Leseprobe: Kai Wieland – „Ameehrikah”

Memory can change the shape of a room, it can change the color of a car. And memories can be distorted. They´re just an interpretation, they´re not a record, and they´re irrelevant if you have the facts. – Leonard Shelby, Memento

Tief im Schwäbischen Wald, fernab der Zivilisation selbst solch bescheidener Metropolen wie Backnang und Murrhardt, liegt ein kleines Dorf, in dem kaum noch einer wohnt. Dabei ist es ein Dorf mit einer einstmals passablen Infrastruktur. Auch heute noch gibt es eine Bushaltestelle, eine Schule und sogar ein Freibad, allerdings erfüllen sie alle nicht mehr ihren ursprünglichen Zweck, wie so vieles an diesem Ort. Das alte Schulgebäude zum Beispiel hat schon lange keine Schüler mehr gesehen, es wird lediglich dann und wann für eine der seltenen Begräbnisfeiern genutzt. Selten nicht deshalb, weil hier alle so lange leben, sondern ganz einfach deshalb, weil fast alle schon tot sind. Wahrscheinlich handelt es sich um den Ort mit den meisten Suizidfällen pro eintausend Einwohner Deutschlands, wenngleich hier noch niemals eintausend Menschen zur selben Zeit gelebt haben. Deshalb, oder vielleicht auch, weil hinter dem einen oder anderen Suizid ein Fragezeichen steht, taucht das Dorf in keiner derartigen Statistik auf. Kritische Ausschläge werden eliminiert. Und die Kinder? Kinder werden geboren, aber sie verschwinden, und den Alten wird nicht gesagt, wohin.
An einem Tag, der so beginnt wie alle Tage, nämlich mit Nebel und dem Geschrei der Krähen, kommt ein junger Mensch, ein Chronist, in dieses Dorf und erzählt den Alten von dem Buch, das er schreiben möchte. Er muss an vielen Fensterläden rütteln, bis er einen findet, der nicht glaubt, er wolle nur etwas verkaufen.
Wer durch den Rillingsweg oder den Erlenweg geht, dem fallen zwei Dinge auf. Erstens: Es gibt im Dorf nur diese beiden Straßen. Zwei Straßen und zwanzig Häuser, einige davon leerstehend, machen Rillingsbach zu einem guten Ort für einen Briefträger. Und zu einem schwierigen Ort für den Chronisten. Zweitens: Eine der beiden Straßen ist auch noch eine Sackgasse. Und doch braucht es manchmal nicht mehr, um sich zu verlaufen.
Ansonsten sieht man vor allem rissiges Fachwerk, geschlossene Fensterläden, rostiges Ackergerät, hohes Gras, leere Kaugummiautomaten und, wie der Chronist die Liste mit doppelter Unterstreichung beschließt, jede Menge Tristesse. Die Tatsache, dass es in vergangenen Tagen, als die Menschen noch Urlaub in der Region machten, auch ein Hotel gab, macht den Chronisten neugierig. Was könnte in einer Broschüre für das Naherholungsgebiet Rillingsbach gestanden, womit könnte es geworben haben? Was auch immer es war, aus dem Dreisternehotel wurde bald ein Zweisternehotel, dann ein Restaurant, dann ein Vereinsheim für den örtlichen Kegelclub und schließlich, und so ist es bis heute, eine Kneipe.
Man kann nicht behaupten, dass sich Martha, die alte Boizerin, überarbeiten muss. Wer sich einmal in der Gegend befindet, obwohl sich natürlich die Frage stellt, was außer einem melancholischen Verlangen nach Einsamkeit einen Ortsfremden dorthin verschlagen könnte, der sollte ihr unbedingt einen Besuch abstatten, bevor es zu spät ist. Nicht mehr viele Orte überdauern lange genug, um sich Attribute wie „rustikaler Charme“ oder „uriges Ambiente“ zu verdienen – redlich zu verdienen – aber Marthas Kneipe, der Schippen, gehört dazu. Eine kleine, aber treue Stammkundschaft trägt daran einen maßgeblichen Anteil.
Der Chronist schätzt Menschen, die Schilder um den Hals tragen. Alfred aus dem Erdgeschoss, 83 Jahre alt und trotzdem nie gelernt, den Mund zu halten. Lektionen gab es genug. Hilde, die Wilde. Hilde, die Junge. Frieder, der dem Vater so gleicht. Jeder könnte hier etwas über den anderen sagen, und tut es auch, an diesem Ort, an dem jeder jeden kennt, niemand kommt und keiner jemals geht. Und dann fragt der Chronist, wie es früher war. Misstrauen, Unverständnis, Spott. Sie erzählen schon, aber dieses und jenes, hier etwas dazu, da etwas weg. Geliefert wie bestellt. Die Alten sind vorsichtig geworden.
Der Schippen wurde in den Zwanzigerjahren von Marthas Großvater auf drei Stockwerken errichtet und verfügte anfangs über einen Speisesaal, einen Schankraum und acht identisch ausgestattete Zimmer mit Toilettentisch und Aussicht auf das unstete Wetter. Im Erdgeschoss gab es einen Aufenthaltsraum mit einer kleinen Bücherei, gemütlichen Sitzmöbeln und einem Schallplattenspieler inklusive einer Auswahl an orchestraler Musik. In den Dreißigern feierte das Hotel seine Glanzzeit und erwarb sich in ganz Süddeutschland einen formidablen Ruf, ehe der Krieg den Höhenflug jäh beendete.
Etwas ist natürlich zu berücksichtigen, wenn sich der Chronist an dem hochgeschossenen, kunstvoll gestalteten Hotelgebäude verlustiert. Wenn er das kräftige Schwarz des Fachwerks hervorhebt oder die moderne Einrichtung, auch das junge, frische Publikum und überhaupt alles, was daran ist und vielleicht einmal daran war.
