Leseprobe: Franziska Gänsler – “Kahn”

Kahn // Franziska Gänsler

1

Es war die Mutter, die ihn schützte und der Vater, den er fürchtete, und so war es immer gewesen. Die Wut kam plötzlich über den Vater, über ein Stuhlbein, über die Art, wie der Sohn die Kirschen aß. Dann klappte etwas auf in seinem Gesicht und ein Zucken durchlief die Familie.
Kahn war das einzige Kind und wenn der Vater über die eigenen Grenzen trat, zu den Wänden, dem Fußboden, der Wohnung, dem ganzen Haus wurde, dann sah Kahn zur Mutter, die still blieb wo sie saß oder stand. Ihr Blick, irgendwo auf der Brust des Vaters, auf den weißen Händen in ihrem Schoß. Bis die Tür schlug und sie allein zurückblieben. Erst dann legte sie ihm die Hand auf den Kopf, bevor sie die Scherben, die Asche, die kleinen, krummen Reste ihrer Zigaretten auffegte, ihr Haar kämmte.
Dann saßen sie später zusammen am Fenster und sahen zu, wie dünne Regenschnüre auf das Gras fielen und der Schreck verschwand hinter blinden Flecken, hinter der still gesagten Wiederholung: Wir lassen den Kopf nicht hängen.
Dann stand am nächsten Tag auf dem Tisch ein Blumenstrauß und eine Karte, auf der, in winziger Handschrift, die Signatur des Vaters saß wie eine Fliege. Die Mutter lächelte und drehte die Vase mit der linken Hand, die rechte auf Kahns Bein und langsam schoben sich die Wände, die Fenster, die Teppiche wieder in ihre gewohnten Winkel.
Der Krieg war da schon lange vorbei, aber der Vater trug an den Sonntagen, auf dem Weg zur Kirche, das schwarze Kreuz auf der Brust, unter dem Jackett, an einem gestreiften Band. Bevor sie das Haus verließen, während die Mutter ihren Sonntagsmantel anzog, beugte er sich tief zu Kahn, die Hand am Kreuz. Sein Lächeln, die warmen, glatten Hände, so nah. „Tapferkeit vor dem Feind. Vergiss das nicht.“
Der Vater im Krieg, der sechzehn Kameraden aus dem Feuer geholt hatte. Der von der Universität nach Hause lief, zu seiner Mutter, den Schwestern, durch die brennende Stadt, den zerbombten Friedhof, aufgesprengte Särge, die aus der Erde ragten.
Tapferkeit vor dem Feind.
Der Vater, der nun jeden Tag um 07:30 das Haus verließ um anderen zu helfen. Kahn sah ihn dann, neben der Mutter im grauen Türrahmen, wie er die braunen Stufen des Mietshauses hinunter schritt, und im gleichfarbenen, braunen Anzug mit geradem Rücken im Dämmerlicht der unteren Etagen entschwand. In seiner rechten die Aktentasche, darin der steife, weiße Kittel, das Stethoskop.
Wie er der Wohnung floh, die ihm eng war und wie die Mutter und Kahn oben blieben und schon an seine Wiederkehr dachten.
„Er heilt die Kranken“, so erklärte die Mutter was der Vater den Tag über tat, und Kahn sah eine lange Zeile verletzter Menschen, die sich vor dem Schreibtisch des Vaters aufreihten. Der Vater, die gewaschenen Hände, die tasteten, urteilten, schließlich das rechte Medikament, die rechte Behandlung verschrieben.
Das eiserne Kreuz lag dann in einer flachen Holzkiste in der obersten Schublade im Nachtkästchen, neben einer weiteren Schatulle, die der Vater an manchem Abend hervorholte und Kahn zu halten gab. Darin, glänzend und schwer, in einem aufgeschlagenen Tuch, seine Sauer 38H.
Nie blickte der Verabschiedete sich um. Auf dem letzten Absatz, auf dem Kahn von dem Anzug nur noch eine Seite der gedrehten, braunen Schulter sah, endete die Existenz des Vaters und den Rest des Tages gehörte sich der Sohn allein und dem leisen Räumen der Mutter.
Wie eine Kette stiller Waben reihten sich die Stunden in der Wohnung aneinander, angezeigt und verändert nur durch das Wandern der Lichtfelder auf den Fußböden.

