Leseprobe: Martina Berscheid – “Die Klassenkameradin”

Die Klassenkameradin // Martina Berscheid

1

Uwes Atem stank nach Bier und Einsamkeit.
„Hey, setzt du dich zu mir?“
„Keine Zeit.“
Eva schnappte sich den Spüllappen von der Theke und eilte zu dem Tisch am Fenster, den sie gerade abgeräumt hatte. Sie wischte über die hölzerne Platte, wo sich die Ränder von Biergläsern in den braunen Anstrich gefressen hatten, über Ecken und Kanten, von denen die Farbe abplatzte. Die Vorhänge verströmten den Geruch nach Tabak, obwohl hier schon lange niemand mehr rauchen durfte. Gelbstichig geworden, schleifte der ehemals weiße Webstoff träge über die Fensterbank. Wie zerschlissen er war. Darüber konnten auch die zweiundzwanzig Kornblumen nicht hinwegtäuschen, die sich auf der ausgefransten Borte aneinanderdrängten. Kreuzstich, mit ungeübter Hand eingestickt. Sie hatte sie schon oft nachgezählt, einfach so. Als könnte sich ihre Zahl ändern. Außer dem Wetter änderte sich gar nichts, weder hier in der Alten Buche noch in Kiesbach. Sie hätte jetzt Lust auf eine Zigarette. Oder einen Schnaps. Am besten beides, allein und weit weg. Als sie sich aufrichtete, stieß sie sich den Kopf an der Lampe. Sah aus wie ein Nachttopf ohne Henkel. Und dann noch orange.
Sie schob die Stühle an den Tisch. Die Lehnen hatten die Form von Herzen. Oder Pobacken, ganz wie man wollte. Heute waren wenige Gäste da, selbst am Stammtisch nur zwei. Wie sie da saßen, mit aufgefächerten Karten vor wichtigen Mienen, als ginge es um was. Die Schmelzers hockten in ihrer Ecke in einträchtiger Schweigsamkeit. Und dann natürlich Uwe, der sich am Tresen festklammerte. Immerhin war er noch nüchtern genug, um den Takt des Schlagers mitzuklopfen, der aus dem Radio dudelte. Jetzt eine ihrer alten Metalplatten auflegen. Sie hatte Gerda sogar gefragt, aber die hatte den Kopf gewiegt und gemeint: „Ich würd ja, aber die Gäste …“
„Eva! Zahlen, bitte“, rief Herr Schmelzer und wedelte mit seinem kunstledernen Portemonnaie. Wie die meisten Besucher der Alten Buche nannte er sie wie selbstverständlich beim Vornamen. Sie ging zum Ecktisch der Schmelzers. „Neun Euro neunzig.“
„Stimmt so.“ Er zählte ihr zehn Eineuromünzen in die Hand.
„Dankeschön“, sagte sie und zwang die Mundwinkel nach oben. Herr Schmelzer hakte beide Daumen hinter die Hosenträger, dehnte sie wie zwei Schleudern und ließ sie knallen.
„Gut war ‘s.“
Als ob er nicht zwei Wiener Würstchen aus dem Glas, sondern ein Rinderfilet verspeist hätte. Das Brot hatte er mal wieder liegen gelassen. Daneben klebte Senf wie ein frisch abgelegter Hundehaufen.
„Richte ich aus.“
Sie stellte das Bierglas, das Weißweinglas mit Frau Schmelzers pinkfarbenem Lippenabdruck und den Teller auf das Tablett. Frau Schmelzer drehte an ihrem goldenen Ehering und beobachtete jeden ihrer Handgriffe. Als wollte sie überprüfen, ob Eva alles richtig machte. Erst als sie fertig war, erhob sich das Ehepaar stühlequietschend.
„Schönen Abend noch“, wünschte er und watschelte, seine Gattin im Schlepptau, zum Ausgang.
„Ihnen auch.“
Eva trug das Tablett zur Theke. Uwe brabbelte unablässig auf Gerda ein. Sein fleckiges Hemd sonderte den Mief tagelang aufgesogenen Schweißes ab. Gerdas Hand zitterte am Zapfhahn. Ihr Unterarm war scheckig wie das Fell eines Leoparden. Zwischen ihren rostrot gefärbten Strähnen schimmerte die Kopfhaut. Dass die sich das noch antat, ganz allein, mit fast siebzig. Aber weil Gerda es sich antat, hatte Eva einen Job. Den sie brauchte. Uwe beugte sich vor. „Alles roger?“
Spuckeblasen zerplatzten an ihrem Hals. Sie presste die Lippen zusammen, trat einen Schritt zurück.
„Eva hat Feierabend.“ Gerda wies mit dem Kopf zur Tür. Ist doch nichts los, bedeutete ihr Blick. Hau schon ab.
„Schaaaade“. Uwes Oberlippe glänzte.
„Hier Uwe, dein Pils.“
Gerda knallte das Bierglas auf den Tresen, dass der Schaum über den Rand schwappte, und nickte Eva zum Abschied zu.