Wenn er die munter flirrenden Stimmen im Gastraum einfängt, sie sorgfältig protokolliert und ausbreitet, dann tut er es stets so, wie ein Blinder ein Bild malt. Jemand beschreibt es ihm, er hört bloße Begriffe, roh, unvollkommen und ohne Zusammenhang. Er sammelt sie zunächst auf seiner Palette, reichert sie dort an mit seinen Erfahrungen, bis sie den Farbton treffen, den seine Fantasie vorgibt, und dann malt er das Bild, so schön er es nur kann. Ein Bild, wohlgemerkt, keine Fotografie.
Heute, knapp sechs Jahrzehnte später, summt bloß noch die Kneipe im Obergeschoss, während die beiden Wohnungen in den Etagen darunter im besten Falle für ein wenig Wäsche auf der Leine im Garten sorgen. Im ersten Stock, in vier exakt gleich großen Zimmern mit einem flauschigen roten Teppichbodenflur dazwischen, wohnt Martha. Sie residiert darin wie ein Gast und ist zugleich ihr eigenes Zimmermädchen. Der Chronist verspürt das dringende Bedürfnis, den Zustand des Badezimmers zu begutachten. Im Erdgeschoss lebt Alfred, einer von Marthas treuesten Stammgästen, und lässt ungern Besuch herein.
Im verwinkelten Gastraum unter der Dachschräge stehen zwei kleine, wackelige Sperrholztische vor jeweils einer modrig riechenden Eckbank. Die gesamte Mitte des Raumes nimmt ein großer, runder Tisch aus dunkler Eiche ein. Acht Personen haben an diesem Platz, es ist ein Stammtisch, ideal zum Gaigeln und, den Kratzern und Kerben nach zu urteilen, auch für andere Formen des Glücksspiels. Den Tresen säumen dreibeinige Barhocker von unterschiedlicher Machart und aus unterschiedlichen Jahrzehnten. Eine Chronik aus Holz.
Voll wird es hier nur nach Beerdigungen und während der Fußballweltmeisterschaft. In der restlichen Zeit fangen vergilbte Fotografien an den Wänden den Staub, und ein zerrupftes, rostrotes Fell unklaren Ursprungs erinnert an ein wilderes Schwabenland. Über dem Tresen schließlich hängt wie die Katarakt eine ausgebleichte amerikanische Flagge, doch ohne Wind wirkt sie beinahe scheu.
Bei aller Schilderung des Verfalls wäre es allerdings falsch anzunehmen, Rillingsbach sei zu irgendeinem Zeitpunkt ein blühendes und anziehendes Zentrum des lokalen gesellschaftlichen Lebens gewesen. Schon immer ein abgelegenes Provinznest, kamen von den wenigen Touristen abgesehen – die sich ohnehin meist außerhalb des Dorfes aufhielten, im Rillingsbacher Weiher badeten oder die endlosen Waldwege entlang wanderten – schon damals kaum Leute in den Ort, die nicht von hier waren. Die Behauptung, das Dorf sei nach und nach verfallen, lässt sich zwar nicht ganz von der Hand weisen. Ebenso berechtigt wäre aber der Schluss, es habe sich lediglich seinen Charakter bewahrt. Mit Martha kann man diese Frage kaum diskutieren, schließlich ist sie immer hier gewesen. Sie würde die Veränderungen nur dann bemerken, wenn sie auf die entsetzlich dumme Idee käme, heute und damals zu vergleichen. Sie wuchs als jüngstes Kind gemeinsam mit ihren Brüdern Heinz und Erhardt in Rillingsbach auf und hat ihr Elternhaus, den Schippen, nie verlassen. Einige im Dorf behaupten sogar, sie habe sich in ihrem ganzen Leben nur ein einziges Mal außerhalb der Markung Rillingsbach aufgehalten, und zwar am Tage ihrer Geburt im Murrhardter Krankenhaus. Sie hat miterlebt, wie aus dem Dreisternehotel ein Zweisternehotel wurde, dann ein Restaurant und ein Vereinsheim. Den letzten, ohnehin nicht mehr allzu großen Schritt hin zu einer Kneipe hat sie selbst vollzogen. Wer sein Leben lang nur den wirtschaftlichen Abstieg kennt und es gewohnt ist, in regelmäßigen Abständen die Ansprüche herunterzuschrauben, der verliert naturgemäß das Vertrauen in den eigenen Riecher und wählt den Weg des geringsten Widerstands. Dieser Weg schrieb Martha vor, unverheiratet und kinderlos zu bleiben und überhaupt Veränderungen nur im Rahmen des absolut Notwendigen zuzulassen. Infolgedessen weiß Martha über sich selbst zunächst nicht viel mehr zu sagen, als dass sie ihr Leben lang Getränke ausschenkte und einer Generation von Rillingsbachern nach der anderen an den Tisch trug. Ob sie dabei wie zu Anfang im Speisesaal eines Dreisternehotels stand oder wie heute in einer Kneipe, scheint auf den ersten Blick höchstens dokumentarische Bedeutung zu haben. Auf den zweiten aber, sofern man gewillt ist, diesen Blick zu tun, vielleicht auch eine Spur von Symbolik, und zwar für den fatalen Lauf der Dinge im Dorf. Dass Martha nicht viel über sich zu sagen hat, bedeutet nämlich keineswegs, dass es nichts zu erzählen gäbe.
Mit einer solchen Erzählung beginnt man normalerweise ganz am Anfang. In diesem Fall ist das kaum möglich, denn woran erkennt man den Anfang einer Erinnerung, die einem gar nicht gehört?
Schon die Gründung Rillingsbachs fällt ins Dunkel der Geschichte. Als gesichert gilt lediglich, dass die Ortschaft nach dem durchfließenden, schmalen Bächlein benannt wurde und nicht etwa umgekehrt. Das muss notwendigerweise so gewesen sein, da der Name Rillingsbach dem nahen Rillingsweiher entliehen wurde, in welchen dieser mündet. Namensgebend für den Weiher wiederum war, offenbar von Linguisten zweifelsfrei nachgewiesen, der Rietling. Der Strom entspringt im Süden, in der Nähe von Schorndorf, und passiert die Region im wenige Kilometer entfernt gelegenen Ort Rietstetten, wo er im Frühjahr häufig Überschwemmungen verursacht. Kurz und gut, die Namensgebung muss vom Rietling, dem großen Strom, über den Rillingsweiher und den Rillingsbach hin zum Namen des Dorfes erfolgt sein.