Im Winter war die Welt vor den Fenstern weiß und die Wohnung lag zwischen den beschneiten Dächern ringsum. Wenn sie dem Vater dann frühs von der Tür aus nachsahen, dann zog der seinen Schatten im Lampenlicht in einen dunklen Morgen.
Im Sommer wurde der Plastikboden weich, Staub stand in der Luft und die Sonne fiel durch Scheiben, an die in der Hitze die Fliegen schlugen und dann, schwer auf der heißen Fensterbank, starben. Kahn roch das Holz der Möbel und die gelben, dicken Buchseiten, die er hinter dem Sofa auf dem Boden liegend durchblätterte. Unten spielten dann Kinder im Hof und Kahn lag auf dem Rücken und hörte zu.
Wie eine Festung erschien ihm diese Wohnung, warm und abgeschlossen, hoch oben und fern von allem, was fremd und laut war.
Er und die Mutter, als würden sie mit ihren Bewegungen Linien auf das selbe Blatt Papier zeichnen. Aneinander vorbei, durch die Stühle, die Kommoden, den langen Flur, die vier kleinen Räume. Sie war sie und er war er, und doch hatten sich in der hohen Wohnung vom ersten Tag an ihre Wesen miteinander verwebt, war Kahn vom ersten Tag an auch sie und sie auch er, spürte er mit der Mutter mit, wusste er nicht, wo er selbst endete und die Mutter begann.
Und doch: „Du bist wie dein Vater“. Die Mutter sah ihn an, von ihrem Lehnstuhl aus, auf dem sie die Nachmittage verbrachte. Sie trug ein helles, schmales Kleid. Vom Fußboden gesehen, standen ihre weißen Waden überkreuzt vor ihrem Oberkörper in flachen, weißen Schuhen. Darüber, ihr weiches Gesicht. „Du bist wie er.“, in ihrem Blick die Hände des Vaters, die ihr halfen, die kleine Kette in ihrem Nacken zu schließen. Die Blumen. Die ordentlichen Striche, mit denen er markierte, wie oft die Seiten einer Schallplatte gehört wurden. Die kleine Handschrift, die die Ausgaben der Familie notierten.
Später saß Kahn neben der Mutter am offenen Fenster. Erdbeeren lagen auf einem Porzellanteller, bemalt mit einem Ring blauer Blüten, auf dem Schoß der Mutter. In der rechten Hand hielt sie ein gefaltetes Tuch, das vom Saft der Beeren dunkel und feucht war. Der Rauch, der langsam zwischen ihnen nach oben zog, ein weiches, weißes Band. Unten im Gras spielten nur noch zwei der fremden Kinder. „Was wünscht du dir?“, fragte die Mutter. Es war der 28. Juli, Kahns fünfter Geburtstag. Das größere Kind schlug mit einer Schaufel auf einen Eimer, das Klopfen drängte sich in den Nachmittag. “Ich will, dass alles immer so bleibt wie es ist.” Die Mutter drückte die Zigarette in den Aschenbecher und legte ihre kühle Hand auf seinen Kopf. „Wir haben ja alles hier.“, sagte sie. „Wir haben ja alles.“

