Leseprobe: Manuel Zerwas – “Der Bücherflüsterer”

Kapitel 2: Unter Günter Grass’ Rockzipfeln

[…]
Es konnte aber auch durchaus der Fall sein, dass ich mehrere Anläufe brauchte, bis eine erstrebte Szene erfüllende Umsetzung fand. Weil meine Bekanntschaft sich nicht auf meinen Wunsch einlassen wollte. Weil ich mit der Umsetzung nicht zufrieden war. Weil etwas schief gelaufen ist. Ich muss sagen, es ist oft etwas schief gelaufen. Die Szenen waren nicht selten etwas speziell. Nicht schlimm, nicht anstößig. Nicht unsittlich. Speziell. Nicht jede Frau wollte mitmachen. Oder selbst wenn, selbst wenn meine Partnerin zusagte, konnte trotzdem etwas schiefgehen. Die Möglichkeiten, dass es nicht so lief, wie ich mir die Szene vorstellte, waren groß. Viele Wege führen nach Rom, aber nur ein Weg führt zur erfüllten Vorstellung der zu erfickenden Passage.

Ich erinnere mich an eine Nacht, in die ich mit freudiger Erwartung eingetaucht war und dabei doch auch auf dem Glatteis der Unsicherheit schlidderte, mit wild rudernden Armen wie ein kleiner Junge, der das erste mal Schlittschuhe trägt. Denn die von mir angedachte Szene ließ viel Raum für Interpretationen. Wahrscheinlich reizte mich genau das daran, sie nachzustellen. Ich musste sie einfach ausprobieren, meine Phantasie war entfesselt, ich musste der Szene meinen eigenen Stempel aufdrücken, sie auf meine Art zum Leben erwecken, sie auf meine Art erficken. Die Szene des Buches ist so absurd, so schleierhaft und auf eigenwillige Weise doch so deutlich, dass ich sie unbedingt testen musste. Literaturprofessoren, Kritiker und Hobbyinterpreten erfreuen sich und verdammen und verzweifeln wahrscheinlich seit Jahrzehnten an dieser Szene, eine Szene, so skurril, so unmöglich und doch so aufregend. Immerhin handelt es sich um die Worte des vielfach kritisierten und vielfach gelobten, genialen und schlussendlich belohnten Günter Grass.
Viele seiner Werke sind nicht gerade unspannend hinsichtlich meiner Passion gestaltet, aber natürlich geht es um Die Blechtrommel. Und nein, es geht nicht um die ebenfalls spannende und beschämend anregende Szene mit der Spucke und dem Brausepulver. Es geht um eine Szene gleich zu Beginn des Romans. Der kleinwüchsige Schreihals und Meistertrommler Oskar Matzerath ist dabei noch gar nicht von Bedeutung. Vielmehr geht es um die Zeugung seiner Mutter Agnes. Legendenumwoben. Rätselhaft. Kurios. Unmöglich vielleicht. Und genau das zu testen, ob es möglich war, was Grass dem Leser da zu verkaufen anmaßt, darin sah ich meine Aufgabe. Den Akt an sich natürlich, ohne Zeugung eines Kindes! Um Himmels Willen!

Mehrere Anläufe waren notwendig, bis ich eine Frau gefunden hatte, die bereit war, die Szene mit mir nachzustellen. Auch diese Szene hatte nichts Skandalöses. Aber auch sie war speziell. Nicht üblich. Und nicht gerade einfach. Was ich bereits ahnte und was ich schließlich auch am eigenen Leib herausfinden sollte.
Die erste kurzweilige Bekanntschaft, der gegenüber ich mein Vorhaben äußerte, lachte zwar, lachte wirklich lauthals, ich glaube, sie lachte mich regelrecht aus, aber sie wollte es nicht ausprobieren.
Ich ziehe doch keine vier Röcke zum Vögeln an, lachte sie mir ins Gesicht. Was das denn solle. Was ich denn für einer sei. Erst ziehe ich sie aus und dann wolle ich sie wieder in vier Röcke stecken. Was für eine Idee. Entweder ich käme jetzt sofort zu ihr ins Bett und vögle sie auf anständige Weise, nämlich vollständig nackt, oder ich könne wieder gehen.
Ich war ein wenig enttäuscht. Aber der Versuchung einer schönen Frau konnte dann doch nicht widerstehen. Ich schlief trotzdem mit ihr.
Die zweite Dame, der ich mein Anliegen unterbreitete, konnte darüber ganz und gar nicht lachen. Sie nannte mich pervers und einen Freak, was mich wiederum wirklich ärgerte und wütend machte. Sie wollte nicht mitmachen, in Ordnung, natürlich war das in Ordnung. Schade, aber okay. Aber sie musste die Sache nicht mit dieser völlig ungerechtfertigten Vokabel pervers belegen. Ich hatte es ihr erklärt, ganz ruhig, auch überzeugend, meiner Meinung nach, ich zwang sie zu nichts, ich erklärte es ihr nur, aber sie wollte gar nicht auf mich hören. Während wir uns wieder anzogen, stritten wir miteinander, ich glaube, es flogen noch Beschimpfungen wie Wichser, Spießerin und kranker Rockfetischist durch ihr Schlafzimmer, ehe ich ihre Wohnung verließ, nicht ohne meinem Ärger mit einem lauten Zuschlagen der Tür Luft zu machen und dann auch noch, unten vor der Haustür, einen gefalteten Zettel in ihre Klingel zu stecken, so dass die Klingel ununterbrochen plärrte. Anschließend hastete ich davon, versteckte mich hinter einem Busch und kicherte leise in mich hinein, als sie genervt und schnaubend nach draußen kam, um ihre Klingel zu befreien. Du siehst also, ich habe meine kindliche Seite nie ganz verloren, auch nicht mit dreiunddreißig Jahren und ich bin stolz darauf. Das ist eine meiner Eigenschaften, die dir, ich weiß nicht wie, schnell an mir aufgefallen ist, als wir uns kennengelernt haben. Das hast du mir gesagt. Und das hat mich gefreut und dich auch.

Der dritte Anlauf sollte erfolgreich sein. Mehr oder weniger. Ich kannte Isabel flüchtig über einen Bekannten. Bei den wenigen Gelegenheiten, bei denen wir bisher aufeinander getroffen waren, hatten wir ein wenig geflirtet, mehr war dabei aber noch nicht herausgekommen. Auf einer Geburtstagsparty traf ich sie überraschend wieder. Diesmal unterhielten wir uns länger, wir tranken zusammen, lachten, ließen individuelle Erinnerungen miteinander verschmelzen, wir wurden etwas betrunkener, wir machten keinen Hehl aus dem gegenseitigen Interesse. Zudem war sie ebenfalls eine begeisterte Leserin. Jackpot.