Draußen zog Eva die Tür hinter sich zu. Der Abend war drückend. Aschgraue Wolken ballten sich am Horizont. Darunter kauerte Kiesbach, eingepfercht von Feldern und Hügeln. Im Osten bohrten sich Hochspannungsmasten fischgrätig in den Himmel, im Westen erstreckten sich Wald und Wiesen. Kaum zu glauben, dass ein paar Kilometer dahinter die Stadt anfing. Sie fröstelte und zog die Strickjacke über. Trotz des aufkommenden Windes war sie froh, ein paar Schritte zu gehen. Sie holte das Handy aus der Tasche. Kurz vor neun. Keine Nachricht. Sie schaltete das Telefon aus. Für Matthias’ Kontrollanruf war es ohnehin noch zu früh. Der würde erst gegen 21.30 Uhr kommen, eine halbe Stunde, bevor die Buche schloss. Da war sie längst zu Hause. Die Straße führte abwärts am Bolzplatz vorbei. An seinen Rändern wuchs Unkraut. Wenige Schritte weiter begann der Wald. Auf dem Parkplatz davor tauchte ein roter Kleinwagen seine Schnauze in die Brennnesseln, als schämte er sich für die Rostflecken an der Kühlerhaube. So einen hatten sie auch mal, in grünmetallic. Es hatte sie geschmerzt, als Matthias den Wagen kurz nach Charlys Geburt gegen einen neuen Kombi eingetauscht hatte. Weil sie gewusst hatte, dass damit eine Zeit endete, bevor sie richtig begonnen hatte. Eva kramte in ihrer Tasche nach ihrem MP3-Player, nur um festzustellen, dass sie ihn vergessen hatte. Sie kickte gegen eine platt gefahrene Coladose. Scheppernd schlitterte sie über den Asphalt, bis ein Schlagloch sie bremste. Zu beiden Seiten der Straße markierten Zäune das Sperrgebiet des Spießertums. Dahinter standen weiß verputzte Häuser mit Blumenkästen vor den Fenstern, aus denen rosa Geranien quollen. Evas Geranien waren rot. Das Brummen eines Rasenmähers fräste sich durch die Stille. Um diese Zeit. Dabei wussten die Kiesbacher doch sonst immer, was sich gehörte und was nicht. An der Kreuzung zur Talstraße blieb sie stehen. Links oder rechts. Beide Wege führten nach Hause. Der Linke dauerte länger, der Rechte kürzer. Also links. Nach ein paar Schritten bereute sie ihre Entscheidung. Die Lauer, gelegentlich Besucherin der Alten Buche, tratschte mit ihrer Nachbarin. Die Stockrosen neben ihr beugten sich neugierig über den Zaun. Am liebsten wäre Eva umgekehrt. Nein, damit machte sie sich nur lächerlich.
„Diese schwüle Suppe macht mich fertig“, klagte die Lauer.
„Mich auch. Hoffentlich kommt heut Nacht mal was runter.“ Die Nachbarin deutete zum Himmel und verzog das Gesicht, als hätte sie Zahnweh. Die Lauer schnaubte zustimmend. „Letztes Jahr ist mir der Garten ersoffen, und diesen Sommer verdorrt alles.“
Zur Bekräftigung scharrte sie über ihren struppig gelben Rasen. Zwischen ihren Zehen wucherten violette Plastikblumen.
„Guten Abend“, sagte Eva laut.
Die Frauen zuckten zusammen. Die Lauer taxierte sie. Ihre aufgemalten Augenbrauen verliehen ihrem Gesicht einen Hauch von Spott.
„Grüßen Sie Ihren Mann“, rief sie. „Ich komme diese Woche noch zu ihm in den Laden. Brauche Karten für meinen Geburtstag.“
„Mach ich.“ Einen Dreck würde sie tun.
Als sie die Frauen vorbeiging, spürte sie deren Blicke im Rücken. Sie bog in eine Straße, die zum ursprünglicheren Teil Kiesbachs gehörte. Ausgemergelte Kletterrosen klammerten sich an altersfleckige Fassaden. In den Vorgärten lagen sich umgestürzte Gartenzwerge wund. Zu verkaufen, stand in roten Lettern auf einem Pappschild hinter einem blinden Fenster. Sie blieb stehen. Das wild wuchernde Gras und das spröde Holz des Balkongeländers erinnerten sie an ihr Elternhaus, das drüben in Hirschweiler gegen den Verfall kämpfte. Wie ihr Vater im städtischen Altenheim. Über den buckligen Dächern platzte der Himmel auf. Für einen Moment gewährte die Sonne dem Tag noch ein paar Strahlen, bevor sie sich wieder hinter schwarzen Wolken verschanzte. Der Wind frischte auf. Auf Evas Armen bildete sich Gänsehaut.
Sie zog die Strickjacke fester um sich und beschleunigte ihren Schritt. Ignorierte das strammstehende Männchen der Fußgängerampel, überquerte die Fahrbahn, ohne nach links und rechts zu schauen, um diese Zeit kam ohnehin kein Auto. Ihr Haus thronte auf einer Anhöhe. Sein größter Vorteil war, dass es nur eine Nachbarin gab. Eva ging an deren Hecke vorbei. Daneben, im Licht der Lampen, die den Weg zum Eingang flankierten, posierte das Haus. Schmal und hochbeinig, die Fenster mit blauen Rahmen, die Haustür lippenstiftrot. Sie hatte Matthias nie gesagt, dass sie beides scheußlich fand. Eine Vorstadtpomeranze, dachte sie. So wie ich. In der Ferne zuckte ein Blitz über den Himmel.
Die Haustür öffnete sich. Matthias’ Konturen zeichneten sich vor dem erhellten Flur ab.
„Da bist du ja schon. Ich hab gerade versucht dich anzurufen, aber dein Handy war aus.“
„Ich musste mir ein bisschen die Beine vertreten.“
„Okay. Aber ich mag es nicht, wenn du abends allein …“
„Es ist doch nicht mal dunkel.“
Sie blieb am Gartentor stehen, schaute Richtung Horizont, wo ein weiterer Blitz den Himmel zerriss.
Matthias kam auf sie zu. „Was ist?“
Seine Stimme vibrierte vor Ungeduld. Sie unterdrückte ein Seufzen und folgte ihm ins Haus.
„Hast du Hunger?“, fragte er.
„Ich muss duschen.“
Oben nahm sie ein paar CDs aus dem Regal, schnappte den Palyer und schloss sie sich im Bad ein. Sie entschied sich für Metallica, stellte den CD-Player an und regelte die Lautstärke so hoch, dass das Dröhnen der Bässe selbst das Rauschen der Dusche übertönen würde.
Und Matthias’ Rufe.
Eva warf ihre Kleider auf den Boden, stieg in die Kabine und drehte auf. Ließ sich berieseln, von der wunderbaren Mischung aus Wasser und Musik, so lange, bis der Ärger des Tages abgewaschen war.

