Kategorie: Leseprobe-2017

Leseprobe: Heike Duken – „Rabenkinder”

An Wildschweinen sterben mehr Menschen als an Haien
Nele 1975

Der erste Mann nach dem Tod meines Vaters kam an einem Sonntag in die Familie. Meine Mutter hatte uns vorbereitet. Sie habe jetzt einen Freund. Heinrich.
„Er hat eine ganz schlimme Kindheit gehabt, auf dem Dorf, weit weg von der Mutter“, erzählte sie uns.
Ich lauschte wie bei einer gruseligen Gutenachtgeschichte.
„Sein Vater ist gefallen. Im Krieg. Und später hat Heinrich eine Frau geheiratet, die ist verrückt geworden. Sie ist in ein Krankenhaus gekommen, und da ist sie geblieben.“
„Für immer?“
Sie nickte.
Ich glaube, sie wollte uns gnädig stimmen. Diesen Mann mit der verrückten Frau und der ganz schlimmen Kindheit, den sollten wir nicht zu sehr auf die Probe stellen, wir drei, Hannes, Karen und ich, die Kleine.
Heinrich tat mir leid. Ich beschloss für mich, er sollte es von jetzt an besser haben im Leben. Ich würde dafür sorgen. Es war gut, dass dieser Mann zu uns kam. Alles würde nun anders werden für ihn. Und für meine Mutter auch.
„Er ist da! Heinrich ist da!“, rief ich, als es klingelte. Ich rannte zur Haustür und hüpfte auf und ab, auf und ab, bis Mutter endlich öffnete, und da stand er. Der arme Mann. Er beugte sich zu mir hinunter.
„Du bist die Nele, stimmt’s?“
Ich nickte. Ganz ernst und feierlich.
„Du hast ja wirklich so schöne Augen!“
Er lächelte.

Ich nahm seine Hand und zog ihn ins Zimmer, der Tisch war schon gedeckt. Es gab süße Teilchen, Kaffee für die Erwachsenen und Limonade für uns Kinder. Das kriegten wir sonst nicht zu sehen, Gebäck und Limonade, wir stürzten uns darauf wie ausgehungert.
Ich schaute sie die ganze Zeit an, meine Mutter und ihn, wie sie vorsichtig miteinander waren und zuvorkommend.
Mein Vorhaben festigte sich. Heinrich würde es gut bei mir haben. Er würde alles vergessen und glücklich werden, bei mir, der kleinsten von allen. Meine Beine baumelten über dem Sofarand, ich trank meine Limo, ich hatte sogar einen Strohhalm bekommen.
Später brachen wir auf. Wir saßen zu dritt hinten in Heinrichs Auto, die Mutter vorne. Er konnte gut Autofahren. Ich wusste, Heinrich würde niemals einen Unfall bauen.
Unser letzter Ausflug war lange her. Ich konnte mich gar nicht mehr daran erinnern. Ein Auto hatten wir nie gehabt. Ich schaute aus dem Fenster, ich sah ein Pferd und eine Herde Schafe.
Wir liefen durch den Wald, und Hannes tat so, als würde er sich auskennen und erklärte alles mögliche, das seien Buchen und das Eichen, und das seien Wildschweinspuren.
„Wildschweine, die sind gefährlich, Nele, die rennen dich um. Und die Eber, die rammen dir die Zähne in den Bauch. Das ist tödlich, verstehst du?“
„Hör auf, Hannes!“, sagte meine Mutter, aber er dachte nicht daran.
„An Wildschweinen sterben mehr Menschen als an Haien. Das ist eine Tatsache.“
Heinrich nahm meine Hand. „Ganz so schlimm ist es nicht“, sagte er. Ich ging eine Weile an seiner Hand. Er machte viel größere Schritte als ich, passte aber immer auf, dass ich mitkam. Es war weit. Meine Füße taten schon weh.
„Kannst du denn noch laufen?“, fragte Heinrich.
Ich schüttelte den Kopf.
Er hob mich hoch und setzte mich auf seine Schultern. Da oben konnte es ruhig noch viel weiter sein. Aber dann machte er plötzlich „Pscht!“, blieb abrupt stehen und sagte: „Ganz ruhig alle!“
Ich hatte furchtbare Angst. Die Wildschweine. Jetzt waren sie da. Hannes hatte auch Angst, ich sah es ihm an, und das machte es noch schlimmer. Karen versteckte sich hinter der Mutter.
„Schaut mal, da vorne!“ Heinrich deutete auf einen kleinen Sonnenfleck, nur ein paar Meter entfernt, aber ich sah nichts Besonderes.
„Schaut doch, auf dem Stein. Seht ihr sie?“
Wir suchten, zuckten mit den Schultern.
„Zwei Kreuzottern. Sie sind ineinander verschlungen. Auf dem Stein.“
Jetzt sah ich sie. Zwei Schlangen.
„Ja, da!“, rief ich, und jetzt sahen die anderen sie auch. Wir staunten. Sie waren so nah. Ich hatte noch nie eine echte Schlange gesehen. Irgendwie hatte Heinrich sie heraufbeschworen, für mich. Und auf seinen Schultern war ich ganz sicher vor ihnen und konnte sie einfach so beobachten.
„Sie lieben sich“, sagte Heinrich und sah meiner Mutter in die Augen. Sie schaute nicht weg und hielt es lange aus, ohne zu blinzeln.
Als es weiter ging, waren wir alle ganz aufgekratzt wegen der Schlangen und wegen des Ausflugs und wegen Heinrich und allem. Karen beschwerte sich, sie könne jetzt auch nicht mehr laufen, sie wolle jetzt auch mal eine schöne Aussicht haben.
„Also gut, gerecht muss es sein.“
Heinrich hob mich herunter und stemmte Karen auf seine Schultern, ihre Beine hingen ganz lang an ihm herunter, weil sie schon viel zu groß für so was war. Hannes verdrehte die Augen, das war für ihn Mädchenkram. Er kam mit einem Stein an.
„Das ist ein Kreuzotternei, seht ihr?“
„Tatsächlich!“, meinte Heinrich. „Das ist sehr selten, Hannes, pass gut darauf auf.“
„Ich nehme es mit, und zu Hause lassen wir die Babys schlüpfen. Die dürfen dann in deinem Zimmer schlafen, Nele.“
Ich hüpfte im Kreis herum. „Das macht mir nichts, ich hab keine Angst!“
Wir Kinder rannten voraus und wieder zurück, wir sahen überall Schlangen und Schlangeneier, hoben Stöcke auf und schlugen damit gegen Baumstämme, immer wilder wurden wir, die Gesichter rot, die Köpfe verschwitzt.
„Treibt es nicht zu bunt!“, rief meine Mutter, aber wir hörten nicht auf sie, Hannes hob einen schweren Prügel hoch und schwenkte ihn über dem Kopf.
„Heinrich, kannst du das auch?“ rief er.
Heinrich lief ein Stück ins Unterholz und suchte nach einem Stock für sich, Hannes hinter ihm her, er heulte wie ein Indianer und drehte sich im Kreis, beide Hände an seinem Prügel, Heinrich bückte sich, Hannes drehte sich weiter, aber dann bekam er zu viel Schwung und konnte den schweren Ast nicht mehr halten, der flog durch die Luft, und als Heinrich gerade aufstand, traf ihn der Prügel mit einem dumpfen Geräusch am Hinterkopf.

Einen ganz kleinen Moment lang war es vollkommen still. Sogar die Vögel hielten die Luft an.
Und dann passierte es wahnsinnig schnell. Heinrich rannte los, zu meinem Bruder hin, holte aus und schlug ihm mit der Faust ins Gesicht. Hannes flog nach hinten, viele Meter weit, so kam es mir vor, wie in einem Film, und er machte dabei so ein kurzes, schlimmes Geräusch, es kam aus seinem Hals.
Ich starrte zu ihm hin. Er lag auf dem Waldboden und hatte Dreck und Blätter in den Haaren. Jetzt setzte er sich auf. Sein Blick war so verwirrt und erschrocken, dass er mir leid tat wie verrückt. Er langte sich ans Kinn. Seine Lippe blutete.
Ich fing an zu weinen.
Heinrich stand da. Er tastete sich den Hinterkopf ab und sah an der Hand nach, ob es blutete. Kein Blut.
Das war nicht gerecht.
Trotzdem, er tat mir auch leid.
Auf der Rückfahrt nach Hause sagte keiner ein Wort. Heinrichs Hand am Steuer war an den Knöcheln ganz rot. Hannes saß neben mir. Seine Arme hingen wie tot herunter. Karen summte leise. Ich tat, als würde ich schlafen.
Als wir anhielten, öffnete ich die Augen und sah, dass Heinrich eine Hand hinüber zu meiner Mutter legte. Auf ihr Bein. Sie bewegte sich nicht, sah nur geradeaus. Keiner stieg aus. Karen summte nicht mehr.
„Heinrich?“ sagte meine Mutter, ohne ihn anzuschauen.
„Ja?“
„Meine Kinder werden nicht geschlagen.“
Sie war vollkommen ruhig.
Heinrich antwortete nicht.
„Überleg dir, ob du das schaffst. Überleg es dir gut“, sagte sie.

Er stieg nur aus und öffnete mir von Außen die Tür.
Ich kletterte hinaus.
„Tschüss, Nele“, sagte er.
„Tschüss.“
Dann gab er Hannes etwas in die Hand.
„Dein Schlangenei.“
Hannes schaute auf den Stein wie auf etwas Seltsames, Fremdes.
Spät abends schlüpfte ich noch einmal aus dem Bett und ging zur Toilette. Ich musste gar nicht. Durch den Türspalt sah ich meine Mutter im Wohnzimmer vor dem Fernseher sitzen.
Im blauen, flimmernden Licht sah sie bleich aus.

Xie Xie
Nele 1999

Der Schmerz kam schlagartig und sofort mit voller Wucht. Er fühlte sich anders an als alles, was ich kannte. Als würde mein Unterleib sich zur Faust ballen und gewalttätig werden.
Nach einer Aspirin und nach einer Stunde gekrümmt auf dem Sofa versuchte ich, Bert zu erreichen. Aber er war auf einer der Baustellen und hatte keinen Empfang. Das kannte ich schon.
Wen konnte ich anrufen? Wen denn? Unsere einzigen Freunde hier wohnten außerhalb in Happy City, siebzig Kilometer entfernt, und sie beherrschten auch nur die gleichen ungefähr zehn chinesischen Wörter wie ich.
Blieb nur Greta, meine Assistentin. Sie war es gewohnt, am Sonntag angerufen zu werden. Wir waren es alle gewohnt. Aber Greta kam gerade heute nicht in Frage. Auf keinen Fall.
Als hätte er das eingesehen, gab mein Leib plötzlich Ruhe. Schweigen da unten. Vielleicht bekam ich doch nur meine Tage. Vielleicht reagierte ich über, wieder einmal allein in dieser absurd großen Wohnung, gefangen zwischen Fensterscheiben, die sich nicht öffnen ließen. Ich sah hinunter auf das neue Shanghai. Novembersmog. Winzige Autos bewegten sich durch den gelblichen Nebel, aus dem halbfertige Hochhäuser ragten wie schlechte Zähne. Der Himmel darüber seit Wochen konstant grau und tief durchhängend, eine apokalyptische Lebensfeindlichkeit, so kam es mir vor, am Horizont grellrot leuchtend die Coca Cola- Werbung, ein einsames Signal, eine letzte Assoziation: Europa.
Das am Freitag mit Greta wäre mir vor ein paar Wochen noch nicht passiert. Aber mein Heimweh hatte nun doch diese letzte wütende Phase erreicht. Man fing an, alles zu hassen, wirklich alles zu verabscheuen, das wurde beliebig, jede Kleinigkeit nur ein weiterer Beweis für dieses Exil, moderne Sklaven waren wir, verschleppt in der Businessclass.
Greta hatte in der Datei für die Präsentation wieder das falsche Logo verwendet, in dem das V mit dem W vertauscht war, so dass unsere schöne deutsche Marke, in der ganzen Welt mit solider Wertarbeit assoziiert, der Lächerlichkeit preis gegeben war, eine Verballhornung, die sich hartnäckig in den Dateien hielt und sämtliche Chefchefs in nullkommaeins Sekunden auf hundertachtzig brachte.
„Diese unendliche chinesische Blödheit!“ brüllte ich durchs Großraumbüro, außer Kontrolle geraten, eine Rassistin war ich, und Greta stand auf, die gemeinte Chinesin, die sich ihren seltsamen Vornamen aus Ehrfurcht vor den deutschen Vorgesetzten selbst verliehen hatte. Das war so üblich.
„Oh, vergessen“, sagte sie und trippelte auf ihren Zehn-Zentimeter-Lackpumps und in ihren Rüschenhotpants um den Schreibtisch herum. Sie war besonders umgänglich und bemüht in den letzten Tagen, weil es um die Hochzeit ging. Auch das war üblich, die Vorgesetzten erschienen zur Hochzeit und hielten Lobreden.
„Ich werde nicht zu deiner Hochzeit kommen“, sagte ich. „Und merk dir das endlich mit dem Logo. Merk es dir, Greta, hörst du?“
Ich konnte es jetzt nicht fassen. Was war aus mir geworden? Und auch das war ja nur eine klägliche, eigennützige Reue.
Greta hatte gelächelt, sich umgedreht und war gegangen. Vielleicht hatte sie auf dem Klo geweint. Bestimmt sogar. Dieses Hochzeitsding war einfach extrem wichtig.

Der Schmerz kehrte zurück, und diesmal blieb mir die Luft weg. Ich bekam richtige, kalte, schweißnasse Angst. Und wählte Gretas Nummer, denn jetzt war es schon egal. Meine Assistentin ging jedoch dieses eine Mal nicht ran. Mailbox.
„Greta, hier ist Nele. Ich muss zum Arzt. Bitte, kannst du mich fahren und übersetzen? Es ist dringend, glaube ich.“
Ich wartete. In der Küche über die Spüle gebeugt, ständig ganz kurz davor, mich zu übergeben. Ich trank ein Glas Wasser.
Wie sterbensallein sie war, diese Frau in der Küche im 39. Stock mit dem Glas Wasser in der Hand. Sie war mir fremd.
„Ich bin’s noch mal, Nele. Es tut mir leid, Greta! Melde dich, wenn du das hörst, bitte! Ich fahre jetzt mit dem Taxi ins blaue Krankenhaus. Vielleicht ist Dr. Mayers da.“
Im blauen Krankenhaus, ein Gebäude mit blauen Stahlstreben innen wie außen, tummelten sich die Menschen, klein und schwarzhaarig, jeden Alters, mit Plastiktüten voller Essen am Arm und mit Kindern im Schlepptau, vor einem Tresen, anscheinend so etwas wie eine Anmeldung. Ich musste drängeln, alle drängelten, alle wollten ja nur dran kommen, sie hielten Geldscheine hoch. Ohne Geld wurde hier niemand behandelt. Niemand. Ein Mann schubste mich, ich schubste zurück. Vorne beim Tresen zeigte ich ein Bündel Geldscheine und eine Karte mit dem chinesischen Wort für Schmerzen. Eine Karte für ‚Unterleib’ hatte ich nicht, deshalb musste ich auf meinen Unterleib deuten, eine Frau neben mir wegdrücken, und wieder auf meinen Unterleib zeigen.
„Dr. Mayers? Ist Dr. Mayers da?“ fragte ich.
Keine Antwort. Nur eine Armbewegung, das hieß wohl nach oben, und ich ging nach oben. Die Treppe wollte gar nicht mehr aufhören, in meinem Unterleib ein schwerer Stein. Aber tatsächlich, da stand ein lesbares Wort, Gynecology. Ein Wartezimmer war auch da. Frauen saßen auf Bänken, es war merkwürdig still nach dem Aufruhr in der Eingangshalle. Alle schauten auf den Fußboden. Blau. Nichts passierte. Ab und zu holte eine Schwester eine der Frauen ab, und eine neue Frau kam dazu.
Ich versuchte noch einmal, Bert anzurufen. Aber die Schwester rannte erbost auf mich zu und deutete auf das Zeichen an der Wand: Handys verboten.
Dann spürte ich die Feuchtigkeit. Ich sah an mir herunter. Ein dunkler Fleck breitete sich aus. Wurde größer und größer. Ich brauchte eine Toilette. Jetzt. Unbedingt. Ich suchte den Gang entlang, aus der Feuchtigkeit wurde Nässe, meine Socken sogen sich voll, die Turnschuhe, und dann gab es schon eine rote Spur, erst Tropfen, dann Schlieren.
Das Toilettenschild. Der Gestank wie eine Wand. Putzmittel, alter Urin und frische Exkremente. Nichts als eine Rinne, über die man sich hockte. Es war nur eine weitere Frau da. Sie hockte schon. Sah nicht auf. Ich zog meine Hose herunter und hockte mich auch. Aus mir heraus kam ein hellroter Strahl. Als hätte man einen Hahn aufgedreht. Ich sah das Blut die Rinne entlang fließen, und die Frau neben mir entleerte sich. Sie war hochschwanger. Sie hatte sich einen Einlauf gemacht, die Utensilien lagen vor ihr auf dem Fußboden.
Was sollte ich tun, unten in Wellen die Krämpfe, es gab ja nur noch unten, oben war ich nicht mehr da, oben war ich leer. Und dann spürte ich ein Etwas aus mir heraus schwämmen, ein Klümpchen, mit einem Schwall, es wurde ruhiger in mir ohne dieses Etwas, der Schmerz ließ nach, obwohl das Blut weiter floss, immer weiter.