Das Interesse der Rillingsbacher, und nebenbei gesagt auch das des Chronisten, an derlei Fachgeplänkel hält sich in Grenzen. Alfred oder Hilde kann man damit nicht in Staunen versetzen oder einen Willi aus den Rippen leiern. Außerdem wäre, wenn man sich schon damit beschäftigte, da ja noch immer die Frage nach dem Namensursprung des Rietlings, und wo soll das enden?
Das kollektive Gedächtnis des Dorfes umfasst aufgrund des Mangels an einem Archiv und der Abwesenheit eines ambitionierten, an Fakten orientierten Chronisten nur etwa drei Generationen, alles davor ist Fabel und Sage. Dabei stellt sich die berechtige Frage, wie lückenlos eine solche Erinnerung überhaupt ist, und wie geeignet als Grundlage für die Chronik eines Dorfes. Auf der anderen Seite: Wie lückenlos ist ein Archiv voller Ordner und Blätter, und sei es noch so sorgfältig geführt? Erinnert sich ein Archiv an die bunten Tage im Herbst, als Alfreds neuer Alfa Romeo erstmals in den Erlenweg einbog und die gefallenen Blätter durch die feuchte, schwere Luft wirbelte? Hat ein Archiv noch den kreischenden Gesang der Sirenen im Ohr, und den grauenhaften Lärm, als eine Bombe der Royal Air Force krachend in die Scheune der Familie Winkler einschlug? Kann ein Stammbuch, eine Urkunde oder selbst eine Fotografie diese Dinge begreiflich machen? Kann ein Archiv die Augen schließen und sich noch einmal vorstellen, wie Erhard Tränen über die Wangen kullerten vor Lachen, als Heinz beim Eselreiten in die Büsche galoppierte?
Das jedenfalls sind die Dinge, an die man sich im Schippen erinnert, wenn einer danach fragt, wie es hier früher gewesen ist. Und ob der Esel nun wirklich haselnussbraun war oder doch eher grau, ob Erhard wirklich sechsmal in die Brombeersträucher fiel oder bloß zweimal, was macht es schon? Der Chronist interessiert sich nicht für Details, er sucht Tendenzen und Muster. Er fragt vor allem nach den unschönen Geschichten, den schmutzigen, denen mit Schuss. Da werden sie im Schippen misstrauisch, still und wortkarg, und packen die bunten Geschichten ganz schnell wieder ein. Die Bewohner von Rillingsbach waren es immer selbst, die einander das Leben füllten. Für die meisten ist das Dorf alles, was sie je gekannt haben, und wenn man Martha fragt, so waren sie alle gute Menschen, egal, was passiert ist. Das heißt allerdings nicht, dass man die anderen Geschichten nicht zu hören bekommt. Es heißt nur, dass man anders nach ihnen fragen muss.

Kapitel 1

Das vorige Jahr war immer besser. – Schwäbisches Sprichwort

„Eine Erinnerung“, so liest es der Chronist auf Wikipedia, „ist das mentale Wiedererleben früherer Erlebnisse und Erfahrungen und entspringt dem episodischen Gedächtnis.“ Der kanadische Psychologe Endel Tulving fasste es folgendermaßen zusammen: „Das episodische Gedächtnis ermöglicht also den Abruf vergangener Erfahrungen, die in einer bestimmten Situation zu einem bestimmten Zeitpunkt gebildet wurden. Es ist zur mentalen Zeitreise sowohl in die Vergangenheit als auch in die Zukunft fähig.“
Eine Zeitreise sowohl in die Vergangenheit als auch in die Zukunft.
Ein neuer Versuch. Wo beginnt man die Geschichte einer Dorferinnerung, wenn man kein Teil derselben ist? Vielleicht bei der Brücke, bei den Menschen, die den Zugang gewähren. Zum Beispiel bei Martha. Heute dünnes, graues Haar, aufgesteckt zu einem Dutt, trotz ihres Alters noch gute Augen, jeden Tag ein Kreuzworträtsel, ein aufrechter Gang, da rutscht nichts vom Tablett, eine feine, aber immer etwas zu leise Stimme, insgesamt dreimal in Lebensgefahr. Das erste Mal am Tag ihrer Geburt, als sie ihrer Mutter, der Anna, so große Mühe bereitete. Bald darauf musste Anna dann auch gehen, so viel Kraft hatte dieses quere Kind sie gekostet. Und da fällt der Groschen, warum Martha nicht auch noch einen Ehemann in ihrem Leben brauchte, wo es doch schon drei Männer gab, die sie ganz allein versorgen musste. Das zweite Mal an jenem Tag, an dem Teile der Winklerscheune mit Getöse durch die Winternacht stieben und auf das Dorf niederregneten. Nicht Hunde und Katzen, aber Holz und Blut und Rindfleisch und Bomben hagelte es. Die Lebensgefahr hatte Martha aber nicht exklusiv, alle zitterten damals gleichermaßen in ihren Kellern, während sie den Schlägen auf den Dächern lauschten.
Beim dritten Mal ging es um Erwin. Um den kommt man nicht herum, wenn man im Schippen über die Vergangenheit spricht. Je nachdem, wen man fragt, war der ein Unmensch oder ein Psychopath. In beiden Fällen hätte man ihn wohl nicht unbedingt mit einem Kind allein lassen sollen. Wenn er möglicherweise schon vor dem Krieg ein wenig eigen war und zum Jähzorn neigte, Charakterzüge, die er allerdings mit vielen Rillingsbachern teilte, so kam er vollends durchgeknallt aus der Kriegsgefangenschaft zurück. Was genau er in den Jahren zuvor erlebt hatte, wusste man nicht, schon weil keiner danach fragte. Anders als sein besonnener Bruder Hans hatte Erwin auch niemals Briefe geschrieben, sodass selbst seine Eltern nicht wussten, wo er kämpfte und ob er überhaupt noch lebte.