Ich glaube, behaupten zu dürfen, dass ich ein reflektierender Mensch bin. Ich hinterfrage und ich bin realistisch: Ich sehe ganz gut aus. Ich bin kein Brad Pitt, auch kein Johnny Depp und natürlich ist das alles letztendlich sowieso sehr subjektiv und vom individuellen Geschmack abhängig. Aber mit meinem Aussehen bin ich ganz zufrieden und das ist viel wert. Ich weiß nicht, wie du das siehst oder gesehen hast, aber mit meiner angenehmen Durchschnittsgröße von einem Meter und neunundsiebzig, meinem leicht gelockten, braunen Haar, meinen einigermaßen markanten Wangen, über denen ich oft einen gepflegten Dreitagebart stehen lasse, kann ich doch ganz gut leben. Meine Figur ist auch in Ordnung. Ein großer Sportler bin ich nach wie vor nicht, das hat sich seit der Schulzeit nicht geändert. Ich versuche mindestens einmal die Woche schwimmen zu gehen, gehe tatsächlich alle drei Wochen und ansonsten ernähre ich mich halbwegs bewusst, gehe viel zu Fuß und nehme oft das Rad, anstatt das Auto. Das reicht nicht ganz, um einen sehenswerten Waschbrettbauch mein Eigen zu nennen, aber es reicht, um unerwünschten Kilogramm halbwegs entgegenzuwirken.
Mit meinem Äußeren bin ich bei den Frauen im Grunde relativ erfolgreich. Die Frauen fallen mir nicht reihenweise zu Füßen, sie drehen sich auch nicht auf der Straße nach mir um. Aber im Großen und Ganzen darf ich mich eine recht angenehme Erscheinung schimpfen. Hinderlich ist mir mein Erscheinungsbild zumindest in der Regel nicht.
Es steht auch außer Frage, dass sich nicht alle Frauen von meinem, so vermessen will ich sein, immensen literarischen Horizont, beeindrucken lassen. Aber ich bin zudem recht eloquent und kann mich belesen und intellektuell präsentieren. Ich weiß mich also auszudrücken. Und diese meine Vorzüge weiß ich dementsprechend einzusetzen.
Bei Isabel fielen meine literarischen Kenntnisse auf sehr fruchtbaren Boden. Meine Sprachgewandtheit war der Dünger, mein Aussehen Sonnenschein und Wasser. Mein als Frage getarnter Vorschlag, ob es nicht aufregend wäre, einmal zu versuchen, eine literarische Sexszene nachzustellen, konnte auf diesem Boden erfolgreich Wurzeln schlagen und keimen. Ich will nicht bestreiten, dass auch 150 der nahezu perfekt abgestimmte Alkoholpegel ein wenig förderlich war. Bei Isabel konnte ich wagen, meinen Vorschlag recht offen im Voraus zu äußern.

Ihre Lippen umspielte ein verführerisches Lächeln, ihr Augenaufschlag wurde etwas langsamer, ihr Blick intensiver. Ihre Hand, die zuvor schon mehrmals flüchtige Ausflüge über meinen Arm unternommen hatte, blieb diesmal auf meiner Schulter liegen.
„Und du hast wahrscheinlich auch schon eine bestimmte Szene im Sinn, nehme ich an?“
Ihre Pupillen waren wie zwei schwarze Tunnelöffnungen zu einem kleinen Paradies. Ihr glattes schwarzes Haar ein seidener Vorhang. Sie trug ein blaues Cocktailkleid, eine Farbe wie ein Ozean, der zum Eintauchen einlud. Ich sah sie einen Moment an, machte zwei oder drei Momente daraus und ihr Lächeln wurde größer.
„Was hältst du von Günter Grass?“
Sie hielt meinem Blick stand.
„Da fallen mir spontan die Masturbationsszenen aus Katz und Maus ein.“
„Ich weiß leider nicht, wo in der Nähe ein Schiffswrack aus dem Wasser ragt.“
„Außerdem“, sagte sie, „hätte ich da auch nicht allzu viel von.“
„Hast du Die Blechtrommel gelesen?“
Sie nickte. Ich wartete, ob sie selbst darauf käme. Sie sah sich um.
„Glaubst du, auf der Party gibt es Ahoi-Brause und Wodka?“
„Ich habe eher das erste Kapitel im Sinn“, sagte ich.
„Hilf mir auf die Sprünge.“
„Oskar Matzeraths Großmutter erntet Kartoffeln. Der Brandstifter Joseph Koljaiczek flüchtet vor dem Gesetz, stößt auf Anna Bronski, die vier Röcke übereinander trägt und ohne lange nachzudenken, lüftet sie ihre Röcke und der Flüchtende versteckt sich darunter. Anna seufzt mehrmals verdächtig, verdreht die Augen, ruft oder schreit vielleicht mehrmals die Namen von Heiligen. Neun Monate später wird Oskars Mutter Agnes geboren.“
Das Lächeln war nicht von Isabels Lippen verschwunden, wenn sich auch etwas Verwunderung in ihren Blick geschlichen hatte.
„Ich erinnere mich. Nur Andeutungen, nichts Konkretes, hab ich recht? Was unter den Röcken passiert, ist eindeutig uneindeutig.“
Ich nickte. Sie auch.
„Viel Raum für Interpretation.“
Ich nickte wieder. Ihr Blick ließ mich nicht los. Der Funke hatte übergeschlagen, das konnte ich sehen.
„Ich habe mehrere weite Röcke zu Hause. Lange nicht mehr getragen.“
Himmlische Worte. Ich sagte nichts, ich hatte das Gefühl, sie musste den letzten Schritt gehen. Vielleicht hielt ich die Luft an, während ich wartete und bis sie endlich sagte: „Wir könnten ja mal testen, ob sie mir noch passen.“