2

Das Gewitter hielt sie wach. Eva starrte in die Dunkelheit. Vorsichtig, damit das Bett nicht quietschte und Matthias aufweckte, drehte sie sich auf die Seite. Es hatte keinen Sinn. Besser aufstehen. Ein Glas Wasser trinken. Oder ein Bier. Sie schlich zur Tür, schloss sie lautlos hinter sich. Auf Zehenspitzen tasteten sich ihre Füße durch den Flur, die Treppe runter, in die Küche.
Sie knipste die Lampe an und holte sich ein Bier aus dem Kühlschrank. Mit einem Schnapp sprang der Verschluss der Flasche auf.
Eva nahm einen gierigen Zug. Sie setzte sich an den Küchentisch, auf Charlys Platz, der seit sechs Wochen leer geblieben war. So lange hatte ihre Tochter sie nicht besucht. Sie legte die Hände auf das spröde Holz der Tischplatte. „Wenn du willst, kaufen wir einen Neuen“, hatte Matthias kürzlich angeboten.
Das kam nicht infrage. Der Tisch war das einzige Möbelstück, an dem sie hing. Er hatte schon in der Wohnung über Matthias’ Geschäft gestanden, in der sie anfangs zu dritt gelebt hatten.
Sie fuhr mit den Fingern über die raue Oberfläche, ertastete seine Narben: Kerben von Charlys Löffel, den sie von sich geworfen hatte, wenn sie ihren Brei nicht essen mochte, Buchstaben und Zahlen, die sich durch Papier ins Holz gedrückt hatten, Schnitte von abgerutschten Küchenmessern. Sie erinnerte sich an eine jener Nächte, in denen Charly als Baby stundenlang geschrien hatte, in denen Matthias aufgestanden war, damit sie ein paar Stunden Ruhe hatte. Die sie nicht fand. Sie hatte die beiden in der Küche gefunden, an diesem Tisch, sie schliefen, Vater und Tochter, Matthias hielt noch das Fläschchen in der Hand.
Er war ein guter Vater. Damals wie heute.
War sie eine gute Mutter?
Sie trank einen großen Schluck.
Es war auch eine schlaflose Nacht gewesen, in der sie an dem Tisch gesessen hatte, das weiße Plastikstäbchen in Händen, auf dessen Sichtfenster zwei rosa Streifen erschienen waren. Sie hatte sie angestarrt, und alles in ihr hatte „Nein!“ geschrien. Nicht jetzt. Nicht mit neunzehn. Matthias hingegen war überglücklich gewesen, er schien nicht den geringsten Zweifel gehabt zu haben, mit einundzwanzig der Vaterrolle gewachsen zu sein. Er hatte ihr einen Heiratsantrag gemacht. Ein paar Jahre später, nach dem Tod seiner Mutter, das Haus gebaut. Sie zahlten noch heute dafür. Und sie hatte alles geschehen lassen. Die Weichen waren gestellt, für dieses Leben. Und der Zug zuckelte dahin, durch die immer gleiche Landschaft, und sie wartete darauf, irgendwo anzukommen. Manchmal war sie nicht sicher, ob sie überhaupt eingestiegen war oder immer noch am Bahnsteig wartete. Aber ihre Tochter hatte Eva vom ersten Tag an geliebt wie niemanden sonst. Hatte die Zeit mit ihrem Kind genossen und versucht, tapfer zu sein, als Charly vor knapp zwei Jahren auszog. Und dennoch … Liebe und Schuld waren aus dem gleichen Stoff. Sie stand auf und blickte nach draußen. Ein paar Fenster waren erleuchtet, die Straßenlaternen glimmten. Der Donner grollte lauter, wütender. Das Gewitter tobte direkt über Kiesbach.
Unvermittelt trommelte Regen aufs Dach. Sollte das Kaff doch absaufen. Sie würde hier oben stehen und zusehen.
Ein weiterer Donnerschlag krachte. Und dann erloschen die Lichter. Draußen und drinnen. Eva blickte in die Schwärze. Sie fröstelte. Als wäre die Nacht ein Wesen, das ihre Haut streifte.
Ihre Finger umschlossen den Hals der Flasche. Vorsichtig setzte sie sie an die Lippen und trank sie bis auf den letzten Tropfen leer.
Vielleicht sollte sie wieder zurück ins Bett. Auch wenn sie nicht schlafen konnte.
Plötzlich hörte sie Schritte im Flur. Sie lauschte. Hatte sie sich getäuscht? Nein. Da kam jemand näher.
Ein Einbrecher? Unmöglich. Nicht bei diesem Wetter. Nicht mit Sicherheitsschlössern und Alarmanlage. Aber die brauchte doch Strom …
Sie hielt den Atem an. Die Tür öffnete sich mit einem Klicken. Stille. Zögerte er? Überlegte es sich anders?
Mach schon, dachte sie. Komm rein.
„Bist du da?“
Wie rau seine Stimme klang. Als wäre sie permanentem Widerstand ausgesetzt, an dem sie sich reiben musste.
„Ja, ich bin hier.“
„Wo genau? Wie du vielleicht bemerkt hast, haben wir Stromausfall.“ Ein heiseres Lachen.
„Ich stehe am Fenster.“
Sie horchte auf die Schritte, die sich ihr näherten. In ihrem Magen kribbelte es. Jetzt hörte sie ihn Luft holen. Ihre Nase erhaschte einen Hauch von Menthol.
„Da ist der Blitz irgendwo eingeschlagen.“
Sei still, dachte sie. Komm einfach her.
Er berührte ihren Oberarm. „Da bist du.“
„Und wer bist du?“, hörte sie sich sagen.
„Nur ein Mann.“
Obwohl es dunkel war, schloss sie die Augen. Nur ein Mann. Sie tastete hinter sich nach der Fensterbank, stellte die Flasche darauf. Dann zog sie ihn zu sich heran. Vergrub ihr Gesicht an seiner nackten Brust. Der Regen prasselte heftiger. Die Finger des Mannes wanderten ihren Arm hinauf, verharrten kurz auf der Schulter, strichen über ihren Hals. Seine andere Hand lag auf ihrem Rücken. Sie spürte die Wärme seiner Haut durch den dünnen Stoff des Nachthemdes. Sein Atem rauschte an ihrem Ohr, verlor sich in ihrem Haar. Seine Lippen waren warm und weich.
„Du schmeckst nach dem Bier, das ich heute Abend nicht hatte“, raunte er.
„Selber Schuld.“
Er lachte leise.
Wie einfach es war in diesem Moment. Ihn zu spüren, zu riechen und zu schmecken. Zu lieben.
Nicht denken.
Seine Hand fuhr unter den Saum des Nachthemdes.
Plötzlich hielt er inne. „Verdammt.“
Sie riss die Augen auf.
Im grellen Licht der Küchenlampe traten die Konturen des Raumes so scharf hervor, dass es wehtat.
Matthias blinzelte. Das Haar stand ihm in alle Richtungen ab.
Sein Gesicht war gerötet. Vor Scham?
Sie schob seine Hand weg, die noch auf ihrem Oberschenkel klebte.
Matthias trat einen Schritt zurück. Er räusperte sich. „Magst du noch ein Bier? Ich hol schnell zwei aus dem Keller …“
„Nee, lass mal. Ich hab das schon nicht vertragen.“
Sie wandte sich ab und schaute aus dem Fenster, wo ihr das Dorf höhnisch entgegenfunkelte.
Das Gewitter verzog sich mit einem resignierten Brummen, und der Regen hörte so hastig auf, wie er eingesetzt hatte. Sie öffnete das Fenster, atmete einen Schwall frisch gewaschene Luft.
„Gibst du mir die Flasche?“
„Was?“ Sie drehte sich um.
„Na ja, ich geh doch eh in den Keller.“
Sie reichte ihrem Mann die Flasche.
Er lächelte scheu. „Das eben …“
„Ich bin furchtbar müde“, log sie. „Gute Nacht.“
Auf wackligen Beinen ging sie an ihm vorbei. Sie stellte sich schlafend, als er eine halbe Stunde später ins Bett kam, und auch, als er am Morgen aufstand und ihr einen Kuss aufs Haar hauchte.