Ich fing an zu schreien. Die Frau neben mir schaute in die Rinne und bekam ein Entsetzen ins Gesicht und jammerte etwas, ich verstand sie nicht und schrie weiter. Die Frau stand auf, säuberte sich hastig, kam zu mir her, und ich flehte sie an: “Holen Sie Hilfe!“
Aber sie blieb da, nahm ein Stofftuch aus ihrem Bündel, zog mich hoch und presste mir das Tuch zwischen die Beine. Dann deutete sie auf sich und machte die Zahl drei mit der Hand und deutete auf meine Scham und machte wieder die Zahl drei und deutete wieder auf sich selbst. Sie hatte das dreimal erlebt? War das ihre Botschaft? Standen mir noch zweimal bevor?
Die Frau lächelte jetzt und zeigte auf ihren hochschwangeren Bauch, der Nabel stand hervor, es konnte nicht mehr lange dauern bis zur Geburt. Sie nahm meine Hand und legte sie auf ihren mächtigen Leib.
In dem Moment wusste ich es. Erst jetzt kam bei mir an, was passiert war, der gespannte Bauch unter meiner Hand. Dr. Mayers hatte gesagt, ich könne nicht schwanger werden. Zu wenig Hormone. Und doch war es geschehen. Und doch floss meine Schwangerschaft mit dem Durchfall dieser Frau den Abguss hinunter. Jetzt wusste ich auch, was sie mir hatte sagen wollen. Ich packte ihre Hand, sie war ein Mensch, der letzte in einer menschenleeren Welt, und ich sagte: „Xie Xie.“ Danke. Mehr schaffte ich nicht mehr. Ich knickte ein. Landete auf dem Boden, die Füße von der Hose gefesselt, Brechreiz bis zum Hals.
Die Frau rannte hinaus, die Schwester kam und zerrte mich auf einen Rollstuhl, immer noch die Hose unten, schob mich in einen Saal mit etlichen Gynäkologenstühlen nebeneinander, auf allen Frauen wartend, die Beine gespreizt, und auf einen wurde ich gehievt, eine Schüssel zum Auffangen des Blutes unter mir. Die Tropfen machten beim Aufschlagen auf das Plastik ein Geräusch, dann ein anderes, als die Schüssel sich langsam füllte. Mein Handy lag mit meiner Hose auf einem Tisch unendlich weit weg. Neben mir klopfte ein Gerät die Herztöne eines Föten. Während ich das hörte, wurde ich ruhiger. Der Blutfluss hatte nachgelassen. Ich sah auf meine Füße, die nassen Socken, die Waden auf den Halterungen des Gynäkologenstuhls.
Und dann tauchte ein glitzernder Pandabär zwischen diesen Füßen auf, auf einem pinkfarbenen T-Shirt, eine schwarze Brille und eine Bärchenhaarspange.
Ich fing sofort an zu weinen. Greta umarmte mich.
„Chefin!“, rief sie, „Chefin!“ und drückte mich fest und sagte: „Dr. Mayers kommt, ich habe gesagt, Sie sterben. Und Mann kommt auch, ich habe alle verrückt gemacht, und sie haben ihn gefunden.“
Ich schluchzte immer lauter und zitterte und hatte meine Stimme nicht mehr im Griff. „Greta, es tut mir so leid.“
Sie wischte das mit einer Handbewegung weg. „Das waren nur Hormone. Nicht Sie, Chefin, Hormone. Das sind Biester!“
Ich bemühte mich zu lächeln, heulte aber weiter wie ein kleines Mädchen. „Ich werde auf deiner Hochzeit…“
„Schluss damit. Erst Auskratzung, dann Hochzeit.“
Jetzt lächelte ich tatsächlich.
„Ich war schwanger“, sagte ich, plötzlich ganz ruhig.
Greta biss sich auf die Lippe, streichelte eine Weile meinen Fuß in der blutigen Socke, beugte sich dann über mich und flüsterte: „Einmal schwanger, immer wieder schwanger. Sie müssen nur Sex haben. Bald!“
Sie kicherte. Und hielt einfach meine Hand.

Nachts örtlich bis fünfzehn Grad unter Null
Karen 2007

Ein später Anruf.
Karen zögerte, aber sie ging ran.
„Ja? Hallo?“
Schweigen.
„Tim?“
Es musste Tim sein, um diese Zeit. Er sagte nichts, dann legte er auf.
Es war also wieder mit etwas zu rechnen. Es stand wieder etwas bevor. Karen war gewarnt, aber das nützte ihr nichts, denn eine Warnung ergibt ja nur einen Sinn, wenn man eine Fluchtwegbeschreibung hat oder einen Evakuierungsplan, aber das hatte sie alles nicht. Sie saß jetzt nur gewarnt vor dem Fernseher anstatt gemütlich.
Trotzdem erschrak sie, als es an der Tür läutete.
Sie rührte sich nicht. Und in ihrer Starre kam ihr dieser Gedanke: Ich habe Angst. Angst vor Tim. Etwas wehrte sich aber in ihr, denn das war so verkehrt, so widernatürlich, wie wenn ein Bein gebrochen ist, und es steht so verkehrt ab.
Tim hatte angerufen, also wusste er, dass sie da war. Es brannte Licht im Haus. Er würde nicht so schnell aufgeben. Und sofort ging ein Sog von ihm aus, alles im Haus bewegte sich zu ihm hin, die Möbel, die Geräte und Utensilien, die Bücher, die Bilder an den Wänden. Es war, als wölbte sich die Haustür nach Außen, weil er davor stand und wieder auf die Klingel drückte.
Karen kannte das schon. Man sitzt im Haus und zittert und hält sich irgendwo fest und stemmt sich gegen dieses Saugen, diesen ungeheuer starken Luftstrom, und man beißt sich in den Arm und betet, obwohl man nicht mehr an den da oben glauben kann, denn der da oben sieht ja immer einfach nur zu. Den hatte sie kennen gelernt, danke schön. Der hatte noch sein Vergnügen daran, wie sie sich abquälte, die Frau da unten, wie sie sich anstrengte, schließlich hatte man ihr das eingetrichtert: Nicht hereinlassen, kein Geld geben. Und dann brachte sie es doch nicht fertig, das war zum Schießen, wenn sie doch wieder mit einem Scheinchen herausrückte und Tim endlich zufrieden war und sich davonmachte, um Spaß zu haben, wie er das nannte, Hauptsache Spaß, unendlicher Spaß, das Scheinchen würde ihm schon dabei helfen, das zerknüllte in der Hosentasche.
Auf keinen Fall Geld geben. Auch wenn es hart ist.
Dabei war es doch egal. Ob sie ihm Geld gab oder nicht, es war ein und dasselbe. Diese Berater, diese jungen Leute, blutjung waren die und kannten sich wahnsinnig gut aus mit so was, die saßen aber nicht allein in einem Haus, wenn es läutete!
Karen stand jetzt mitten im Wohnzimmer und hatte Angst, Angst vor Tim. Kein weiteres Läuten. Vielleicht hatte er doch aufgegeben und war schon wieder unterwegs in die Stadt.
Doch plötzlich eine Bewegung, direkt vor ihr, sie fuhr zusammen, Tim war auf der Terrasse. Er stand im Dunkeln, eine Gestalt, die jetzt an die Scheibe trat und sie ansah, direkt ansah. Es war Tim, er war es, aber er war es auch nicht, denn alles Timhafte an ihm war verschwunden, ausgemerzt. Die Augen wie eingetrocknet, zwei Rosinen in viel zu großen Höhlen, die Haut weiß und tot, der Mund weg, er hatte keinen Mund mehr, keine Lippen, nur noch eine Öffnung, einen Schlitz. Und wo war sein Haar? Das lockige, das Kastanienhaar? Tim liebte doch sein Haar, die Stunden im Bad, der Geruch von Shampoo und Haargel, und jetzt hatte er es abrasiert, geopfert, auch diese Bastion fallen lassen, jetzt war er nicht mehr Tim, jetzt war er irgendwer, und er wollte ins Haus.
„Mach auf, mir ist kalt!“, rief er.
Ja, es war kalt draußen. Es würde bis auf fünfzehn Grad unter Null gehen, das hatten sie vorhin in den Nachrichten gesagt. Eine bitterkalte Nacht. Aber wenn Tim dachte, das würde sie weichklopfen, hatte er sich getäuscht. Denn anders als er merkte sie sich alles ganz genau. Sie hatte nichts vergessen, gar nichts, sie wusste es noch, sie dachte daran, und ihr Hals schmerzte. Er hatte zugedrückt. Nicht lange. Aber auch wenn es nur kurz gewesen war, er hatte ihr den Hals zugedrückt, kein Luftholen mehr, zu zu zu der Hals, das konnte man nicht vergessen, nie.
Sie schüttelte den Kopf.
Er klopfte an die Scheibe. „Mama, mach auf. Bitte! Ich hab mich ausgesperrt.“
Sie schüttelte wieder den Kopf.
„Die letzte S-Bahn ist weg. Ich komm nicht mehr zurück. Du musst mich reinlassen!“
NICHT HEREINLASSEN.
Das hämmerte in ihrem Kopf.
NICHT HEREIN LASSEN.
Tim klopfte gegen die Scheibe.
„Es ist kalt, verdammt!“
Karen schüttelte wieder den Kopf. Mechanisch, hin und her, hin und her.
Er schlug mit der Faust gegen das Fenster, ein Nicht-Tim, ein Wesen. Er schmiss den Gartentisch um, der auch im Winter draußen stand, und trat gegen einen Blumenkübel und schrie: „Du bist keine Mutter, du bist ein Monster!“

Ihr Hals schmerzte. Sie bewegte sich nicht. Sah Tim auf der Terrasse hin und her wandern, und bemerkte es, da war etwas mit ihm, er war nicht nur übernächtigt, dünn und verwahrlost wie immer, nein, er war krank. Er zuckte und verdrehte den Kopf, zog Grimassen, es war gespenstisch. Sie dachte an das, was sie gelesen hatte: Löcher im Gehirn. Tim hatte jetzt also Löcher im Gehirn. Der Gedanke ließ sie gar nicht mehr los. Er hatte es geschafft. Er war kaputt. Er zuckte herum wie ein Spastiker und verzog sein Gesicht und merkte es nicht einmal.
Sie wollte weinen; wollte, konnte aber nicht.
Stattdessen fing Tim an zu weinen. Er lehnte den Kopf an die Scheibe und weinte. Er sagte etwas, aber zu leise, sie verstand ihn nicht.
„Tim, ich kann dir ein Taxi rufen. Es ist zu kalt“, rief sie.
„Na und?“
Er schlug wieder mit der Faust gegen die Scheibe, dann drückte er sich im Ganzen dagegen, wurde flach, ein Tim wie ein Blatt Papier. Seine Jacke lächerlich dünn.
„Geh in eine Notschlafstelle. Oder in die Klinik. Sie nehmen Tag und Nacht auf.”
Das sagte die Hoffnung in ihr, das hinterfotzige Stück, das nicht tot zu kriegen war. Später lachte es höhnisch, das kannte sie schon.
„Ich brauch nur hundert Euro. Für den Schlüsseldienst.“
Der Sog, nur eine Scheibe trennte sie von ihm. Warum nicht. Einhundert Euro und eine friedliche Nacht. Ins Bett gehen, schlafen. Oder ihn vielleicht doch … hereinlassen.
„Du bist keine Mutter!“, schrie Tim und versuchte, einen ihrer Büsche aus der Erde zu zerren, doch der Boden war gefroren, und er brach nur ein paar Zweige ab. Er trat gegen die Scheibe, aber sie hielt.
„Geh in die Klinik, Tim!“
„Ha! Du bist eiskalt, was? Kein Wunder, dass mein Vater dich verlassen hat!“, rief er und lachte, es war ein hässliches Lachen.
Karen ging aus dem Zimmer. Dass er jetzt von seinem Vater anfing. Dass er ihren Busch so zerrte. Dass er die gefrorenen Zweige abbrach.
Irgendwann erschöpft sich die Liebe, das merkte sie jetzt, und es wunderte sie. Tatsächlich, sie hört einfach auf, die Liebe, sie bleibt zurück, sie kann nicht mehr, und man muss weiter, sonst geht man mit drauf, und sie ruft vielleicht noch hinterher, die Liebe, aber man dreht sich nicht um und geht ganz schnell weg, so schnell man kann, man rennt davon und lässt sie im Stich.
Karen stieg die Treppe hoch, drehte sich nicht um, ging ins Bad und machte alles wie immer. Zähneputzen, Gesicht waschen, Creme, Haare bürsten. Und etwas in ihr wurde leicht dabei. Frei. Sie würde Tim nicht aufmachen. Sie ließ sich nicht erpressen. Das wäre ja noch schöner! Fing mit seinem Vater an, der Sohn, der missratene. Die Nachkommenschaft. Ha, die Spielplätze fielen ihr ein. Die Mütter mit ihrem Gezücht. Das Muttertier. Das Mutter. Basteln, Adventskalender, Laternen. Elternabende. Lehrer. KON-FIR-MA-TION, danke sehr.
Und dann: Beratungsstelle. Die eine, die nächste, die andere. Hauptsache Beratung, Hauptsache irgendwer wusste es besser, besser als sie, weil sie hatte es ja schon bewiesen, dass sie es nicht wusste und alles verdorben hatte.
Im Notfall die Polizei rufen. Das hatten sie ihr gesagt. Das Telefon war unten. Im Nachthemd schlich sie die Treppe hinunter. Die Terrasse war leer. Sie atmete auf. Sie hatte dieses eine Mal gewonnen.
Aber dann sah sie Tim im Garten. Er hatte sich die Gartenliege aus dem Schuppen geholt und lag zusammengekauert da, mit dem Rücken zu ihr, und bewegte sich nicht.
Jetzt trieb er es zu weit. Er überspannte den Bogen. Das Bogenüberspannen war ja sein Sport geworden.
Ohne mich, dachte Karen.
Mit mir nicht, Freundchen.
Sie packte den Riemen an der Terrassentür und ließ den Rollladen herunter. Er krachte unten auf, die Schlitze gingen zu, keine Aussicht mehr, kein Garten, kein Tim.
Aber sie war kein Monster. Sie war nicht eiskalt. Sie war ein Mensch, Tim nicht. Er hatte zugedrückt, aber sie würde nicht zudrücken, sie war nicht er, sie war sie: Karen. Also ging sie in den Keller und holte ihren Schlafsack, den Minus-30-Grad-Schlafsack, zog den Rollladen wieder ein kleines Stück hoch, öffnete die Terrassentür und fing an, das Daunending durch die Öffnung zu stopfen. Jetzt würde Tim nachgeben, jetzt war er so weit, weichgeklopft, weichgefroren. Er würde in den Schlafsack schlüpfen und Ruhe geben, und am Morgen würde er verschwunden sein.
Eine Hand, Tims Hand, die Finger knochig, steif gefroren, die Nagelbetten eingerissen, griff nach dem Schlafsack und zerrte ihn nach draußen.
Karen ging ins Esszimmer, um auch dort den Rollladen zu schließen, aber da stand er schon, Tim, zitternd, die Lippen blau, seine Zähne schlugen aufeinander, er verzog wieder das Gesicht, streckte den Kopf in den Nacken.

Karen erschrak über sich, denn sie fühlte nichts, gar nichts, er sollte nur abhauen, der sogenannte Tim, und weg sein, WEG.
Er holte ein Feuerzeug aus der Hosentasche, so betont langsam, wie ein Zauberer auf der Bühne, der genau das Tuch und den Hut und die Münze zeigt, so zeigte Tim ihr das Feuerzeug. Er grinste. Dann versuchte er, den Schlafsack anzuzünden, brannte Löcher hinein, aber der Stoff fing nicht richtig Feuer. Es schmorte und rauchte nur. Tim sah sich um, hektisch, und dann öffnete er den Deckel der Regentonne. Er hämmerte mit dem Schlafsack in der Hand auf die Eisschicht ein und stieß durch und drückte den Schlafsack ins Wasser, sah Karen dabei an, mit diesem Grinsen, ein Verzerren der Öffnung, die kein Mund mehr war. Er zog den Schlafsack aus dem Wasser, schleppte ihn zur Gartenliege und zwängte sich hinein in den triefenden Klumpen und rollte sich so verpackt wieder ein, mit dem Rücken zu ihr.
Karen überlegte.
Na gut, wenn du willst, dachte sie. Wenn du meinst. Das kannst du haben, du Sohn, du.
Sie löschte die Lichter und stieg die Treppe nach oben.
Die Bettdecke war erst kühl, dann wurde sie warm. Schön, so ein Federbett. Karen lag in ihrer Betthöhle und atmete. Ein ganzes Leben lang nicht mehr froh zu werden, das ging doch nicht, das musste doch mal ein Ende finden.
Einst war ein Kind auf sie zugerannt, es war in ihre Arme geflogen, ein Vögelchen, sie fing es auf, sie drehten sich im Kreis, das lockige Haar, es wirbelte herum.