Andererseits ist die Idee, der Krieg könnte ihn zu einem unberechenbaren Gewaltmenschen gemacht haben, nur eine Theorie. Es ist durchaus möglich, dass diese Entwicklung von Anfang an unvermeidlich gewesen war, ganz gleich, unter welchen Umständen. Er hatte etwas in seinem Kopf, dass da nicht hingehörte, aber nach und nach aufging und sich an die Oberfläche arbeitete wie ein Kartoffeltrieb, der zum Licht strebt und, sofern welches da ist, es auch findet. Schon seit der Kindheit war er seinen Mitmenschen nicht geheuer, das galt sogar für Mutter und Vater. Er tat Dinge, für die an einem Ort wie Rillingsbach kein Platz war. Die Freude seiner Eltern, als endlich einer der beiden Söhne aus dem Krieg zurückkehrte, war verhalten. Es war kein Geheimnis, dass sie lieber Hans in die Arme geschlossen hätten, und wenn sie nicht schon am Tag von Erwins Rückkehr so dachten, dann war es einige Tage später mit Sicherheit der Fall.
Während der ersten Wochen in der Heimat machte Erwin den Menschen so viel Ärger wie ein verregneter Sommer. Er stahl Hühner und Werkzeuge, ersäufte Hundewelpen und zündelte, bis es den Leuten irgendwann mulmig wurde, zu Bett zu gehen. Jemand hielt es für eine gute Idee, ihn zum Kopfschlächter auszubilden. Mit diesem Beruf, den mehr oder weniger die Hälfte der männlichen Dorfbewohner ausübte, hoffte man ihm eine Arbeit gegeben zu haben, bei der er seine Verrücktheiten ausleben und die restliche Zeit ein wenigstens halbwegs erträgliches Gemeindemitglied sein konnte. Diese Rechnung ging nur teilweise auf.
Unter all den Kopfschlächtern war er nämlich der einzige, der seine Messer mit in den Schippen brachte und zu den unmöglichsten Gelegenheiten vorzeigte. Er führte sie so selbstverständlich mit sich, als seien es angeborene Gliedmaßen. Während er in der einen Sekunde noch vollkommen ruhig und regungslos am Stammtisch saß und Karten spielte, konnte er schon im nächsten Moment seinen Ausbeiner hervorziehen und ihn vor Martha in den Tisch rammen, wenn sie ihm sein Daumenschorle hinstellte, ohne dabei ihren Daumen wie von ihm gefordert ins Glas zu tunken. Eine filmreife Vorstellung war auch, wie Erwin am Sonntagmorgen vor der Kirche saß und die Messer wetzte, dabei leise ein Kinderliedchen summte und Pfarrer Holzknecht sein breitestes Grinsen schenkte. Eine Zeit lang rätselten die Leute, wen er damit wohl verärgern oder herausfordern wollte. Aber zuletzt fand man sich damit ab, dass es eben diese Art von Wahnsinn war, die Erwin ausmachte, und in gewisser Weise musste man wohl auch dafür Gott dankbar sein. Von innen gesehen hat Erwin die Kirche allerdings nie.
Später, als sie es sich trauen konnte, behauptete seine Gattin Maria, dass er vor dem Schlafengehen sogar ein Messer unter die Matratze geschoben habe. Und manchmal, wenn sie nachts aufwachte, konnte sie dann hören, wie er an den Bettpfosten schnitzte.
„Erwin, was hast du denn da am Bettpfosten zu schaffen?“, fragte sie ihn dann ängstlich, woraufhin er meistens nicht antwortete. Manchmal aber antwortete er doch und murmelte etwas wie: „Was fragst du so blöd. So blöd haben sie auch mal den Heinrich gefragt. Frag nur weiter so blöd, wie die Anna und die Katharina, so blöd haben die auch gefragt“, oder: „Ich hab am Sonntag wieder den Teufel gesehen, der ist hier im Dorf unterwegs, sitzt vor der Kirche und lacht wie ein verrücktes Rind. Kannst den ja mal fragen nach seinem Werk, vielleicht weiß der dir Antwort, wenn du es dann noch wissen willst.“ Wenn er solche Dinge sagte, ließ man ihn besser weiter schnitzen.
Maria hatte er aus Cornwall mitgebracht. Sie war die Tochter eines emigrierten deutschen Arztes und einer Engländerin, und warum sie sich ausgerechnet auf Erwin eingelassen hatte, dieses schöne, grünäugige Kind, ist Stoff für Legenden. Vielleicht war sie einfach nur eine Art Beute. Seine persönliche Garantie dafür, dass dieser Krieg nicht ganz vergebens gewesen war, obwohl ihn die Politik und das Leben im Grunde gar nicht besonders zu beschäftigen schien. Nach allem, was man wusste, kannte er kein Bedauern.
Erwins Eltern starben beide im Dezember 1946, nur wenige Monate nach seiner Heimkehr. Zu Weihnachten in jenem Jahr besaßen Maria und er plötzlich einen eigenen Hof, acht Rinder, einige Schweine, einen Stall Hühner, vierzig Ar Ackerland und einen viertel Hektar mit Streuobstwiesen, sowie jede Menge Platz, um eine glückliche Familie zu gründen. Das sind Hildes Worte.
Eine glückliche Familie zu gründen.
Drei Punkte im Raum. Poster, Martha, Regen am Fenster. Der Chronist verzichtet darauf, es zu dokumentieren, man würde es für einen Scherz halten.
Es zwickt die Rillingsbacher, man kann es spüren. Es zwickt sie, wenn sie versuchen zu verstehen, wie ein durch und durch schlechter Mensch wie Erwin so unverdient viel Glück haben und doch so undankbar wenig daraus machen konnte. Hätte man Erwin gefragt, ob diese Dinge für ihn Glück bedeuteten, wäre die Antwort möglicherweise eine andere gewesen. Des einen Glück, des andern Strick. Aber daran hatten sich die Menschen gewöhnt. Er sagte nur sehr selten etwas, mit dem man vorbehaltlos einverstanden sein konnte, ohne sich wenigstens im Stillen seinen Teil dazu zu denken. Außer Maria hielt es keiner lange bei ihm aus, und selbst sie schien immer ein bisschen auf der Flucht zu sein.