3

Nachdem Matthias endlich die Haustür zugezogen hatte, schlug Eva die Augen auf. Die Ritzen des Rollladens siebten das hereindrängende Sonnenlicht auf den Teppich. Sie stand auf, zog den Laden hoch und blickte in den blauen, gewitterfeuchten Morgen. Sie wollte hinaus, jetzt, sofort. Sie zog ihre Laufsachen an. In der Küche kippte sie eine halbe Flasche Wasser runter, stopfte einen Fünfeuroschein für den Bäcker in die Hosentasche und steckte ihren MP3-Player ein. Draußen war es warm, aber noch nicht zu heiß. Sie nahm den Pfad gleich neben dem Nachbarhaus, der fast zugewuchert war von Brombeergestrüpp. Charly hatte sich dort immer satt gegessen, war spätsommerlang mit verschmiertem Gesicht und schmutzigen Hosen nach Hause gekommen. Der Pfad stieg leicht an. Eva blieb stehen, blickte über das Dorf, das sich in der Sonne rekelte. Eigentlich sah es richtig malerisch aus, dieses Kiesbach, zumindest aus der Ferne.
Sie begann zu laufen. Matthias mahnte immer, dass sie sich zunächst aufwärmen müsse, er empfahl ihr Dehnübungen, glaubte wirklich, ihr Ratschläge geben zu können, obwohl er überhaupt keinen Sport trieb. Selbst die Sonntagsspaziergänge mit Charly früher waren ihm zu viel gewesen.
Sie schaltete den Player ein. Entschied sich für Smells Like Teen Spirit von Nirvana. Darauf folgte Thunderstruck von AC/DC. Die Musik durchdrang ihren Körper, dehnte sich aus, sie fühlte sich leicht und geerdet zugleich. Sie lief schnell, bis sie außer Atem war. Nach einer Biegung tauchte eine Bank auf, sie ließ sich darauf nieder, die große Runde würde sie heute nicht schaffen. Das Lied verklang und sie schaltete aus.
Wie so oft dachte sie an jene Tage in ihrer Jugend, an denen Matthias und sie nach einem Konzert in den frühen Morgenstunden nach Hause gefahren waren, trunken von Musik. An das Glücksgefühl, das längst verblasst war. Aber einen unauslöschlichen Abdruck in ihrem Inneren hinterlassen hatte. Wind fuhr durch die Zweige, Sonnenlicht hüpfte über die Blätter. Früher hatten sie manchmal zu dritt hier gesessen, hatten Brote gegessen, weil ihre Tochter Picknick liebte.
Da war sie auch glücklich gewesen. Manchmal. Sie stand auf, schaltete die Musik wieder ein. Dancing with myself von Billy Idol.
Der Pfad endete im Kiesbacher Neubaugebiet. Sie verlangsamte ihren Schritt. Vor einem Doppelhaus stieg ein Mann im Anzug in seinen SUV, während er telefonierte. Er starrte sie an, und jetzt erst wurde Eva bewusst, dass sie laut gesungen hatte.
Egal.
Sie grinste. Nickte dem Mann zu und bog in die Hauptstraße, dann in eine Nebenstraße und in noch eine, ein Umweg, aber sie wollte nicht an Matthias’ Laden vorbei. Der Morgen gehörte ihr, und dass sie ihren Mann jetzt nicht sehen wollte, das hatte nichts, gar nichts mit der letzten Nacht zu tun, und wenn doch, dann nur ein bisschen.
Keiner begegnete ihr, alle hatten schon die Rollläden heruntergelassen, sich verrammelt gegen die Hitze, als wäre sie ein Feind. Nur ein alter Mann im gerippten Unterhemd und Hosenträgern saß auf den Stufen seines Häuschens, eine Emailletasse schwankte in seinen Händen. Sie hob die Hand zum Gruß, und er zeigte ein fast zahnloses Lächeln.
Vor der Bäckerei schaltete sie die Musik aus. Sie kaufte zwei Müslistangen, und während die Verkäuferin mit dem Papier raschelte, fiel ihr Blick auf die Schokoladentafeln, die in einem Regal neben der Theke aufgereiht waren.
„Noch eine Nussnugat“, sagte sie, bezahlte, ließ sich eine Tüte und das Kompliment aufdrängen, wenn jemand sich Croissants und Schokolade erlauben könne, dann wohl Eva.
Draußen sah sie die Lauer, vermutlich auf dem Weg zu Matthias, um ihre dämlichen Geburtstagskarten auszusuchen. Es gab niemanden, der so oft etwas bei ihm kaufte wie sie, und Eva war klar, dass das nicht an dem immens hohen Bedarf der Lauer an Schreibwaren lag. Matthias lachte nur, wenn sie ihn darauf hinwies, dass die Lauer offenkundig auf ihn stand.
Sie bog in die nächste Straße, arbeitete sich durch das Labyrinth kleiner Gassen, bis sie ihr Haus erblickte.
Sie setzte an zum Endspurt. Oben auf dem Hügel war sie schweißgebadet. Sie zog die Stöpsel aus den Ohren und schloss die Tür auf.
Drinnen schrillte das Telefon. Eva hastete hinein, fand es auf dem Küchentisch und meldete sich.
„Wo warst du?“, fragte Matthias.
„Laufen.“
„Frau Lauer meinte, sie hätte dich im Dorf gesehen.“
„Da muss sie sich irren“, log Eva.
In ihr drin verhärtete sich etwas, gewann ein Gewicht, von dem sie dachte, es in der letzten halben Stunde verloren zu haben.
Matthias lachte. „Sie sieht halt viel und redet gerne.“
Vor allem mit dir, dachte sie. Ob Frau Lauers Heinz eigentlich davon wusste?
Eva ließ sich auf den Küchenstuhl sinken.
„Alles klar? Du sagst ja gar nichts.“
„Ich bin kaputt und brauche eine Dusche.“ Wie kratzbürstig sie klang.
„Verstehe.“ Er räusperte sich, sie wusste nicht, ob aus Verärgerung oder weil er sie nicht aufhalten wollte.
Vielleicht war es eine Mischung aus beidem.
„Ich komme nicht zum Mittagessen heim, ich will noch ein bisschen Buchhaltung machen. Könntest du mir aus der Stadt eine Pizza oder so mitbringen?“ Er machte eine Pause. „Nachdem du bei deinem Vater warst?“
Eva verrollte die Augen. Was sollte dieser Nachsatz?
„Ja. Mache ich. Nachdem ich bei meinem Vater war.“
„Super.“
„Ja.“ Leg endlich auf, dachte sie.
„Dann bis später.“
„Ciao.“
Jetzt Kaffee und Zucker, beschloss sie. Aber als sie die Tüte auspackte und ihr Blick auf Müslistangen und Schokolade fiel, verging ihr der Appetit. Sie würde die Tafel ihrem Vater mitbringen. Vielleicht würde er sich dann ausnahmsweise über ihren Besuch freuen.