Um sechs Uhr deckte die Mutter den Tisch. Um halb sieben kam der Vater. Kahn, hinter dem Sofa mit einem Buch, hörte wie der Schlüssel im Schloss drehte, hörte wie glatte Sohlen abgestreift wurden, hörte wie die Aktentasche auf den hölzernen Schemel neben der Tür gestellt wurde. Kahn roch den Teppich. Er sah die Haare, die Staubflocken hielten, Krumen, tote Fliegen.
Als die Mutter rief, kroch er hervor und lief ins Esszimmer, in dem der Vater schon am Tisch saß, mit hochgerollten Hemdsärmeln und einem Schweißfilm auf der Stirn. Über die offene Balkontüre zog Wind von der Straße nach oben, wölbte die Gardine. Ihr Schattenmuster schob sich in Rauten in den Raum, wölbte den Boden und den Tisch und das weiße Hemd.
Während Sie aßen, sank der Abend langsam vor die Scheiben, er trug einen süßen Geruch in die Wohnung. Der Tag löste sich auf, bis er als warme Erinnerung aus dem Zimmer zog und der Vater sich an den Geburtstag des Sohnes erinnerte.
Die Mutter hatte schon die Teller abgetragen und stand spülend in der Küche, ihr langer Schatten krumm unter der fahlen Lampe, als der Vater sich anzog, Kahn die Sandalen hinschob und ihn mit sich nahm, das braune Treppenhaus hinunter, in die Dunkelheit der Etagen, des Hofs, der Stadt. Der Asphalt war noch warm, die Luft schon kühl. Es gab kein Ich mag nicht gegen die Begeisterung des Vaters, nur das Heimweh nach der spülenden Mutter, dem Bett, der weißen Decke, dem Kissen.
Der Vater führte ihn vorwärts, bergab, und die Wohnung lag bald hinter Kreuzungen und Bäumen.
Es wurde lauter, sie tauchten in eine Menge ein, braune Hosenbeine und weiße Waden, die Luft klang von vielen Stimmen, der sü.e Duft, nach Zuckerwatte und Popcorn, war jetzt stark und dicht. Die Hand des Vaters zog ihn voran und blieb stehen, löste sich von ihm und Kahn blieb allein in der Dämmergesellschaft fremder Schuhe und Kniekehlen. Rufen, Lachen und Gesang sank durch Haare und Stoffe wie durch Astwerk auf den Waldgrund. Die Mutter, im weißen Kleid und den müden Augen – weit fort. Und der Gedanke an den langsamen, ruhigen Tag – wie ein fremdes Leben. Da aber fand die Hand ihn wieder und zog ihn voran und die Furcht wich der Erleichterung. Die Beine lichteten sich. Von einer weißen Plattform hob ihn der Vater in die hohe Kammer eines Riesenrads. Es war dunkel geworden. Langsam schoben sie sich über die Fremden, über die Häuser, über die Stadt. Der Mond stand tief, unter ihnen umschlossen bunte Lichtpunkte das Feld aus weißen Scheiteln und grauen, braunen, schwarzen Hüten. Die Stimmen und Klänge waren jetzt fern, getrennt von ihnen, die in der Gondel im Himmel hingen. Er und der Vater, eng nebeneinander auf der einen Seite, gegenüber ein Einzelner, ein eleganter, schmaler Mann mit Hut in einem schwarzen Wollanzug. Der Vater gab Kahn Gebäck aus einer Papiertüte und bot sie dann, hoch oben, auch dem Fremden an, der schweigend kurz den Kopf schüttelte. Unter ihnen, die Stadt, die Erfolge des Vaters. Sein Zeigefinger, der in die Nacht stieß. Hier – die Klinik. Dort – die medizinische Fakultät. Da – das Haus, in dem er geboren war und da die Kirche, in der er die Mutter geheiratet hatte. Der Vater faltete sein langes Leben vor dem kurzen des Sohnes auf und ereiferte sich, wie er der Mann geworden war, wie er sich zu dem Mann gemacht hatte, der er jetzt war – entgegen aller Widrigkeiten, die das Elternhaus, die Kindheit und das Leben ihm dargebracht hatten. Nach vorn, immer nach vorn.
Wie er als Stillgeborener, als Nichtschreiender auf die Welt gekommen war. Wie er dann – schon tot geglaubt – geschrien und gelebt hatte. Wie er gelernt hatte, die Welt wie eine Gebrauchsanweisung zu lesen und zu befolgen. Wie er alle anderen überholt hatte.
Im Krieg den Aufstieg geschafft, das eiserne Kreuz! Sechzehn Kameraden, die ihm das Leben verdankten. Er, der dann von der Front zurückgekehrt war um sich dem Studium zu widmen, er, der Unzählbare in seiner Funktion als Mediziner behandelt und geheilt hatte.
In der Kabine war es dunkel und unter der breiten Krempe sah man von dem Fremden nur den Mund, wie eine Kerbe in die Haut geschlagen. Er reagierte nicht auf Vater und Sohn, nur sein Hals war, als der Vater vom Krieg sprach, um ein kurzes Stück verrückt.
Die Kammer hatte ihren Gipfel überschritten und näherte sich wieder der Dichte von Köpfen und Körpern. In der Nähe definierten sich schon Münder und Augenhöhlen, Hälse und dann greifende, haltende Finger. Die Stimmen wurden lauter, einzeln brachen Namen und Gelächter für kurze Momente durch den allgemeinen Lärm. Der Vater, Kahn und der Fremde tauchten ein, durchkreuzten und wurden der Menge dann wieder enthoben, in den kühlen, stillen Himmel.
Diesmal, als sie fast ganz oben angekommen waren, hielt das Rad in seinem Umlauf inne und für eine Minute wiegten sie über der Stadt. Die Dächer lagen silbern und fremd aufgereiht unter ihnen und Kahn suchte die Wohnung und die Mutter. Ein helles Quadrat, hoch und einsam in einer schwarzen Wand. Unter dem Dach, könnte man es anheben, die Mutter im Bett, wie von oben in ein Puppenhaus gelegt. Die Wände, dünne Trennlinien zum leeren Wohnzimmer, zur Küche, zum Kinderzimmer. Kahns leeres Bett, in dem er sonst um diese Zeit schon lange schlief. Er, im Riesenrad, der wie ein Spielender auf diese kleine Welt, die kleine Mutter, hinab sah.
Das Rad lief wieder an. Der Vater, der Großzügige, der gut gelaunte, las die Gebrauchsanweisung und sprach den Fremden noch einmal an. „Der Junge hat Geburtstag.“, sagte er und streckte wieder die Tüte aus. Der Fremde nickte, aber der Mund harrte weiter stumm über der Stadt und seine Hände lagen ihm steif und knochig im Schoß. Der Vater schob sich ein kleines Stück dem Fremden entgegen. „Können Sie nicht sprechen?“, die Härte in seinem Ton wurde zur Härte in Kahns Brust, der stille Atem, darunter das Herz. Neben sich, der schnelle Umschwung im Vater, schwarzes Wasser, das stieg und stieg. Kahns Blick lag auf den glänzenden Schuhspitzen des Vaters, tief unter sich auf dem Grund der Kabine, auf den Händen des Alten, die sich kurz hoben und das Jackett öffneten.
Die Stimme des Fremden war leise und rau, sie hing danach zwischen den engen Bänken, zwischen den Männern. Kahn erwartete die Welle, das Brechen der schwarzen Wand. Doch, das Rad lief wieder an und der Vater schwieg. Auch der Mann im Anzug saß nun wieder still, und dann, unten, stieg er grußlos in die Menschenmenge und verschwand.
Vater und Sohn fuhren noch einmal in die Höhe und wieder hinunter, aber das Fest war beendet.
Kahn achtete auf jede Bewegung des Vaters, wartete auf eine Auflösung, eine Richtung, der er folgen konnte, doch der Vater blieb stumm.
Ohne ein Wort hob er ihn unten aus der Gondel und schob ihn, hart, durch den schwülen Wald aus Waden und Stoff. Als sie wieder an die frische Luft kamen, lag die Straße vor ihnen.
