann in normalem Schritttempo Richtung Waldweg zurück.
In den Resten der Jacke findet Erik die Brieftasche und ein Tabakpäckchen. Aus Gewohnheit drückt er den Tabak, fühlt einen Knubbel Dope. Der Ausweis in der Brieftasche zeigt das Foto eines Mannes mit Oberlippenbart und schmalem, landläufig attraktivem Gesicht.
„Jürgen Möllner“, liest er vor. „Wohnort Kiel, Geburtsort Kiel, Geburtsdatum 11. November 1956.“ Sein Jahrgang. Er räuspert sich. „Besondere Kennzeichen: zwei fehlende Fingerglieder an der linken Hand.“
Ulli schaut an dem Leichnam hinunter, nickt, passt. „Brief?“
Ein Tütchen Fisherman’s Friend. Ein mitgewaschenes Papiertaschentuch. Ein Kassenzettel von Aldi.
Kein Brief.
Jürgen Möllners Kopf finden sie dreißig Schritte weiter. Er ist ins Geröll zwischen zwei Bahnschwellen geraten und hat zu Eriks Erleichterung nur noch wenig Ähnlichkeit mit etwas, was einmal gesprochen oder gelacht hat.
Erik nimmt die Mütze ab und betrachtet das Nichts, das von dem Gesicht übrig ist. Dabei versucht er, alle anderen Gedanken auszuschalten. Das macht er immer, bei jedem Toten. Eine halbe Minute nur für den, der da liegt, in der sonst nichts passiert.
Auf dem Rückweg zum Funkstreifenwagen finden sie eine leere Bierflasche, aufrecht im Schotter neben den Gleisen. Am Brombeergestrüpp lehnt ein schwarzes Herrenrad, Marke Asbach, halb zur Seite gerutscht.
Angeführt von einem Zugbegleiter macht sich ein versprengtes Trüppchen Fahrgäste auf den Weg Richtung Straße. Zwei oder drei der Leute haben Handys gezückt und telefonieren.
Die Sonne ist höhergestiegen, die Strahlen werfen Streifen und Schattenmuster auf die Stämme der Buchen und auf den von Samenhülsen übersäten Weg. Ein roter Mazda ist eingetroffen. Eine Frau hält der Zugführerin die Beifahrertür auf und hilft ihr hinein. Dann geht sie um den Wagen herum und steigt ein, und der Mazda schleicht über den Waldweg davon.
Bis zum Eintreffen der Kollegen von der Kripo gibt es hier nicht mehr viel zu tun. Erik lehnt sich an den Passat, schließt die Augen und saugt den Geruch nach Sonne und Holz und zerfallendem Laub ein. Ein waldiger Geruch, er muss grinsen, weil ihm kein besseres Wort einfällt.
Aus dem offenen Wagenfenster dringen abwechselnd Ullis Murmeln und das Krächzen des Funkgeräts. Darüber zwitschert hell und durchdringend ein Vogel, setzt ab, beginnt von Neuem.
An Eriks linkem Ohr surrt eine Mücke vorbei. Er verscheucht sie und öffnet die Augen. Die Bäume bilden ein Dach hoch über seinem Kopf. Durch die Lücken schimmert ein Stück blasser Himmel, von fedrigem Dunst überzogen.
Maigrün, denkt er. Waldmeistergrün, Ahoj-Brausetütchengrün. Bestimmt gibt’s hier Waldmeister. Wenn man den erkennen würde.
„Meta oder Henrike?“, fragt Ulli. Er hat die Beifahrertür geöffnet und streckt den Kopf heraus.
„Hm?“
„Es gibt eine Meta Möllner in Kiel-Dietrichsdorf und eine Henrike Möllner draußen in Kitzeberg“, erklärt Ulli geduldig.
Ein dezentes Stechen an Eriks linker Halsseite. Er schlägt mit der flachen Hand zu und besieht den schwärzlichen Brei an seinen Fingern.
Meta klingt mehr nach Mutter. Ist auch näher dran.