Sogar Männer, die etwas darstellten im Dorf, Männer wie Gottlob und Wilhelm, wahrten vorsichtshalber Abstand. Ein einziges Mal geriet Wilhelm mit ihm aneinander, genau hier, im Schankraum des Schippen. Jeder erinnert sich, selbst jene, die gar nicht dabei waren. Damals saßen sie am Tresen, so wie heute der Chronist, nur die Stühle waren weniger fleckig und keine Radiomusik zu hören. Erwin hockte dort, wo Hilde nun sitzt, und Wilhelm dort, wo Frieder sitzt. Ein Bild, keine Fotografie. Hotelgäste waren, wie so oft in jenen Tagen, keine zugegen, nur die Kopfschlächter tranken in dieser Nacht, und so kam es dazu, dass Wilhelm sang. Gottlob hatte ihn nämlich einmal darum gebeten, das bleiben zu lassen, solange Gäste da waren. Jetzt aber stimmte Wilhelm, der es gewohnt war, dass man ihn hörte, mit feierlicher Stimme an: „Ob´s stürmt oder schneit, ob die Sonne uns lacht.“ Schnell war der Chor auf fünf, sechs, sieben Männerstimmen angeschwollen, da schrie Erwin, der etwas abseits am anderen Ende der Theke saß, lauter als aller Sänger Gesang zusammen:
„Linzner!“
Da war aber Ruhe. Wilhelm, groß und mit Bauch, schätzte es gar nicht, wenn man ihn unterbrach, noch dazu so unziemlich beim kameradschaftlichen Gesang. Lange hatte das keiner gewagt. Aber Erwin war selbst Soldat, deshalb wollte Wilhelm ausnahmsweise fünf gerade sein lassen. Nur, dass Erwin noch gar nicht fertig war.
„Wo hat´s denn gestürmt, Linzner? Und geschneit? In der Scheune, auf dem Heuboden? Oder in der Sonne-Post unten in Murrhardt, beim Schorle saufen und Kameraden bespitzeln, hat es da vielleicht geschneit?“
Und plötzlich war die Ruhe wieder davon, gewissermaßen von der Unruhe vertrieben. Nervöse Blicke nach links und rechts, keiner hatte Lust auf das, was nun zwangsläufig folgen musste. Niemand mag Unruhestifter, am wenigsten dann, wenn es gerade gemütlich zugeht. Um der Ruhe Willen kann man doch auch einmal zurückstecken, kann jemanden mal ein bisschen Unsinn quasseln lassen, es geht doch vorbei und am Ende bleibt alles beim Alten. Nicht in fünfzehn Jahren hatte jemand so etwas zu Wilhelm gesagt, nicht immer nur um des Friedens willen, aber unter anderem. Erwin brauchte man mit so einem Argument freilich gar nicht erst zu kommen, denn Ruhe war für den kein Wert. Wilhelm war zunächst sprachlos, sammelte sich dann aber und setzte zur Predigt an.
„Hör mir jetzt mal gut zu, Junge. Du warst an der Front, schön und gut. Aber vergiss mal nicht, die SS…“ Da schlug Erwin mit der Faust auf den Tresen, das hundert Gläser schwankten und wackelten, und das Klirren ließ Gottlob Böses ahnen. Er sah schicksalsergeben nach oben zur Vitrine, in Erwartung eines Scherbenregens. Aber das war der Teil des Abends, an dem sie alle Glück hatten.
„Willst du mir von der Schissstaffel erzählen, Linzner? Willst du mir was vom Krieg erzählen? Willst mir hier ein Liedchen trällern? Der Gottlob darf mir was erzählen, der war wenigstens an der Front. Aber was hat dein Verein denn gemacht? Hinter der Ostfront Dörfer angezündet und Weiber erschossen, im besten Fall. Dir muss doch zuerst mal einer beibringen, was Krieg bedeutet. Ich kann dir erklären, was das ist. Ich kann´s dir auch zeigen, gleich hier, gleich draußen vor der Tür. Komm nur mit, dann schlag ich deine Zähne einzeln in den Maibaum, gleich unter die Ami-Flagge. Schöne Helden seid ihr gewesen, drei Wochen hat sie gehängt, bis der Gottlob sie runter genommen hat. Und aus welchem Grund? Komm du mir nochmal mit Schnee und Sturm, dann schneid ich dir den Meckel rund, Herr Oberscharführer.“ So war Erwin, explosiv wie ein Minenfeld und ebenso unberechenbar. Wilhelm jedenfalls sang danach keine Lieder mehr im Schippen, und Gottlob räumte die Gläser in eine Vitrine in Bodennähe.
Erwins Anwesenheit war in der Regel mit Ärger verbunden. Was zum Teufel tat Martha also allein mit ihm im Schlachtraum? Sie weiß es nicht mehr und kann es sich auch nicht erklären. Sie mochte ihn eigentlich nicht besonders, wie sie mit einem scheuen Seitenblick auf Hilde zugibt, vor allem wegen der armen Hundewelpen. Vielleicht lag es daran, dass es so ein heißer Tag war, denn im Schlachtraum war es kühl. Sie lag an solchen Tagen gerne auf den kalten, weißen Kacheln und blätterte durch ein Bilderbuch oder spielte mit der Puppe, die ihr Anna hinterlassen hatte.