Aber wenn es stimmt
Max 2010

Ich heiße Max und gehe nicht auf eine normale Schule. Ich gehe auf eine Schule für Idioten. Meine Mutter sagt, dass ich das nicht sagen soll. Aber wenn es stimmt. Ich kenne keinen auf meiner Schule, der kein Idiot ist. Sogar Manuel ist ein Idiot, und er ist Klassenbester. Ich bin außerdem dick. Ich habe eine Brille und komische Zehen, die alle aus meiner Klasse eklig finden und ich auch. Deshalb darf ich keinen Sport machen. Ich darf nur Fahrradfahren, und ich hasse Fahrradfahren. Ich hasse Gemüse. Ich mag alle Süßigkeiten, die es gibt, wirklich alle. Ich stopfe sie in mich hinein, ich kann nicht anders. Mit Wurstbroten ist es genauso. Das einzige, was meine Mutter gut findet, ist das Schokomüsli, allerdings das knusprige. Sie freut sich, wenn ich es esse, obwohl sie weiß, dass es fast genauso ungesund ist wie Nutella. Für sie ist es eben immer noch ein Müsli. Dass meine Mutter sich über mich freut, kommt nicht gerade oft vor. Sie hat wahnsinnig viele Probleme mit mir und hat sich das sicher anders vorgestellt. Tja. Das sagt meine Oma immer: Tja. Ich muss jede Woche zur Ergotherapie und in die Beratung und alles. Ich bin nämlich verhaltensgestört. Das hat Lena zu mir gesagt, dass ich verhaltensgestört bin. Weil ich sie in den Schwitzkasten genommen habe. So schlimm finde ich das auch wieder nicht, das macht Robin mit mir jeden Tag in der Pause, und er macht es auch nicht viel kürzer als ich es mit Lena gemacht habe, nämlich die ganze Pause lang. Dann habe ich keine Zeit mehr, was zu essen, und ich muss es im Unterricht machen. Na und? Aber sie sagen wieder meiner Mutter Bescheid, ehrlich gesagt, was kann sie denn dafür, wenn ich im Unterricht esse, und ich muss wieder zur Beratung, dabei ist es in Wahrheit Robin, der verhaltensgestört ist, weil sein Vater ihn schlägt. Robins Vater ist ein Arschloch. Mein Vater ist weg. Ich weiß, warum. Meine Mutter sagt, ich soll das nicht sagen, weil es Unsinn ist. Aber wenn es stimmt. Meine Mutter weiß es eigentlich auch. Mein Vater ist wegen mir ausgezogen. Das ist eindeutig. Klar wie Kloßbrühe. Das sagt meine Oma immer: Klar wie Kloßbrühe. Ich habe sie streiten hören, meine Eltern, und es ging immer um mich. Einmal hat mein Vater gesagt: Es war eben ein Fehler. Tja. Und dann hat meine Mutter gesagt: Geh doch. Und er hat sofort seine Sachen gepackt und ist ungefähr eine halbe Stunde später aus dem Haus gegangen. Ich weiß das, weil die Simpsons immer noch liefen. Er ist nicht mehr wieder gekommen, nur ein einziges Mal, als er noch mehr von seinen Sachen geholt hat. Ich denke nicht daran, ihn zu besuchen. Er hat bloß darauf gewartet, dass meine Mutter sagt: Geh doch. Er wollte, dass sie das sagt. Ich vermisse ihn kein bisschen. Die Idioten in meiner Schule haben alle keinen Vater außer Lisa und die bescheuerte Anna-Marie, die überhaupt keinen Vater verdient hat. Also vor der würde ich als Vater erst recht davonlaufen. Wahrscheinlich können bloß Mütter bei Kindern bleiben, die Idioten sind. Sogar Adoptivmütter. Ich bin nämlich adoptiert. Tja. Manche Eltern holen sich ein Kind aus dem Heim, weil sie selber kein richtiges Kind machen können und weil es andere Eltern gibt, die ihr Kind nicht haben wollen. Meine Mutter (ich nenne sie immer meine Mutter, obwohl sie mich nur adoptiert hat, die andere nenne ich Schlampe), also meine Mutter sagt immer, ich soll das nicht sagen, Schlampe eben und dass die Schlampe mich nicht haben wollte. Aber wenn es stimmt. Meine Mutter sagt, die Schlampe konnte mich nicht gut versorgen, weil sie Probleme hatte, und die Schlampe wollte nur, dass ich es gut habe. Aber als Kind hat man es nicht gut, wenn man im Heim ist und dann adoptiert wird. Das sollte mal im Fernsehen kommen. Man kann das als Kind nämlich nicht verheimlichen. Alle wissen es, der ist bloß adoptiert, und wenn es Stress gibt, sagen sie, du hast ja nicht mal eine richtige Mutter, und die Schlampe hatte recht, dass sie dich nicht haben wollte. Mir ist das egal. Meine Mutter tut so, als würde es ihr nichts ausmachen, dass ich nicht auf einer normalen Schule bin und außerdem dick. Und wieso weint sie dann? Ich hab gesehen, wie sie geweint hat. Ich weiß auch, warum. Tja. Da holen sich Eltern ein Kind aus dem Heim, und dann ist es ein Idiot und verhaltensgestört. Das haben die sich bestimmt anders vorgestellt. Wahrscheinlich dachten sie, ich gehe mal aufs Gymnasium wie meine Cousins alle, und dass ich Fußball spiele. Oder Geige wie Lena. Meine Zehen waren allerdings schon verkrüppelt, als meine Eltern mich geholt haben. Ich hab sie gefragt, und sie haben Ja gesagt. Ich hätte an ihrer Stelle dann ein anderes Kind genommen. Ich hab auch gefragt, warum meine Zehen verkrüppelt sind und eklig aussehen. Meine Mutter hat nur gesagt, ich soll das nicht sagen, und hat mir keine Antwort gegeben. Ich weiß trotzdem, warum. Es war die Schlampe. Oder ich bin schon so geboren, und die Schlampe hat sich das Baby angeschaut, das aus ihr herausgekommen ist, so ganz blutig und verschrumpelt, und sie hat die Arme gesehen, die Finger, die Beine und dann die Zehen. Ich kann mir das total gut vorstellen. Sie ist ganz starr geworden und hat die Augen aufgerissen wie die Frau in dem Film mit dem Menschenfresser. Und die Schlampe hat sofort gerufen, dass sie das Kind mit diesen ekligen Zehen nicht haben will. Nein, so kann es in Wirklichkeit nicht gewesen sein. Das glaube ich nicht. Ich glaube, dass sie schuld ist, die Schlampe, dass ich verkrüppelt bin. Sie hat das gemacht. Ich träume nämlich von ihr, und sie hat Schlitzaugen. Ich kenne niemanden, der Schlitzaugen hat außer mir. Deswegen muss sie es sein. Sie ist wahnsinnig böse. Sie ist hinter mir her und hat eine Zange als Waffe, und ich kann mich nur ganz langsam bewegen, ich komme nicht vorwärts. Wie ein Faultier. Ich habe eins im Fernsehen gesehen, es war auf einer Straße und wollte wegrennen, das war wahnsinnig gefährlich auf der Straße, aber das Faultier ist eben das langsamste Säugetier der Welt, es kann überhaupt nicht wegrennen, es kann sich nur in Zeitlupe bewegen, und so ist das in meinem Traum auch, ich bin dann das langsamste Säugetier der ganzen Welt. Die Schlampe kriegt mich und packt mich, und dann wache ich auf und schreie, und Mama kommt zu mir ins Zimmer und beruhigt mich. Manchmal schreie ich einfach so, nur damit sie kommt. Sie kommt immer. Und sie redet ganz leise und riecht gut und streichelt mich. Aber das muss sie auch, sie ist ja meine Adoptivmutter. Da kann sie nicht sagen, sie lässt das Kind halt schreien, wenn es Albträume hat, weil sie lieber ihre Ruhe haben und weiterschlafen will. Das geht nicht. Da käme das Jugendamt und würde ihr sagen, dass sie keine gute Adoptivmutter ist. Zu meinem Vater ist das Jugendamt nicht gekommen, glaube ich, aber der ist ja nur der Vater. Der kann ruhig abhauen. Sogar Manuels Vater ist abgehauen, und Manuel kann nächstes Jahr vielleicht auf die normale Schule. Nur Lenas Vater, der würde wahrscheinlich nicht abhauen, weil der ist ein Vater wie in den Filmen, die ich früher mit Mama anschauen durfte. So Familienfilme halt. Da gab es immer einen total netten Vater. Damit werden die Kinder, die sich das anschauen, für dumm verkauft. Lass dich nicht für dumm verkaufen, sagt meine Oma immer. Es gibt nur einen einzigen Vater auf der Welt, der so ist wie in den Filmen, und den hat Lena, meine Cousine, für alle anderen ist keiner mehr übrig. Ich hasse Lena. Sie bildet sich auf ihren Vater und auf ihre Brüder was ein. Ich habe keinen Bruder. Zum Glück. Wenn Eltern ein eigenes Kind haben und dazu noch ein Adoptivkind, dann mögen sie das eigene Kind automatisch lieber. Jan ist Lenas großer Bruder, und er hat mich geschlagen, weil ich sie in den Schwitzkasten genommen habe. Die arme, kleine Lena! Sie heult immer gleich los, auch wenn ich noch gar nichts gemacht habe. Und sie freut sich, wenn ihr Bruder mich schlägt. So arm ist sie nämlich gar nicht. Ich hab ihr gesagt, wenn sie mich verpetzt, dann sorge ich dafür, dass sie ins Heim kommt, und da wird sie dann von ganz bösen Eltern adoptiert, die ihr weh tun und ihr nichts zu essen geben, und ihre Brüder können ihr dann auch nicht mehr helfen oder ihr Vater. Die richtigen Eltern dürfen nämlich die Kinder nicht mehr sehen, wenn sie erst einmal adoptiert sind. Die richtigen Eltern dürfen dann gar nichts mehr. Nicht zum Geburtstag und nicht zum Schulanfang kommen und keine Geschenke bringen, nicht einmal anrufen. Die Schlampe wollte mich eh nicht anrufen. Sonst hätte sie mich ja nicht ins Heim gebracht. Das wäre unlogisch. Wer sein Kind ins Heim bringt, sollte eine Giftspritze kriegen wie in Amerika. Oder auf dem elektrischen Stuhl landen. Da kommen die Augen herausgequollen, das habe ich bei Robin in einem Film gesehen. Ich muss immer daran denken. Ich habe oft Angst, weil ich mir vorstelle, wie die Augen so herausquellen. Das war das ekligste, was ich je gesehen habe. Außer der Frau, die vom Teufel besessen ist. Das war noch ekliger, und ich habe oft Angst, weil ich daran denken muss. Mit Robin schaue ich immer Filme an. Ich sage meiner Mutter, ich gehe Rad fahren, aber ich fahre bloß zu Robin rüber, stelle mein Rad bei ihm in den Hauseingang, und dann schauen wir Filme an. Robins Vater hat auch Sexfilme. Man kann alles genau sehen. Die Schlampen in den Filmen kriegen es richtig besorgt. Das hat Robin gesagt. Und dass ich es bei ihm genauso machen soll, aber ich habe bloß die Hand genommen. Ich will keine Schwuchtel sein wie Thomas, der andere Bruder von Lena. Er hat es selbst zugegeben, sie hat es mir erzählt. Wenigstens hat sie einen schwulen Bruder, das geschieht ihr recht. Ich hab ihr gesagt, dass wir es ausprobieren müssen, wie das geht, wenn man nicht schwul ist, also in echt, und dass das alle machen, und sie hat sich nicht gewehrt. Ich hab gesagt, wenn sie es irgendwem erzählt, kommt sie ins Heim und wird adoptiert von Leuten, die den ganzen Tag mit ihr das gleiche machen wie ich. Sie hat geweint. Das hat ihr recht geschehen. Was soll daran auch so schlimm sein. Aber ich muss dauernd denken, dass sie es doch jemandem sagt. Dass meine Mutter es erfährt und mich wieder ins Heim bringt. Das geht, man kann Kinder zurückgeben, wenn sie etwas sehr Schlimmes gemacht haben.
Mama? Ich war das nicht! Es ist dunkel. Ich schreie. Du musst kommen, Mama, ich hab Albträume, komm, bitte komm, dann kann ich sehen, dass du es nicht weißt. Ich werde mir Mühe geben und auf die normale Schule kommen. Ich gehe nicht mehr zu Robin. Ich gehe nicht mehr zu Lena. Mir ist schlecht. Vielleicht bin ich vom Teufel besessen. Mama?
Sie sagt, alles ist gut. Sie ist ganz warm. Sie sagt, du brauchst keine Angst zu haben. Du hast nur geträumt. Aber das stimmt nicht.

Leseprobe: Gunnar Kaiser – „Unter der Haut”

Buch Eins

New York, 1969

1

Als ich jung war, suchte ich nach Mädchen. Meine Suche begann an meinem zwanzigsten Geburtstag und endete in der letzten glühenden Januarnacht unter dem Sternenhimmel eines letzten verrückten Sommers.
Damals und dort wo ich herkomme, nannte man solche Jungen mondsüchtig, und süchtig war ich. Aber mein Fall war wohl doch noch ein bisschen spezieller. Ich war im Frühling von Zuhause ausgezogen, war nach Manhattan gegangen und wollte studieren. Das Wenige, was ich brauchte, verdiente ich mir mit dem Ausfahren von Fleisch an die jüdischen Metzger in Williamsburg und Staten Island. Zumindest erzählte ich das meinen Eltern, wenn sie fragten, womit ich meine Zeit verbrachte, und es war nicht gelogen. Die Wahrheit war es aber auch nicht. Eigentlich trieb ich mich mit der Kamera, die mir mein Bruder überlassen hatte, tagsüber in den Straßen von Brooklyn und nachts in den Clubs und Bars südlich der Houston Street herum, knipste hier die Transvestiten vor den Kellereingängen auf der Greenwich Lane, da die Hände eines rauchenden Partypärchens, und suchte nach Mädchen.
Mein Job zwang mich früh aus dem Bett, ich fuhr zwei Stunden im Morgengrauen die Läden ab und kehrte mit einem leeren Lieferwagen und ein paar Scheinen in der Tasche vor neun zum Großhändler zurück. Danach gehörte der Tag mir und meiner Rolleiflex. Wir schrieben das Jahr 1969, der Mond war im siebten Haus, ich war zwanzig und wir bekamen beide eindeutig zu wenig Schlaf.
Sie war das definitive Mädchen, wie man so sagt. Keiner sagt das so, auch damals nicht, aber für mich war sie das an dem Tag, als ich sie sah: endgültig und absolut. Sie kreuzte meinen Weg eines Morgens im Frühsommer auf der Flatbush Avenue hinterm Prospect Park. Aus der Finsternis eines Subway-Eingangs war sie plötzlich emporgestiegen und ging nun mit ihren rotblonden Locken vor mir her, trug Lederjacke und einen veilchenblauen Rock und sah aus wie eine Göttin aus dem Modekatalog. Ich schätzte sie etwa drei Jahre älter, aber ich hatte mir geschworen, dass mich das nicht kümmern würde. Sie war auch kein Mädchen mehr, sondern eine erwachsene Frau, erwachsener zumindest als ich es war, studierte vielleicht im letzten Semester Kunstgeschichte, hatte einen Bildband über Caravaggio in ihrem Rucksack und jobbte irgendwo in einem Café. Aber sie war es, definitiv, ich wusste es und ich folgte ihr. Dieser Tag würde nicht vergehen, solange ich nicht entweder ein Foto oder einen Kuss von ihr hatte. Oder beides.
Ihr Weg führte uns durch halb Brooklyn, durch den kühlen und schattigen Maimorgen, vorbei an den Hare-Krishna-Jüngern und den Obdachlosen vom Atlantic Terminal, bis sie schließlich, als wartete sie auf etwas oder jemanden, vor einem Diner stehen blieb, sich die Haare im Spiegel des Schaufensters richtete und eintrat.
Ich kannte den Laden. Hier hatte ich freitags meine versiegelte Lohntüte hingetragen, wenn es brechend voll war, weil die Dockarbeiter den gleichen Gedanken hatten und die gefüllten Tacos für einen Dollar zu haben waren. Aber zu dieser frühen Stunde war nicht viel los. Ein alter Mann saß mit seiner Zeitung in der Ecke und trank Tee, ein schwarzes Pärchen in der Mitte übertönte mit seiner Unterhaltung und dem Klappern der Billardkugeln die Musik und am Tresen blickte Pedro, ein junger Latino mit zierlichem Schnurrbart, müde und gelangweilt mein definitives Mädchen an. Die hatte sich an einen kleinen Tisch am Fenster gesetzt, ein Buch aus dem Rucksack genommen und im Schein des Morgenlichts, das auf das Kupfer ihres Haar und auf das Elfenbein ihres Gesichts fiel, zu lesen begonnen. Einen Moment lang stand ich mitten im Raum, fühlte mich fehl am Platz, weil ich hier doch eigentlich nichts zu suchen hatte, nichts Ehrbares jedenfalls wie die anderen, sondern ein Gespräch mit einem hübschen fremden Mädchen, einen Kuss und eine Nacht mit ihr. Aber ich hatte mir an meinem Geburtstag vorgenommen, von jetzt an kein Feigling mehr zu sein, und da anscheinend keiner Notiz von mir nahm, legte ich die Kamera auf den Tisch neben ihrem und nahm Platz. Von hier aus konnte ich sie beobachten und, wenn die Zeit reif war, ansprechen. Ich versuchte, den Titel ihres Buches zu erkennen, vielleicht hatte ich es ja gelesen oder konnte wenigstens so tun. Doch im gleichen Moment kam Pedro (ein Puertoricaner, mit dem ich hier und da ein paar Worte gewechselt hatte) auf sie zu, nahm ihre Bestellung entgegen und schlurfte wieder hinter seinen Tresen zurück ohne mich eines Blickes zu würdigen. Ich bewunderte die Gelassenheit, die er trotz der Anwesenheit dieser morgendlichen Göttin der Schönheit an den Tag legte. Während ich immer unruhiger wurde, je näher ich ihr kam und je öfter ich an eine Möglichkeit dachte, sie anzusprechen, hatte die Müdigkeit des Morgens bei ihm die Oberhand über jegliche männlichen Regungen behalten.
Die Erregung lähmte mich. Ich konnte meine Augen nicht abwenden von ihrem Gesicht, das wie aus Marmor gemeißelt schien, das Gesicht eines überirdischen Wesens, einer Sagengestalt mit zu langen Wimpern, anstarren musste ich sie, wie sie dasaß und selbstvergessen vor sich hinblickte wie eine Schauspielerin aus einem Antonioni-Streifen. Als Pedro fünf Minuten später wiederkam und ihr den Kaffee hinstellte, während sie es ihm mit einem Augenaufschlag dankte, der mich vom Stuhl gehauen hätte, hätte er mir gegolten, hatte ich noch immer nicht gewagt ein Wort an sie zu richten. Jetzt, da er vor mir stand, stotterte ich nur und bestellte schließlich krächzend das Erstbeste, was mir einfiel. Um zehn Uhr morgens hatte ich in dem Bemühen, cool und lässig zu klingen, ein Bier bestellt, das weitere fünf Minuten später vor mir stand. In der Zwischenzeit hatte ich weder den Titel ihres Buches ausmachen noch irgendwelche andere Anhaltspunkte erkennen können, die es mir erlaubt hätten, mit ihr ein zwangloses Gespräch zu beginnen, ein unverdächtiges und harmloses, eines, wie es in allen Städten dieser Erde zwischen Mann und Frau geführt wird. Eines, für das man in unseren Zeiten weder gesteinigt noch öffentlich geächtet wird. Gerade in unseren Zeiten! Schließlich leben wir doch nicht mehr im Mittelalter, oder? Na also. Warum bist du dann so ein Feigling, Jonathan, trotz deiner guten Vorsätze zum neuen Lebensjahr?
Während ich mich fragte, woher diese Angst in mir stammte, abgewiesen zu werden, bemerkte ich, dass ein Typ vor ihrem Tisch stand und sie etwas gefragt haben musste, denn sie sah zu ihm empor, lächelte und klappte das Buch vor sich zu. Der Mann, ein unscheinbarer Jude Ende Vierzig, der irgendwo in einer dunklen Ecke des Diners gesessen haben musste, wo ich ihn beim Hereinkommen übersehen hatte, näherte sich dem Mädchen nun auf wenige Schritte und sprach erneut ein paar Worte, doch so leise, dass ich nur raten konnte. Ich nahm erst an, dass sich die beiden kannten, merkte dann aber, dass er ihr so fremd war wie mir. Mich verblüffte die Schnelligkeit, in der er so etwas wie Vertrautheit zwischen ihr und sich aufgebaut hatte, denn das definitive Mädchen lächelte erneut, sagte dann etwas und ließ zu, dass er ihr gegenüber Platz nahm.
„Und wenn wir auch die ganze Welt bereisen, um das Schöne zu finden – wir finden es nur, wenn wir es in uns tragen“, sagte der Mann nun mit erhobener Stimme und in einem Singsang, dass ich annahm, er rezitiere einen Vers aus irgendeinem Gedicht.
Das Mädchen lachte laut auf, strich sich mit zwei Fingern eine Strähne aus der Stirn und dann mit dem Handrücken über das Buch vor ihr.
„Haben Sie es gelesen?“
„Gelesen?“, fragte er, nahm ihr das Buch ab, einen recht zerschlissenen Einband aus Leinen, sonnengelb mit grünem Lesebändchen, und hob es zu sich empor. „Ich habe es geschrieben.“
„Dann sind Sie also Ralph Waldo Emerson?” Sie lachte. “Sehr erfreut, Sir. Ich dachte, Sie wären schon längst tot?“
„So könnte man sagen“, antwortete der Mann. „Aber nennen Sie mich ruhig Ralph.“
Sie schlug die Augen nieder, ihr Schmollmund schmunzelte, während Mr. Emerson das Buch betrachtete und, die Geste des Mädchens von eben wiederholend, mit den Fingerkuppen sanft über den Einband strich. Jetzt, da er es in der Hand hielt, konnte ich einen Blick auf den Titel werfen: R. W. Emerson, Natur.
„Das ist eine schöne Ausgabe, die Sie da haben. So was bekommt man heutzutage nicht an jeder Ecke.“
Etwas an seiner Stimme störte mich, doch ich konnte nicht sagen, was. Eine Pause entstand, in der sie noch immer auf den Tisch vor sich sah. Mir war nicht klar, was an dieser Ausgabe so kostbar gewesen wäre, musste aber achtgeben, nicht zu auffällig zum Nebentisch zu starren, die beiden Schwarzen am Billardtisch mussten meine Neugier bereits erkannt haben und tuschelten jetzt sicher über mich.
Schließlich sagte sie: „Ein Geschenk von meinem Vater.“
Eine weitere Pause. Der Mann zog das Buch nah an sein Gesicht heran, er schien daran zu riechen, seinen Duft einzuatmen, mit geschlossenen Augen, als wären in ihm alle Geheimnisse der Welt verborgen. Dann fuhr er mit der Innenseite der Hand behutsam über den Buchrücken, schüttelte den Kopf und sagte: „Ein großartiges Buch.“
Ich hörte das Mädchen auf dem Stuhl hin und her rücken, als wäre sie plötzlich wegen irgendetwas aufgeregt. Ich schaute nun beinahe ohne Rücksicht zu ihr hinüber und sah, wie sie den Blick von ihrem Buch in den Händen des fremden Mannes zu seinen Augen wandern ließ.„Ich trage es immer bei mir.“
Jegliches Lächeln war aus ihrem Gesicht verschwunden.
„Ich habe davon auch eine Ausgabe bei mir zuhause“, sagte der Mann beinahe flüsternd, aber gerade laut genug, dass ich ihn verstehen konnte. „Der Erstdruck der Essays, ein prunkvoller Band aus Concorde, den Emerson womöglich selbst in Händen gehalten hat. Er ist schon etwas älter, aber das sieht man ihm nicht an. Willst du ihn sehen …?“
Mit diesen Worten stand er auf, ohne ihr das Buch zurückzugeben, sie ließ es zu. Für einen Moment dachte ich, er würde vor ihr auf die Knie gehen und ihr einen Antrag stellen, doch er blieb aufrecht und blickte sie bloß an, und nach drei endlosen Sekunden erhob auch sie sich, nahm Jacke und Rucksack, folgte Mr. Emerson ohne sich noch einmal umzusehen und verließ mit ihm das Diner.
Ich wusste nicht, ob ich wütend war oder begeistert. Nicht nur, dass er mir mit einem plumpen Spruch mein definitives Mädchen weggeschnappt hatte, ohne mich eines Blickes zu würdigen; nicht nur, dass sie mit einer Bereitwilligkeit mit ihm gesprochen hatte, als wäre sie heute Morgen nur zu diesem Zweck hierher gekommen und als würde sie so etwas täglich tun; nicht nur, dass er mindestens doppelt so alt war wie seine Beute und auch so aussah, dabei weder besonders hübsch noch besonders hässlich, an den Schläfen bereits ergraut und die Stirn von drei tiefen Falten durchzogen – was mich am meisten erstaunte, war die Tatsache, dass dieser Mr. Emerson mein Mädchen nicht ein einziges Mal berührt hatte, nicht an der Schulter, nicht an der Hand, und dass sie trotzdem, wie von einem unsichtbaren Faden gezogen, mit ihm mitgegangen war.
Ich trank mein Bier in einem Zug. Das Pärchen war verstummt und stand unschlüssig am Billardtisch, der Mann mit der Zeitung döste vor sich hin, Pedro aber hatte seine Müdigkeit langsam abgelegt und sah mir nun von der Theke aus grinsend hinterher, als ich meine Kamera schnappte, das Diner verließ und den beiden folgte.