Er bückt sich und wischt die Hand am Gras ab. „Meta.“
Der Passat holpert über ein Schlagloch. Ulli und ihn hebt es von den Sitzen, und Ulli stößt sich den Kopf am Wagendach. Erik bremst ab, schaltet vom dritten in den zweiten Gang.
Wieso müssen wir das jetzt auch noch machen?, meldet sich der blöde Bulle in Eriks Kopf.
Weil es sonst jemand anders machen muss, antwortet der gute Bulle.
Na toll. Es war gerade Schichtende, als Roland uns angepiept hat. Das heißt, wir haben seit ziemlich genau …
… einer Stunde Feierabend, ja.
Also warum?, fragt der blöde. Wir sind beide scheißmüde, ich brauche einen Kaffee und eine Dusche und …
Hab ich doch gerade gesagt. Weil es sonst zwei andere arme Schw…
Ja. Und?
Das wäre auch nicht besser, global und universell gesehen. Wir haben ihn gefunden. Sie wird Fragen haben, die Mutter. Wenn sie es ist. Und außerdem ‒
Was?
Nichts. Schon gut. Tatsache ist, wir können das.
Du Guter. Ach, übrigens: heute ist Muttertag.
Idioten, alle beide. Erik biegt vom Waldweg auf die Landstraße und klappt die Sonnenblende herunter. „Ulli?“
„Hm?“
„Heute ist Muttertag.“
„Kacke.“ Ulli versetzt seiner Sonnenblende einen Schlag nach unten.
„Ulli, wieso müssen wir das machen? Wir haben seit einer Stunde Feierabend, und …“
„Darum.“ Ulli nimmt die Brille ab und reibt sich mit beiden Händen die Augen. Er setzt die Brille wieder auf. „Guck nach vorn.“
Darum. Darum ist Ulli sein Freund, seit mehr als dreiundzwanzig Jahren.
Die verwahrloste Ladenzeile da vorne kennt Erik von einem Einsatz im letzten Herbst, als ein paar Kids es für eine gute Idee hielten, in dem verwinkelten Komplex ein Lagerfeuer anzuzünden. Die gekachelten Wände sehen aus, als würden sie von den Graffiti oder ihrem eigenen Echo zusammengehalten.
Gockelgrill, Schnellreinigung, alles tot und verrammelt. Eine leerstehende Bierkneipe, deren gesprungenes Leuchtschild weniger an die lustigen Samstagabende erinnert, die hier vielleicht vor hundert Jahren stattgefunden haben, als an die Sonntagvormittage danach.
Überhaupt macht die Gegend einen verkaterten Eindruck. Eine öde Kreuzung, drumherum Sechziger- und Siebziger-Jahre-Wohnblocks, die vermutlich als Wohnverbesserung galten, wenn man aus den miefigen Löchern in Gaarden und Alt-Dietrichsdorf hierher zog. Ein paar Alibi-Grünflächen und ‒ einziger optischer Lichtblick ‒ der Wasserturm, dessen Rumpf immerhin nette Schiffsmosaike schmücken.
Ulli späht durch die Windschutzscheibe und dirigiert ihn auf einen kleinen Parkplatz. Erik stellt den Motor ab, Ulli löst seinen Gurt. Einen Moment lang starren sie beide auf das Hochhaus, dann seufzt Ulli und öffnet die Tür.
Zehn Meter Plattenweg bis zum Eingang. Die Haustür geht auf, als sie sich nähern, und eine junge Frau mit schwarzgefärbten Haaren und welpenhaft klobigen Turnschuhen bugsiert einen Zwillingsbuggy mit zwei Einjährigen hinaus. Ulli beschleunigt seinen Schritt und hält der Frau die Tür auf. Sie schlüpft unter seinem Arm vorbei und streift ihre Uniformen mit einem Blick.
Eine Klingelleiste. Namen bis in den Himmel hinein. Hansen, Yildiz, Bräuer, Teschner.
Und Möllner, zwölfte Etage links.