An diesem Tag auch? Falls ja, ist die Erinnerung daran verblasst gegenüber dem, was danach geschah. Immer, wenn sie sich zu erinnern versucht, ist Erwin schon da. Hinter ihr, über sie gebeugt, sein warmer Atem in ihrem Nacken, stoßweise und schnaubend wie der eines Stiers. Wie er sie anstarrte, als sie sich umdrehte. Er war kein hässlicher Mann. Bei dieser Bemerkung gluckst Hilde leise auf. Unbeirrt fährt Martha fort. Nein, überhaupt kein hässlicher Mann. Groß, stark, dunkles Haar und schwarze Augen. Narben an den Handgelenken. Als er aber von ihr verlangte, ihr Kleidchen auszuziehen, weigerte sie sich. Nicht aus Empörung oder Entsetzen, sondern einfach, weil sie keine Lust dazu hatte. Erwin stand vor ihr wie ein unbezwingbarer Berg, ein Berg mit braunen Hosenträgern, die ihm links und rechts von der Hüfte baumelten. Mit seiner riesigen Pranke, wieder bemerkte sie die Narben, strich er ihr über das Haar, hob einen der Zöpfe an und betrachtete ihn nachdenklich. Mit Nachdruck und in seiner ihm eigenen Art zu sprechen, schleppend, sich beinahe verschluckend, wiederholte er seine Aufforderung. Er kam näher, roch nach Arbeit, roch nach dem Blut unschuldiger Tiere, nach nassen Hundewelpen. Sie wich zurück, spürte aber sogleich die kalten Kacheln an ihren nackten Waden. Erwin streckte wieder die Hand aus, wieder zu ihren Haaren, wieder zu ihren Zöpfen. Martha zuckte nach links, zuckte nach rechts, zuckte nach links, und die langen Flechtzöpfe flogen ihr dabei um das Köpfchen. Da packte Erwin ebenjenes mit einer ruckartigen Bewegung, als fange er eine Stubenfliege, und schloss es zwischen seine rauen Händen ein wie in einen Schraubstock. Vor Wut oder Anstrengung zitternd, begann er langsam zuzudrücken. Ein unvorstellbarer Druck verdrängte alle Gedanken aus Marthas Kopf. Beinahe konnte sie hören, wie ihre Wangenknochen ächzten, sie klirrten wie vibrierendes Glas, und Martha schaffte es vor lauter Panik nicht, ihre Augen zu schließen. Wild wie ein Eber sah Erwin aus und presste geifernd und spuckend abgehackte Worte hervor:
„I…schneid dir…d´Nas…und…d´Ohra…vom Schädel…und schmeiß dich in…dr Weiher…wie an Welp!“
Und in diesem Moment, mitten hinein in die zitternde Stille ihrer entsetzten Gedankenlosigkeit, rief jemand laut und scharf Erwins Namen. Er verhallte dumpf in ihrem Schädel, der im Bersten begriffen schien, und sie erkannte vage die Stimme ihres Vaters. Augenblicklich lockerte Erwin seinen Griff, ließ Martha aber nicht los. Noch immer im Wahn, starrte er sie mit seinen weit aufgerissenen Augen an, während sich seine verzerrte Fratze langsam entspannte und einem dümmlichen Grinsen wich. Endlich gab er ihren Kopf frei und drehte sich zu Gottlob um, den Martha nun in der Tür stehen sah.
„Gottlob“, meinte er dann ruhig und richtete sich auf, „deine Martha, auf die würde ich besser aufpassen. So schöne, lange Zöpfe, wie die hat. Die sieht ja aus wie die Anna.“ Der runde, haarlose Kopf des Vaters glühte rot wie ein Glasklumpen an der Pfeife. Langsam trat er aus der Tür in den Schlachtraum und machte so den Weg frei für den großen, steifen Kopfschlächter. Der verstand und stapfte langsam über die blütenweißen Kacheln hinüber zur Tür. Vor dem Vater baute er sich auf, das breite Kreuz durchgedrückt, und richtete sich die Hosenträger. Er hätte dem kleinen, zehn Jahre älteren Gottlob auf den Kopf spucken oder noch ganz andere Sachen mit ihm machen können, das wussten sie alle beide. Trotzdem giftete Gottlob drauf los, zischte Worte, die Martha nicht verstand. Erwin ließ es regungslos über sich ergehen und sah stumm auf den Boden. Als Gottlob endlich fertig war, verharrten sie einen Moment lang schweigend und starrten einander an. Da lachte Erwin laut auf, klopfte dem Kleinen auf die Schulter und verschwand nach oben in den Gastraum, auf einen starken Klaren.
Gottlob atmete tief durch. Das weinende Töchterchen ratlos anblickend, überlegte er, was nun zu tun war. Zuerst einmal hob er die Puppe auf, die mit dem Gesicht nach unten auf dem kalten Boden des Schlachtraums lag. Dann nahm er das zitternde Kind auf den Arm, reichte ihr das Stoffspielzeug und versuchte sich als Tröster. Doch was sollte er ihr sagen? Etwa, dass Erwin ihr nie wieder weh tun würde? Das konnte er wohl kaum versprechen.
Spät am Abend, der Sturm rüttelte noch immer an den Fensterläden, fand Martha ihren Vater in der Werkstatt, wo er seine Flinte reinigte, wie er es von Zeit zu Zeit tat. Mit einer Schürze bekleidet stand er im Licht der Petroleumlampe an seiner Werkbank, das Laufbündel vorsichtig in den Schraubstock gespannt, und führte die kleine Nylonbürste ein. Still sah sie ihm zu, war gerührt von seinen liebevollen Berührungen mit dem kalten Metall, von der Sorgfalt, mit der er das Öl und das Fett abwischte. Überhaupt, so fand sie, ist ein Gewehr ein sehr aufregender Gegenstand. Ob er sie wohl einmal damit schießen ließe? Natürlich nicht auf ein Tier, sondern einfach nur so, zum Vergnügen.
„Warum reinigst du schon wieder die Büchse?“, fragte sie schließlich. „Das hast du doch erst gestern getan. Hast du heute etwas geschossen?“ Mit prüfendem Blick den gefetteten Vorderschaft einsetzend, antwortete er, ohne sie anzusehen: „Ja, ich musste einen Fuchs erschießen, er hing in der Falle. Der Lauf war gebrochen.“
Martha nickte verständnisvoll, obwohl sie solche Dinge erschütterten. Ihr Vater sprach davon, als sei es ganz normal. Als habe er dem Fuchs damit einen Gefallen getan. Eigentlich wollte sie ihn aber etwas anderes fragen, den ganzen Tag schon. Es ging um eine Sache, die Erwin gesagt hatte und die ihr seitdem nicht aus dem Kopf ging. Und zwar um Anna. Erwin hatte nämlich gemeint, dass sie, Martha, genauso aussehe wie die Anna. Ob das wohl stimmte? Zuvor hatte sie lange gezögert, der Vater sprach nicht gern über Anna, wurde dann erst wortkarg und schließlich ekelhaft. „Alle Kinder sehen aus wie ihre Eltern“, meinte er nur. Martha wusste, das stimmte nicht, wollte aber nicht widersprechen. „Also sehe ich so aus wie Mama?“ Da legte Gottlob den fettigen Lumpen zur Seite und sah sie über seine Brillengläser hinweg an. Er sah ulkig aus mit den Schweißperlen auf der Glatze und den Ölflecken im Gesicht. „Deine Mutter hatte blaue Augen und strohblondes Haar. Du hast meine braunen Augen, und dein Haar ist dunkelblond, fast braun.“
Martha verstand, was das bedeutete. Erwin hatte nur geredet. Sie alle redeten nur, hier im Dorf, immer und immerzu. Sagten Dinge zu sich, die nicht stimmten, nur um einander weh zu tun. Sie würde so etwas nie machen, das schwor sie sich. Niemals.