2

Das New York aus meiner Erinnerung und der junge Mann, der eine Kamera um den Hals sowie meinen Namen trug – beide existieren nicht mehr. An mir ist jetzt kein Haar, keine Hautzelle, die damals ihm gehörten, und auch die Stadt, durch deren Straßen er lief, ist so lang schon verschollen, dass nicht einmal die alten Bilder sie wieder herbeirufen können. Wenn ich heute meine Fotografien aus diesen Tagen ansehe, erinnert mich nichts daran, wie es wirklich war. Die Bürgersteige, die Autos, die lärmenden Kinder mit ihrem Springseil, der Sonnenaufgang überm Pier 1, die Straßen mit den Zigeunercafés, die Katzen, die sich beim Einbruch der Dunkelheit in den Hinterhöfen versammeln, die schlaffen Arme der älteren Männer in ihren Unterhemden, die schrägen Typen vom Bridge Park – all das, was ich einst aufgenommen habe, erscheint mir heute falsch und nachgemacht, wie gekünstelt und affektiert, als hätte die Zeit mit dem Staub auch eine Schicht Nostalgie-Kitsch über das Fotopapier gelegt. Auch von den Einzelheiten des Hauses in der Willow Street, vor dem ich an diesem Tage zum ersten Mal stand, habe ich andere in Erinnerung als die, die das Foto mir zeigt. Ich erinnere mich nicht an den kleinblättrigen Efeu, der sich an den Seiten des Portikus aus dicken Steinvasen emporrankt und bis zum zweiten Stock hinauf die gesamte Fassade verdeckt, nicht an die Fensternischen mit ihren sechsgeteilten Scheiben, so schmal und hoch wie Schießscharten, die die Front wie eine Festung wirken lassen, kaum an die drei georgianischen Giebel aus rotem Ziegel, von denen die beiden kleinen den Dachfirst bilden und deren großer, von schlichten Säulen getragen, über dem Hauseingang prangt. Ich erinnere mich nicht.
Wie kommt das? Sind die Bilder einfach schlecht gemacht, sind sie unfähig, nach so langer Zeit die Wirklichkeit getreu wiederzugeben? Wollen sie mich betrügen mit ihren seltsam unterbelichteten Blickwinkeln in Schwarz-Weiß und Sepia? Oder hat sich mit den Jahren ein Traumbild vor meine Erinnerung geschoben, das mich sogar an diesen unbestechlichen Zeugen der Vergangenheit zweifeln lässt? Bin in Wahrheit ich nostalgisch geworden?
Stattdessen erinnere ich mich an die Stille, die herrschte, wenn man vor den fünf Stufen stand, die zur Pforte hinauf und unter den Vorbau führten. Das gesamte Gebäude war nämlich, eines der wenigen in diesem Abschnitt der Willow Street, vom Bürgersteig aus einige Meter nach hinten versetzt, sodass sich zwischen den Mauern der Nebenhäuser eine Art Hof ergab, kopfsteingepflastert und schattig, den der Besucher zu überqueren hatte, bevor er die Stufen zu den Ebenholzflügeln des Eingangstors ersteigen konnte. Ich habe noch heute den Geruch in der Nase, der mich im Innern des Hofs an diesem Tag und an allen weiteren empfing, ein Duft von feuchter Kühle wie in einer urzeitlichen Grotte, ein modriger Hauch, den die alten Efeuranken und die klammen, seit je vom Sonnenlicht unberührten Backsteine ausströmten. Ich erinnere mich an das Gefühl der Kälte in meiner Hand, als ich das gusseiserne Geländer an den Seiten der Vortreppe umklammert hielt, wie um mich am Umkehren zu hindern, und die Glätte des Torknaufs, den ich zögernd drehte, bevor mir schließlich bewusst wurde, dass es von nun an keinen Weg zurück gab.
Dies war das Haus, in das der Jude aus dem Diner mein definitives Mädchen entführt hatte, da war kein Zweifel möglich. Ich war ihnen bis in diese Straße gefolgt, hatte gesehen, wie sie ins Dunkel des Hofes eingebogen waren, und von hier aus gab es keine andere Möglichkeit, als dass sie gemeinsam das Treppenhaus betreten hatten, in dem ich jetzt, nicht einmal fünf Minuten später, einsam stand.

Später, in Israel, habe ich noch oft an dieses Stadthaus da oben in Brooklyn Heights gedacht. Ich habe von ihm geträumt, von seiner Lage auf der Klippe über der New York Bay, von den bernsteinfarbenen Handläufen der Treppen, von seinen hohen Decken und dem marmornen Kamin, als wäre es ein menschliches Wesen, das mit mir noch eine Rechnung offen hatte. Ich habe mir seine Proportionen, seinen Geruch, die Kühle, mit der es mich empfing, vorgestellt und geschaudert, ohne mir darüber Rechenschaft abzulegen, ob mein Schaudern nur der Erinnerung an die Überreizung geschuldet war, die meine unerfahrenen Nerven in jenem Sommer hatten erleiden müssen, oder ob ich schauderte, weil ich langsam zu ahnen begann. Doch zugleich bereitete es mir Lust, daran zu denken und zu erzittern. Irgendwann spürte ich diese Gier, mir alles in der Vorstellung wieder zurückzuholen und mich zu schütteln vor … ja, wovor? Ich machte mir auch darüber lange Zeit keine Gedanken, warum die Erinnerung mich zugleich in diesen Zustand des Verlangens versetzte, und kann es mir auch heute, da ich in einer anderen Ecke der Welt sitze und mir Fotos aus einem vergessenen Leben ansehe, nicht ganz erklären. Auch heute nicht, da ich noch immer nicht genau weiß, wer der Mensch, der dort im obersten Stock wohnte, wirklich war. Was er wirklich getan haben könnte.
Die Erinnerung an das Haus und an seinen Bewohner kommt mir heute vor wie die früheste Erinnerung aus meiner Kindheit. Die blinden Scheiben der Fenster, ungeputzt wie die Gläser einer uralten Brille, die Blätter des Efeus und der Zeitung vom Vorabend, die auf dem Pflaster liegen und unter meinem Schritt knirschen. Ich sehe mich auf der Treppe vor dem Eingangstor stehen, Tag für Tag, mit einem Bündel Bücher unter dem Arm oder einem Mädchen an der Hand, sehe ihn, wie er grinsend im Salon sitzt, rieche den kalten Rauch der Zigarren und den warmen Duft des Leders, höre seine Stimme mir ein hundertstes Mal zuflüstern.
Mein Kopf spielt Spielchen mit mir. Ich erinnere mich daran, dass mein Bruder mir beibrachte, wie man einen Football wirft, ich war sechs, doch es kommt mir vor, als wäre es viele Jahre nach meiner Begegnung mit Mr. Emerson geschehen. Ich weiß nichts mehr von dem Tag meiner zweiten Hochzeit, obwohl ich ihn vor nicht einmal einer Dekade und gerade zwanzig Meilen von hier entfernt verbrachte. Doch ich weiß noch, als wäre es wie heute, dass ich nass geschwitzt war, als ich den Knauf drehte und zum ersten Mal in die Halle eintrat, deren Kühle den jungen Besucher danach noch so oft empfangen sollte.

3

„Du musst Johnny sein.“
Ich weiß nicht, was ich geantwortet habe, als das definitive Mädchen vor mir stand und mich bei einem Namen nannte, der nicht meiner war. Niemand nannte mich Johnny damals, nicht einmal meine Eltern, die riefen mich Jonathan, und wenn es ernst wurde, sprach mein Vater es deutsch aus, und mein Bruder sagte nur „Kleiner“ zu mir.
„Hi, ich bin Gretchen“, sagte sie, lächelte der Kamera vor meiner Brust zu und gab mir die Hand.
Ich hatte nicht geklopft, hatte nicht einmal ein vernehmbares Geräusch gemacht, war einfach nur vor der einzigen Tür im letzten Stockwerk des Hauses stehen geblieben und hatte geatmet. Sie war nicht zu, die Tür, nicht nur nicht abgeschlossen, sondern bloß angelehnt, sodass ich, wie betäubt in der Dunkelheit stehend, einen schwachen Streifen Licht sehen und Stimmen hören konnte. Ein Mann und eine Frau. In den unteren beiden Stockwerken war ich an schwarzlackierten Türen vorbeigekommen, keine Schilder, keine Namen, Wohnungen ohne Klingeln, ohne Fußmatten. Kein Zeichen menschlichen Lebens hatte mich dort empfangen, sodass meine Neugier mich wie ein Raubtier nach oben getrieben hatte, bis es nicht weiterging, wo ich nun lauschend auf dem letzten Treppenabsatz stand.
Ein Mann sprach, dann eine Frau. Ein Mädchen vielleicht. Das Mädchen. Eine Pause entstand, ich regte mich nicht. Ich spürte mein Herz gegen meinen Atem ankämpfen. Hatten mich die Treppen so geschafft oder was war der Grund für die Spannung in mir? Plötzlich stand sie vor mir mit ihren hohen Wangenknochen, stellte sich vor, führte mich in die Wohnung hinein.
Vor Aufregung brachte ich nichts anderes heraus als ein lauwarmes „Kennen wir uns?“
Doch sie ging nur vor mir her den langen Flur entlang. Ich betrachtete die Bücher in den Regalen rechts und links, die bis zur Decke reichten. Ich betrachtete die Linien ihres Körpers, die Biegungen und Wendungen, die ihre Hüften bis zum Hintern machten. Von den Titeln der Bücher weiß ich nicht einen einzigen mehr, doch ihre Kurven, die weiß ich noch und werd ich immer wissen. Der Weg durch den Flur, der schmal und schattig war wie ein Stollen im Bergwerk und sich erst auf den letzten Schritten ein wenig erhellte und verbreiterte, kam mir wie ein nie endender Gang zum Schafott vor. Mit einem Mal schossen mir die Gedanken durch den Kopf, die ich vorher schon hätte haben sollen: Was wollte ich hier? Wie war ich hierhergekommen? Hatte ich sie verfolgt, oder die beiden, oder ihn? Wollte ich es ihm heimzahlen? Oder von ihm lernen? Hatten sie mich bemerkt? Mich im Treppenhaus gehört? Oder war ich ihnen etwa schon im Diner aufgefallen?
Und gleichzeitig traf mich das Wissen darum, dass es zum Umkehren zu spät und alle Fragen sinnlos waren.

„Du musst ein wenig an deiner Unpünktlichkeit arbeiten, wenn du ein richtiger Künstler werden willst.“
Er saß dort inmitten des weiten Zimmers, in das Gretchen mich geführt hatte. Es war eher ein Salon, ein übergroßes Bibliotheks- oder Studierzimmer mit in Marmor eingefasster Feuerstelle, an drei Seiten von deckenhohen Bücherschränken gesäumt. Rechts stand eine Staffelei mit Leinwand, daneben ein Klavier aus Eichenholz und links verdeckten steife Filzvorhänge die Fenster, sodass das Innere auch hier nur spärlich von künstlichem Licht beleuchtet wurde. Davor stand ein altmodischer Schreibtisch, ein Sekretär mit aufgesetztem Rollschrank aus Mahagoni, und in der Mitte ein Sessel und zwei längliche, mit Kissen versehene Fauteuils, auf deren linkem der Hausherr mehr lag als saß. Die Wohnung musste immens sein, wahrscheinlich war hier aus den drei Apartments im Stockwerk darunter eine einzige gemacht worden.
Wieder störte mich etwas an seiner Stimme, als sei sie falsch, nicht seine eigene. Gretchen setzte sich auf einen der beiden Sessel, zu ihren Füßen der Rucksack, und lächelte meiner Hilflosigkeit zu. Entweder wollten die beiden mich auf den Arm nehmen oder hier lag eine amüsante kleine Verwechslung vor, die aufzulösen nicht allein meine Sache war. Zwischen Gretchens Platz und dem rechten Diwan lagen zwei Bücher auf einem niedrigen Tischchen; am sonnengelben Umschlag des einen erkannte ich Emersons Natur wieder – in dem anderen, einem großformatigen Lederband, vermutete ich die seltene und Aufsehen erregende Ausgabe von 1838, die mich heute gelehrt hatte, dass man auch mit alten Büchern junge Mädchen verführen konnte.
Ich ging ein paar Schritte auf den noch immer liegenden Mann zu und war im Begriff, ihm zur Begrüßung die Hand zu reichen, da schnellte er mit einer Behändigkeit, die ich seinem Alter nicht zugetraut hatte, von seinem Diwan empor, machte einen Satz auf mich zu, sodass ich unwillkürlich zurückwich, und verbeugte sich mit vor der Brust zusammengelegten Händen. Ich konnte nicht anders, als seinen Gruß erwidern. Sprachlos blieb ich stehen, während er sich von mir und Gretchen abwendete und an eines der Fenster trat.
„Ich denke, für heute reichen ein paar Porträtaufnahmen. Den Körper machen wir später.“
Wir schwiegen. Ich sah Gretchen an, die die Dunkelheit erhellte wie ein Edelstein eine Höhle, dann wieder zu ihm hin. Er hatte einen der Vorhänge zur Seite geschoben, sodass ein wenig Tageslicht auf die Bücherwände fiel, und etwas Unverständliches gemurmelt. Nun drehte er sich zu uns um, während der Filz hinter ihm wieder vors Fenster pendelte. Er nickte zur Kamera hin, die ich bereits vergessen hatte und die noch immer um meinen Hals hing, und durchschritt den Raum bis zu einer von Bücherschränken gerahmten französischen Tür hin.
„Im Atelier ist das Licht um diese Tageszeit besser.“
Ich verstand, oder gab vor zu verstehen. Er hatte den linken Flügel der Tür mit einem Stoß seiner Faust einen Spalt breit geöffnet, ich erhaschte einen Blick in das lichtdurchflutete, bis auf ein riesiges Bett leere Zimmer dahinter, er öffnete auch den zweiten Flügel und blieb im Türrahmen stehen. Als nun auch Gretchen sich aufmachte und an ihm vorbei in den Nebenraum („das Atelier“) trat, war ich mir sicher, dass es sich um einen Irrtum handelte – aber einen, den ich beim Schopfe zu ergreifen hatte. Was immer hier vor sich ging und was immer noch geschehen würde, ich war schließlich mit dem definitiven Mädchen zusammen in ein und demselben Haus, hatte ihren Namen erfahren und war – wenn es auch nicht allein mein Verdienst war – im Begriff, von ihr Fotos zu machen. Mein neues Lebensjahr schien vielversprechend zu beginnen.