Erik klingelt. Wartet, den Blick auf die Placken Moos gerichtet, die das Plexiglas des Vordachs zieren.
Ein Knacken, ein Krächzen aus der Sprechanlage.
Sie nehmen die Mützen ab. Erik senkt den Mund zum Lautsprecher.
Er hasst es. Scheiße, wie er es hasst.
„Tja. Was soll ich dazu sagen.“
Die Küche, in der Meta Möllner, Ulli und er beisammen sitzen, ist tadellos aufgeräumt. Läppchen überm Wasserhahn, Wischspuren auf der Wachstuchdecke. Der einzige Zeichen von Liederlichkeit ist eine benutzte Tasse auf dem Tisch. Glas Nescafé daneben, eine Zeitung, die bei einem angefangenen Kreuzworträtsel aufgeschlagen ist, Bleistiftstummel in der Mittelfalz.
Frau Möllner ‒ wohlgenährte plusminus siebzig Jahre, fein gelegtes Grauhaar mit kräftigem Gelbstich und um den Mund ein paar Kerben, die nicht wirken, als stammten sie von übermäßigem Lachen ‒ Frau Möllner also fingert ein Papiertaschentuch aus dem Ärmelaufschlag ihres Morgenmantels, tupft sich damit über die Mundwinkel und lässt die Hand mit dem Tuch wieder in den Schoß sinken.
Aus einem Nebenzimmer dringt Fernsehgebrabbel, nicht recht zu orten, aber eindeutig innerhalb der Wohnung. An der Wand über dem Küchentisch tickt eine Uhr, eine altmodische Messingsonne, die ihre Strahlen in alle Richtungen stößt.
Meta Möllner knetet ihr Tüchlein in der Hand.
Tick.
Tack.
Tja. Was soll sie dazu sagen?
Wenngleich Erik durchaus mit ein paar Sätzen aus dem Fundus aushelfen könnte. Das kann nicht sein. Wo ist er, ich will zu ihm. Warum hat er das getan?
Die Gründe aber, warum Frau Möllner aus allen denkbaren Sätzen gerade diesen gewählt hat, gehen ihn nichts an, und schon gar nicht ist es seine Aufgabe, darüber zu urteilen. Vielleicht war Jürgen Möllner einer, der seiner Mutter die Rente herausgeprügelt hat. Und Erik, der gern etwas tut, auch wenn es nichts mehr zu tun gibt, überlegt, ob es für die Hängeschränke, mit denen Frau Möllner in den Sechzigern hier eingezogen sein muss, eine Farbbezeichnung gibt. Erbsgrau. Staubgrün.
„Frau Möllner.“ Ulli auf der Eckbank räuspert sich. „Gibt es jemanden, den Sie anrufen möchten? Der herkommen kann oder Bescheid wissen sollte?“
Sie blinzelt ihn aus wässrigblauen, leicht geröteten Augen an. „Die Henrike vielleicht? Meine Tochter?“, schlägt sie in einem Tonfall vor, als böte sie Gebäck an.
Ulli nickt bedächtig. Frau Möllner seufzt, stemmt sich vom Stuhl hoch und geht in den Flur, wo sie sie telefonieren hören. Nach ein oder zwei Minuten wird ihre Stimme lauter und scharf. „Ja“, sagt sie. „Ja.“ Und wieder: „Ja.“
Dann Stille, eine Tür klappt und die Wohnung scheint Frau Möllner verschluckt zu haben.
Erik steht auf, dehnt die Glieder und geht ein paar Schritte zu einer schmalen Balkontür. Der Blick geht über die benachbarten Wohnblocks und die Kreuzung. Hinterm Wasserturm verläuft in schnurgerader Linie die Kaistraße bis hinunter zum Ostufer, wo die Portalkräne der Werft sich erheben, beinahe farblos im sonnigen Glast.
Die Hälfte der Balkonbreite nimmt ein Wäscheständer ein, dicht an die niedrige Brüstung gerückt. Kurzärmlige XXL-Karohemden hängen schlaff zwischen geräumigen Büstenhaltern. Daneben, in der Ecke, ein Kübel mit etwas Ersticktem oder Vertrocknetem darin.