4

„Setzen Sie sich doch“, flötete Frau Schmidt.
Wo sie nur diese Fröhlichkeit hernahm. Aber vermutlich war die genau so falsch wie die Zähne der meisten Patienten hier.
Nein, es hieß ja Bewohner. Darauf hinzuweisen, wurde Frau Schmidt nie müde, Bewohner hatte einen Ehrenplatz in ihrem Wortschatz.
Frau Schmidt schaute sie auffordernd an. Ihr rosiger Teint passte nicht zu dem hageren Gesicht. Sie hatte fast immer Dienst, wenn Eva ihren Vater besuchte, schob sich jedes Mal hinter ihr ins Zimmer, sprudelte ein paar Belanglosigkeiten heraus, die niemand hören wollte, und verließ den Raum erst, wenn sie sich ihrem Vater gegenüber gesetzt hatte.
Eva unterdrückte ein Seufzen und ließ sich auf dem Holzstuhl nieder, damit sie diese Frau endlich los wurde. Frau Schmidts Augen leuchteten kurz auf, als hätte sie Großes bewegt.
„Dann lass ich Sie mal allein.“
Mit vorgereckter Brust, an der sie ihr Namensschild trug, als wäre es das Bundesverdienstkreuz, verließ sie das Zimmer.
Die Tür klickte ins Schloss, und es wurde still. Als hätten sämtlich Geräusche die Gelegenheit genutzt, mit Frau Schmidt hinauszuschlüpfen. Eva schlug vorsichtig die Beine übereinander. Sie wusste nie, wie sie sich hinsetzen sollte auf diesen Stuhl. Die Sitzfläche war sehr schmal, Leute mit dicken Hintern mussten Mühe haben, ihn darauf unterzubringen, ohne dass er über beide Seiten quoll.
Sie legte die Hände auf die uringelbe Tischplatte und verschränkte die Finger. Ihr rechter Daumennagel war eingerissen. Mit dem Zeigefinger fuhr sie darüber.
Was sollte die Zeitschinderei.
Sie sah auf, direkt in die verschwommen blauen Augen ihres Vaters. Wie zwei zugefrorene Seen, mit einer dünnen Wasserschicht auf der Eisfläche. Er betrachtete ihre Finger. Seine Mundwinkel hingen herunter, die schrumplige Haut über den Wangenknochen erinnerte an geronnene Milch. Irgendjemand hatte sich die Zeit genommen, ihm ein sauberes Hemd anzuziehen, das struppige Haar zu waschen und zu kämmen, vielleicht Frau Schmidt, aber Eva empfand keine Dankbarkeit. Genau genommen empfand sie überhaupt nichts. Außer dem Wunsch, der Pflichtbesuch wäre schon vorbei.
„Na? Wie geht’s dir heute?“
Grässlich. Sie klang wie Frau Schmidt. Aber was sollte sie jemanden fragen, der zwar neunzehn Jahre im gleichen Haus gewohnt hatte, über den sie jedoch kaum mehr wusste als über den Briefträger.
Wie erwartet gab ihr Vater keine Antwort.
Ihr Po begann zu schmerzen, die vorderen Kanten der Sitzfläche drückten sich in die Unterseite ihrer Oberschenkel. Sie verlagerte das Gewicht, zog das rechte Bein vom linken Knie und rutschte so weit nach hinten, wie es der Stuhl zuließ. Die schmale Lehne begrü.te ihre Wirbelsäule mit der gewohnten Härte.
„Ich hab dir was mitgebracht.“
Sie fischte die Schokoladentafel aus ihrer Handtasche und schob sie auf die andere Seite des Tisches. Vaters Blick folgte misstrauisch ihrer Hand und verharrte auf der Tafel. Er kniff die Augen zusammen, als bemühte er sich, die weiße Aufschrift auf dem rosa Grund zu entziffern.
„Nussnugat. Deine Lieblingssorte.“
Und ihre auch. Der kleinste gemeinsame Nenner ihrer Vater-Tochter-Beziehung.
Sie blickte zum Fenster. Mochte das Wetter noch so schön sein, die Luft draußen frisch und klar, es war verriegelt. Sperrte die ranzige Raumluft ein, gegen die der Geruch nach Desinfektionsmitteln vergeblich ankämpfte. Draußen rotteten sich dunkle Wolken zu einer schwarzen Wand zusammen. Der blaue Himmel am Morgen hatte sein Versprechen nicht gehalten.
Wie lange saß sie schon hier? Sie schaute auf die Uhr.
Erst elf Minuten.