Ich war ziemlich aufgeregt. Was genau mich erwartete, konnte ich noch nicht sagen. Wie Isabel schon festgestellt hatte, die Sätze des Buches stachen nicht unbedingt durch konkrete Details hervor, ganz im Gegenteil. Das machte es ja auch so spannend. Wie genau ich vorgehen, wie genau das ganze überhaupt funktionieren sollte und konnte, war mir eigentlich noch etwas schleierhaft. Aber ich blickte der Sache optimistisch und erregt entgegen.
Ich verschwendete meine Blicke nicht lange auf die Einrichtung ihrer Wohnung. Es war beinahe wie im Film. Wir küssten uns vor ihrer Wohnungstür, während sie gleichzeitig versuchte, mit dem Schlüssel ins Schloss zu treffen. Wir küssten uns weiter, während wir durch den Flur stolperten, ich glaube, irgendetwas ging dabei sogar zu Bruch, wir ließen unsere Jacken fallen, ohne unsere Münder voneinander zu trennen. Als wir in ihrem Schlafzimmer ankamen, hatten wir beide keine Schuhe mehr an, wir hinterließen eine Brotkrumenspur aus Kleidern, mein Hemd und ihr blaues Kleid waren bereits auf der Strecke geblieben. Ihr BH fiel zu Boden, ich nahm ihre Brüste in beide Hände, sie waren groß, die linke ein wenig kleiner als die rechte und Isabel öffnete fingerfertig meinen Gürtel und entledigte mich meiner Hose.
Dieses Vorspiel kommt in der literarischen Vorlage selbstverständlich nicht vor. Wir erfahren nichts über die Brüste von Oskar Matzeraths Großmutter, die zu diesem Zeitpunkt ja noch keine Großmutter ist, die beiden küssen sich nicht, ziehen sich nicht gegenseitig aus. Aber ein wenig Spielraum war an diesem Abend durchaus angebracht, ohnehin fiel es uns beiden schwer, uns zurückzuhalten. Ehe Isabel auf die Idee kam die Sache mit den Röcken außen vor zu lassen, zog ich mich mit einer nicht geringen Willensanstrengung von ihr zurück.
Wir standen uns gegenüber, schwer atmend, verführerische Blicke, wie auch immer verführerische Blicke aussehen, ich glaube, man kann solche nicht angemessen beschreiben, das ist eine Sache des Moments.
„Lass uns die Szene ausprobieren“, sagte ich dann und kurz hatte es den Anschein, als wollte sie mir widersprechen, sich lieber gleich auf mich stürzen, was mir natürlich auch schmeichelte. Dann ging sie jedoch zu ihrem Kleiderschrank. Sie schob einige Kleiderbügel zur Seite, wühlte in ihren Klamotten und auch auf die Gefahr hin in Klischees zu verfallen, ging ich davon aus, dass ihr Schrank eine Fundgrube immensen Inhalts sein musste. Ich wartete geduldig. Vorfreude und Spannung hielten meine Erregung am Leben, nährten sie wie Blumennektar einen zitternden Schmetterling.
Es dauerte ein paar Minuten, bis Isabel die vier Röcke hervorgeholt hatte. Nach dem dritten fragte sie, ob das nicht genüge, aber es gelang mir, sie zur weiteren Suche zu animieren, indem ich ihr sagte, wir wollten den alten Grass doch nicht enttäuschen, woraufhin sie lachte und wieder in ihrem Schrank abtauchte.
„Soll ich mich wirklich wieder anziehen?“
Ihr Blick war herausfordernd. Ich nickte langsam. Wieder schien sie zu überlegen. Dann zog sie einen Rock nach dem anderen an.
Ein neuer modischer Trend wurde damit sicherlich nicht kreiert, per se bot Isabel im Grunde keinen allzu anregenden Anblick, wie sie da vor mir stand, mit nacktem Oberkörper und vier Röcken übereinander, die ihre Hüfte ziemlich breit wirken ließen, unförmig irgendwie, ihre Kontur sah aus, wie eine nicht ganz realistische Holzschnitzerei. Trotzdem steigerte sich meine Erregung erneut, da ich eine Frau vor mir hatte, die äußerst willig war, diese literarische Szene mit mir zu erficken.
Ich ging zu ihr, küsste sie, führte sie, ließ sie sich auf die Bettkante setzen. Dann tauchte ich ab.