„Hat Roland noch wen erwähnt?“ Er dreht sich zu Ulli um. „Der hier gemeldet ist? Sie wohnt nicht allein.“ Er nickt Richtung Balkon: „Wäscheständer. Männerkleidung.“
„Hey.“ Ulli stülpt anerkennend die Unterlippe vor. „Sherlock.“
Erik bewegt die Schultern, um die Nackenmuskeln zu lockern und kehrt auf seinen Platz zurück. Der Fernseher ist jetzt deutlicher zu hören. Ein Kindersender, KiKa oder was. Plötzlich findet er das Geplärr unerträglich laut, und er möchte nur noch raus hier. Raus aus dieser Wohnung und fort von der Alten, die nichts mit dem Tod ihres Sohns anzufangen weiß. Raus auch aus der Uniform, die ihm an manchen Tagen wie verseucht vorkommt. Er will duschen, sich in seiner gemütlichen Küche einen Kaffee kochen, sich mit Kopfhörern aufs Bett legen und diesen Mist hier vergessen.
Er wechselt einen Blick mit Ulli. Er kennt ihn gut genug, um zu wissen, dass es ihm ähnlich geht. Dass er genau wie Erik weiß, dass sie noch bleiben müssen, wenigstens so lange, bis sie einigermaßen sicher sein können, dass Frau Möllner ihnen kein Theater vorspielt und fröhlich kollabiert, sobald sie zur Tür hinaus sind.
Ein Geräusch in seinem Rücken, ein Luftzug. Ulli fixiert einen Punkt hinter ihm, und Erik dreht sich um.
In der Küchentür steht oder besser sitzt ein Mann, sitzt reglos und starrt Ulli und Erik an. Sein Alter ist schwer zu schätzen, vielleicht Mitte Dreißig oder knapp darunter, sein Gesicht wie von fehlender Mimik unverbraucht. Er ist fett, hundertzwanzig Kilo Minimum. Er trägt ein Karohemd, das in den Gummibund seiner Jogginghose gestopft ist, und seine Hände umfassen die Räder eines Rollstuhls.
Erik probiert ein Lächeln. Der Mann lächelt nicht zurück, sondern wendet den Kopf und blickt hoch zu Frau Möllner, die hinter ihm aufgetaucht ist, angetan mit einer Stoffhose und etwas, das Eriks Mutter früher Waschbluse nannte.
„Ach, Michael, was machst du denn hier“, sagt sie tadelnd aber nicht direkt unfreundlich.
„Polizisten“, sagt der Mann.
„Ja.“ Sie tritt einen Schritt beiseite. „Geh mal wieder ins Wohnzimmer.“
„Gleich kommen die Seelöwen“, sagt der Mann. Seine Sprache ist verwaschen.
„Geh mal wieder ins Wohnzimmer“, wiederholt sie. Sie macht eine Bewegung auf ihn zu. „Ich komme gleich.“
Der Mann setzt gehorsam zurück und rollt in den Flur.
Frau Möllner geht zur Tür und schließt sie. „Der Michael, mein Sohn.“
Mein Sohn. Nicht mein anderer Sohn.
Sie setzt sich. Die Messingsonne tickt.
„Kommt Ihre Tochter her?“, fragt Ulli.
„Die.“ Frau Möllner macht eine wegwerfende Handbewegung. Wieder fummelt sie ihr Taschentuch hervor, wischt sich über die Lippen und lässt das Tuch im Blusenärmel verschwinden. „Mit der Henrike ist nicht viel los.“
Ulli gibt einen Laut zwischen Räuspern und Seufzen von sich.
„Ich müsste mich dann auch wieder um den Michael kümmern“, sagt Frau Möllner.
Die Seelöwen, richtig. Erik legt die Hände auf die Tischplatte, nickt Ulli zu und erhebt sich.