Sie führte heimwärts. Den Hang hinauf, zur Wohnung, zum Bett, zur Mutter.
Vor ihnen kreuzte einer im Schein einer Laterne ihren Weg. Ein Einzelner, mit Hut, tief gebeugt, schreitend, der Mann aus dem Riesenrad. Die Schritte des Vaters wurden schneller. Er zog Kahn mit sich und als der Vordere um eine Ecke bog, zwang er den Sohn hastig voran, dass sie den Verfolgten nicht verloren. Sie folgten dem Mann in die schmale, fremde Gasse. Bald wuchsen die Häuser dicht und hoch um sie und der Mond fand nur noch dünne Löcher zwischen den Kabelsträngen. Aus den Häusern dampfte es und Wäschestücke hingen aus den Fenstern. Wieder schlossen fremde Beine ihn ein, drängten ihn vorwärts. Der Grund war schlammig, Abwasser sammelte sich, Gestank machte die Luft zu dick, sie einzuatmen. Die Männer trugen, trotz der gestauten Hitze, lange Mäntel und Hüte, schoben sich um ihn, schwarze Wände, aus denen, hoch oben, ernste, unbewegte Köpfe ragten. Knöchel reihten sich in geraden, blassen Bögen aus Lederschuhen, sie zogen wie auf Schienen. Die Hand des Vaters schob Kahn an den Rand und dann weiter, in Eile, vorwärts.
Manche Häuser hatten zur Gasse keine Mauern. Davor saßen Frauen auf Schemeln, über ihnen leuchteten nackte Glühbirnen. Aus den Häusern drängte es auf die Gasse, Innen und Außen lösten sich auf, alles war eins. Leise Stimmen strömten mit den Schritten der Männer. Die Frauen saßen still und starrten, und vor ihren Plastikschuhen liefen Essensreste in Kanälen.
Manche hielten Babys an ihre Blusen gepresst, von denen sah man nur die zerdrückten Köpfe.
Wie Wächterinnen saßen sie vor ihren offenen, gefliesten Wohnräumen, in denen auf den Böden, auf Tüchern, Fleisch, Kartoffeln und Rüben lagen. Dahinter standen Betten an Wänden, in denen weißhaarige Alte lagen. Einer saß auf seiner Bettkante, mit dem Fuß angelte er nach einem Schuh, der unter dem Bett lag. Ein Kind kroch eine Treppe hinunter. Beide bewegten sich langsam und taub und als Kahns Blick sie traf hielten sie still und blickten scheu und erschrocken zurück.
Er stolperte, die Hand des Vaters hielt. Blieb bindende Schnur zu allem, was so bleiben sollte, wie es war.
Sie trieben den Fremden bis die Straßen wieder breit und leer waren, sie kreuzten Plätze, umschattet von hohen, kahlen Kirchtürmen und tiefen Pappeldächern. Ihre Schritte hallten weit über die Flächen, in die Gehwege, Kahns undeutlich und schnell, die des Vaters einzeln und fest. Fenster zerrannen zu tausenden über ihnen. Nie schlossen sie zu dem Fremden auf. Nie sprach der Vater ein Wort, nur seine Finger schlossen sich um Kahns Hand und sein Blick drang in den verfolgten Rücken. Der Andere trug seine Gestalt rastlos durch die schlafende Stadt, er wechselte Straßenseiten, er passierte Brücken und Gärten, Schaufenster und Bänke, Licht und Schatten. Seine weißen Hände hielt er auf dem Rücken geknotet und in den dunklen Abgründen der Fassaden war es irgendwann nur noch dieser harte Fleck heller Haut, dem sie folgten.
Irgendwann, eine weiße Fassade, eine Mauer, ein halbrunder Durchgang. Spitze, schwarze Blätter aus einem verborgenen Garten, die gegen den Nachthimmel standen. Der dumpfe Klang einer Kapelle durch geschlossene Fenster. Der Alte blieb stehen, den Hut im Weiß leuchtender Buchstaben. Der Vater zog Kahn jetzt dichter an den Buckel heran.
Im näher dringen warf er schon von oben seinen Schatten auf die weißen Handknochen, die ihren Weg markiert hatten.
Zum ersten Mal drehte der Fremde sich zu ihnen um, der Hals krümmte sich nach oben und das Licht erhellte sein ganzes Gesicht. Ein Gesicht, weiß unter dem Hut, trübe Augäpfel über einer groben Nase. Der Blick des Alten stieß in das wartende Gesicht, als wären sie sich zuvor nie begegnet, als wäre die Nacht, die Verfolgung, Verschwendung gewesen.
Er senkte den Kopf wieder in den Schatten und drängte zurück. „Nun gehen Sie doch zur Seite.“ Vom Vater, in einer Stimme, die wie die eines Jungen klang: „Verzeihen Sie.“
Als er sich an ihnen vorbei schob roch es nach altem Obst, Tabak und Staub. Dann war der Alte im Durchgang verschwunden. Nur die Blattspitzen bewegten sich, während alles andere still stand.
Kahn und der Vater in der leeren Gasse. Der Vater hatte die Hand des Sohns losgelassen. Es lag etwas Unklares über ihnen, im Licht der Buchstaben, langsam entziffert, das Wort Palacio, das keinen Sinn ergab. Kahn wartete. Die Füße in den Sandalen, auf dem kalten Asphalt. Er fasste nach oben, die Hand des Vaters hing leer in der Luft, griff nicht zurück.
Sie standen still.
Dann von oben: „Du wartest hier.“
Es waren die ersten Worte, die der Vater seit der Fahrt im Riesenrad an ihn richtete. Sie klangen fern, wie aus großer Höhe in einen Schacht gesagt, als kämen sie aus Kahns eigenem Kopf. Er spürte den Vater davongehen, verschwinden in den fremden Eingang, in das Halbrund, das in den dunklen Garten führte. Du wartest hier. Die Musik war verstummt, aus den fernen Fenstern, Stimmen, Gelächter. Die plötzliche Angst, verlassen zu sein an diesem fremden Ort, den Vater verloren zu haben. Bis die Furcht vor der Gasse größer wurde, als die Furcht vor dem Zorn des Vaters.
Die Schritte in den dunklen Durchgang, der fremde Geruch. Dann, endlich, der Rücken, die vertrauten Hände, eng im Schatten der kalten Mauer. Dahinter lag ein Hof im Licht goldener Laternen. Große Palmen in steinernen Wannen mit schweren Blüten, die Brunnenfigur eines Knaben, der einen Fisch hielt. Kahn sah, was der Vater sah. Da stand der Fremde, im Hut, im Anzug, nicht mehr allein. Vor einem hohen, schwarzen Tor stand ein anderer in einem weißen Hemd, in der Hand der glühenden Punkte seiner Zigarette.
Worte die unverständlich blieben. Der Vater blieb im Dunkel, als der Andere auf den Alten zu trat.
Der Vater blieb im Dunkel, als eine Hand den Alten griff, als sein Zurückweichen ein Stolpern wurde.
Der Vater blieb im Dunkel, eng an der kalten Wand, als der Alte auf den Boden schlug.
Der Hut ging dabei verloren, der Kopf des Alten, kahl, ein schwerer Ball unter den Tritten, glänzende Schuhspitzen, die den grauen Kopf trafen, als sollte dieser vom Rest des Körpers abbrechen.
Aus dem Dunkel des Durchgangs scheint der Angreifer wie eine Hand, eine Hand, die ihren Schatten groß an eine Wand wirft, eine Geschichte, ein Spiel.
Dann, Rufe, die von der Gasse durch den Gang hallen, der Einzelne, der kein Ende findet, bis von dem Fremden nur noch der Hut und der leere schwarze Anzug auf dem Boden zurückbleibt, aufgespreizt, wie hingeworfen.
Darüber die Hand. Ihr Schatten zieht sich über die ganze Fassade, ein Hundekopf, ein Wolf, über den Fenstern deren weiches Licht durch die Spitze feiner Gardinen drang. Der, den sie verfolgt hatten, lag still.