Sie ihrer Unterwäsche zu entledigen war nicht allzu schwer. Meine eigene loszuwerden dafür allerdings umso mehr. Ich hatte nicht gerade viel Platz. Und sehen konnte ich auch nichts. Ich befand mich in einer lichtlosen, stickigen und warmen Höhle, ein verlockender Geruch ging von ihrer Scham aus, vermischt mit dem Geruch der etwas muffigen Röcke, die wohl seit längerer Zeit nicht mehr aus dem Kleiderschrank befreit worden waren.
Ich küsste sie ein wenig auf den Innenseiten ihrer Oberschenkel und streichelte ihre glatten Beine. Dann versuchte ich, meine Boxershorts auszuziehen. Ich trat ihr gegen das Schienbein und sie gab einen kurzen Schmerzenslaut von sich, lachte aber gleich darauf und fragte mich, ob da unten alles in Ordnung wäre.
„Selbstverständlich, alles bestens.“
Mein Rücken protestierte, mit dem Kopf hing ich im Stoff des untersten Rocks. Sie schlug mir ihr Knie gegen die Stirn. Ich zerrte an meiner Unterwäsche.
„Ich kann deinen Fuß sehen“, sagte sie.
Ihre Stimme klang etwas dumpf, immerhin befanden sich vier Lagen Stoff zwischen uns. Beziehungsweise, nur zwischen unseren Gesichtern. Meine Nase streifte ihre Schamhaare. Ich zog meinen Fuß wieder nach innen, machte einen kleinen Hopser, sie konnte sicherlich den Umriss meines Kopfes durch die Röcke sehen, dann war ich endlich mein letztes Kleidungsstück los.
„Bekommst du genügend Luft da unten?“
Nein, dachte ich.
„Klar doch“, sagte ich.
Ich küsste ihre Knie.
„Glaubst du wirklich, das wird was?“
Ich war mich nicht mehr ganz sicher, aber ich küsste weiter ihre Beine und fragte mich, was Oskar Matzeraths Großvater, der ja auch noch kein Großvater war, unter den vier Röcken wirklich getrieben hat. Küssen war kein Problem, aber wie ich letztlich einen Schritt weiter kommen sollte, war mir noch nicht klar. Aber irgendwie muss er es ja geschafft haben. Immerhin hat er ihr im Buch einige tiefe Seufzer entlockt. Dahingehend war von Isabel bisher noch nicht viel zu vernehmen.
„Was treibst du denn da unten?“
Sie klang ein wenig ungeduldig.
Ich sagte nichts, sondern drang mit meinem Gesicht noch tiefer in die Dunkelheit vor, fuhr mit den Händen ihre Kniekehlen entlang, ihre Oberschenkel, ließ meine Zunge über ihren Venushügel wandern. Sie begann zu stöhnen. Zumindest klang es danach, so weit die Schalldämmung der vier Röcke es zuließ. Meine Erregung ließ mich meine Rückenschmerzen und die unbequeme Sitzposition vergessen. Ich achtete sehr darauf, dass kein Teil von mir, egal welcher, unter den Röcken hervorlugte, schließlich befindet sich Joseph Koljaiczek auf der Flucht vor der Polizei und darf sich keinesfalls verraten.
Es wurde immer heißer in meiner kleinen, feuchten Höhle. Ich schwitzte. Mir war, als befände sich in unmittelbarer Nähe ein heißer, Dampf ausstoßender Geysir. Isabel stöhnte mittlerweile lauter und häufiger, ich merkte, wie sie feucht wurde, vielleicht tropfte aber auch Kondensflüssigkeit von meiner Stirn und ihren Röcken. Es war wie in einer Sauna, die stickige und stehende Luft, vermischt mit der Hitze der Erregung, entfachte eine schwüle Glut, einen heißen Brodem, auf lediglich, ich weiß auch nicht, eineinhalb Kubikmeter Raum. Aber auch meine Erregung wuchs, ich war in der Szene, wir waren in der Szene, noch am Anfang quasi, der Ausgang war noch immer etwas ungewiss, aber wir waren drin, in der literarischen Vorlage, wir wandelten auf den richtigen Pfaden und machten sie uns zu eigen. Es wurde Zeit, dass es einen Schritt weiterging.
Ich nahm meine Hand von ihren Schamlippen und streckte sie unter den Röcken ins Freie. Da draußen war es regelrecht kalt.
„Kannst du mir bitte ein Kondom geben?“
Sie stöhnte, kicherte, stöhnte noch einmal, dann schien sie nach etwas zu greifen, ein Präservativ in viereckiger Verpackung landete auf meiner offenen Handfläche. Ich riss die Packung mit einer Hand und Zähnen auf, mit der anderen Hand fuhr ich vorsichtig über ihre Klitoris. In der Dunkelheit konnte ich nicht erkennen, wie rum ich das Gummi aufsetzen musste. Ich hielt es mir dicht vor die Augen, ich sah nichts. Ich hielt es mir noch näher und traf mir damit ins Auge.
Es half nichts, ich brauchte kurz Licht. Die Gefahr war zu groß, das Kondom erst falsch herum aufzuziehen. Dann bräuchte ich ein neues. Ein beflecktes Kondom zu benutzen, so gering die Gefahr vielleicht auch war, kam nicht in Frage. Ich wollte nicht Urheber des Stammbaums eines wirklichen Oskar Matzerath werden.
Ich ließ von Isabels Kitzler ab und kämpfte mich unter den Röcken hervor. Zu meinem Glück erwarteten mich im Schlafzimmer keine Polizisten. Die frische Luft war himmlisch.
Isabel richtete sich auf und sah mich fragend an.
„Ich konnte nicht sehen, wie rum ich das Ding anziehen muss.“
Sie lachte.
Ich holte schnell nach, was mir in der herrlichen Höhle unmöglich gewesen war und wollte erneut in die Tiefen der Röcke vorstoßen. Isabel nahm mein Gesicht in ihre Hände.
„Willst du nicht lieber hier oben bleiben? Es war ja 375 zwischenzeitlich ganz nett, was du da unten gemacht hast, aber so langsam wäre ein wenig mehr ganz schön. Ich weiß nicht so genau, was du da unten noch vorhast.“ Ich hielt inne, hielt die vierfache Stoffdecke über meinem Kopf, kurz davor abzutauchen. So genau wusste ich das ja auch nicht. Aber ich war guten Mutes.
„Ich krieg das schon hin.“
„Sicher?“
„Klar.“
Ich verschwand wieder in der Dunkelheit. Ich versuchte meinen Körper auf dem engen Raum zurechtzurücken.
„Aua!“
Ich trat ihr auf die Füße.
„Entschuldige.“
Ich versuchte mein Becken anzuheben. Die Brückenposition, bei der ich auf Händen und Füßen stand und meinen Penis nach oben zu strecken versuchte, wollte mir nicht gelingen. Ich war zu ungelenkig und der Platz reichte auch nicht aus. Umsetzen. Neue Position. Mein Kopf stieß schmerzhaft gegen ihr linkes Knie.
„Langweilig.“
In ihrer Stimme lag etwas Belustigung, aber leider nicht mehr allzu viel, sie klang eher etwas ungehalten und, vielleicht noch schlimmer, wirklich gelangweilt. Keine guten Voraussetzungen. Ich musste etwas tun.
Ich begab mich in den Schneidersitz und begann erneut, sie oral zu befriedigen. Nach einigen Sekunden schien sie wieder etwas besänftigt. Die Seufzer waren zwar leiser und zaghafter als zuvor, aber ich war wieder im Spiel. Dann ein neuer Versuch. Schnell, ich hatte nicht allzu viel Zeit. Isabel musste bei Laune gehalten werden. Schwerfällig hievte ich mich auf die Knie, reckte meine Hüfte in die Höhe, aber ich kam bei weitem nicht hoch genug. Zwischen unseren Geschlechtsteilen klaffte eine lustlose Lücke von mindestens dreißig Zentimetern Luft. Wie sollte ich unter den Röcken meine Hüfte nach oben bekommen? Umpositionierung. Rücken auf den Boden. Mein Becken robbte näher heran. Ich versuchte mich an einer Art Kerze, aber meine Beine standen zu sehr in der Luft. Meine Hüfte kam zwar höher, ich glaube für eine glücksberauschte Sekunde streifte die Spitze meines Penis ihre Schamhaare. Aber wohin mit meinen Beinen? Meine Füße verhedderten sich in ihren Röcken. Ich rollte mich wieder ab, ein ungesundes Knacken in meinem Nacken. Der erneute Versuch einer Brücke, diesmal aber nur mit einem Arm als Stütze. Schon etwas besser. Ich kam höher. Mein Schwanz streifte kurz ihre Schamlippen, rutsche aber sofort wieder am Ziel vorbei. Noch einmal, ich vollführte so etwas Ähnliches wie einen Stoß nach oben. Schwanz klatschte gegen Oberschenkel, einmal links, einmal rechts. Ich tastete mich weiter vor, aber die Position war anstrengend, unbequem auch, lange würde ich das nicht halten können, ich befürchte, ich stocherte mit meinem Ding auch nur in der Nähe des Ziels herum, ohne tatsächlich allzu viel zu bewirken. Eine überforderte Wünschelrute zitterte zwischen meinen Beinen, die die Richtung zwar kannte, das Gesuchte witterte, aber an der schlussendlichen Durchführung scheiterte. Joseph Koljaiczek wird im Buch als eher klein beschrieben, vielleicht liegt darin sein Vorteil, vielleicht steht er sogar gebückt unter den Röcken oder er war einfach sehr gelenkig.
Mein Arme und meine Beine zitterten, meine Muskeln protestierten, der Geist war willig, überaus willig sogar, williger war ein Geist vielleicht nie gewesen, aber das Fleisch war schwach, ein Teil des Fleisches zumindest, das meiner Muskeln in Armen und Beinen, das Fleisch zwischen meinen Beinen hingegen pochte und pulsierte und bemühte sich ungehemmt weiter. Nachdem mein Penis für eine halbe Sekunde den Weg zwischen Isabels Schamlippen gefunden hatte, danach jedoch erneut auf Zehntelstrecke verloren ging, schien sie die Geduld zu verlieren. Sie erhob sich kurz, lüftete eine wenig ihre Röcke und ließ sich dann regelrecht auf mich fallen. Ich lag jetzt auf dem Rücken, mein Kopf lugte unter den Röcken hervor. Gierig sog ich frische Luft in meine Lungen. Sie setzte sich auf mich, führte mich in sie ein und begann mich wild zu reiten. Aus ihrem Eifer sprach eine zu lang strapazierte Geduld. Auch meine Füße lagen jetzt wieder im Freien, ihre Röcke lagen auf meiner Brust. Isabels Hände krallten sich in meine Seiten. Ich wollte protestieren, wollte es noch einmal versuchen, ich war doch kurz davor, ich wusste, dass es machbar war, aber ich kam nicht zu Wort, wollte auch gar nicht mehr, konnte nichts mehr sagen, überließ mich ihr völlig. Einmal rutschte einer der Röcke noch über mein Gesicht, ich schmeckte ein paar Fussel auf der Zunge, dann kam ich und ich glaube, sie auch.