Wie vorhin führt Frau Möllner sie durch den nach Staubsaugerluft und Hausschuhen riechenden Flur. An der Wohnungstür gibt Ulli ihr seine Karte, sie nimmt sie und schließt die Tür sacht, aber mit Nachdruck hinter ihnen.
Hast du Lust zu vögeln?, will er Ulli fragen, als der Fahrstuhl mit ihnen nach unten ruckelt. Er lässt die Pointe aus, studiert weiter stumm die mit Edding hingeschmierten Sprüche und Kritzeleien auf der Aluverkleidung der Kabine.
Im Foyer hat jemand zwei kalkgeränderter Übertöpfe und ein paar weihnachtliche Keramikfiguren zu einem Stillleben drapiert. Daneben liegt ein handgeschriebenes Pappschild, zu verschenken.
„Brauchst du noch Deko für zu Hause?“ Ulli weist mit dem Kinn auf das Ensemble, und Erik grinst, dankbar für den dünnen Witz.
Das Sonnenlicht blendet ihn, als er aus der Betonkühle des Hochhauses ins Freie tritt. Dass die Frau, die über den Parkplatz aufs Haus zueilt, zu Ulli und ihm will, bemerkt er erst, als sie fast vor ihm steht.
True blue before sunrise …
Worte eines halbvergessenen Liedes. Bläue, ans Fenster geschmiegt.
Schwalben rufen silberne Bögen in die Luft. I’m so happy here.
Auf Rikes Bauch schnurrt ein Traum. Weißt du noch, als ich gestiefelt war und sprechen konnte?
Sweet dreams, baby. Später Glocken. Und Rehe, äsend.
Und da hinein ein Lärm. Durch die Landschaft geht ein Riss. Mumin springt vom Bett, und Rike stolpert die Treppe hinunter zum Telefon.
„Hallo?“
„Jürgen ist tot“, lautet der erste Satz, den Mutter nach über fünfundzwanzig Jahren an sie richtet.
Überm Stuhl die Kleider von gestern. Shorts, das verschwitzte Top. Die Gartenflipflops vor der Tür. Mit den Füßen hinein und zum Auto.
Sieben Minuten von Haustür zu Haustür. Auf ihrer Hirnhaut Rehe, am Rand eines Traums zurückgelassen.
Leseprobe 2, ca. Romanmitte. Nach einer verpatzten Urlaubswoche hat Rike sich zu Hause eingeigelt und reagiert nicht auf Eriks Anrufe.
Tag Zwei. Sie niest und hat Halsschmerzen, es passt ihr in den Kram. Sie spielt krankes Kind, bestreicht Zwiebäcke mit Butter und Erdnussmus, krümelt das Sofa voll.
Liest ihre Lieblingsmärchen. Die Gänsehirtin am Brunnen, Von einem, der auszog, das Gruseln zu lernen. Und das Märchen vom Waldhaus: Schön Hühnchen, schön Hähnchen, und du, schöne bunte Kuh? Was sagst du dazu?
Duks, sagen die Tiere.
Dass sie immerzu duks sagen, denkt Rike. Das hat doch damals schon kein Kind begriffen. Duks, was bedeutet das denn?
Es klopft an der Tür. „Ich fahre ins Dorf“, ruft Mimi von draußen. „Brauchst du was?“
„Gott, Mimi, komm rein“, ruft Rike zurück.
„Bist du krank?“, fragt Mimi, als sie in der Stube steht.
„Duks“, sagt Rike. Sieht Mimi ins Gesicht, lacht. „Entschuldigung.“
Sie steht auf und gibt Mimi zehn Mark. „Bihunsuppe und Butterkekse, bitte. Und Wick Vaporub.“
Mimi nimmt den Schein und steckt ihn ein. Bleibt stehen, die Hand auf der Klinke. „Und, du und Erik?“
„Was, ich und Erik?“
Mimi sieht sie an.
„Nichts“, sagt Rike. „Beziehungsweise alles.“ Atmet durch. „Also, alles nichts.“
Mimi nickt weise.
Mittags Suppe und Kekse. Unsere kleine Farm im Fernsehen und sowas wie Glück.