„Dein Näschen allerdings“, fuhr der Vater mit einem ungewohnten schelmischen Grinsen fort, während er sie an der Nase packte, „dein Näschen und dein Mund, und überhaupt dein Gesicht, und auch die glänzenden, langen Zöpfchen. Da denke ich manchmal, ich sehe die Anna. So schön wie sie bist du allemal. Und wenn du groß bist und nach Murrhardt ins Krankenhaus fährst, um ein Kindchen zu bekommen, dann werden die Ärzte denken: „Na, gibt es denn das, schon wieder die Anna. Die Anna mit ihrem Vierten!“
Es war gut gemeint, aber nicht sehr geschickt. Von Anna und dem Kinderkriegen zu sprechen, das beschwor keine schönen Bilder. Bis dahin hatte Martha sich nie Gedanken darüber gemacht, dass auch sie selbst eines Tages auf der Krankenbahre liegen, Schmerzen haben und vielleicht sterben musste. Nun allerdings kroch eine diffuse Angst davor in ihre jungen Glieder. Sie gab Gottlob einen flüchtigen Gutenachtkuss, stieg eilig die Treppen hinauf in ihr Zimmer und legte sich ins Bett zu ihrer Puppe, wo sie an diesem Abend noch lange wach lag und ungewohnten Gedanken nachhing, die um Anna, Babys, Gewehre, Füchse mit gebrochenem Lauf und Kopfschlächter kreisten. Auch Gottlob konnte noch nicht schlafen. Nachdem er die Büchse zusammengesetzt und sich gewaschen hatte, stellte er sich in die Küche, sah aus dem Fenster in die unnatürlich gefräßige, horizontlose Finsternis einer Nacht, die auf einen durchlittenen Tag folgt, und begann zu trinken.
Der nächste Morgen brachte Schneeregen, eisige Kälte und einen Schrei. Dieser entsprang einem kleinen Schuppen abseits des Dorfes, von wo er sich einen schlammigen, glitschigen Pfad hinaus aus dem Dunkel des Hochwaldes suchte und auch fand. Dann erklimmte er den grasigen Hang hinauf zu der Sackgasse im Erlenweg, dem er folgte, bis er schließlich im Rillingsweg angelangte, wo er lange und klirrend verharrte, als sei er eingefroren. Dem Schrei auf dem Fuße folgte Maria, weitere Schreie ausstoßend, die sich mit dem Urschrei vermengten. „Die späteren Schreie klangen kraftlos,“ ergänzt Alfred. „Blödsinn“, erwidert Hilde.
Natürlich war es einer dieser Tage, über die später jeder etwas zu sagen weiß, an denen jeder ein Chronist ist, was dem Experten seine Aufgabe empfindlich erschwert. Jeder erinnert sich noch genau, wo er war und was er getan hat, und jeder hat ein persönliches Detail zu der umfassenden Erhabenheit der Tragödie beizusteuern. Über Rillingsbach lag eine flirrende Atmosphäre, welche die Menschen zur Teilnahme am Drama dieses Tages zwang, und man hörte es knistern.
Auf dem Fensterbrett seiner Dachgeschosswohnung im Rillingsweg stand der arbeitslose Mangelhardt und glotzte sich die Augen aus dem Kopf. Ob er nun wirklich springen wollte oder nicht, und auch das war Thema, denn der zeitgleiche Ablauf mehrerer außergewöhnlicher Ereignisse, die Synchronität derselben, zeichnet solche Tage aus – in jedem Fall hätte der Schreck beinahe das Übrige besorgt. Wie er sich weit aus dem Fenster lehnte, sah er die kreischende Maria die Straße heraufstürzen. „Was schreist du denn so, Maria? Why do you yelling?“ Da wurden ihre Schreie noch lauter und spitzer. „Wie auf Bestellung“, fügt Frieder hinzu. Hilde schüttelt wortlos den Kopf. Maria versuchte verzweifelt, sich verständlich zu machen, doch was immer sie sagte, es ging unter im Gewirr der Schreie ihrer sich überschlagenden Stimme. „Nun beruhige dich doch, Mädchen“, rief Alfreds burschikose Mutter Elsa, die mittlerweile ebenfalls aufgeschreckt und an ihr Küchenfenster getreten war, um die Ereignisse auf der Straße zu verfolgen. Auch an den Nachbarhäusern öffneten sich nach und nach die Fenster. „Erzähl uns einfach, was passiert ist!“ „Erwin!“, schrie Maria endlich, und ein Raunen war zu vernehmen, obwohl ohnehin kaum jemand bezweifelt haben dürfte, dass Erwin in irgendeiner Weise der Verursacher dieser Schreie war.
„Im Schuppen!“, fügte Maria schließlich kraftlos hinzu und sank weinend auf den nassen Schotter nieder. Einige Männer, darunter auch Gottlob, stolperten bereits hinaus auf die Straße, streiften sich im Laufen ihre Regenmäntel über oder schlüpften, auf einem Bein springend, noch in den zweiten Gummistiefel. Sie rannten den Rillingsweg und den Erlenweg hinab zum kleinen Pfad, auf dem sie der Reihe nach ausrutschten und im kalten Schlamm landeten. Am Schuppen verlangsamten sie ihre Schritte. „Was glaubst du, was hat der Idiot diesmal angestellt?“, fragte Wilhelm, der als inoffizieller Bürgermeister Rillingsbachs galt und in prekären Situationen meist die Hosen anhatte. Bisweilen wurde er sogar als solcher angesprochen. Einen offiziellen Bürgermeister gab es nicht, denn obwohl es niemand gerne zugab, gehörte Rillingsbach genau genommen zur Gemeinde Murrhardt.