Die Szene aus der Blechtrommel habe ich nicht noch einmal ausprobiert. Ich habe länger darüber nachgedacht, habe mich auch mit Isabel darüber unterhalten, danach, wir lachten beide sehr viel, mit ihr konnte ich gut darüber reden. Wir mutmaßten, ob Joseph Koljaiczek nicht doch lediglich Cunnilingus ausübt, das hatte ja bei uns in der Praxis recht gut funktioniert. Vielleicht findet im Buch keine wirkliche Penetration statt, denn wie sollte das funktionieren, wie sollte es möglich sein, unterhalb der vier Röcke die beiden Becken dafür nah genug zueinander zu bringen, noch dazu verborgen, ohne dass Außenstehende, die es bei Isabel und mir glücklicherweise nicht gegeben hatte, etwas davon mitbekamen? Anna Bronskis Stöhnen ist ja kein hinlänglicher Beweis, dass es zum tatsächlichen Akt gekommen ist. Aber irgendwie muss es doch funktioniert haben. Denn schließlich wird Anna Bronski ja schwanger. Die einzige Möglichkeit, die mir noch einfallen will, wie eine Schwangerschaft ohne wirklichen Koitus zustande kommt, ist die, dass Koljaiczek Anna mit Mund und Hand bespielt, während er mit seiner anderen Hand an sich selbst herumspielt. Er ejakuliert sich auf die Hand reibt dann damit erneut über Annas intimste Zonen. Aber dieses Szenario mutet mir selbst für einen Günter Grass zu unwahrscheinlich an. Ich will lieber glauben, dass es wirklich möglich ist. Zumindest in der Phantasie von Günter Grass. Leider kann ich ihn nicht mehr fragen. Ich stelle mir gerne vor, dass er sich über meinen Leserbrief zwar gewundert, aber gefreut hätte, wie eine Art literarischer Doktor Sommer.
Isabel und ich beließen es bei diesem einen Versuch. Und ich beließ es generell bei diesem ersten und einzigen Test dieser Szene. Spaß gemacht hat es letztendlich auf jeden Fall.
Nebenbei, der erste Satz aus der Blechtrommel beginnt so: „Zugegeben: ich bin Insasse einer Heil- und Pflegeanstalt …“.
Klasse!

Mir stellt sich die Frage, ob du so viele Details vielleicht gar nicht hören willst. Zu viel Information, zu umfassend mein Bericht und meine Beichte. Aber ich schrieb dir bereits, dass ich nichts auslassen werde. Du sollst alles wissen. Ich habe beschlossen, mich dir völlig zu öffnen und dir alles darzulegen. Für mich gehört dazu, dass ich dir alles sagen muss. Verzeih mir, wenn es für dich zu viel sein sollte und verzeih mir auch meine Bitte, trotzdem alles zu lesen, alles anzuhören. Ich habe die Hoffnung, dass du mich am Ende besser verstehst. Dass du vielleicht nicht alles gutheißen wirst, wahrscheinlich sogar, aber dass du zumindest akzeptierst. Dass du mir meine anfängliche Verheimlichung verzeihst. Und ich denke, dass deine Fantasie immer noch schlimmer sein könnte, als meine Beichte der Wirklichkeit. Ich denke, es ist besser für dich, alles zu wissen, anstatt viel zu mutmaßen. Diese ehrliche gedankliche Rekonstruktion meiner Passion, diese unbeschränkte Offenheit, das alles ist nur für dich. Weil du etwas mit mir gemacht hast, was ich vorher nicht kannte.
Ich sah dich damals im Bus und glücklicherweise sahst du mich auch. Wie hättest du mich auch nicht sehen können, so wie ich meinen Kopf verrenkt habe, um die Buchtitel lesen zu können, die du auf deinem Schoß balanciert hast? Und als ich bemerkte, dass du mich bemerkt hast, wie ich versuchte die Titel zu lesen, war ich kurz wie erstarrt, versteinert wie ein Gargoyle, wie ein Troll bei Tagesanbruch, ich saß zwei Plätze neben dir, nach vorne gebeugt, meinen Hals gereckt und starrte auf deine Bücher und blieb genauso sitzen und es war genauso unbequem wie es ausgehen haben muss. Dein Blick war irritiert und gleichzeitig belustigt und nicht abgeschreckt oder ungehalten darüber, was diesem Spinner einfalle, einfach so unverhohlen auf deine Bücher zu starren. Und ohne deinen Blick zu ändern, machtest du diese kleine Geste, diese kleine Bewegung, die in mir den unbestimmten aber unwiderruflichen Wunsch weckte, dich kennenlernen, deine Stimme hören und deine Geschichte erfahren zu wollen. Du schobst deinen wankenden Bücherstapel ein klein wenig zur Seite, so dass ich die Titel besser lesen konnte. Dann hast du weggesehen, nicht ohne auf deinen Lippen ein sehr feines, ein sanftes, nur für den genauen Beobachter zu erkennendes Lächeln zu hinterlassen. Es war ein ganzer Stapel literaturwissenschaftlicher Werke und diese Tatsache entzündete sofort einen Funken in mir. Sogleich schossen mir allerlei Mutmaßungen durch den Kopf, in welcher Verbindung du wohl mit Literatur stehen mochtest. Dann machte der Bus eine ruckartige Bremsung, wir wurden durchgeschüttelt und deine Bücher brachen wie ein Jenga-Turm zusammen, bei dem man das falsche Holzstäbchen gezogen hatte. Ich half dir beim Aufsammeln der Bücher, die zwischen Schuhe, Haltestangen und Einkaufstüten geschliddert waren. Und als wir alle wieder beieinander hatten, dankest du mir mit diesem bezaubernden Lächeln und sagtest dann gleich, du müssest hier raus und ich, ich verließ einfach mit dir den Bus und dann standen wir auf der Straße, ich übergab dir deine restlichen Bücher und du bedanktest dich erneut und fragtest mich, ob ich hier überhaupt auch hatte aussteigen müssen und ich sah mich um, grinste verlegen und sagte, nein.