Einmal das Telefon. Erik. Dass man reden muss, wenigstens reden und über die Gründe und fair.
Die ersten kommen gegen sechs. Sie hat sie total vergessen. Im letzten Jahr haben sie in Gruppen zu viert und zu fünft vor Rikes Tür gestanden: „Wir sind die bösen Geister und mögen gerne Kleister.“
„Ja, aber Kleister ist aus“, hat sie gesagt. Hat ratlos getan und in die niedlichen, geschminkten Gesichter geschaut. „Ich hab bloß das hier.“ Sie hat die Geschenkbeutel mit dem Naschzeug genommen, die sie vorbereitet und auf dem Balken aufgereiht hatte, und allen einen davon überreicht.
Jetzt wandeln sie am Fenster vorbei und zuerst zu Mimis Haus. In Gedanken geht Rike ihre Vorräte durch, stellt sich vor, wie sie jedem Geist eine keimende Kartoffel oder eine Handvoll rohe Nudeln in die Hand drückt.
Sie löscht das Licht und ignoriert das Klopfen, hält sich die Geister vom Leib. Auf dem Weg zurück zur Straße ziehen sie mit ihren Laternen und Taschenlampen die Einfahrt hinunter, eine schwankende Karawane, ein betrunkener Hexensabbat.
Tag Drei. Ihr Spiegelbild fasziniert sie: bleich und wie hingerotzt, die Haare wirr, auf die ungute Art. Sie drückt Zahnpasta auf die Bürste und steckt die Bürste in den Mund.
Dass er dort war. Erik. Dass er mit Ulli in dieser Scheißküche von damals gesessen und mit Mutter gesprochen und die Uhr getickt hat. Ob es diese Uhr war? Plötzlich hat sie Lust, ihn anzurufen und zu fragen.
„Hör bloß auf“, würde er sagen. „Diese gruselige Sonne, die hat getickt wie blöd.“
Was, wenn die Jahrzehnte verschmelzen würden? Wenn alle Menschen, die je in einem Raum waren, gleichzeitig dort wären? Dann käme Rike an einem x-beliebigen Sonntagmorgen in die Küche, wo sie alle um den Tisch sitzen: Familie Möllner, winzig und wie durch ein Weitwinkelobjektiv, auf den alten Stühlen mit den Stahlrohrbeinen und den Plastikbezügen.
Gesichtslos. Vielleicht, wenn es Fotos gäbe? Manchmal, wenn man Gesichter nicht mehr vor Augen hat und an bestimmte Fotos denkt, dann sieht man die Menschen wieder vor sich.
Aber so: nur Skizzen. Mutti nichts als heruntergezogene Mundwinkel. Jürgen in Trainingshosen, später Armeehosen, die dunklen Haare ein eigenartiger Kontrast zu der blassen Haut. Der Micha ein Pinselstrich aus blond und Lachen. Eigentlich eher ein Geruch. Sein warmer, leicht pupsiger Kleinkindergeruch.
Und der Vater. Eine Kasperpuppe, die Züge wie geschnitzt, die schmalen Lippen ins Gesicht gekerbt. Der ganze Mann in den viel zu nüchternen Sonntagmorgen gezwängt wie in einen schlecht sitzenden Anzug. Klopapierfetzen am Kinn, eine Mischung aus Rasierwasser, Restausgeh-Pomade und Restpromille ausdünstend.
Eine arme, dumme Sau. Und so mächtig damals, Rike spuckt den Schaum aus und spült nach.
An diesem speziellen Morgen aber wäre etwas anders als sonst. Zwei Polizisten säßen am Tisch, unrasiert, die Augen hohl vor Erschöpfung nach einer viel zu langen Nachtschicht. Sie hätten die Mützen abgenommen und vor sich auf den Tisch gelegt. Den Grund ihres Besuchs hätten sie noch nicht genannt.