Der Schmerz, den mir das gleißende Licht in dem Raum und ihr Kontrast zu dem Höhlendunkel im Salon bereiteten, ließ mich die Augen zusammenkneifen. Die Sonne schien unmittelbar auf das riesige, mit schneeweißen Seidentüchern gedeckte Bett in der Mitte und reflektierte von seinen vier Messingknäufen an den Ecken. Wände und Decke, selbst die Holzbalken über den Fenstern waren hell gestrichen, nur die Bodendielen schimmerten einem schlichten Eisgrau. Während unser Gastgeber im Türrahmen stehen blieb, ging ich hinein und rätselte, was genau die Bezeichnung „Atelier“ hätte rechtfertigen können; es erschien mir eher wie ein unfertig eingerichtetes Schlafzimmer.
Gretchen ließ sich auf der Kante der Matratze nieder, saß mit überschlagenen Beinen auf einem Tuch aus Wolken, das so breit wie lang war, nahm Platz mitten im Lichtkegel der Sonne, die weit entfernt von uns irgendwo da unten die Häuser und Straßen von Brooklyn beschien, nahm Platz in ihrem Heiligenschein, reckte ihr Perlenlächeln der Nebenbuhlerin entgegen und strahlte mit ihr um die Wette.
Sie gewann. Ich befürchtete, die zwanzig Fotos, die ich von ihr machte, wären hoffnungslos überbelichtet und verwackelt zugleich, so hell strahlte ihre Schönheit und so sehr zitterte ich, während ich meinem Gelegenheitsauftrag nachkam und der schweigende Mr. Emerson uns beiden von seinem Platz unter dem Türsturz aus zusah.
Offenbar wusste sie genau, wie sie fotografiert werden wollte, denn sie benötigte keine Anweisungen. Sie rückte ihr Gesicht im Licht zurecht, mal schaute sie in die Linse, lächelte ihr zu oder sah sie nachdenklich an, mal blickte sie verträumt unter ihren zu langen Wimpern hervor und aus dem Fenster, mal biss sie sich auf die halbe Unterlippe wie von Selbstzweifeln geplagt, dann öffnete sie beide Lippen ganz, als würde der Lufthauch auf ihnen den unsichtbaren Schmerz stillen, mal hob sie den Brustkorb, mal ließ sie die Schultern sinken, mal fuhr sie sich mit den Fingern durchs Haar. Offenbar wusste sie, wie man es macht, offenbar wusste sie, wie schön sie war, und offenbar wusste sie auch, wann ein Film zu Ende war; mit dem letzten Klicken stand sie vom Bett auf, strich über ihren Rock und bedankte sich bei mir mit einem Kuss auf die Wange. Ich ließ die Kamera aus den Händen gleiten und konnte sie gerade noch vor dem Aufprall auf den Dielen retten. Gretchen hatte das Atelier verlassen.
„Wenn du willst, können wir morgen mit den Sitzungen anfangen.“
Mir wurde erst nach ein paar Sekunden klar, dass er nicht mich, sondern das Mädchen gemeint hatte. Ich sah sie beide im Halbdunkel des Salons stehen, sah, wie Gretchens Gesicht aufleuchtete, als sie sich zu ihm umdrehte und etwas sagte, schließlich führte sie die Hände vor der Brust zusammen und verbeugte sich vor ihm wie vor einer indischen Gottheit. Er wiederum legte ebenfalls die Handflächen aneinander und neigte ihr seinen Kopf langsam, beinahe unmerklich zu.
Dann verschwand sie in der Finsternis, ebenso so schnell, wie sie erst vor einer Stunde aus dem Subway-Eingang hinterm Prospect Park in mein Leben getreten war.

4

„Ein kluges Mädchen geht, bevor es selber verlassen wird.“
Langsam begann ich zu ahnen, woher das Unbehagen stammte, das seine Worte mir bereiteten. Es war nicht der Inhalt dessen, was er sagte, auch nicht der grobe, fast schneidende Tonfall der Stimme an sich, es war etwas gänzlich Anderes. Bevor ich darüber nachdenken konnte, winkte er mich herbei. Ich zog die Flügel des Ateliers hinter mir zu und trat wieder in den Salon, wo ich mit dem Hausherrn, der Gretchen zur Wohnungstür begleitet hatte, nun allein im Dunkel stand, einzige Lichtquelle waren die winzigen Glühbirnen, die an einer Kette über den Bücherschränken hingen und die Sammlung offensichtlich seltener und kostbarer Bände erhellten.
Er sah mich an, wir schwiegen. Zum ersten Mal nahm ich seine Gestalt wirklich war; er war hochgewachsen und schlank, und obwohl sein Körper in einer Art orientalischem Morgenmantel steckte, erkannte man an ihm eine gewisse Sportlichkeit, ja Fitness. Seine Bewegungen waren geschmeidig, leichtfüßig, eher die meines älteren Bruders als die des eines Manns von fünfzig Jahren, als den ich ihn anfangs geschätzt hatte. Jetzt, da er zur Staffelei ging und die Leinwand herunterhob, und ich, noch immer mit dem Rücken zur Wand und den Händen vor der Brust wie ein Schüler auf die Fragen des Rabbis wartend, ihn genauer betrachten konnte, war ich unsicher – seine grauen Schläfen, die weißen Linien um die schwarzen Augen in seinem blutleeren Gesicht, die drei Furchen auf der Stirn, die raue Stimme, all das widersprach der Breite seiner Schultern, den grazilen und zugleich energischen Schritten sowie den kräftigen Händen, die die Leinwand hielten und zu mir hindrehten, sodass ich sehen konnte, dass sie leer war.
„Gretchen ist ein kluges Mädchen“, sagte er, und in diesem Moment wurde mir klar, was seine Worte auf mich so verstörend wirken ließ. Er sprach ihren Namen, den ich nun zum ersten Mal aus seinem Munde vernahm, nicht auf die amerikanische Weise aus, mit dunklem, hohlem R nach dem ersten Buchstaben und einem schnellen Zischen am Ende, sondern so, wie mein Vater es ausgesprochen hätte. So, wie mein Vater meinen Namen deutsch aussprach, wenn er ernst wurde, sprach auch der Mann den Namen des Mädchens deutsch aus, wie er überhaupt, das merkte ich jetzt, allen seinen Sätzen einen leichten deutschen Akzent verlieh. Ein normaler Amerikaner hätte es vielleicht nicht bemerkt, aber die strenge, leicht monotone Melodie seiner Sätze, das etwas zu weit vorne gebildete L in „girl“ und der harte Konsonant am Ende mancher Wörter – es erinnerte mich plötzlich so sehr an die Sprechweise meiner Eltern, vor allem an die meines Vaters, dass ich mir sicher war, auch Mr. Emersons Vorfahren mussten Deutsche gewesen sein, hatten ihn vielleicht die ersten Lebensjahre ausschließlich in ihrer Muttersprache aufgezogen oder er hatte gar mehrere Jahre in Deutschland gelebt.
Doch ich sagte nichts. Stattdessen betrachtete ich die jungfäuliche Leinwand, auf der er Gretchen offenbar porträtieren wollte, und begann zu frösteln. Entweder war es im Raum spürbar kälter geworden oder ich schauderte, da mir langsam bewusst wurde, dass ich nun nicht länger darum herumkäme, die Verwechslung aufzulösen und mich als den mondsüchtigen Stalker zu outen, der ich war. Er mochte mein Schaudern gespürt haben, denn im gleichen Moment lehnte er die Leinwand ans Klavier, rieb sich die Hände und sagte: „Und hübsch ist sie auch. So hübsch, dass es kühler wird, wenn sie den Raum verlässt.“
Er zog seinen Morgenmantel aus und ließ ihn auf den Sessel fallen; darunter hatte er bloß eine Leinenhose an, sodass er nun mit nacktem Oberkörper vor mir stand.
„Ein Mädchen, das so klug ist wie sie, so aussieht wie sie und dann auch noch Bücher liest – so ein Mädchen triffst du nicht alle Tage. Da musst du schon zugreifen, mein Junge.“
Ich war bemüht, ihn nicht anzustarren, seine graubehaarte Brust und die runden Schultern, die langen kräftigen Arme unter der spröden Haut, den Oberkörper eines ehemaligen Boxers, um den er nun ein weißes Hemd hüllte. Er bedeutete mir mit einem Kopfnicken, mitzukommen, offenbar wollte er das Apartment nun verlassen. Er stellte sich vor eine Art Kosmetiktisch in der rechten Ecke des Salons, dort nahm er das Jackett, das er im Diner getragen hatte, zog es über, strich sich die Haare im Spiegel glatt und zupfte abschließend an den Manschetten seines Hemds, bevor er sich lächelnd zu mir umdrehte, als wollte er mich fragten, ob er so gehen könne.
Ich nahm meinen Mut zusammen.
„Aber jetzt ist sie weg. Sie haben sie mir ausgespannt, nur um sie gehen zu lassen?“
„Ich hab sie gehen lassen, damit sie wiederkommen kann.“
„Warum sollte sie?“
„Warum sollte sie nicht? Sie hat die Aussicht, von einem Kerl wie mir gemalt zu werden. Vielleicht von einem Kerl wie dir flachgelegt zu werden, wer weiß? Was könnte es Reizvolleres in ihrem jungen Leben geben? Ist das nicht der Grund, weswegen sie sich Morgen für Morgen hübsch machen? Weswegen sie sich ins Café setzen, ihr Haar von der Sonne bescheinen lassen und ihre Bücher vor sich ausbreiten: die Hoffnung, dass sie eines Tages jemand anspricht, der ihr wahres Wesen erkennt?“
Er ging zum Schreibtisch, öffnete ein langgezogenes Schächtelchen und nahm erst eine Zigarre hervor, dann eine zweite, die er mir mit hochgezogener Augenbraue entgegenhielt. Hinter und über ihm bemerkte ich nun das gerahmte Bild zwischen den Vorhängen, den Abdruck eines Kupferstichs, das ich aus dem Geschichtsbuch kannte: der breitbrüstige Zeus des Phidias auf seinem Thron. Darunter er und sein Spitzbubenlächeln. Ich schüttelte den Kopf, mehr über seine Worte als über sein Angebot. Er legte die zweite Zigarre wieder zurück und steckte sich die erste an. Heute weiß ich nicht mehr, ob ich seinen Worten damals nur aus Prinzip widersprach, obwohl ich heimlich genau so von den Mädchen dachte, wie er es ausgedrückt hatte, oder ob ich sich meine Auffassung vom wahren Wesen der Frau erst später gebildet hat, erst in diesem Sommer, erst nach meiner Bekanntschaft mit ihm.
„Nein?“, fragte er. „Glaubst du, die Mädchen träumen von Erfolg in der Schule und einem Lob von ihrer Mutter, wenn sie nachts alleine im Bett liegen? Denkst du, ihr wahres Wesen will nicht erkannt werden?“
„Ich hab keine Ahnung, was ihr”, ich krümmte zwei Finger in der Luft, “wahres Wesen will. Aber ich glaube nicht, dass es darin besteht, flachgelegt werden zu wollen.“
Zumindest nicht nur, dachte ich vielleicht, sprach es aber nicht aus. Er zog an seiner Zigarre, atmete langsam aus und fügte dem Geruch, der im Raum lag, dieser leicht abgestandenen Mixtur aus Leder und Rauch, eine kräftige Note des zweiten hinzu.
„Hoffentlich sind deine Fotos besser als deine Menschenkenntnis, mein Junge.“
Ich protestierte hilflos. „Ich wär mir da nicht so sicher.“
„Vertrau mir, sie kommt wieder. Und außerdem“, er schritt zum Tisch neben Gretchens Sessel und nahm den sonnengelben Band in die Hand, das Geschenk ihres Vaters, „hat sie etwas liegen lassen, was sie bald vermissen wird.“

Der funkelnde Himmel über der Brücke, die Sirenen der Polizeiautos vom Parkway her und die hungrigen Gesichter in den Schlangen vor den Delis erinnerten mich daran, dass es Mittag in Brooklyn war und dass der Sommer bevorstand. Der ältere Mann, der rauchend neben mir die Pierrepont Street entlangschritt, ließ mich erahnen, dass es der aufregendste Sommer meines jungen Lebens werden würde. Der definitive Sommer, gewissermaßen.
Wir gingen nebeneinander her, er mit Hut auf dem Kopf, ich mit Gretchens Antlitz zwanzigmal im Kasten, er in einen weichen, cremefarbenen Mantel gehüllt, ich in Unverständnis und Erregung. Sollte ich ihm dankbar sein oder böse? Offensichtlich war er mir sowieso einen Schritt voraus, hatte mich in Pedro’s Diner bereits erblickt, als ich mich neben Gretchen gesetzt hatte, hatte sie nur angesprochen, um mir eins auszuwischen (oder um mir etwas beizubringen?), hatte mich und meine Kamera ausgecheckt, sich einen Plan zurechtgelegt und ihn eiskalt durchgezogen. Hatte mich verarscht. Oder mir geholfen?
Wir spazierten südwärts, durch Cobble Hill und dann durch die Magnolienblüten im Carroll Park hindurch, bevor wir schließlich ein Restaurant betraten, wo er nicht das erste Mal verkehrte, wie ich an den Reaktionen der drei jungen Kellnerinnen – blond, brünett, schwarz – erkannte. Wir aßen, ich ein paar Spiegeleier, er ein Beefsteak mit Minzblatt, wir tranken, ich Orangensaft, er ein Bier, er redete, ich bezahlte. “Das nächste Mal geht auf mich, mein Junge.” Er sprach über Malerei und wo man gute Leinwände bekam, wir sprachen nicht mehr über Mädchen und ihr wahres Wesen, und wir schwiegen über Gretchen.
„Was nimmst du für deine Fotos?“, fragte er schließlich, als wir wieder auf die Straße getreten waren.
„Ich weiß ja nicht mal, ob sie gut geworden sind. Vielleicht können Sie sie gar nicht gebrauchen …“
„Mach dir darüber keine Sorgen“, sagte er. „Bring sie nächste Woche einfach mit, dann sehen wir weiter.“
Mr. Emerson verbeugte sich vor mir mit seinem Hut in der Hand, dann setzte er ihn auf, lächelte und ließ mich stehen.
Seinen wahren Namen erfuhr ich an diesem Tage nicht.

5

Offenbar war ich an diesem Tag zum Starfotografen geworden. Vielleicht lag es aber einfach nur am Objekt.
Ich wartete zwei Tage damit, die Rolleiflex zu öffnen und den Film zum Shop zu bringen. Der Inhaber war ein alter Schwarzer mit weißem Bart, sein Laden lag auf der Lexington Avenue und hieß Harlem One-Hour-Photo, aber für meine Aufnahmen brauchte er vierundzwanzig Stunden. Weitere vierundzwanzig Stunden verbrachte ich damit, mich gegen die Versuchung zu wehren, die Fotos anzusehen. Ich ließ den Umschlag ungeöffnet zwischen den Theoriebüchern und den Vorlesungsmitschriften auf dem Sperrholzkasten liegen, der mir in meiner Bude im sechzehnten Stockwerk des südlichsten der Triborough-Häuser als Arbeitstisch diente, und betrachtete seine braunen Kanten von der Matratze aus. Ein Sperrholzkasten, eine Matratze aus Weichschaum, eine elektrische Kochstelle, ein Bücherbord an der Wand mit ganzen sieben Büchern drauf und eine Footballkarte von Babe Parili auf dem Sims unter dem Fenster, das zwanzig Meter Ausblick auf die nächste Häuserwand gewährte – das war es eigentlich schon mit dem Zimmerchen, das meine Eltern mir bezahlten und in dem ich so wenig Zeit wie möglich verbrachte. In den Tagen nach meiner Begegnung mit Gretchen und dem deutschen Maler jedoch verließ ich meine zwölf Quadratmeter nur, wenn es unbedingt nötig war: zum Bad auf dem sisalteppichbelegten Flur, das ich mir mit einem Dutzend anderer Bewohner teilte, größtenteils Italiener, von denen ich bis auf Marihuanaschwaden, nächtliches Schreien und dem Dreck auf der Toilette wenig mitbekam; zum Supermarkt an der Ecke, um Eier, Speck, Äpfel und zwei Tüten Milch zu kaufen; schließlich zum Fotoladen, wo mir der alte Schwarze mit dem weißen Bart wissend zuzwinkerte. Während dieser Tage tat ich alles, um nicht an Brooklyn zu denken, nicht an das Haus in der Willow Street, nicht an Gretchen und nicht an den deutschen Maler. Es gelang mir nicht.
Mittwochmorgen warf ich mich auf den Umschlag wie ein ausgehungertes Tier auf unverhofft entdecktes Aas. Ich zog die Fotos hervor, breitete sie auf meiner Decke aus und verstand, warum mir der Mann im Laden zugezwinkert hatte. Sie waren brillant. Makellos und vollkommen waren sie, als hätten wir mehrere Tage daran gearbeitet und von mehr als tausend Bildern nur die besten zwanzig ausgesucht. Die besten zwanzig, die nun vor mir lagen und die wiederum so taten, als wären sie in einer spontanen Sitzung innerhalb von fünf Minuten entstanden. Und das war ja keine Lüge. Aber die Wahrheit? Sie waren grandios und ich war plötzlich zum Cartier-Bresson von East Harlem geworden, aber das war es nicht. Ich fand damals keine Worte dafür, was ich sah, und noch heute, wo ich sie aus dem einzigen Karton, der mir aus meinem früheren Leben in Amerika noch übriggeblieben ist, hervorgekramt habe und in der Hand halte, fällt es mir nicht leicht, den Eindruck zu beschreiben, den diese Bilder damals auf mich machten – und jetzt wieder machen. Das Mädchen, das da in Schwarz und Weiß auf meinem Bett lag, ein junges, vielversprechendes Starlet, eine zukünftige Leinwandgöttin, war ganz offensichtlich in mich verliebt. Oder sie war scharf auf mich. Oder hatte gerade mit mir geschlafen. Eins von dreien, oder alles zusammen. Auf jeder einzelnen Aufnahme, ob sie lächelte, schüchtern, wild, verträumt oder ernst blickte, ob sie in die Kamera sah oder in die Ferne – auf jeder Aufnahme hatte die Verbindung, die das Mädchen mit dem Betrachter hatte, etwas derart Intimes, dass man annehmen musste, der Fotograf und sein Objekt hätten eine innige Beziehung zueinander. Als wäre da eine Art magischer Rapport, wie zwischen einem Magnetiseur und seinem Opfer, wobei mir unklar war, wer von uns beiden welche Rolle einnahm.
Das Seltsame war, dass ich in den fünf Minuten, als diese Aufnahmen entstanden, von all dem nichts gespürt hatte. Aber ebenso, wie Gretchen an diesem Vormittag in Brooklyn im Atelier des deutschen Malers auf seinem Bett gesessen hatte, lag sie nun auf meinem. Und ebenso, wie Gretchen in diesem Moment genau gewusst hatte, wie sie fotografiert werden wollte, wusste sie auch jetzt, wie sie angeschaut werden wollte.
Eine Sekunde später verspürte ich ein beunruhigendes Gefühl im Magen. Unwillkürlich dachte ich daran, dass ich versprochen hatte, ihm diese Bilder zu zeigen, und meine Handflächen begannen feucht zu werden. Ich stellte mir den Moment vor, in dem er sie so sehen würde, wie ich sie jetzt sah, und eine Mischung aus Abscheu und Eifersucht überfiel mich. Stellte mir seinen Blick vor, den durchdringenden Blick seiner kohlenschwarzen Augen, wie er auf ihr nicht ruhte, nein, wie er in sie drang. Stellte mir den Abdruck vor, den seine Spinnenfinger auf dem Papier hinterließen. Stellte mir sein Lächeln vor, ein lüsternes Schmunzeln, das ihm der Gedanke daran, sie zu malen, bereitete. Stellte mir vor, wie sie ihm den gleichen leidenschaftlichen Blick zuwarf wie mir jetzt, und da, mit einem Mal, kam mir der Gedanke, der mich vor Übelkeit fast erbrechen ließ. Was, wenn ihr intimer Blick von Anfang an gar nicht mir, dem Fotografen, gegolten hatte, sondern ihm und nur ihm, dem Mann, der ihr Antlitz schließlich malen würde? Dem Mann, in dessen Atelier, auf dessen Bett sie schließlich Stunden und Tage zubringen würde? Dem Mann, mit dem sie schließlich mitgegangen, dem sie in seine Höhle gefolgt war, als er sie darum gebeten hatte? Was, wenn der magische Rapport, der doch eindeutig auf diesen Fotos zu erkennen war, nicht zwischen meinem definitiven Mädchen und mir bestand, sondern zwischen ihr und einem fremden grauhaarigen Juden, der mein Vater hätte sein können? Wenn ich weder Magnetiseur noch Opfer in dieser Geschichte war, sondern einfach nur ein im Grunde belangloser Mittelsmann, ein unbeteiligter Betrachter, den der reine Zufall in diese Geschichte gebracht hatte?
Ich brauchte Gewissheit. Hastig steckte ich die Bilder wieder in ihren Umschlag zurück, zog mich an und verließ mein Zimmer.