Kapitel 3: Einfach ein Vater

Dir alles zu sagen heißt wohl auch, noch weiter zurück zu gehen, auch die Vergangenheit zu ergründen, zu beleuchten. Eine biographische Spurensuche. Ob dies wichtig oder aufschlussreich ist, ich weiß es nicht genau. Ich vermute schon. Was sind wir anderes, als das Produkt unserer Vergangenheit? Wir, unsere Person und unser Charakter, sind doch letztlich eine unzählige Ansammlung von Erinnerungen und Erfahrungen. Und wenn ich dir versichere, alles zu sagen, dann gehört dies auch dazu.
Vielleicht liefere ich dir auch lediglich noch mehr Informationen über meine Person. Mein Wunsch ist es, dass du dir ein eigenes Urteil bildest. Und dass du mich noch besser kennenlernst, alles an mir. Ehe du mir hoffentlich die Chance gibst, mit dir gemeinsam alles weitere von der Welt kennenzulernen.
Ich will versuchen, dir meine Kindheit aus den Augen des Kindes zu schildern, das ich damals war. Um meine damaligen kindlichen Gedanken besser verstehen zu können. Um besser mit mir in diese Geschichte meiner Vergangenheit einzutauchen und sich besser in diese einfühlen zu können.

Meine Mutter wollte immer noch mehr Kinder haben. Das sagte sie mir zumindest häufig. Damit versuchte sie mir, als ich noch Kind war, wohl zu begründen, warum sie so oft Sex mit meinem Vater hatte.
„Ich hätte so gerne noch ein Kind, Alexander. Deshalb sind Papa und ich so oft zusammen.“
Das war ihrer Meinung nach wohl eine hinreichende Erklärung. Und was sollte ich das als plus minus Sechsjähriger auch weiter hinterfragen?
Aber es klappte nicht. Warum, wusste angeblich niemand. Biologisch gesehen gab es weder bei meiner Mutter noch bei meinem Vater Hindernisse. Sagte sie. Allerdings schien ihr Wunsch nach weiteren Kindern weitaus größer als seiner. Sie probierten es sehr häufig. Ich glaube sogar, fast jeden Tag und jede Nacht. Sie schienen nicht müde zu werden. Irgendwann später, als ich älter war und die biologischen Funktionen der nächtlichen Schreie aus dem Schlafzimmer eindeutig interpretieren konnte und kannte und verstand, stellte ich mir die Frage, wie viel Sperma meine Mutter eigentlich in diesen Jahren in ihrem Körper aufgenommen hatte? Das war eine Vorstellung, die mir nicht behagte, die mich jedoch immer wieder hinterlistig anfiel, wie ein Ninja oder ein Guerillakämpfer. Wie viele Billionen von Spermien mussten durch die Vagina meiner Mutter geflossen sein? Und nie kam dabei ein Bruder oder eine Schwester für mich heraus. Manchmal konnte ich sie hören, vor allem meine Mutter, auch wenn sie sich Mühe gaben, den Geräuschpegel gering zu halten. Aber wenn meine Mutter zu laut wurde, konnte ich die Stimme meines Vaters vernehmen, wie er sie ermahnte, leiser zu sein, sonst würde ich sie noch hören. Einmal erwischte ich sie abends im Wohnzimmer. Ich konnte nicht einschlafen und bin mit schweren Augen aus meinem Zimmer getrippelt, das Platschen meiner nackten Füße auf dem Boden in den eigenen Ohren. Und dann sah ich sie auf meinem Vater sitzen, einander zugewandt, sie sprang auf und ab, er hatte ein verzerrtes Gesicht, was ich etwas unheimlich fand. Sie bemerkten mich nicht und ich stand etwa eine Minute als stummer Beobachter hinter dem Sofa, ehe ich genauso stumm wieder kehrt machte und mich zurück in mein Bett legte. Vielleicht hatte Gott keinen weiteren Zuwachs für die Familie Portereit geplant. In unserer Familie glaubte allerdings niemand an Gott, also machte ihm auch niemand einen Vorwurf, noch wurde er um etwas gebeten. Meine Mutter allerdings sprach später, nachdem sich meine Eltern getrennt hatten und mein Vater aus meinem Leben verschwand, davon, dass die Einstellung meines Vaters Schuld gewesen sein musste. Er wollte kein weiteres Kind. Sagte sie. Und auch  wenn er wohl alle körperlichen Voraussetzungen erfüllte und den erforderlichen Ertüchtigungen häufig und regelmäßig mit meiner Mutter nachging, wollte er kein weiteres menschliches Wesen daraus entstehen sehen. Sagte sie. Er hätte es wohl hingenommen, aber er war auch froh, dass es nicht dazu kam. Und das war nach Meinung meiner Mutter der Grund, der transzendentale, übernatürliche, nicht weiter zu erklärende Grund, für das Ausbleiben einer erfolgreichen Fusion von Ei und eines der unzähligen zappelnden und fleißigen Spermatozyten. Sagte sie. Auch das schien ihr gegenüber ihres jungen Sohnes als hinreichende Erklärung. Und das war es für mich auch.