Es gäbe noch keinen Grund. Jürgen ist ja da und matscht mit seinem Marmeladenbrot herum. Der Alte beobachtet ihn gereizt. Gleich nach dem Frühstück wird Jürgen verduften, zum Fußball, als er das noch durfte, später irgendwelche Dinger drehen mit seinen Kumpels ‒ und da, auf einmal doch sein Gesicht, eine Sekunde lang sein Jungsgesicht, deutlich wie auf einem Foto: So sah er, so sah Jürgen aus!
Der dunklere der beiden Polizisten hebt den Kopf und sieht Rike an der Tür stehen. Er lächelt ihr zu, wie man eben einem fremden Kind zulächelt, das dasteht und einen unverwandt anstarrt. Und es fühlt sich an, als könnte sein dreißig Jahre späteres Lächeln dem Mädchen, das sie war, etwas nützen.
Als könnte Rike schon mal die Hand durch die Jahrzehnte strecken.
Tag Vier. Die Kolleginnen haben einem Gabentisch an Rikes Platz aufgebaut. Schokoladenkäfer krabbeln auf bunten Blättern herum oder lugen unter ihnen hervor. Etwas Großformatiges in buntem Papier, von dem Rike ahnt, was es ist, weil sie es neulich bewundert hat.
Richtig, die Bibliotheken der Welt, ein irre teurer Band. Rike drückt das Buch an ihre Brust. „Ihr seid komplett verrückt, wisst ihr das?“
Ja, wissen sie. Sie strahlen. Aber jetzt sie. Endlich erzählen soll sie. Von Schweden. Und mit dem Magen, das ging dann? Geregnet, igitt, richtig nasskalt? Na, dann macht man sich das miteinander warm, was? Haha. Hier ging das eigentlich, mal einen Tag geschüttet, aber sonst und nee und ja und doch …
Das ist das Gute an Frauen. Das Gute an Gesprächen.
Der erste Leseransturm rauscht vorüber. Rike öffnet die Datei „Vorlesewettbewerb“ und überträgt die Anmeldelisten in eine Excel-Tabelle. Nach der Frühstückspause versieht sie einen Schwung Neuzugänge mit Kennnummern, speichert sie im Rechner ab, Autor, Titel, Code, schöne blöde Routinearbeit, genau richtig, um die Gedanken schweifen zu lassen.
Wie er sie zum ersten Mal hier abgeholt hat. Wie er zur Tür hereinkam und Maja leise: „Hui!“ sagte, noch bevor sie begriff, dass dieser Mann zu Rike wollte.
Sie schaut zum Ausleihtresen. Maja wirft ihr einen heimlichen Blick zu und verdreht die Augen. Dr. Pauli hat sie am Wickel, er hat seine literarischen Altherrenfantasien ausgelesen und möchte jetzt gern mit jemandem darüber reden. Rike tut, als prüfte sie den Nagel ihres Mittelfingers, pustet sacht darüber, und Maja blickt rasch fort und beißt sich auf die Unterlippe.
Rike stapelt die Neuerscheinungen auf dem Rollwagen, damit der Praktikant sie nachher einsortieren kann. Dann geht sie zum Klo, schließt sich ein und setzt sich auf den Deckel.
Wie Erik bei ihr den Rasen mähen wollte. Ganz am Anfang, als er noch meinte, er müsste sich bei Mimi und ihr beliebt machen. Wie sie ihm im Schuppen den Mäher zeigte und er lange dastand, das Ungetüm betrachtete und dann sagte: „Wusstest du, dass es keine erotischere Geruchsmischung gibt als die von Benzin und Waschpulver?“
Sich zu ihr umdrehte. Wie er sie gestreichelt, ihr Haar gestreichelt hat. Und dann sie auf der Waschmaschine, und ihr Kleid und seine Hände und Mimi beim Augenarzt.