Ich fuhr bis zum Atlantic Terminal, ging die Flatbush Avenue entlang bis zum Prospect Park, stellte mich an den Aufgang der Subway Grand Army Plaza, an dem ich Gretchen zum ersten Mal begegnet war, und wartete. Hier war sie emporgestiegen aus der Dunkelheit, hier war sie mir erschienen, hier musste ich sie wiedersehen. Ich hatte keine Ahnung, was genau ich vorhatte, doch das war mir egal. Ich wollte nicht denken, ich wollte handeln. Nach einer halben Stunde gab ich auf, irrte durch die Straßen von Brooklyn und kam schließlich an Pedro’s Diner aus. Auch hier war sie nicht, wieso auch, und auch er war nicht hier. Nur die beiden Schwarzen spielten noch immer Billard und hinter der Theke begrüßte mich Pedro mit ebenso müdem Blick wie drei Tage zuvor.
In dem Moment ging mir auf, wie Gretchen auf die Idee gekommen war, mich Johnny zu nennen, als ich im Treppenhaus mit offenem Mund vor ihr stand. Pedro, dessen Vater (ebenfalls Pedro) der Laden gehörte, hatte mich so begrüßt, wie jedes Mal seit meinem ersten Besuch im Diner, als er meinen Vornamen auf der Lohntüte gelesen hatte, aus der ich die in der Woche verdienten Scheine zog, um sie für Tacos und ein paar Bier zu verprassen. Statt Jonathan hatte er mich Johnny genannt und ein aufmerksamer Mann, der in seiner Ecke saß und seinen Kaffee umrührte, hatte es gehört. Er hatte mich gesehen, hatte gemerkt, dass ich nur zu einem Zweck hier war, und war mir zuvorgekommen. Und auf ihrem Weg zu seinem Apartment, oder später, oben im Salon, als das Gespräch auf die Kunst kam und darauf, dass er Maler sei und sie gern malen würde, hatte er Gretchen gesagt, gleich komme sein Fotograf Johnny, der könne ein paar Bilder von ihr schießen, die er für die Vorarbeiten benötige. Und wie bestellt erschien ich ein paar Minuten später an der Wohnungstür.
Ich fragte Pedro, ob der Typ, der vor ein paar Tagen mit dem hübschen Mädchen abgezogen war, öfter hierherkomme.
Er musste nicht eine Sekunde nachdenken. „Señor Eisenstein?“, sagte er. „Hast du grade verpasst. Vor einer halben Stunde war er noch hier.“
„Du kennst ihn?“
„Genau so gut wie dich“, sagte Pedro.
„Also gar nicht …“, sagte ich.
„Ich weiß nur, dass er Eisenstein heißt, Bücher verkauft, und dass ihr beide das gleiche Hobby habt.“
Er schürzte seine Lippen und zog die Augenbrauen hoch und grinste so anzüglich, dass ich mich vor mir selber schämte. Ich ahnte, dass er mit “Hobby” nicht eine Leidenschaft für seine Tacos meinte. Aber was genau wusste er?
„Er verkauft Bücher?“
„Hat er gesagt. Aber so wie er aussieht, ist er eher Zuhälter oder so was.“
Ich lachte. „Wie kommst du darauf?“
„Ich hab einen Cousin. Emilio. Wohnt in Co-op City, zehn Jahre älter als ich. Der ist Zuhälter. Ein netter Typ, aber wie der immer guckt. Und dieser Eisenstein hat genau diesen Gesichtsausdruck, wenn er hier sitzt. Da ist irgendwas mit seinen Augen. Das vergisst du nicht so leicht.“
Er machte eine Pause, in der er mein Glas vom Tresen nahm und spülte. Dann grinste er mich erneut anzüglich an und sagte: „Außerdem schleppt er hier jede Menge Mädchen ab. Jeden Tag kommt er her, trinkt einen Kaffee, und wenn hier mal was Brauchbares auftaucht, kannst du wetten, dass sie irgendwann mit ihm mitgeht. Zuhälter, ich sag’s dir.“
Ich spürte das Verlangen zu protestieren und Pedro über das wahre Wesen von Señor Eisenstein aufzuklären. Ihn zu belehren, dass der Anschein manchmal trüge, dass man nicht immer dem ersten Eindruck trauen könne. Ihn darüber zu informieren, dass Eisenstein kein Zuhälter sei, sondern ein Künstler, ein Maler deutscher Herkunft. Ich spürte das Verlangen, mit meiner intimeren Verbindung zu Eisenstein zu prahlen. Doch schnell merkte ich, dass ich, obwohl ich bei ihm zuhause gewesen war und mit ihm zu Mittag gegessen hatte, über sein wahres Wesen genauso wenig Bescheid wusste wie Pedro, vielleicht noch weniger. Und so schwieg ich, zahlte und verließ das Diner.

Schließlich hatte Pedro Recht. So ein Gesicht vergisst du nicht. Als ich in den nächsten Tagen versuchte, mein altes Leben einigermaßen wiederaufzunehmen, gingen mir Eisensteins Ausdruck, sein Blick, sein Lächeln, seine Mimik nicht mehr aus dem Kopf. Am Donnerstagmorgen fuhr ich wieder Fleisch aus, gehackte Leber und Nieren, am Nachmittag hörte ich eine Vorlesung über viktorianische Lyrik und überall, wo ich hinkam, meinte ich, ihn zu sehen. Die unterschiedlichsten Typen erinnerten mich an ihn. Der Zahlmeister vom Westville Kosher Market auf Staten Island, ein schmaler, halb erblindeter Sepharde namens Alkalai, der mir für gewöhnlich zu viele Scheine in die Tüte steckte, ließ mich fast zusammenzucken. Sein hageres Gesicht, die hohen Wangen unter den tiefschwarzen Augen, aus denen nur dann und wann ein weißer Streifen blitzte – so hatte er ausgesehen. Der Mitarbeiter des Professors an der Columbia, der ihm die Tasche trug und die Tafel putzte, ein kräftiger, gutaussehender Typ Ende Vierzig, der schon ein paar Jahre zu lange an seiner Habilitation arbeitete – ein jüngerer Halbbruder von Eisenstein. Die grauen Pomadesträhnen an den Schläfen, die dichten Augenbrauen unter der breiten Stirn, der schmale Schnurrbart unter der länglichen Nase, die ihn aussahen ließen wie den jüdischen Errol Flynn – das war er.
Am Freitag kaufte ich mir die Essays von Emerson in einem der Antiquariate auf der Lexington Avenue. Sie lagen dann jahrelang auf dem Sperrholzkasten in meiner Höhle in East Harlem, später zwischen Thoreau und Alcott in meinem Arbeitszimmer in Montauk, und schließlich, nach meiner Ausreise, in einem Karton zusammen mit den Schwarz-Weiß-Fotografien und meinen alten Manuskripten. Der Inhaber, der mich zu dem Regal führte, in dem die vergilbte Taschenbuchausgabe von 1938 stand, sah Eisenstein ähnlich wie ein verloren geglaubter Zwilling. Die gleiche hohe Statur, deren Eindruck er durch die Gewohnheit noch verstärkte, die kräftige Kinnspitze höher zu tragen als das Kiefergelenk, was seinen Adamsapfel betonte und ihm zugleich den Anflug von Arroganz verlieh, das stolze Schreiten durch die Gänge … und als auch er zum Abschied sich nur leicht vor mir verbeugte, konnte ich gerade noch an mich halten, ihn nicht auf seinen Zwilling anzusprechen. Doch auch hier schwieg ich, zahlte und ging.
Am Ende der Woche hatte ich mir Eisensteins Gesicht so oft vorgestellt und es so oft in den Gesichtern der Passanten meines Lebens entdeckt, dass ich beinahe vergessen hätte, wie mein definitives Mädchen aussah.
Wären da nicht die Fotos gewesen.

 

Leseprobe: Lukas Vering – „Air“

Auszug 1: Seite 1-16 aus Teil 1 „Rote Lippen, Blaues Licht“ 

Auszug 2: Seite 302-312 aus Zwischenteil 3 „Conrad“ 

Auszug 1: Seite 1-16 aus Teil 1 „Rote Lippen, Blaues Licht“ 

1.

Die Luft ist dünn. Sie hinterlässt den sterilen Geschmack von Plastik auf der Zunge. Jeder Atemzug füllt die Lungen mit synthetischem Sauerstoff, der unablässig in die Straßen der Stadt sickert, sie überflutet und ertränkt und sie schon lange, lange wie ein Ozean unter sich begraben hat; der leicht, kaum merklich, nach Plastik schmeckt.

Ty Redfern427 steht ungeduldig auf der Warteplattform der Metrolinie 5-85. Es ist Nacht, aber nicht wirklich dunkel. Die Abendluft ist warm und klamm und zu dick, als das man sie nicht bei jedem Atemzug schmecken müsste. Sie liegt schwer auf seiner Kleidung, füllt deren Fasern mit einer kaum merklichen Feuchtigkeit auf. „Es wird Zeit, dass der Regen kommt“, denkt Ty und zieht sein Portphone aus der Hosentasche. Das Display erleuchtet und verrät ihm Datum und Uhrzeit. Keins von beidem gefällt ihm. Noch mehr als ein Monat bis zur Regenwoche und viel zu wenig Stunden bis sein Wecker den nächsten Tag einläutet. Er seufzt, weil er nichts dagegen tun kann. Sein Blick wandert weiter, hinüber zu einem Gebäude, dessen zur Leinwand umfunktionierte Fassade einen Werbeclip in Endlosschleife zeigt. Eine lachende Frau mit makelloser Haut und schimmerndem Haar, die einem ähnlich unrealistischem Mann in die Arme fällt. Im Hintergrund große Buchstaben, die daran erinnern, dass jeder zu jeder Zeit den richtigen Partner finden kann – dank LoveMatch. Ehe der Film von vorne losgehen kann, gleitet die Metro fast lautlos in die Station ein. Sie zieht einen barschen Wind hinter sich her, der Ty über den kurzgeschorenen Kopf wirbelt. Doch auch dieser Windzug ist nur warm und schmeckt nur nach Plastik. Ty wartet, bis die Türen vor ihm mit einem hauchenden Zischen offen schwingen, bis der Strom aus Menschen den Wagon verlassen und bis das rote Licht des Türrahmens sich in ein freundliches Grün verwandelt hat. Er betritt das Abteil und lässt sich auf einem der weißen Plastiksitze nieder. Seit die neuste Anti-Beschichtung auf den Markt gekommen ist, bleiben die Metrozüge so weiß, wie der Hersteller sie ersonnen hat. All die Kritzeleien, die kleinen fiesen Sprüche, die obszönen Zeichnungen versickern einfach in dem endlos puren Weiß des Plastiks. Schmunzelnd betrachtet Ty die Rückenlehne seines Vordersitzes. In dicker, schwarzer und unordentlicher Schrift steht dort „Hate Plastic“. Es hat also nicht mal ein halbes Jahr gedauert, bis sie Farbe erfunden haben, die auch auf der allerneusten Anti-Beschichtung hält. Welch glücklicher Zufall, dass schon bald eine noch neuere Anti-Beschichtung auf den Markt kommen wird. Noch blütenweißer, noch tiefenreiner, noch unbezwingbarer. Den Spruch hat Ty im letzten Meeting vorgetragen. Die Kunden schienen zufrieden. Seine Chefin, Carin Asana, hatte sich bedeckt gehalten. Wie immer. Der Gedanke daran lässt das Schmunzeln auf seinen Lippen versterben, zurück bleibt nur ein ausdrucksloser Strich. Seine Augen lösen sich von dem Schriftzug, wandern zu der Scheibe, durch die er nach draußen schauen kann. Vor dem Hintergrund einer verzweifelt versiegenden Dunkelheit hüllt sich die endlose Stadt in Neonlichter. Ein Meer aus Dächern erstreckt sich vor seinen Augen, das weiter reicht, als sein Blick schweifen kann. Irgendwo in der Ferne sieht er eine Ansammlung aus hohen Gebäuden, die sich wie Arme aus Stein Richtung Himmel strecken. Als würden sie ihn stützen und davon abhalten, einfach so auf die wehrlose Stadt hinunter zu krachen. Abertausende von Lichtern glimmen an ihren Fassaden. Er fragt sich, ob die Menschen dort überhaupt mitbekommen, dass es Nacht ist. Ein Blick in den Himmel könnte ihnen verraten, dass dort so etwas wie Dunkelheit herrscht. Aber sehen sie diese auch, durch all die blendenden Lichter?

Die Metro setzt sich in Bewegung. Der Wagon taucht hinab zwischen die Gebäude, schlängelt sich durch eine Schneise zwischen eng beieinanderliegenden Häuserfronten. Sein Ausblick verschwindet für einen Moment. Nun sieht er nur dunkle Wände und hastige Lichtfetzen. Dann verlässt die Metro das Dickicht der Gebäude wieder, steigt zurück über die Dächer der Bauten. Die Sicht auf den Nachthimmel wird wieder frei und Ty lehnt den Kopf zurück, um ihn zu beobachten. Es ist nicht dunkel. Das ist nicht die tiefe, unerbitterliche Schwärze, die sich in seiner Wohnung breit macht, wenn er alle Fenster abdichtet und alle Lichter ausstellt. Es ist nicht einmal dunkel genug, als das man das entfernte Glimmen eines Sternes ausmachen könnte. Immer, wirklich immer, liegt da dieser Film aus zerstreutem Licht über der Stadt. Er schwebt über den Dächern der Häuser, er wabert hinauf zu den Wolken, er nagt an der Dunkelheit, bis sie schließlich aufgibt und verfliegt und der Morgensonne das Feld überlässt. Es ist ein Smog, phosphorgelbschimmernd, vermischt mit einem vagen Grün, der die Stadt fest umschlungen hält. Er besteht aus Straßenlichtern, Scheinwerfern, Fensterleuchten, Videoleinwänden, Displayflimmern, Neon und der immer frischen Plastikluft. Und die Smogglocke wächst. Die Nächte werden immer heller. Der Phosphorschimmer immer strahlender. Und voll des Eifers nähren die Menschen und Maschinen den Smog, bis er eines Tages den gewohnten, sterilen Geschmack der Atemluft übertünchen wird.

Tys Blick verfängt sich an einem Gebäude, das den Lichtfilm mit einem vagen, kaum merklichen Grün zu füttern scheint. Es ist ein hoher, schmaler und zylinderförmiger Turm. Etwa ab der Hälfte verwandelt sich die glatte Oberfläche und wird ersetzt durch unzählige, halb geöffnete Klappen, die wie Schuppen von dem Turm abstehen. Ty muss an das Bild eines sogenannten Tannenzapfens denken, dass er einmal in einem Buch gesehen hat. Aus den Öffnungen glüht sattes Grün hervor. Es ist nicht aufdringlich oder grell, es schimmert gerade so durch die Nacht, doch es verrät die unendliche Produktivität des Synthie-Baums. Unablässig wird der synthetische Sauerstoff durch die Klappen des Turmes in die Atmosphäre gepumpt. Aus diesen Öffnungen sickert und strömt der Geschmack nach Plastik, der sich immerzu auf Tys Zunge breit macht. Ohne die Synthi-Bäume, das hat er schon als Kind gelernt, würde kein Mensch auf der Erde leben. Der Turm mit seinen Schuppen sieht bedrohlich aus, wie er in den halbdunklen Nachthimmel ragt, wie er über der Stadt thront und wie ominös das Grün aus seinem Inneren schimmert, als läge dort ein Geheimnis begraben. Er hat sich schon immer gefragt, ob die echten Bäume damals auch so angsteinflößend wirkten. Ob man sich unter ihren Ästen und Wipfeln auch so klein und unbedeutend vorkam, wie unter den grünglimmenden Blicken der Türme?