Diese kahlen Wände, schlohweiß, ohne Foto, Kunstdruck oder Poster. Ihr Vater duldete nichts davon. Nur ein Tisch und zwei Stühle, das Bett. Früher hatte sie Blumen aus dem Garten mitgebracht, um für ein bisschen Farbe zu sorgen, und sie in eine leuchtend rote Vase gestellt. Frau Schmidt hatte ihr jedoch beim dritten Mal gesagt, sie möge dies doch bitte lassen. Ihr Vater habe es nicht so mit Blumen. Was hieß, dass er die Vase jedes Mal mit Absicht umgestoßen hatte. „Das hat mit ihnen persönlich gar nichts zu tun“, hatte Frau Schmidt versichert, sich aber rasch abgewandt.
Wie gut, dass Eva das Heim wenigstens nicht bezahlen musste.
Ihre Mutter hatte alles geregelt. Sie sah sie vor sich, die handbeschriebenen Seiten, auf denen ihre Mutter alles aufgelistet hatte, die Versicherungen und Konten, und sie war erstaunt gewesen, über wie viel Geld ihre Eltern verfügt hatten. Oder besser gesagt, hätten verfügen können, wenn sie gewollt hätten. Aber bis auf drei Urlaube im Schwarzwald hatten sie sich nichts gegönnt. Als hätten sie darauf hingelebt, sich irgendwann einen Platz in diesem Heim erkaufen zu können. Erst sechs Wochen vor ihrem Tod, als hätte sie gewusst, dass ihre Zeit abgelaufen war, hatte ihre Mutter sie aufgeklärt, welches Vermögen sie und ihr Vater besaßen. Sie hatte verkündet, dass sie Eva das Haus – das sie selbst von ihren Eltern geerbt hatte – überschreiben wolle und Eva es nach ihrem Tod verkaufen möge, das Geld dürfe sie als Vorschuss auf ihr Erbe betrachten. Für ihren Vater sei gesorgt, der Verkauf der Eigentumswohnung würde die Kosten des Heimes langfristig decken. Außerdem wolle sie nach ihrem Tod verbrannt und ihre Asche solle in die Nordsee gestreut werden – damit Eva sich nicht um ein Grab kümmern müsse – und bei ihrem Vater solle alles genau so gehandhabt werden.
Eva hatte ihre Mutter ungläubig angeblickt. Sie hatte keine Ahnung gehabt, dass ihre Eltern eine Eigentumswohnung besessen hatten. Wie immer hatten sie sie von den wichtigen Dingen ausgeklammert, als ginge sie das nichts an. Und dann die Seebestattung: Ihr ganzes Leben lang hatten ihre Eltern keinen Strand gesehen, hatten Eva den Wunsch, wie alle anderen Klassenkameraden nach Spanien oder wenigstens an die Küste Deutschlands zu fahren, nie erfüllt. Und jetzt suchten sie sich das Meer als letzte Ruhestätte aus.
Natürlich waren die Pläne ihrer Mutter, vor allem ihre Voraussicht, vernünftig und bewundernswert – im Wissen um den eigenen baldigen Tod und den rapide fortschreitenden geistigen Verfall ihres Mannes so strukturiert und besonnen zu handeln.
Aber für Eva hatte dieses Regeln den Beigeschmack von Verrat. Sie hatten im elterlichen Wohnzimmer gesessen, und in Eva hatten Wut und Trauer miteinander gekämpft. Sie hatte auf die alberne Kuckucksuhr gestarrt, die ihre Mutter früher täglich abgestaubt hatte, und die Lippen zusammengepresst.
Warum hätte sie ihrer Mutter Vorwürfe machen sollen, am Ende ihres Lebens verhielt sie sich so, wie sie sich immer verhalten hatte, und stellte ihre Tochter vor vollendete Tatsachen, ebenso, wie ihr Vater es immer getan hatte.
Als Kind hatte Eva manchmal das Gefühl gehabt, ihre Eltern seien nicht Eheleute, sondern Zwillinge. Sie waren sich so ähnlich und schienen immer einer Meinung zu sein. Sie konnten stundenlang reden, ohne ein Wort an Eva zu richten, und wenn sie etwas sagte, schauten sie sie manchmal erstaunt an, als wäre ihnen gerade erst aufgefallen, dass sie eine Tochter hatten. Sie waren beide fast vierzig gewesen, als Eva geboren wurde, sie wusste nicht, ob sie lange ersehnt gewesen oder in Kauf genommen war: ein Störenfried, der nichts dafür konnte und dem man wohl oder übel hin und wieder Aufmerksamkeit schenken musste.
Wie gut es Matthias hingegen gehabt hatte. Zwar hatte er seine Eltern früh verloren, aber es waren herzliche Menschen gewesen, die ihrem Sohn ein liebevolles Zuhause geboten hatten. Eva hatte Matthias’ Vater nicht mehr kennen gelernt, aber seine Mutter hatte sie als ihre Tochter bezeichnet.