Wieder, die Rufe, schon nah am Durchgang, Stimmen, die kaum älter klangen als die der Kinder im Hof. Die Hand beugt sich über den Anzug, schlägt ihn auf, fischt in den Taschen, dreht sich dann. Im Näherkommen kurz das Knacken eines Feuerzeugs, eine Flamme vor einem jungen Gesicht. Der Vater drängt zurück, doch da ist die Wand.
Im grauen Hof markiert die Glut der Zigarette das Nahen, Glut, die von der Brust zum Gesicht zieht. Rauch, ein dünnes weißes Band, steigt still nach oben.
Draußen startet ein Auto, für einen Moment fahren die Lichtkegel durch den Durchgang, auf den Hof, wie Zeiger drehen sich ihre Schatten mit dem Licht. Der Anzug auf dem Boden, ein leeres Bündel.
Vom Eingang tönen jetzt die Stimmen der Freunde, Gelächter.
Der Einzelne bleibt vor ihnen stehen. Nah vor dem Vater, zuckt er nach vorn, der Vater zurück. Der Fremde lacht. Wieder das Knacken des Feuerzeugs, die Flamme zwischen den Gesichtern, dem Vater, dem Fremden. Der Blick des Vaters ist der der Mutter, liegt tief auf der fremden Brust.
Seine Hand ist kalt, sie drückt Kahn nach hinten.
Gelächter. Etwas fällt vor ihnen auf den Boden, Metall, eine Münze.
„Könnten Sie die Ambulanz rufen, da hinten ist einer gestürzt.“
Das Lachen, das lachende gelbe Gesicht hinter der Flamme. Die kleinen Zähne.
Der Vater bückt sich. An der Hand, in der die Zigarette glüht, vorbei. Glatte Schuhspitzen, die weißen, langen Finger des Vaters am Boden, die suchen, finden, aufheben.
Endlich wich der Fremde zurück. Endlich, Schritte die sich entfernen, Stimmen, Gelächter das in der Gasse verschwand, dann Stille.