Plötzlich spürt er, wie die Metro langsamer wird. Er reißt den Blick von dem Synthie-Baum und für einen Moment kreisen seine Augen hektisch durch das Innere des Metrowagons, bis er die Leuchtschrift findet, die ihm verrät, dass er eine Haltestelle zu weit gefahren ist. „Verdammtes Gerät“, flucht er vor sich hin. Es ist nicht das erste Mal, dass die lautlose Metro ohne seine Kenntnisnahme zum Halten gekommen ist. Jetzt muss er einen Umweg in Kauf nehmen. Oder die Abkürzung durch die engen Gassen des Asox-Viertels.

Sein Portphonedisplay zeigt leuchtende Zahlen, die verkünden, dass es schon viel zu spät ist. Er hätte das verdammte Date schon nach zehn Minuten abbrechen sollen. Die Angaben in ihrem LoveMatch-Profil waren zwar verifiziert, aber ihre schrille, nervtötende Stimme hätte er denen ja auch nicht entnehmen können. Er ist zwei Drinks zu lange geblieben, weil er nicht wollte, dass sie ihm eine schlechte Bewertung gibt. Noch zwei Dates ohne Abschluss und mit nicht mehr als 2 Sternen in der Bewertung und er würde aus dem Beta-Suchalgorithmus fallen. Und das Letzte was er momentan gebrauchen konnte, war noch ein teures Upgrade. Er seufzt, während er den Ziffern auf der digitalen Uhr dabei zusieht, wie sie im Sekundentakt zerfallen und sich neu zusammensetzen. Er weiß, dass er sich mit dieser ganzen LoveMatch-Sache nur endlos im Kreis dreht. Er ahnt auch, dass genau das der Sinn der Sache ist. Aber wem sollte er das erzählen?

Mit schnellen Schritten eilt er die Stufen von der Plattform zur Straße hinab. Wenn er die Abkürzung nimmt, bekommt er immerhin noch gute 5 Stunden Schlaf. Und vielleicht bemerkt Carin Asana seine Augenringe nicht einmal. Hoffentlich. Immerhin ist er nur einen Vortrag über optische Präsenz am Arbeitsplatz davon entfernt, ein firmenfinanziertes Facelift verpasst zu bekommen. Aber vielleicht würde das die elendigen Sommersprossen auf seiner Nase endlich wegradieren.

Am Bordstein bleibt er stehen und wirft einen langen Blick die Straße hinunter. Sie führt in einem ausschweifenden Bogen einmal um das Asox-Viertel herum. Straßenlaternen schießen alle fünf Meter in die Höhe und werfen ihre hellen Lichtkegel auf den Asphalt. E-Autos gleiten summend durch die Betonschneise. Dann wandern seine Augen auf die andere Straßenseite. Ihm gegenüber stehen mehrere hohe, blockartige Häuser, zwischen denen Gassen in ein Labyrinth aus Wegen, Wänden und düstren Ecken führen. Die Abkürzung verläuft einmal quer durch das Asox-Viertel, in dem sich Wohnblock neben Wohnblock reiht. Wohnungen stapeln sich wie Schuhkartons in die Höhe, die Fenster des einen Gebäudes nicht einmal fünf Meter vom nächsten entfernt. Und dazwischen, in den engen Gassen, tummeln sich Gestalten, denen Ty um diese Uhrzeit eigentlich nicht mehr begegnen will. Wohnblockviertel wie das Asox streuen sich überall durch die Stadt. Als die Bevölkerungszahlen immer explosionsartiger anstiegen und man den verfügbaren Platz nicht an die Menschen verschwenden wollte, die nun in diesen Vierteln leben, waren die generellen Mietpreise so dermaßen in die Höhe geschossen, dass vielen nichts anderes übrig blieb, als in einen Wohnblock-Schuhkarton überzusiedeln.

Noch ein Blick auf die unaufhaltsamen Display-Ziffern und Tys Entschluss steht fest. Er überquert die Straße und lässt sich von den Häuserwänden verschlingen.

Links und rechts von ihm steigen die grauen Wände empor. Glatter, nichtssagender Beton. Fenster neben Fenster neben Fenster. Einige leuchten, werfen ihren Schein hinaus in die Gasse, aus anderen dringt das kalte, bläuliche Flackern der Televisoren, andere liegen dunkel und verlassen da. Zwischen den Fronten spannen sich Stromleitungen und andere Kabel. In unregelmäßigen Abständen baumeln Lampen von den Oberleitungen, die kalte Lichtkegel in die Gasse werfen. Ty schiebt die Hände in die Jackentaschen und marschiert voran. Geräusche hallen durch die enge Straße. Laute Stimmen vermischen sich mit den hektischen Klängen des Televisorprogramms. Irgendwo glaubt er Schritte zu hören. Oder ist das nur das Echo seiner eigenen Füße? Er biegt ruckartig ab, durchquert eine noch engere Seitengasse, passiert zwei stinkende, überquellende Mülltonnen und betritt eine neue Straße. Einen kurzen Augenblick lang schaut er nach oben, durch die Kabel und Leitungen, die sich wie ein undurchdringbares Netz zwischen den Wänden spannen. Irgendwo sieht er einen Fetzen Nachthimmel, getüncht vom Phosphorgelb des Lichtsmogs. Sein Blick rast weiter, bis er einen anderen Fetzen findet. Doch hier sieht er nur einen der atmenden Türme mit seinem grünen Glimmen. In der nächsten Gasse versperrt ein Fahrzeug die Hälfte des Weges. Der Motor summt, die Scheinwerfer strahlen die Gasse aus. Zögerlich bleibt Ty stehen, stiert das E-Auto nervös an. Durch die Rückscheibe sieht er einen Schemen auf dem Fahrersitz. Er schlägt die andere Richtung ein. Biegt wieder ab. Irgendwo ertönt ein lautes Knallen, das ihn zusammenzucken lässt. Suchend rasen seine Augen durch die Gasse, die Häuserfronten empor, über jedes einzelne Fenster. Es sind zu viele, ihm wird schwindelig, er bricht die Suche ab. Er beschleunigt seine Schritte und verlässt auch diese Gasse, biegt erneut in eine andere Straße ein. Seine Augen linsen nervös auf das Portphone, dass er nur ein Stückchen aus der Hosentasche hervorzuholen wagt. Die Zeitangabe entlockt ihm ein geknurrtes „Verdammt…“. Wäre er doch nur an diesem dämlichen E-Auto vorbei gegangen, dann wäre er jetzt schon fast wieder hier raus. Plötzlich hört er die Schritte ganz deutlich. Ehe er reagieren kann, sieht er zwei Gestalten aus einer Seitengasse auf die Straße treten. Die Kapuzen ihrer Jacken hüllen ihre Gesichter in Schatten. Sie beachten Ty nicht, wenden ihm ihre dürren Rücken zu, deren Schulterblätter sich spitz durch den dünnen, türkisschimmernden Polyesterstoff der Jacken drücken. Sie entfernen sich in die andere Richtung. Ein vages, türkises Leuchten reflektiert sich von ihren Jacken auf die grauen Betonwände der Wohnblockfassaden. Der ölige Schimmer und die subtile Farbe lassen eine Erinnerung hochköcheln. Vor nur knapp einem Monat hat er genau für diese Jacken einen Werbespot konzipiert. Monochrome Farbaufnahme, ein dürr gehungertes Model stolpert über einen weitläufigen Platz aus Marmor, einzig und allein das Türkis des vollrecycelten, ultraleichten Chinz-Polyesters bringt Farbe ins Spiel. Dazu langgezogene, dröhnende Elektrobässe und ein simpler Werbespruch. Im Endeffekt wurde daraus eine knallbunte, ohrenbetäubende, überzogene Partyszene, die laut Carin Asana viel treffsicherer das Zielpublikum traf. Seinen Werbespruch hatten sie trotzdem verwendet.

Die schummernden Lichtbälle verschwinden in der Ferne. Seufzend dreht Ty sich um und geht weiter. Er nähert sich dem Ende des Asox-Viertels. Seine Schritte werden schneller, als könnten seine Füße es gar nicht abwarten, sich endlich wieder auf breiten Straßen zu bewegen. Noch eine letzte Abbiegung und ein kurzer Gang durch eine enge, verwinkelte Gasse und er hat es geschafft. Gerade schreitet er um die Ecke, als er etwas auf dem Boden liegen sieht. Erschrocken zucken die Muskeln seines Körpers zusammen, er macht instinktiv einen Schritt zurück und spürt sofort kalte Betonwand in seinem Rücken. Dort, am Boden der engen Gasse, die hinaus zur offenen Straße führt, sieht Ty ein dunkles Bündel liegen. Abgewetzte Kleidung, viel zu groß für den ausgemergelten Körper, der darin steckt. Ty sieht eine knochige Hand aus einem Ärmel ragen. Eine schmutzige Kapuze umhüllt ein ausdrucksloses Gesicht. Die Augen ohne Glanz, der Mund weit offen, als hätte er noch um einen letzten Atemzug gerungen. Wobei es doch tatsächlich zu viel Luft war, die ihn tötete. Neben der fleischlosen Hand liegt die leergezogene Spraydose, die die Lungen des dürren Körpers zum Bersten gebracht hat. Es muss ein tiefer Zug gewesen sein. Ein wirklich guter, langer, tiefer letzter Zug.

Tys Muskeln entspannen sich. Der Schock ist verebbt. Einen Moment lang mustert Ty den Toten. Das Gesicht ist eingefallen, die Haare dünn und licht, aber die Hautfarbe wirkt so seltsam satt und frisch. Sie sagen, dass sei einer der Nebeneffekte. Sie sagen, der Anblick einer so strahlenden Hautfarbe, das muss jedem bewusst sein, sei ein Ausdruck der Krankheit. Neugierig nähert Ty sich einen Schritt, um den Leichnam zu inspizieren. Hat ihn das Air wirklich so krank gemacht?

Ein Geräusch aus Richtung des Asox-Viertels lässt Ty wieder zurückschrecken. Sein Blick rast zur anderen Seite der schmalen Gasse, wo er den Ausweg sehen kann. Die Straßenlichter, die E-Autos, die bunt blinkenden Neonreklamen. Mit einem großen Schritt passiert er den toten Körper und ehe das Geräusch bedrohlicher oder lauter hätte werden können, hat er die breite Hauptstraße schon erreicht und lässt sich von ihrem Lärm und Licht verschlucken.

2.

Sein Hals reagiert mit einem Würgereflex, durch den er beinah am halb zerkauten Instant-Müsli erstickt, als auf seinem Portphone die Nachricht erscheint, dass sein gestriges Date ihn mit zweieinhalb Sternen bewertet hat.

Nachdem er aufgesprungen ist, seinen Mundinhalt in die Spüle gespuckt hat und sich noch einmal versichert hat, dass er richtig gesehen hat, murmelt er ein entnervtes „Dieses Miststück…“ und verflucht sich innerlich dafür, dass er ihr die wohlwollenden drei Sterne gegeben hat. Der ganze Aufriss für so eine Pleite. Er hätte sich das Geld für die Drinks, den Weg durch das Asox-Viertel, die viel zu kurze Nacht und den grauenhaft stechenden Schmerz, den das Geräusch seines Weckers verursacht hatte, sparen können. Doch jetzt hängt er hier, müde und schlaff, an dem ausfahrbaren Tisch in der kleinen Küche. Neben ihm wirft das Lux-Fenster, ein Bildschirm, der ihm vorgaukelt ein echtes Fenster zu sein, falsches Tageslicht in den Raum. Er kann seine Augenringe beinah schon spüren. Sie hängen wie Gewichte an seinen Lidern und sind wahrscheinlich so dunkel, dass er dem Vortrag der Vorgesetzten kaum entgehen wird.

Der Appetit ist ihm vergangen. Er hievt sich von seinem Barhocker, schlurft aus der Küche in den Wohnbereich und tritt missmutig die Tür zur Nasszelle offen. Der Abzug ist schon wieder kaputt und die warme, feuchte Luft seiner morgendlichen Dusche hängt immer noch im Raum. Der Spiegel über dem Waschbecken ist nach wie vor beschlagen. Er nimmt ein Handtuch und wischt darüber. Zum Vorschein kommt ein fahles Gesicht mit leicht olivgefärbter Haut. Die Augen sind blässlich und blau, als würde es ihnen an Kraft fehlen, um richtig zu strahlen. Und dann sind da noch die Sommersprossen auf seiner Nase. Wie kleine, rötlich-braune Splitter, die sich irgendwann einmal in seine Haut geschlagen haben und sich nun weigern von ihr abzulassen. Er hat das Bleach-Peeling probiert, den Skinreaper, sogar das Ex-Face-Erase. Aber die Sommersprossen sind immer wieder gekommen.

Das Portphone in seiner Hosentasche vibriert. Er weiß, was das bedeutet, dazu muss er nicht einmal nachschauen. LoveMatch hat eine Mail geschickt und ihn darüber informiert, dass er auf Grund seines derzeitigen Bewertungsstatus aus dem Beta-Suchalgorithmus fällt. Damit sinkt er in die C-Klasse. Von da ab braucht es nicht mehr viel, bis er wie die hoffnungslosen, unbeachteten D-Geister am Rande des Systems herumlungert und vergeblich darauf hofft, dass sein Profil überhaupt noch irgendeine Beachtung findet. Er weiß, dass er das unmöglich jemandem erzählen kann. Aber was sollen sie auch sagen? Er verlässt die Wohnung, noch bevor das Portphone ihn mit einem hochgestochenen Piepen von Alarm daran erinnern kann, dass es Zeit wird den Weg zur Arbeit anzutreten.

Ty zieht die Wohnungstür hinter sich zu. Das Safelock surrt, dann leuchtet kurz ein rotes Licht auf und er weiß, dass die Tür versperrt ist. Nun befindet er sich auf dem Außenbalkon, der an der Fassade seines Wohnblockes entlang läuft, um die außenliegenden Wohnungen mit dem Treppenhaus im Inneren zu verbinden. Mit einem einzigen großen Schritt überquert er den schmalen Balkon und tritt an die Brüstung. Würde er von der Straße hinauf blicken, müsste er den stecknadelgroßen Punkt, der sein Kopf ist, auf einer Fläche von 12 Stockwerken mit je 12 Wohneinheiten pro Hauswand suchen. Er würde ihn vielleicht, mit viel Glück, irgendwo im zehnten Stock, auf der östlichen Hälfte finden. Stünde nicht sein Name an der Tür, würde er selbst nicht wissen, wo er wohnt.

Er richtet den Blick gen Horizont. Irgendwo hinter dem trüben Dunst, der über den Häuserdächern schwebt, muss die Sonne verborgen liegen. Der wabernde Smog, dunstig und bleich und gelblich grün, nimmt die Blendkraft der Sonne auf und verteilt sie über das gesamte Himmelsgerüst, so dass jeder Blick in den gleißenden Himmel mit einem Stich in seine Augen begleitet wird. Ty senkt die Augen wieder, lässt sie für einen Moment über die Skyline der Stadt schweben. Nicht weit von hier sieht er die quadratischen Betonklötze des Asox-Viertels. Kalt und karg, die schmalen Gassen, die sich zwischen die Blöcke schneiden, wirken wie dunkle, eckige Adern in einem kubischen Organismus. Daneben sieht er die Metroschiene, eine massive, stählerne Vene, die sich auf Balken gestützt durch die Stadt schlängelt. Sie manifestiert sich aus der verschwommenen Undeutlichkeit am Rande des Horizonts und verschwindet in irgendeiner anderen Ferne. Sie ist nicht allein. Kreuz und quer jagen die Stahlvenen zwischen den Gebäuden her, laufen hier und da in Mündungsbecken ein, wo sie sich vielleicht zweiteilen, aber niemals enden. Tys Blick streift über das endlose Auf und Ab der Dächer. Tausend verschiedene Höhen, tausend verschiedene Formen, tausend verschiedene Ausmaße. Die meisten Gebäude enden in flachen Dächern, andere tragen Glaskonstrukte wie seltsame Hüte, einige besitzen spitze Dächer aus Metallschuppen und dann sind da noch die seltenen, alten Gebäude mit ihren verwitterten Dachziegeln. Aber viele gibt es davon nicht mehr. Kräne und Walzen und Abrissbirnen fressen sie auf, jeden Tag ein bisschen mehr. Dafür schießen an anderer Stelle Gerüste und neue Häuserskelette empor, denen das Fleisch noch wachsen muss. Sie alle zeugen vom endlosen Verfall und Fortschritt. Alles ist immer neu, ständig im Aufbau, ständig im Abriss. Alles ist Fluxus. Nichts bleibt. Die Stadt löst sich ständig auf und setzt sich neu zusammen. Nichts erinnert lange an das, was früher war. Die Stadt hat kein Gedächtnis, ihr Hirn ist wie eine Brausetablette im Wasserglas. Überall zwischen die Gebäude streuen sich die Synthie-Bäume. Hohe Türme, die Klappen der oberen Hälfte immer geöffnet, mit dem grünen Glimmen sickert und strömt auch der synthetische Sauerstoff aus ihrem Inneren und überschwemmt die Stadt, das Land, die Welt. Manchmal fragt Ty sich, ob der Lärm des Tages, der immerzu um die Häuserkanten und Straßenecken spült, in Wirklichkeit das Atemgeräusch der Synthie-Bäume ist. Aber dann erinnert er sich an all die surrenden E-Autos, die klappernden Schuhabsätze, die plappernden Münder, die unzähligen Lungen, die alle gemeinsam in jeder Sekunde Unmengen des künstlichen Sauerstoffs einsaugen – um ihn nur einen Augenblick später wieder seufzend auszupusten.

Seine Sicht wird von den Wolkenkratzern des Zentrums verbaut. Würde er den Außenbalkon entlang spazieren und Richtung Süden, Westen oder Norden schauen, würde sich ihm das gleiche Spektakel immer und immer wieder bieten. Eine endlose Landschaft aus Dächern, Türmen, Straßen und Metroschienen, irgendwo in der Ferne eine Ansammlung noch höherer Gebäude. „Die Arme der Welt“, hat sein Bruder sie einmal genannt. Der Satz ist hängen geblieben. Jedes Mal wenn er die Wolkenkratzer eines der Zentren sieht, blubbert er aus seinem Gedächtnis wieder empor. Er erinnert sich an das Zimmer, das er damals mit dem Bruder geteilt hat. Die Wellenlinien, die sein Körper unter die Bettdecke gezeichnet hat, als er noch in diesem Bett geschlafen hat. Die warme, orangefarbene Sonne, die durch das Fenster schien… Eine Wohnungstür fällt krachend zu. Erschrocken zuckt Ty zusammen, schaut zur Seite. Sechs Türen weiter steht ein Mann, nicht viel älter als er selbst, und wartet auf das rote Leuchtsignal des Safelocks. Es kommt. Er geht. Passiert Ty ohne aufzublicken, das Interesse tief in das Display seines Portphones vergraben. Ty legt die Arme auf das Balkongerüst und schaut wieder in die Ferne. So weit, bis er die Schornsteine und Kühltürme des Industrieviertels sehen kann. Die Rauchsäulen, die sie in die Luft pumpen, verschwimmen nach nur wenigen Metern mit dem diesigen, grauen Brei, der sich hier Himmel nennt. Aber irgendwo dahinter, nach den Fabriken und Kraftwerken, sieht er noch mehr der Arme, die sich bis in die Wolken strecken. Und dahinter noch mehr. Und mehr. Und mehr…

Sein Alarm piept. Es ist Zeit.