Mit vier Jahren lernte ich lesen und mit fünf Jahren schreiben. Auf meinen eigenen Wunsch hin. Meine Mutter brachte es mir bei, weil ich so gerne vorgelesen bekam. Schon als Kleinkind bettelte ich um Geschichten und Erzählungen jedweder Art. Allerdings war sie abends, wenn ich ins Bett ging, oft nicht zu Hause, da sie als Krankenschwester arbeitete. Und mein Vater, als er noch da war, wollte und konnte nicht gut vorlesen. Also musste ich mich wohl oder übel selbst darum kümmern. Das hatte auch nichts mit Hochbegabung zu tun, lediglich mit einem starken Willen und einem noch stärkeren Wunsch, in diese abenteuerliche und endlose Welt der Geschichten einzutauchen. Dementsprechend fiel es mir recht leicht und ich lernte sehr schnell. Das Verlangen nach den Geschichten beflügelte mich, sorgte für eine für ein Kind meines Alters ungewöhnliche Konzentration. Ich wollte wissen, was diese Zeichen auf den Buchseiten bedeuteten, diese seltsamen Striche und Punkte, die scheinbar unermessliche Geheimnisse beinhalteten, ich wollte sie ihnen entlocken, ich musste diese Schätze unbedingt bergen. Meine Mutter war beeindruckt und stolz. Mein Vater nahm die Neuigkeit, dass sein Sohn schon lesen und schreiben könne, noch bevor er in der Schule war, mit einem Kopfnicken zur Kenntnis. Ich meine mich zu erinnern, dass er mir auch kurz zulächelte, als ich stolz ein Buch in der Hand hielt und die ersten drei Sätze daraus langsam, aber recht flüssig vorlas. Dann stand er auf, ging zum Kühlschrank und holte sich ein Bier. Auf dem Rückweg zum Sofa fuhr er mir kurz über meine braunen Locken, was sich toll anfühlte und mir als Lob von seiner Seite aus genügen musste. Meine Eltern waren beide keine allzu großen Leser, aber trotzdem erkannte zumindest meine Mutter die Bedeutung frühkindlicher Förderung durch die Literatur. Unterstützt wurde sie dabei von meiner Tante, ihrer Schwester, die eine große Literaturliebhaberin war und der ich sicherlich auch einen großen Teil meiner Vorliebe für Bücher zu verdanken habe. Dazu später mehr. Immer wenn sie abends Gelegenheit dazu hatte, las mir meine Mutter vor. Angefangen haben wir mit den klassischen Märchen. Noch heute kenne ich sie alle. Und immer lauschte ich wie gebannt, wenn es um Prinzessinnen, sprechende Tiere oder böse Stiefmütter ging. Ich war fasziniert und beglückt. Ich sog die Worte in mich ein. Welche kluge Idee von Hänsel und Gretel, eine Spur aus Steinen und Brotkrumen zu legen. Wie genial von Rapunzel, ihr Haar aus dem Turmfenster zu hängen, damit der Prinz daran empor klettern konnte. Und wie mutig von dem anderen Prinzen, sich durch das dichte Dornendickicht zu kämpfen und dann noch die Geistesgegenwart zu besitzen, Dornröschen zu küssen, um sie aus dem Schlaf zu wecken. Ich war fasziniert von diesen fremden Geschichten, diesen fremden Welten, in denen das Fremde doch so selbstverständlich war. Und ich war begeistert von der Vorstellung, dass es da Menschen gab, die sich diese Geschichten ausgedacht hatten. Sie mussten die wahren Zauberer sein, die unter uns normalen Menschen wandelten. Sie erfanden Geschichten! Jeder Abend, an dem meine Mutter mir nicht vorlas, war ein großes Drama. Nicht selten gab ich mich vor dem Schlafengehen ausgiebigen Schreikrämpfen hin, wenn meine Mutter arbeiten musste und mein Vater mir nicht vorlesen wollte. Ich bettelte, ich weinte, ich machte Versprechungen mein Zimmer aufzuräumen – er blieb hart. Er wollte und konnte nicht gut vorlesen, war seine Standardantwort. Und dass ich mich ja zusammenreißen sollte, sonst würde es was setzen. Er schlug mich zwar nie, aber er las mir auch nie vor. Leise weinte ich mich in den Schlaf, an die bereits bekannten Abenteuer denkend, nach denen ich so sehr schmachtete und auch an jene, die mir entgingen. Schnell lesen zu lernen war für mich also eine nahezu lebenswichtige Notwendigkeit. Und als ich diese komischen Zeichen dann endlich entschlüsseln konnte und sie sich in Buchstaben, Worte und Sätze verwandelten, nahm ich mir alles vor, was mir zwischen die Finger kam. Märchen, Walt-Disney-Bücher, Fünf Freunde, Janosch, Kochbücher und Fernsehzeitschriften. Einmal fand ich im Schlafzimmer meiner Eltern ein Erotikmagazin. Beim Durchblättern der dünnen Seiten dachte ich mir Gründe und Geschichten aus, warum darin alle nackt waren. Und ich überlegte mir, was die Worte bedeuten konnten, die ich noch nicht kannte. Klitoris interpretierte ich als ein bestimmtes Körperteil der Frau, welches sehr kitzlig war, womit ich ja gar nicht so verkehrt lag. Ficken bedeutete so viel wie miteinander lachen und spielen, auch nicht schlecht eigentlich, und ein Vibrator war ein neues fremdländisches Küchengerät. Oft verstand ich nicht alles, was ich las, ich war einfach noch zu jung dafür. Offensichtlich. Aber das machte mir nichts aus. Die unendliche Geschichte las ich mit sieben. Ich war mir sicher, auch wenn mir nicht alle Zusammenhänge des Inhalts einleuchteten, dass ich es mit einer wunderbaren Geschichte zu tun hatte. Ich erfreute mich an dem, was ich verstand und las es später noch einmal und dann noch einmal, bis ich es verstand. Ich liebte den Drachen Fuchur und die riesige Schildkröte Morla und die kindliche Kaiserin und ich fürchtete mich vor dem bösen Werwolf Gmork. Ich las in meinem Bett unter der Decke, ich las auf dem Klo, ich las in der Küche auf dem Boden sitzend und mit dem Rücken gegen den Kühlschrank gelehnt, unter dem Esstisch, draußen auf der Wiese, in der Pausenhalle der Schule, im Schwimmbad, in der Badewanne. Später las ich am liebsten in der Bibliothek, in der meine Tante arbeitete. Meine Mutter unterstützte mich, mein Vater nahm es hin. Meine Mutter fragte mich oft nach dem Inhalt meines momentanen Buches und ich berichtete ihr mit Freude und Übermut, schilderte ihr die Figuren, wollte ihr unbedingt zeigen, wie spannend das Buch sei und ihr deutlich machen, was mir daran so sehr gefiel. Mein Vater fragte nie danach. Manchmal ergriff ich die Initiative und versuchte ihm etwas aus den Büchern zu erzählen. Entweder hörte er mir stumm zu und nickte in regelmäßigen Abständen und dachte sicherlich an etwas ganz anderes. Oder er stoppte mich nach ein paar Sätzen und sagte mir dann, er habe dafür momentan keine Zeit. Ich hatte nie das starke Bedürfnis, ihn besonders stolz zu machen. Ich suchte nicht übermäßig seine Nähe. Ich hatte nicht das Gefühl, dass mir etwas Grundlegendes fehlte, in der Vater-Sohn-Beziehung. Zumindest würde ich heute mein Verhältnis zu ihm mit diesen Worten beschreiben. Als Kind konnte ich meine Gedanken und Gefühle natürlich nicht in solche Worte fassen, aber ich glaube, dass ich damals so dachte und fühlte. Es war nun einmal so, wie es war. Auf jeden Fall hätte ich mich gefreut, wenn mein Vater mehr Interesse gezeigt hätte. Wenn ich mit ihm hätte reden und mich ihm anvertrauen können. Wenn er meine Begeisterung für Bücher und Geschichten geteilt hätte. Aber dem war nicht so. Ich akzeptierte das. Ich verstand nicht so richtig. Aber ich akzeptierte. Ich kann nicht sagen, dass er ein schlechter Vater gewesen war. Aber auch nicht, dass er ein guter war. Er war einfach ein Vater. Und irgendwann war er halt nicht mehr da. Der Verlust traf mich, aber nicht allzu hart. Ich hatte meine Bücher.