Ihr Rücken begann zu schmerzen. Dieser verdammte Stuhl. Sie rückte einen Zentimeter nach vorne, der Druck ließ nach, dafür schnitt ihr die Kante der Sitzfläche in die Haut.
Einmal hatte sie ein Kissen mitgenommen. Frau Schmidt hatte sie entsetzt angesehen. „Was wollen Sie denn damit?“ „Darauf sitzen“, hatte Eva geantwortet. „Was glauben Sie denn?“
Frau Schmidt war rot angelaufen und murmelte irgendetwas von
„Vorsichtsmaßnahme“ und ihr standardmäßiges „nicht persönlich“. Als Eva Matthias später beim Abendessen davon erzählte, lachte er und meinte: „Vielleicht hat sie gedacht, du wolltest deinen Vater ersticken“, und ihr blieb der Bissen im Hals stecken.
Daraufhin hatte sie sich bei der Heimleitung beschwert. Die Direktorin rutschte auf ihrem Stuhl herum, obwohl der gepolstert war und ergonomisch geformt. Frau Schmidt sei „speziell“, aber immer „besorgt um die Bewohner“ und „unersetzlich“.

Neunzehn Minuten. Immerhin. Eva schaute zu ihrem Vater, der sich nicht gerührt hatte. Wie hielt er das aus, die ganze Zeit auf diesem Stuhl zu verharren?
Plötzlich bewegte er den rechten Arm, dann den linken. Sein Blick klarte auf, als hätte er jetzt erst begriffen, was da vor ihm auf dem Tisch lag. Seine Finger, lang und gekrümmt, tasteten sich an die Schokoladentafel heran. Es sah aus, als starteten zwei Spinnen einen Angriff.
Seine Mundwinkel zuckten. Er grub die Fingernägel in das Papier. Zog daran, zerrte, zeriss. Aus seinem Mundwinkel tropfte Speichel. Eva schluckte aufsteigende Übelkeit hinunter.
„Soll ich dir helfen“, murmelte sie, aber er ignorierte sie.
Seine Finger bohrten sich in die Tafel, silberne und rosafarbene Papierstreifen flatterten über den Tisch. Er keuchte vor Anstrengung. Jetzt lag die Schokolade frei. Er umklammerte sie, hob sie an den Mund und biss hinein. Kaute mit offenem Mund. Seine Zähne färbten sich braun, Spucke tropfte herunter, kleckste auf das saubere Hemd.
Eva legte beide Hände auf die Ränder der Sitzfläche, schloss die Finger um das Holz, an dieser Stelle rissig wie ihr Daumennagel. Ein Splitter stach in ihre Haut.
Plötzlich erstarrte ihr Vater. In Zeitlupentempo streckte er den Arm aus, stierte auf die angebissene Schokolade, öffnete die Lippen. Ein Laut entfuhr seinem Mund, erst leise, bis er Fahrt aufnahm, an Höhe gewann, in einem schrillen Schrei gipfelte. Er schleuderte die Tafel von sich, sein Brüllen kondensierte zu einem Wort.
„Gift“, schrie er, „Gift“.
Eva sprang auf. Der Stuhl schrappte über das Laminat, kippte und knallte auf den Boden.
„Sei still“, rief sie. „Verdammt, das ist nur Schokolade.“
Sie eilte um den Tisch herum, fasste ihn an der Schulter. Er schrie und schlug nach ihr.
Die Tür wurde aufgerissen. Frau Schmidt stürmte herein, das Gesicht noch stärker gerötet als sonst. Besitzergreifend legte sie den Arm um Evas Vater, und er ließ es geschehen.
„Was haben Sie gemacht?“ Frau Schmidts Unterlippe zitterte drohend.
„Ich habe ihm Schokolade mitgebracht. Seine Lieblingssorte.“
Eva hob die angebissene Tafel auf und feuerte sie auf den Tisch.
Frau Schmidts Augen verengten sich. „Aber das ist eine andere Marke. Sie wissen, wie wichtig Gewohnheiten und Rituale für ihren Vater sind.“
„Und Sie gehen mir auf die Nerven.“
Der Satz war heraus, bevor sie nachgedacht hatte.
Frau Schmidt riss die Augen auf.
„Sie mögen Ihre Arbeit wunderbar machen, kein bisschen unter Zeitnot leiden und meinen Vater besonders ins Herz geschlossen haben. Schön.“ Eva trat einen Schritt nach vorne. „Aber hören Sie auf, mich wie eine Idiotin zu behandeln.“
Frau Schmidt schnappte nach Luft, aber sie schwieg. Evas Vater war ganz still. Reglos hing er in den Armen der Pflegerin.
Eva holte ihre Tasche und wandte sich zum Gehen. Bevor sie die Tür hinter sich zuzog, erhaschte sie noch seinen Blick. Er grinste verschlagen.
Sie knallte die Tür hinter sich zu.
Draußen holte sie tief Luft. Ihre Wut fiel in sich zusammen.
Leichter hatte sie es sich mit diesem Ausbruch nicht gemacht.
Ein Feuerwehrauto näherte sich mit Geheul, brauste an ihr vorbei. Warum konnte das Altersheim nicht abfackeln, dachte sie und schämte sich sofort.
Sie würde auch nächste Woche wieder hierherkommen, durch die langen Flure laufen bis zu Zimmer A19 und eine Stunde auf dem harten Holzstuhl absitzen, während ihr Vater die weißen Wände oder seine Finger oder was auch immer betrachtete, es kam selten vor, dass er mit ihr sprach. Sie war seine Tochter, und Töchter machten das. Brave Töchter sowieso.
Wieso ließen sie sich nicht übermalen, diese Muster, nach denen man sich verhielt, wieso fühlte man sich schlecht bei dem Wunsch, sie zu verändern. Sie war ihren Eltern gegenüber nie laut geworden. Aber manchmal hatte es in ihr gebrodelt, als Zwölfjährige, wenn ihre Mutter ihr noch immer das Haar zu Zöpfen flocht und sie sich furchtbar dafür schämte, als Vierzehnjährige, wenn ihr Vater ihr verbot, eine Geburtstagsfeier zu besuchen, die länger als zwanzig Uhr dauern würde, und manchmal, auf dem Schulweg, wenn niemand in der Nähe gewesen war, dann brüllte sie so laut sie konnte oder verzog sich in ihr Zimmer und hörte auf ihrem Walkman Fear of the dark von Iron Maiden, so laut bis knapp unter der Schmerzgrenze.
Gut, sie hatte gelernt, Widerworte zu geben.
Aber mehr auch nicht.
Die Uhr der nahe gelegenen Kirche schlug zweimal. Halb sechs.
Sie könnte den früheren Bus erwischen, wenn sie sich beeilte.
Der Wind stieß ihr in den Rücken und schob sie vorwärts. Sie ging die Straße hinab in die entgegengesetzte Richtung zur Bushaltestelle. Spülwassergraues Licht versickerte zwischen den Dächern. Eva bog in eine Seitenstraße und von der in eine Gasse, in der sie noch nie gewesen war. Mit jedem Schritt, den sie sich vom Altersheim entfernte, fühlte sie sich besser.
Die Gasse war so schmal, dass kaum ein Auto durchpasste. Gleich aussehende Häuschen reihten sich aneinander. Steingraue Fassaden, braune Türen, schmucklose Fensterbänke. Siamesische Mehrlinge. Nur eines trotzte dem Einheitsbild.
In die Vorderfront war ein Schaufenster eingelassen.
„Schallplatten und CD’s“, stand auf der Scheibe, darunter hingen Tourplakate diverser Metalbands.
Genau das, was sie jetzt brauchte.
Ein auf schwarzem Samt drapierter Totenkopf in der Auslage grinste sie an. Eva grinste zurück und drückte die Tür auf.