Im Fahrstuhl, der ihn all die Stockwerke nach unten transportiert, zückt er sein Portphone. Nicht nur als Ablenkungsmanöver, um keinen Blickkontakt mit den sechs anderen Fahrstuhlinsassen riskieren zu müssen. Das kleine Mailsymbol, dass die Nachricht von LoveMatch anzeigt, ignoriert er gekonnt und öffnet stattdessen ein Suchfenster.

Seine Fingerspitzen rasen blitzschnell über die virtuelle Tastatur und tippen eine Frage ein. Er will wissen, was in dem Industriegebiet produziert wird. „Phoenix-Industriekomplex. Warenherstellung und Energieproduktion.“ Er scrollt über die Details hinweg. Schließlich tippt er eine Spezifikation ein: „Luftverschmutzung“. Die Antwort erscheint: „Der Phoenix-Industriekomplex verfügt über 37 Synthie-Bäume und acht SyS-Filter. Die Fabriken und Kraftwerke laufen alle ohne den Ausstoß von Belastungsstoffen. Die letzte Messung der Luftwerte erbrachte ein positives Durchschnittsergebnis von 0,3 Punkten auf der Schadstoffskala.“

Er schiebt das Portphone zurück in die Hosentasche. Er denkt an die Schornsteine, die unermüdlich ihre gräulichen Rauchfontänen in den Himmel schießen und den großen, gierigen Smogteppich weiternähren.

Auszug 2: Seite 302-312 aus Zwischenteil 3 „Conrad“ 

1.

Das rastlose, stetig blinkende Licht. Alle drei Sekunden ein rotes Strahlen. Schummeriges Tageslicht, das sich einen Umweg durch die zugezogenen Vorhänge sucht. Die blanke, weiße Zimmerwand, unverändert, wie jeden Tag. Das Heben und Senken meines Brustkorbes, immer im gleichen Takt wie das zischelnde Saugen und rauschende Pumpen der Maschinen. Dazwischen das vage Geräusch meiner Atmung, das direkt in die Schläuche verschwindet, die mir in Mund und Nase dringen. Und dann ist da noch etwas anderes. Etwas Fremdes. Ich kann es aus dem unteren Stockwerk zu mir hinauf dringen hören. Es sind Schritte, Schubladen, die geöffnet und geschlossen werden und Türen, die bewegt werden. Ich bin nicht allein.

Ich drehe mich auf die Seite, so dass ich zur Zimmertür schauen kann. Sie steht einen Spalt offen, so wie immer. Am Rande meines Blickfeldes kann ich die Maschinen sehen, die unermüdlich daran arbeiten, mich am Leben zu erhalten. Die Schläuche, die dieser Tage wie nach außen wandernde Erweiterungen meiner Lungen funktionieren, münden hier in ein System aus Pumpen und Gasflaschen. Über ihnen schweben Monitore, mit Zahlen, Fakten und Einheiten, die mich schon lange nicht mehr interessieren. Und dann ist da natürlich das unermüdliche, rote Licht, dass mich alle drei Sekunden vergewissert, dass ich immer noch hier bin. Sicher verwahrt in einem Bett, in dem es sich liegt, wie in einem Sarg. Gefangen in einem Leben, dass mir so bequem sitzt, wie ein Leichensack. Wenn Warten denn Leben ist, versteht sich. Aber vermutlich dürfen verurteile und verbannte Feinde der Ordnung nicht mehr vom Leben erwarten.

Inzwischen sind die Schritte von unten so laut und schwer und unbedacht geworden, dass ich mir fast sicher bin, dass der Eindringling bestens über die Lage möglicher Gegenwehr informiert ist. Wozu auch die Eile, ich laufe schon nicht weg. Alles was mir zu tun übrig bleibt, ist mich zu fragen, warum sie gerade jetzt kommen. Worauf haben sie so lange gewartet? Haben sie die Lust an ihrem perversen Spielchen verloren? Da mein ganzes Leben zu einem ihrer perversen Spiele geworden ist, macht es ja nur Sinn, dass sie es loswerden wollen, weil ihnen die Lust daran vergangen ist. Aber so etwas soll ich ja nicht immer behaupten. Sagt Conrad.

Conrad sagt so einiges. Er sagt, dass er froh sei, dass ich noch am Leben sei. Und das er mich liebe und sich um mich sorge und ich deswegen hier wäre. Und nicht, weil sie es so wollten. Ich stelle ihn nicht in Frage. Das hat er nicht auch noch verdient. Aber manchmal frage ich mich, ob die Wahrheit für uns beide nicht doch erträglicher wäre.

Als die ersten Schritte auf Treppenstufen treffen, frage ich mich, ob ihr Sinneswandel nicht doch aus einer anderen Richtung rührt? Haben sie vielleicht doch entschlossen, dass einer ihrer brillantesten Köpfe und hoffnungsvollsten Wissenschaftler selbst auf dem Totenbett, an das sie ihn gezurrt haben, noch eine Gefahr werden könnte? Die Idee schmeichelt mir. Vielleicht kann ich dem Eindringling ja eine Antwort entlocken, wenn er es denn endlich mal die Treppe heraufschafft. Oder ich könnte ihn und mich gemeinsam in die Luft sprengen. Früher hätte ich das riskiert. Früher hätte ich auch mit Lockerheit aus den Utensilien aus dieser Grabeskammer einen kleinen, aber fiesen Sprengsatz basteln können. Wäre meiner Karriere als heimlicher Radikaler nicht so schnell die Luft ausgegangen, hätte ich dieses Talent vielleicht sogar mal richtig austesten können. Aber gut. Wenn ich das heute noch könnte, würde ich hier wohl nicht mehr liegen und sehnsüchtig auf den Auftragsmörder aus dem Erdgeschoss warten. Und könnte Conrad mich lassen, würde ich das wohl auch nicht mehr tun. Ich frage mich so oft, wie es so weit kommen konnte. Und ob es gar nicht anders hatte kommen können.

2.

Das erste Mal, dass ich Distrikt 0-E7 betreten habe, war kurz nach meinem vierzehnten Geburtstag. Der Mann und die Frau, die mich aus der Wohnung meiner Mutter abgeholt hatten, warfen sich vielsagende Blicke zu, als wir durch die breiten, von Häusern gesäumten Straßen fuhren. Ich saß auf dem Rücksitz und beobachtete ihren Blickwechsel, mehr, als das ich die wundersam neue Welt um mich herum begutachtete. Natürlich hatte ich nie zuvor Straßen gesehen, die so breit waren. Und die Häuser waren keine riesigen Türme, die in den Himmel hinauf ragten, wie ich sie aus der Stadt kannte. Es waren kleine, kompakte Gebäude, die viel Freiraum zwischen einander ließen. Ich sah sie an mir vorbeiziehen, in immer gleichen, perfekt abgemessenen Abständen, aber was mich wirklich interessierte, war dieser Blickwechsel. Sie schwiegen, während in der Ferne Häusersilhouetten in die Höhe stiegen. Der Mann erklärte knapp, dass dies das Zentrum von 0-E7 war, wo ich lernen, leben und wachsen würde. Der Satz klang grauenhaft einstudiert. Ich versuchte nicht daran zu denken, dass ich dort auch sterben würde.

Jeder weiß, wie es läuft, auch wenn es niemand ausspricht. Sie holen die Kinder mit den besten Noten, bieten der Familie oder den Erziehungsbeauftragten einen blendenden Betrag Geld als Entschädigung an und versprechen, dass ihr Sohn oder ihre Tochter nirgendwo anders eine bessere Zukunft haben könnte. Sie geben uns weg, vergessen unsere Namen über den kurzweiligen Reichtum und machen weiter wie zuvor. Sie hetzen weiter von LoveMatch-Date zu LoveMatch-Date. Nur das sie dabei nun teure Kleider tragen oder mit einem neuen E-Auto vorfahren können.

Das Zentrum kam nur langsam näher. Eine ganze Zeit lang blieb es ein bedrohlicher Ausblick am Ende des Horizonts und alle Vorstellungen, was dort auf mich warten würde, nur blasse Gespenster. Es war einfach sie zu ignorieren, solange ich mich mit meinen Blicken am Nacken des Mannes festhalten konnte. Alles andere wurde dann zu schwammigen Details im Hintergrund.

„Für dich war es eigentlich schon zu spät“, erklärte mir die Frau. „Viel zu alt.“ Ihr brillantes Lächeln reflektierte sich im Rückspiegel. „Aber für die wirklichen Talente haben wir immer einen Platz frei.“ Es dauerte eine ganze Weile, ehe ich richtig verstand, wieso ich eigentlich zu alt für 0-E7 war. Ich war schon zu groß und eigen und geformt, um noch mühelos in die Nischen zu passen, in die man mich pressen wollte. Hätten sie schon damals bemerkt, wie absichtlich ich ständig neben der für mich vorgesehenen Laufbahn wandelte, hätten sie den Wagen vielleicht umgedreht und mich irgendwo im Dickicht der Stadt ausgesetzt. Aber da saßen sie, der Mann und diese Frau, mit ihrem selbstsicheren und siegesbewussten Lächeln, und freuten sich, dass sie ihre Quote doch noch erfüllt hatten. Sie kannten das System. Und sie wussten, dass wenn ich nicht hineinpassen würde, es mich so lange zerbrechen würde, bis ich mich anstandslos einreihen würde. Sie hätten den Wagen umdrehen sollen.

3.

„Howard?“

Am Anfang habe ich nie darauf reagiert, wenn sie mich mit diesem Namen ansprachen. Mal davon abgesehen, dass es mich die meiste Zeit auch nicht interessierte, wenn sie mich ansprechen wollten. Ich verbrachte meine Zeit lieber damit, die kleinen Details um mich herum zu bewundern. Da waren fast unsichtbare Fingerabdrücke auf Glastik-Scheiben, falsch zusammengebundene Schnürsenkel, dunkle Schmutzränder unter Fingernägeln, wild gewachsene Haarstoppeln im Nacken meines Sitznachbarn. All die Dinge, die mich daran erinnerten, dass es ein Leben abseits der sterilen und gefühllosen Klassenzimmer und Sozialräume gab.

„Howard! Ich habe dich etwas gefragt.“

In ihrem System gab es nicht viel Platz für Freiräume. Der Stundenplan unserer Ausbildung war dicht und lang. Die endlose Reihe an Tagen, die eine Woche bildeten, verbrachten wir an schmalen Tischen mit eingelassenen Sync-Boards, in hellen Räumen ohne viele Details. Vielleicht war es ihre Abwesenheit, die mich umso verzweifelter nach den kleinen Unperfektheiten suchen ließ.

Die Abende verbrachten wir in unseren zugewiesenen Sozialräumen. Aufenthalt, Schlaf, Weiterbildung. Es gab kaum Gründe, den Gebäudekomplex zu verlassen, in den sie uns eingepfercht hatten. Draußen gab es sowieso nur Beton und Stahl und Glastik. Nicht viel anders, als in der Stadt, aus der wir alle gekommen waren, aber endlos perfekter und gerader und sauberer und bedrückender. Ohne Details und Unperfektheiten wirkte einfach alles tot. Selbst die Menschen hier wirkten tot, mit ihren akkurat frisierten Haaren und makellos korrigierten Gesichtszügen. Kein Wunder also, dass ich mich im unsauber ausrasierten Nacken meines Sitznachbarn verlor, während die Dozentin auf mich einredete.

„Howard! Hörst du mir überhaupt zu?!“

Der Junge neben mir wandte sein Gesicht in meine Richtung, um mich mit großen Augen anzuglotzen. Ich verlor den Ausblick in seinen Nacken und ärgerte mich darüber. Ich schoss wütende Blicke in Richtung der Dozentin, die nicht viel freundlicher zurückstarrte.

„Ich habe dich gefragt, ob du…“

„20,95 Prozent“, beantwortete ich ihre Frage. Sie schaute mich verdutzt an. Als sie bemerkte, wie dumm sie dabei aussehen musste, versteifte sich ihr Körper und ihre Miene wurde ausdruckslos, abgesehen von einem feindseligen Blitzen in ihren Augen. „Wunderbar, Howard“, sagte sie, ohne das sich ihr Gesichtsausdruck dabei verändert hätte. Während sie sich wieder dem Unterricht widmete, suchte mein Blick wieder einen Weg in den Nacken des Sitznachbarn. Ich hatte schon länger bemerkt, dass es nicht nur die wilden Stoppeln waren, die mich interessierten, sondern auch die Sehnen und Muskeln, die aus seinem Nacken liefen und die Schultern formten. Und die kleinen Erhebungen, die die Wirbelsäule in seinen Rücken beulte. Es gab so viel zu entdecken, auf diesen wenigen Zentimetern.

Das war die Zeit, in der ich meine Haare absichtlich lang wachsen ließ. Ich sah das als eine Art stillen Protests an. Gegen die ganze Konformität. Gegen glatten Beton und ständig geputzte Glastikscheiben. Außerdem mochte ich es, wie mir die Haarspitzen über die Augenbrauen fielen und ich das Gefühl hatte, sie würden meine Augen vor den Anderen verbergen. Einmal hatte sich ein Junge darüber lustig gemacht, hatte mich Wischmob und dreckig genannt, aber er hatte schnell einsehen müssen, dass er sich das falsche Opfer gesucht hatte. Ein Part des Umstandes, dass es eigentlich zu spät für mich gewesen war, hier her zu kommen, war der Fakt, dass ich älter und größer gewachsen war, als der Rest meines Jahrganges. Ich ließ ihn meine körperliche Überlegenheit spüren.

Nun, nach meiner versuchten Machtdemonstration gegenüber der Dozentin für SyS-Technik, war ich an der Reihe, Überlegenheit zu spüren zu bekommen. Sie bat mich nach dem Ende der Unterrichtseinheit an ihrem Pult zu warten. Als der Raum sich geleert hatte, schloss sie die Tür.

„Howard, ich fürchte du hast einige Aufmerksamkeitsprobleme. Kann das sein?“

Ich zuckte mit der Schulter. „Weiß nicht.“

Sie stellte sich vor mich, so nah, dass ich den Kopf heben und zu ihr aufblicken musste. Mein Blick fiel durch einen Vorhang aus Haarspitzen und ich fühlte mich sicher vor ihrem selbstgefälligen Schmunzeln.

„Oder kann es sein, dass du Probleme mit Autorität hast?“

Ich gab ihr noch ein kühles Schulterzucken.

„Howard!“, zischte sie streng und knallte die Hand gegen die Wand. Das plötzliche Geräusch ließ mich aufschrecken. „Ich habe das Gefühl, du willst dich gar nicht anstrengen, um etwas zu lernen. Du verschließt dich vor der Gruppe. Kann das sein?“ Ihre Sätze klangen herausfordernd und wütend. Wie eine Steilvorlage, in die ich eine Blutgrätsche abfeuern müsste. Ich biss mir auf die Zunge und schwieg.

„Du weißt doch, dass wir alle nur das Beste für dich wollen. Oder?“ Plötzlich war ihr Ton durchtränkt von Fürsorge und Mitleid. „Das ist unser Ziel hier. Wir wollen, dass ihr die besten Chancen habt. Chancen, die ihr da draußen niemals gehabt hättet. Du bist hier, weil wir an dich glauben.“ Es war nicht erst das zweite Mal, dass man mich mit derartigen, einstudierten Sätzen volldröhnte. Dieser Ton war mir nur allzu gut bekannt. Und je öfter ich ihn hörte, desto offensichtlicher wurde es mir, wie hohl und klanglos er im Nichts verhallte.

„Was machen wir nur mit dir…?“

„Mit mir ist alles in Ordnung.“

Sie ging in die Knie, legte die Hände auf meine Schultern und vergrub ihre Fingernägel in meiner Haut. Das Lächeln auf ihren Lippen sagte „Wenn hier nicht in jedem Winkel eine Kamera hängen würde, würde ich dich zerfleischen und ausweiden, du Abscheulichkeit“, aber sie wahrte ihre Maske.

„Vielleicht hilft es dir, wenn wir dir ein kleines Make-Over verpassen, mh? Damit du nicht so fürchterlich hervorstichst.“ Sie ließ ihre Krallen von Fingernägeln durch meine Haare gleiten. Ich spürte sie über meine Kopfhaut schrappen. Dann brachte sie mich höchstpersönlich zur Pflegestation und ließ mir den Kopf scheren. Das Brummen des elektrischen Rasierers fraß sich so tief in mein Gedächtnis, wie die Abscheu vor dieser Frau.

4.

Meine Haare blieben kurz. All die Jahre lang rasierte ich sie ab, ehe sie länger als einen halben Finger waren. Das brummende und summende Geräusch des Rasierapparates erinnerte mich immer daran, dass ich einige meiner Gedanken lieber für mich behalten sollte. Es funktionierte gut. Immer wenn ich wütend oder frustriert oder verzweifelt war, oder mich wie in eine ausweglose Sackgasse gedrängt fühlte, fing ich nicht an zu schreien oder um mich zu schlagen, sondern rasierte mir in stiller Wut die Haare ab. Ich lernte, meine Schreie herunterzuschlucken. Spätestens nach dem zehnten Vorfall, der dem Aufeinanderprallen mit der SyS-Technik-Lehrerin ähnelte, wusste ich, wie man sich zurückhielt. Von dem ganzen Zähne zusammenbeißen, dass ich dazu benötigte, wurden meine Lippen mit der Zeit schmaler. Bei jeder Rasur sah ich auch die Falten an den Ausläufern meiner Augen deutlicher werden. Aber ich glitt durch die Raster des Apparates, wie ein Geist. Ich ließ sie nicht sehen, was in mir brodelte und kochte. Es dauerte lange, bis ich feststellte, dass ich nicht das einzige Gespenst im System war.