Gottlob schwieg und bedeutete den anderen zu warten. Dann riefen sie Erwins Namen. Mehrere Minuten verstrichen, in denen die Männer unentschlossenen vor dem Schuppen warteten, schrien und lauschten. Schließlich war es Gottlob, der sich vorsichtig hinein tastete, eine Petroleumlampe in der einen und das Gewehr in der anderen Hand. Eine weitere Minute verging, doch noch immer drückte sie die Stille. Da begannen die Männer vor dem Schuppen nach Gottlob zu rufen. Als sie auch von ihm nichts mehr hörten, beschloss Wilhelm, seinem Freund zu folgen.
Er spürte Gottlob schon, bevor er ihn sah, denn dieser war nur wenige Schritte weit in Schuppen hineingegangen und stand nun regungslos im Dunkeln. Wilhelm hatte nicht an eine Lampe gedacht, doch im Lichtkegel von jener Gottlobs konnte er den Grund für dessen Schweigen erkennen. Dort, auf den Holzplanken ausgestreckt, lag Erwin, statt des Schandmauls ein fleischiges Loch im Gesicht. Wenn man nicht genau hinschaute, sah er milde überrascht und ein wenig belustigt aus, wie ein erprobter Schachspieler, der wegen einer Unaufmerksamkeit von einem Anfänger matt gesetzt wird. Die langen Stelzen ausgestreckt, einen Arm merkwürdig hinter dem Rücken abgewinkelt, starrten seine schwarzen Augen durch die Finsternis des kleinen Holzschuppens zur Decke hinauf, der letzten Barriere vor den allmählich verblassenden Sternen. Wilhelm schüttelte traurig den Kopf.
„Überall auf der Welt hätte er fallen können, und dann pustet er sich im Holzschuppen die Lichter aus.“ Neben ihm lag sein Gewehr, eine lange Büchse, und hinter ihm das, was Gottlob für das Gehirn hielt. Suizid. Mit Fragezeichen?
Das kann man wohl sagen. Es war schlechterdings unmöglich, dass Erwin sich mit dieser Büchse selbst in den Mund geschossen hatte. Der Mann war ein Hüne, schön und gut, aber so lange Arme hatte kein Mensch, zumal der Schuss, da waren sich alle einig, aus mindestens einem Meter Entfernung abgegeben worden war. Die Männer wandten sich ab und trotteten durch die Stille des Waldes langsam zurück ins Dorf, Erwins Körper ließen sie in der Dunkelheit und Eiseskälte des Holzschuppens zurück. Selbst jetzt wollte keiner allein mit ihm sein. Mittlerweile stand halb Rillingsbach auf der Straße, um das Geschehene zu diskutieren. Der alte Mangelhardt war besonders gefragt, obwohl auch er nicht mehr gesehen hatte, als alle anderen, und Elsa kümmerte sich mit Tee und guten Worten um Maria. Die zeigte sich bereits sichtlich erholt und gab sich nur wenig Mühe, ihre Erleichterung zu verbergen. Verständnislos betrachtete sie das Treiben auf der Straße. Beinahe machte sie den Eindruck, als erwarte sie Gratulationen anstelle der Kondolenzen.
An diesem Punkt wird die Erzählung durch das ungläubige Schnauben Hildes unterbrochen. Nach einem kurzen Seitenblick beißt sich Martha auf die Unterlippe, mit welchem Gefühl, kann der Chronist nicht erkennen. Dann aber fährt sie zögerlich fort.
Zurück im Schippen, eilte Gottlob zum Telefon an der Hotelrezeption und verständigte die Polizei. Es folgte eine mehrere Stunden währende Warterei, eine bizarre Situation, in der man stumm auf der Straße stand und an den zerschossenen Leib unten im Holzschuppen dachte, und auch daran, dass Erwin derartige Schuppen immer gerne angezündet hatte. Martha lernte an diesem Tag, und sie vergaß es nie mehr, dass das Schweigen der Vielen vom Einzelnen ausgeht.
Die Beamten erschienen erst am späten Vormittag in Person von Kriminalhauptmeister Hufnagel und zwei sehr jungen Kollegen in Uniform. Die Polizeiarbeit, so weiß der Chronist, wurde in jenen Jahren von den Besatzungsmächten dezentralisiert und die Zuständigkeit auf die einzelnen Länder übertragen, weshalb, gelinde gesagt, ein gewisses Maß an Chaos herrschte. Weder Hufnagel noch seine beiden Assistenten hatten je einen Mordfall untersucht, und die Aussicht, sich mit den Dorfgeschichten dieser Eigenbrötler herumzuschlagen, schien ihnen wenig erquicklich. Natürlich sah sich Hufnagel pflichtbewusst im Schuppen um, bemerkte das Holzbeil auf dem Boden neben dem Spaltblock und einige Scheite, die von der Beige gefallen sein mussten, beachtete – 25 – Kai Wieland „Ameehrikah“, Leseprobe daneben den ungesund gekrümmten Arm hinter Erwins Rücken, schaute hier, blinzelte dort, rutschte auch auf den blutigen Dielen aus. Schließlich aber trat er ins Freie und diktierte einem jungen Beamten mit dicker Hornbrille auf der Nase:
„Suizid.“
Niemand im Dorf widersprach diesem Ermittlungsergebnis, obwohl jeder so seine Zweifel daran hatte. Letztendlich aber, und das sprachen die ehrlichsten auch aus, waren sie alle in dieser Nacht ein Problem losgeworden. Nur einen Menschen gab es, den diese Nachlässigkeit erzürnte. Dieser Mensch war jedoch noch nicht geboren, hatte weder Herz noch Hirn noch einen Mund, mit dem er sich hätte zu Wort melden können, sondern reifte in Marias Uterus erst heran.

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