Erst dann, als sie allein waren, trat der Vater, der Arzt, aus dem Schatten. Er stieß mit der Schuhspitze an den Anzug. Aus einem Ärmel, eine weiße, einzelne Hand. Kahn bleibt hinter ihm. Sieht, wie sich vor dem Vater aus dem Dunkel ein weißes Gesicht dreht, auf der Stirn, am Haaransatz, eine Linie wie ein H, aus der es blutet. Mühsam öffnet der Alte seinen Mund, graue Zähne über den Pflastersteinen, hustet schwarze Flecken auf den Boden, auf den Schuh des Vaters.

Der Vater weicht zurück, dreht sich. Sein Blick trifft den Sohn, der nicht geblieben war, wo er sollte. Etwas gräbt sich in diesem Moment in das Gesicht des Vaters, etwas, was sich in Kahn festsetzt und bleibt. Er umschlingt das braune Hosenbein und vergräbt sein Gesicht in dem harten Knie. Will um Verzeihung bitten und weiß nicht wie.
Der Vater greift ihn von oben, reißt ihn herum.  In seinen Händen steckt die brechende Wand. Ein „DU“ fährt auf Kahn hinunter, eine Hand, die ihn davon stößt. Dann jagt der Vater davon, kein Blick zurück. Hinter ihnen, die Stille des Alten im Licht der Laternen, vor dem Jungen, der den Fisch hält. Als eine Tür schlägt wird der Vater schneller. Kahn steht auf, hinterher, durch den Durchgang, die Gasse, die Nacht. Die schwarze Spucke des Alten wie Schimmel auf dem Schuh des Vaters, langsam verlaufen und getrocknet. Kommt und geht im Takt der Schritte.

Irgendwann blieb der Vater stehen. Erst da erkannte Kahn das Haus, als er den Schlüssel im Schloss sah, die Hand des Vaters, die ihn drehte, das braune Treppenhaus im Morgenlicht. An seinem Rücken klebte das nassen Hemd, darunter, dunkle Felder auf den Armen, blaue Flecken, die noch rot waren, bald violett, gelb wurden.