5

Sie hatte Zigarettendunst erwartet, gemischt mit dem Geruch nach Staub und einem herben Aftershave. Aber auf der niedrigen Verkaufstheke verglimmte ein Räucherstäbchen neben einer altmodischen Ladenkasse und verströmte zitrusartiges Aroma.
Daneben stand ein knallorangefarbenes Telefon. Mit Wählscheibe!
Der Raum glich einem überdimensionierten Wohnzimmer. An einer Schmalseite machte sich ein Sofa mit zerschlissenem moosfarbenen Cordbezug breit, daneben baute sich ein Ständer mit Musikzeitschriften auf. Tourplakate und Bandposter hingen an den Wänden. Außerdem gab es mehrere Regale, vollgestopft mit Büchern und DVDs sowie Kisten mit Schallplatten und CDs.
Sie griff wahllos hinein. Iron Maiden, Guns `n Roses, Queen.
Von irgendwoher ertönte Musik. Metallica.
Sie lächelte. Als hätte jemand ein Zimmer für sie eingerichtet, in der ihre Jungendzeit wieder auferstand.
„Bin gleich da“, rief eine männliche Stimme.
Sie kam aus einem Raum hinter der Theke, der durch einen roten Samtvorhang abgetrennt war. Kurz darauf erschien ein hochgewachsener, kräftiger Mann, Eva schätzte ihn auf Mitte vierzig. Er hatte das braune Haar zu einem Zopf gebunden. Aus dunklen, von buschigen Brauen überdachten Augen blickte er sie mit einer Mischung aus Neugier und Freundlichkeit an.
„Hi“, grüßte er. „Kann ich helfen?“
Er kam mit schweren Schritten hinter der Theke hervor, trotz der Hitze trug er Stiefel. Dazu eine abgewetzte helle Jeans und ein schwarzes T-Shirt.
„Berufskleidung“, kommentierte er ihren Blick. „Wenn ich hier im Anzug stehen würde, nähme mich doch keiner ernst.“
„Wohl kaum“, nickte Eva.
Er schaute an sich herab. „Könnte schlimmer sein, oder?“
„Allerdings. Leopardenleggings zum Beispiel.“
Sie lachten beide, und die Erinnerung an den hässlichen Vorfall mit ihrem Vater schrumpfte zu einem kleinen Punkt, der sich in ihrem Gedächtnis verlor.
„Aber ehrlich gesagt trage ich sowieso keine Anzüge. Es sei denn, zu einer Hochzeit oder einer Beerdigung.“ Er lächelte.
„Suchst du was Bestimmtes?“
Sie schüttelte den Kopf. „Ich bin zufällig vorbeigekommen und war neugierig“, gab sie zu.
„Okay“, meinte er. „Kommt leider nicht allzu häufig vor, dass sich jemand in das Gässchen hier verirrt, es sei denn, jemand hat mich empfohlen.“
„Das kann ich ja ab sofort tun.“
„Nur zu. Ich bin übrigens Kai.“
„Eva.“
Er streckte ihr die Hand hin. Seine Haut fühlte sich rau und kühl an. Für einen Moment war sie befangen.
„Machst du eigentlich auch Musik?“, fragte sie schnell, damit es nicht auffiel.
Er winkte ab. „Ich hab als Sechzehnjähriger mal mit E-Gitarre angefangen.“
„Und?“
„Naja, mein Gitarrenlehrer meinte, ich sollte es vielleicht besser mit Blockflöte probieren.“
Sie musste lachen.
„Und du? Irgendwie musikalisch unterwegs? Als Frontfrau einer Frauen-Rockband oder so?“
„Nein. Dort könnte ich höchstens als Triangel-Spielerin mitmachen.“
Ihr Handy klingelte. Einmal, zweimal.
Sie holte es hervor, schaute auf das Display, von dem ihr der Name ihres Mannes entgegen blinkte. Nicht jetzt. Sie drückte seinen Anruf weg.
„Die machen uns alle zu Sklaven“, meinte Kai.
Darauf wollte sie lieber nicht eingehen. „Ist ein toller Laden“, sagte sie stattdessen.
„Naja.“ Er seufzte. „Eher ein Hobby.“
„Hobby?“
„Seit ich vierzehn bin, steh ich auf Rock und Metal, querbeet, alte und neue Sachen. Das hier ist so was wie mein Wohnzimmer, und hin und wieder kommt jemand zu Besuch.“ Er lächelte.
„Ich könnte den Raum sogar noch größer machen.“
Kai deutete auf die Wand, die sich gegenüber des Sofas befand und in die eine schmale Tür eingelassen war.
„Die ist nur eingezogen. Dahinter stapeln sich noch jede Menge DVDs und anderer Kram. Ich komm einfach nicht nach. Aber was quatsch ich dich voll … Magst du einen Kaffee oder so?“
„Danke nein.“
Sie zögerte, unsicher, ob ihre nächste Frage nicht zu persönlich war – sie kannte den Mann ja überhaupt nicht -, aber dann dachte sie, dass sie sie eigentlich genau aus diesem Grund stellen konnte.
„Aber mit dem Hobby verdienst du genug …“
Er winkte ab. „Ich bin in der glücklichen Lage, dieses prächtige Anwesen mein Eigen zu nennen. Fast zumindest. Gehörte meinen Großeltern, aber meine Eltern haben es mir überlassen. Gegen eine Minimiete. Deswegen bin ich mit dem kleinen Zeh in der Gewinnzone.“
Er machte eine Pause, als wäre er nicht sicher, ob er den Satz aussprechen sollte, der bereits auf seiner Zunge wartete.
„Eigentlich bin ich Grundschullehrer.“
„Was?“ Sie prustete los. „Entschuldigung.“
„Doch wirklich. Im Laden bin ich deswegen nur am Dienstagnachmittag und an Samstagen.“
„Gut zu wissen. Danke für die Info.“
„Gerne. Die ganze Zeit habe ich schon überlegt, wie ich das so dezent wie möglich verpacke.“
Sie schmunzelte.
Hinter ihr öffnete sich die Tür. Sie drehte sich um, ein Pärchen um die fünfzig trat ein, grüßte Kai freundschaftlich.
„Ich muss jetzt gehen“, behauptete sie.
Kai schnitt eine Grimasse, die so viel bedeuten mochte wie: Da kann man nichts machen.
„Moment noch …“ Er drückte ihr einen dünnen Stapel knallrotes Papier Postkartenformat in die Hand. „Vielleicht kannst du die weitergeben.“
Eva betrachtete die selbst gedruckten Flyer mit aufgedrucktem Totenkopf und Kais Adresse.
„Mach ich gerne.“
„Danke.“
„Ja dann.“
„Man sieht sich?“
„Bestimmt“, antwortete sie und verließ den Laden.

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