Oder wie er Mimi und ihr den Witz von der Birne erzählt hat, die um den Apfelbaum fliegt, in Kreisen herum und immer herum. „Haha“, rufen die Äpfel. „du kannst ja gar nicht fliegen, du bist doch eine Birne.“
An der Kabinentür, genau in Sitz-Augenhöhe, klebt seit Anbeginn der Zeiten ein Bildchen. Die Person, die es ausgeschnitten und dorthin geklebt hat, muss gemeint haben, dass es nett ist, wenn einem beim Pinkeln der junge Gerard Depardieu zusieht, mit milden Augen, ein Lamm im Arm.
Es ist nett.
Der Klorollenhalter hängt an zu losen Schrauben an der Wand. Unter dem Waschbecken steht ein WC–Reiniger, sanfte Power für Ihr Bad, und Rike kann nicht aufhören, an den dummen Kalauer zu denken. An die Birne, die den Apfelbaum umkreist. „Natürlich kann ich fliegen“, ruft sie. „Ich bin doch die Birne Maja.“
Rike muss lachen. Und endlich, endlich beginnt es ihr zu gruseln.
„Du Schöne“, flüstert sie. Schließt die Augen und legt die Arme um sich. Streichelt ihre Schultern und wiegt sich vor und zurück. „Du Schöne.“
Der fünfte Tag. Immer wieder hört sie das Band ab. „Ey, Rike, dieses kleine Zögern, bevor du sagst: Tschüs, Erik.“ Seine heisere, betrunkene Lache. „Wahnsinn.“
Zum Schluss: „Tschüserik.“ Dreimal, fünfmal. Nochmal.
Die vierzig Geschenke, in der Küche verteilt. Rike hat sie seit dem Geburtstag nicht angerührt. Das Pixibuch, der Stein, die Radieschensamen.
Die Bodylotion. Rike schraubt die Tube auf und drückt sich einen perlmuttfarbenen Wurm auf die Hand. Reibt die Handrücken gegeneinander und saugt den Geruch ein. Ein sanfter Duft, wie Nebel, der sich an die Scheibe schmiegt. Weil Erik keiner ist, der hingeht und irgendetwas kauft, damit er was zum Geburtstag hat. Weil er einer ist, der sich durch tausend Tester schnuppert, bevor er sagt: Das ist sie, das ist meine Rike.
Das macht den Unterschied, denkt Rike. Ob einer an den Testern schnuppert ‒ und wie seltsam manche Sätze sind.
Der Bilderrahmen lehnt am Tischbein. Sie hebt ihn auf und legt ihn vor sich hin. Mit dem Zeigefinger fährt sie über eine winzige Stelle, wo das Holz abgesplittert ist. Ein kaum sichtbarer Makel, das Glas selbst ist sauber und heil.
Sie sucht Cutter und Lineal heraus, legt eine Zeitung als Unterlage zurecht. Nimmt das Bild mit dem fliegenden Gänseschwarm von der Wand neben dem Ofen, trägt es zum Küchentisch und löst es aus dem Halter.
Das Passepartout ist nur wenige Millimeter zu groß für den Rahmen, Erik hat Augenmaß bewiesen. Sie passt das Bild neu ein, hängt es an seinen Platz zurück und tritt einen Schritt zurück.
Und alles in ihr wird ruhig und gut. Es ist Herbst auf dem Bild, richtig Herbst. Perfekt eingefasst vom mahagoniroten und mit Gold überhauchten Holz erfüllt der Schwarm den Abendhimmel, und Rike glaubt, das Rauschen der Flügelschläge zu hören, das heisere Trompeten, mit dem die Gänse sich verständigen.
Duks, sagen die Tiere aus dem Märchen. Der Sommer war. Wer jetzt alleine ist, ist selber schuld. Du hast ihn ausgesperrt wie einen Hund.
Was soll ich jetzt tun?, fragt Rike.
Ihn wieder einlassen.
So einfach? Und du, schöne bunte Kuh, was sagst du dazu?
Viel zu verlieren hast du nicht, Rike. Und Erik, der kann verzeihen. Der kann Dinge verzeihen, noch bevor sie geschehen sind. Hast ihn doch danach ausgewählt.
Das wusste ich nicht, sagt Rike.
Jetzt weißt du es, sagen die Tiere.