Kahn wurde krank. In den Tagen die folgten, lag er alleine zwischen Schlaf und Wachen unter einer schweren Decke. Manchmal hörte er, wie die Eltern im Nebenzimmer aßen. Das Schaben ihrer Messer und Gabeln mischte sich mit dem Wirren der Gassen, der Beine, der Hände, die sein Zimmer füllten.
Das Riesenrad.
Die große, große Hand.
Das Dunkel vor der kalten Wand.
Der Fremde, das Feuerzeug.
Der Alte, am Boden.
„DU“.
Die Geräusche, die Hitze, sie brachen aus seinem Geist, lauter und schneller bis er schlief und hochschreckte, bis er rief aber sein Hals bitter war und die Zunge zwischen den Zähnen klebte und kein Laut kam. Die Mutter brachte ihm, wenn sich die Wohnungstüre hinter dem Vater geschlossen hatte, kaltes Wasser und in Milch eingeweichtes Brot. Sie saß dann kurz an seinem Bett, legte die kühle Hand auf seine Stirn, sie gab ihm zu trinken und zu essen, sie lüftete die Decke. Einmal fragte er sie, was mit ihm sei.
„Du bist nur krank. Das geht vorbei.“ und sie ging und er versank wieder in der Enge seiner Erinnerungen.
Mittags, wenn die Sonne langsam durch das geöffnete Fenster stieg, hing davor ein nasses Küchentuch, das im Wind schlug und Kälte brachte. Er schwitzte und fror.
Vom Vater sah er nur einmal, abends, durch den Türspalt, im Dunkel des Gangs, einen weißen Arm.
Er war nur krank und es ging vorbei. Nach einer Woche hörten die Träume auf, bald konnte er wieder aufstehen und mittags mit der Mutter am Fenster sitzen. Die Welt war die selbe geblieben. Die Fliegen starben, draußen war es heiß, die Wiese färbte sich braun, Wolkenbänder drückten auf den Hof. Kinder spielten, Kahn und die Mutter aßen Beeren, hörten sie singen und sahen sie rennen.
Alles war gleich und doch schien Kahn das Leben anders. Etwas hatte sich verändert und es dauerte eine Weile, bis er erkannte, dass es der Vater war. Wenn er jetzt um 07:30 in die Tiefe des Treppenhauses entstieg, krümmte sich der braune Rücken und die Haustür schloss sich zaghaft und leise hinter ihm. Abends aß er schweigend und saß dann, die Zeitung haltend, auf dem Sofa. Er sprach nicht mehr. Wie aus Einzelteilen zusammengesetzt, aus Händen, einem unbeweglichen Kopf, einem steifen Körper. Er reagierte nicht, wenn man ihn ansprach, er bewegte die Augen nicht, wenn er las. Der, zu dem der Vater sich gemacht hatte, zu dem er sich, gegen alle Widrigkeiten, die ihm das Elternhaus, die Kindheit, das Leben bereitet hatte, gemacht hatte, war verschwunden.

Einmal fragte Kahn die Mutter, ob denn auch der Vater nun krank war. Sie sah ihn aus dem Lehnstuhl heraus an, dann nickte sie. „Er ist zu weich für die Welt.“ sagte sie irgendwann.
„Er kommt schon zurück.“

In diesem Sommer waren die Nachrichten voll von der Geschichte eines verschwundenen Geschwisterpaars, Heinrich und Elfriede Rössle. In einem Randbezirk der Stadt waren beide in einer Nacht aus dem Kinderzimmer in der elterlichen Wohnung verschwunden und seitdem nicht mehr aufgetaucht. Das Radio zählte die Tage, an den Nachmittagen wurde täglich eine Sondersendung übertragen, Eltern und Lehrer sprachen. Heinrich, der Schmetterlinge sammelte, der über den Winter einen verletzten Vogel aufgezogen hatte. Die Mutter drehte jedes Mal das Radio lauter und blieb dann, nach vorne gebeugt sitzen, bis die Sendung vorbei war. Ihr Mitgefühl galt den Eltern. „Lass du mich nie allein.“, und er sah die Mutter an seinem leeren Bett stehen, mit dem gleichen konzentrierten Blick, der sonst dem Radio galt.
Ein Bild der Geschwister wurde über die Zeitungen verbreitet. Sie standen darauf auf einem grauen Wiesenhügel, im nahen Hintergrund scharfe Berghänge. Er in kurzen Lederhosen und die Schwester in einem bestickten Kleid. Der Bruder legte den Arm um die Schultern der Schwester, in der freien Hand hielt er einen kleinen karierten Pappkoffer. Für Kahn war es das Bild ihrer Abreise, eine Postkarte, ein Abschiedsgruß.

Die Geschwister Rössle wurden ein Fixpunkt in diesen Wochen. Abends im Bett, wenn die Eltern nebenan schwiegen, dachte sich Kahn, wie die zwei Kinder hoch in den Bergen auf der Wiese lebten, der kleine Koffer voll mit Beeren und Schmetterlingen. Jeder der abgezählten Tage, ein Sieg.

Am Donnerstag der zweiten Woche nach dem Verschwinden der Geschwister wachte er zum ersten Mal auf, als die Eltern im Wohnzimmer die Lichter ausschalteten. Er hörte, wie sich die Schlafzimmertüre schloss. Er lag wach und beobachtete die Äste, die die Straßenlaternen auf die Zimmerdecke zeichneten. Er dachte sich Heinrich, der neben der schlafenden Schwester lag, über ihnen der Himmel.