Und ich hatte meine Mutter. Ich liebte sie und sie liebte mich. Da bin ich mir sicher. Und sie zeigte es mir zwar mehr und häufiger, als es mein Vater getan hatte, aber von einer übermäßig liebevollen und innigen Beziehung kann auch hier nicht die Rede sein. Sie sagte mir, dass sie mich lieb hatte, manchmal. Sie küsste mich auf die Stirn, ab und zu. Sie fragte mich nach meinem Tag, nach dem Buch, das ich gerade las. Sie brachte mir das Lesen bei, wofür ich ihr auf ewig unendlich dankbar sein werde. Aber nicht selten kam mir unser Verhältnis etwas oberflächlich vor. So wie mein Vater eben mein Vater war, war es nun mal eine Tatsache, dass sie meine Mutter war, nur dass sie ihre Rolle ein wenig ernster nahm. Aber eben nur ein wenig. Vielleicht kann man es so am besten beschreiben: ich war nun einmal ihr Sohn und seinen Sohn hatte man nun einmal lieb. Es gehörte sich, dass man ihm ab und zu sagte, dass man ihn lieb hatte, dass man ihn ab und zu auf die Stirn küsste und dass man fragte, welches Buch er gerade las. Eine Pflichterfüllung mit einer gewissen Wärme, aber ohne Feuer. Warum sie unbedingt weitere Kinder haben wollte, verriet sie mir nie. Ich konnte damals nur mutmaßen. Der Gedanke, dass ich ihr vielleicht nicht genügte oder nicht gut genug war, kam mir erst so spät, dass er mich gar nicht mehr so sehr treffen konnte. Kurz bevor ich ohnehin die Wahrheit erfuhr. Meine Hauptthese bezüglich ihres nicht nachlassenden Kinderwunsches, die ich mit etwa zehn Jahren entwickelte, konnte ich natürlich nicht beweisen: Ich war irgendwann der Meinung, dass es sich bei ihrer Liebe um eine Art Rechnung handeln musste. Nach dem Prinzip: Je mehr Kinder, desto mehr Liebe. Mit jedem Kind, würde ihre Liebe wachsen. Exponentieller Wachstum sozusagen. Ein Kind bedeutete ein 805 wenig Liebe. Zwei Kinder hätten doppelt sie viel Liebe bedeutet, drei Kinder gleich ein Vielfaches mehr an Liebe. Allerdings blieb ich Einzelkind. Also gab es auch nur ein wenig Liebe. In Mathe war ich auch nie so gut. Die Wahrheit kam, wie gesagt, etwas später.

Meine Eltern trennten sich, als ich acht Jahre alt war. Gründe und Erklärungen kenne ich nur jene, die meine Mutter mich wissen lassen wollte. Mein Vater zog an einem Freitag aus. Kurz nachdem ich von der Schule heimkam. Den Schulweg ging ich schon alleine, er betrug keine zehn Minuten. Ich stand vor unserer Haustür und wollte gerade zweimal kurz und einmal lang klingen, mein persönliches Klingelzeichen, als sich die Tür bereits öffnete und mein Vater, beladen mit einem großen Koffer, mich fast umgerannt hätte. Bis heute denke ich manchmal darüber nach, wie ich seinen Blick von damals deuten soll. Es war Überraschung, da bin ich mir sehr sicher, aber keine freudige, und trotzdem glaubte ich, auch eine Spur Dankbarkeit darin lesen zu können. Vielleicht hat sich diese Interpretation aber auch über die Jahre in meinen Kopf geschlichen und festgesetzt. Wollte er verschwinden, ohne sich von mir zu verabschieden? Bedeutete ich ihm so wenig? Oder wollte er es mir dadurch einfacher machen? So wie Möbius in Die Physiker, der seinen verrückten Weltraumfahrerpsalm über seine Familie niederregnen lässt, um ihnen den unwiderruflichen Abschied zu erleichtern. Eine kompromisslose Trennung, ohne Lebewohl, ohne Tränen und ohne verlegene Worte, die niemals, niemals, niemals die richtigen Worte sein können. Verschwinden, als hätte es ihn nie gegeben. Als ob das möglich wäre. Momentan gebe ich mich der Ansicht hin, dass er ohne Abschied gehen wollte, aber dann im Grunde schmerzlich dankbar dafür war, dass es doch nicht so gekommen ist. Für einen kurzen Moment weilte sein Blick auf mir und obwohl ich erst acht Jahre alt war, oder weil ich schon acht Jahre alt war, ist mir dieser Tag und dieser Moment sehr gut in Erinnerung geblieben, schmerzhaft eingebrannt in mein Gedächtnis. Oder eher geschnitzt, wie mit einem Taschenmesser in eine Holzbank, denn der Tag und der Moment zogen sich lange hin, als hätten sie beschlossen, nicht zu enden oder zumindest die Gesetze der Zeit nicht zu beachten. Sein Blick weilte auf mir und er fühlte sich schwer an, wie ein Gegenstand, ich konnte ihn auf meinem Kopf und meinen Schultern spüren. Dann lud er seinen Koffer in sein Auto. Ich blieb dabei wie angewurzelt stehen, drehte nur meinen Kopf und folgte seinen Bewegungen. Dann kam er zurück und kniete sich vor mich. Er sah mir in die Augen und ich konnte mein Gesicht in seinen eigenen sehen, was mir damals wie ein Wunder anmutete. Er legte seine Hände auf meine Schultern, strich mir über die weichen Kinderwangen, legte seine Hände wieder auf meine Schultern. Seine Augen waren Zeugnis für den Kampf der Worte, der in seinem Kopf tobte. So weit ich mich erinnern kann, war er nie ein Mann großer Worte gewesen. Was erwartete ich also? Man hätte zwar meinen können, auch wenn man sonst nicht mit übermäßiger Eloquenz oder mit einem Überfluss an Redseligkeit gesegnet war, dass eventuell in einem solchen Moment zumindest ein paar bedeutende Worte den Weg von seinem Kopf über seine Zunge gefunden hätten, und wenn es nur dieses eine Mal in seinem Leben gewesen wäre. Aber alles, was er sagte, während eine ganze Zeit lang das Gewicht seiner Hände auf meinen Schultern meinen Körper schwer werden ließ, war: „Ich wünsche dir ein tolles Leben, mein Sohn.“ Das war’s. Dann drehte er sich um, stieg in sein Auto und fuhr los. Es war ein Freitag, die Sonne bellte, irgendwo schien ein Hund und ich hatte keine Hausaufgaben auf.

[…]

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