In der zweiten Nacht, in der er erwachte, stand er auf. Die Wohnung lag stumm um ihn, wie gezeichnet. Da gab es plötzlich keinen, der ihn sah. Er strich durch den Flur, in die Küche, ins Wohnzimmer.
Die Schuhe des Vaters neben der Haustüre.
Die Schürze der Mutter am Nagel in der Wand.
In den Schränken pressten sich Kleider, Hemden, Mäntel auf Bügeln, Tassen und Teller, in Pappkisten, eingeschlagen in Stoffe und Papier. Bücher hinter Glastüren.
In der Küche, im Zeitungsständer das Bild der Geschwister.
Heinrich und Elfriede auf der Bergwiese, während unten die Stadt schlief. Kahn, am Fenster, während unten die Stadt schlief. Auf der Fensterbank, im Staub, lagen die harten Körper der gestorbenen Fliegen. Er sammelte sie in der linken Hand, mit der rechten hob er sie an den Flügeln hoch.
Er setzte sich in den Lehnstuhl der Mutter. Die Fliegen knirschten zwischen den Fingern, die Wohnung roch noch leicht nach dem Tag, nach Kaffee, Rauch und Waschmittel.
Die silbernen Wände, kurze Schatten, nichts bewegte sich.
Seine Beine auf dem kalten Leder, irgendwo bellte ein Hund. Er griff die Lehne mit der rechten Hand, wie die Mutter es tat und wartete.
Der Hof als leeres Quadrat unter dem Küchenfenster.

In einer Nacht fand er nur eine einzelne Fliege. Er trug sie zum Lehnstuhl, in der Häuserwand gegenüber waren die Fenster schwarz.
Unten im Innenhof, die helle Laterne.
Irgendwann. Die Buben trugen in der freien Hand jeweils ein Köfferchen, kurze Hosen, dünne weiße Beine. Kahns Herz schlug schneller, aber es war nur die Familie vom Metzger. Die Frau zog die Zwillinge um die Ecke, vom Hof.
Kaum waren die drei verschwunden, da ging beim Metzger das Licht an. In dem hellen Viereck stand der große weiße Tisch, der Metzger, in der weißen Schürze legte weiße Teller rund herum.
Männer betraten den Raum weiter hinten, durch die braune Holztür.
Sie sammeln sich um den Tisch, sie reihen sich vor dem Fenster auf. Ihre Köpfe sind leer umzeichnete Schablonen mit weißen Ohren. Sie sitzen in einer Reihe um einen Tisch. Über ihren Köpfen hängt eine bunte Girlande aus Papier. Sie spannt sich durch das ganze Zimmer, eine rote dünne Schnur aus bunten Rauten. Der Tisch ist mit einem Laken belegt, Kahn sieht ihn von oben, ein weißes Feld mit den runden, weißen Tellern. Der Metzger steht und spricht, die anderen hören ihm zu. Kahn denkt sich die tiefe Metzgerstimme, er war schon manchmal mit dem Vater in seinem Geschäft gewesen. Die Mutter fragt dann abends, beim Essen, nach dem Metzger. Sie hat Angst vor ihm, aber sie fragt und sie schaudert, wenn der Vater antwortet.
Wenn die Zwillinge im Hof spielen, schließt die Mutter die Fenster. Der Metzger spricht, während es draußen hell wird. Die anderen tragen Anzüge, nur der Metzger trägt seine weiße Schürze. Die anderen essen von den weißen Tellern, während der Metzger spricht.
Einer isst nicht, sein Teller bleibt weiß. Erschrocken erkennt Kahn ihn, den Mann aus der Nacht, aus dem Hof. Kahn denkt, dass er sich alles merken muss, jedes Gesicht, jede Geste.
Er fixiert die Köpfe, aber da sehen sie alle gleich aus. Sie wechseln die Plätze. Dann singen sie, er kann sie nicht hören, aber er sieht die Münder, er sieht wie sie alle sich zusammen öffnen und schließen. Nur der Fremde sitzt dazwischen und bleibt still, sein Blick, unter der Hutkrempe, durch das Fenster, über den Hof, zu Kahn.
Die Männer sitzen und ihre Münder bewegen sich und Kahn sitzt hinter der schwarzen Scheibe und kann nicht weg, kann nur abwarten. Bis sie aufhören und aufstehen und das Fenster verlassen.
Zurück bleibt ein leerer Tisch, weiß, mit einem weißen Teller.

In seinem Rücken öffnete sich leise die Schlafzimmertüre der Eltern. Kahn, dicht hinter der hohen Lehne, bleibt unsichtbar. Leise Schritte im Flur, dann das leise Schließen der Haustüre. Der Vater steigt im Hemd die braune Treppe nach unten während Kahn und die Mutter noch schlafen.

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