Leseprobe: Sylvia Wage – “Grund”

GRUND

1 – Der Brunnen

Mein Vater lag tot auf dem Grund des Brunnens.

Das ist ein guter Anfang. Für ein Märchen. Denn anständige Märchen beginnen stets grausam. Der Held, natürlich reinen Herzens und gut bis in die Fußknöchel, sieht sich der Vernichtung gegenüber. Mordanschläge, eskalierende Väter, dämonische Stiefmütter, Vertreibung und Hass, Verlust der liebenden Mutter/Eltern, Abwertung, Degradierung, Abscheu.

Eine hoffnungslose Ausgangslage scheint ein guter Anfang für eine Geschichte, was mir recht ist, denn wenn ich mit einem dienen kann, dann mit Hoffnungslosigkeit.

Mein Vater lag tot auf dem Grund des Brunnens.
Es war sechs Uhr morgens und ich starrte auf seinen abgemagerten Körper. Er lag auf der Seite, in Feinrippunterhemd und Jogginghose. Beides fleckig, beides zu groß. Er lag da, den Daumen im Mund, wie es kleine Kinder tun, genau so, wie er jeden Morgen dalag, wenn ich hereinkam und nach ihm sah. Nur, dass er heute tot war. Ich wusste es, noch bevor mein Blick auf ihn fiel, noch bevor ich die wenigen Schritte zum Brunnen ging, noch bevor ich das Licht anschaltete. Der Tod begrüßte mich, als ich die Hand auf die Klinke der Kellertür legte, er nickte mir freundlich zu und ich nickte zurück.

Mein Vater lag tot auf dem Grund des Brunnens.
Und ich zögerte. Nur einen Lidschlag lang, aber später werde ich sagen, dass es ein sehr tiefes Zögern war und ich in diesem Moment wirklich alles hätte anders entscheiden können und – wenn ich ein guter Mensch wäre – es auch anders entschieden hätte. Doch da mir nie die Gelegenheit gegeben wurde, ein guter Mensch zu werden, griff ich in meine Jackentasche, holte das Telefon heraus und rief meine Schwestern an.

2 – Die Schwestern

Gut. Ich habe gelogen.
Es war gar kein Brunnen.
Aber das Loch im Keller sah nun mal genau so aus, wie man sich einen Brunnen im Märchen vorstellt, in welchen die Helden hinabsteigen, um in eine andere Welt zu gelangen. Ganz genau so.
Rund dreieinhalb Meter tief und mit einer hübschen hüfthohen Umrandung aus Natursteinen. Der Flaschenzug darüber war vielleicht ein bisschen zu modern für einen märchenhaften Brunnen, aber auf den ersten Blick fiel das kaum auf.
Das Loch hatte alles, was ein Brunnen braucht, mal abgesehen vom Wasser. Es war nicht einmal sonderlich feucht oder klamm auf dem Grund. Das Stroh, auf dem die Matratze meines Vaters lag; eine recht gute Matratze, wie ich hinzufügen möchte, zwar schon ein wenig in die Jahre gekommen, aber anständigem Federkern mache das nichts aus, hatte mir Tante Bärbel versichert, als sie eines Morgens mit eben dieser Matratze vor dem Haus stand – jedenfalls, das Stroh musste nur alle halbe Jahre getauscht werden, so trocken war es da unten. Aber trotz des fehlenden Wassers gefällt mir die Idee eines Brunnens besser. Loch. Loch kann alles sein. Eine Höhle. Oder etwas, das Holzwürmer in Tische fressen. Loch an Loch und hält doch, was ist das? Ins Loch wird man gesteckt und kommt wieder raus. Doch niemand kehrt als der zurück, der er einst war, wenn er in einen Brunnen hinabgestiegen ist.

Ich dachte also über Löcher nach und meine Schwestern standen neben mir und schauten über die Brunnenumrandung hinab zu Papa. Ich konnte noch nie sehr lang bei einer Sache bleiben, stets huschten meine Gedanken hin und her, als wären sie Glühwürmchen auf Koks. Wuschwusch – flitzten sie, vom Kleinen zum Großen, von hier nach da, doch irgendwann fiel mir das Schweigen meiner Schwestern auf.
Beide starrten mit nahezu identischem Gesichtsausdruck auf den dürren, ausgemergelten Körper am Grund des Brunnens. Kein Entsetzen, keine Überraschung lag in ihren Gesichtern, nur Leere. Und kein Laut kam von ihnen. Es war still wie an einem kühlen Morgen, einem, der gerade noch Nacht ist, kurz bevor die Dämmerung die Vögel wecken wird.
Obwohl der Ausdruck meiner Schwestern äußerlich so völlig gleich schien, war ihre Energie doch grundverschieden. Während Elli, ich wusste es genau, schon erste Überlegungen zur Lösung des Problems anstellte, versuchte Thea, Schmerz zu empfinden. Trauer. Über den Verlust des Vaters.

Vielleicht hätte ich Thea nicht anrufen sollen.
Aber eine gutes Märchen brauchte nun mal völlige Hoffnungslosigkeit – und niemand konnte mir so zielgenau jede Hoffnung nehmen wie Thea.
„Woher zum Teufel kommt dieser Brunnen?“, fragte Elli irgendwann in die Stille und das Wuschen meiner Gedankenglühwürmchen hinein.
„Ich habe ihn gegraben“, sagte ich.
„Wann? Verfickte Scheiße! Wann?“
„Als ich elf war.“

3 – Lügen

Und das war natürlich wieder eine Lüge. Ich lüge andauernd, aber das brauchen gute Geschichten: Lügen und Hoffnungslosigkeit.
Aber diese Lüge war zu offensichtlich: nicht einmal der Held eines wirklich guten Märchens kann mit elf Jahren einen dreieinhalb Meter tiefen Brunnen im Keller eines Einfamilienhauses auf einem Hügel am Rande einer nichtssagenden Kleinstadt graben. Schon gar nicht unbemerkt von seinen großen Schwestern.
Korrekt war also: Ich begann mit dem Graben, als ich elf war. Genau wie mit dem Lügen.
Natürlich werde ich vorher schon gelogen haben, geflunkert. Geschummelt. Wie Kinder das eben so tun. Nein, Mami, ich habe den Kuchen nicht gegessen, nicht den Fernseher eingeschaltet und keinesfalls die Gummibärchen vom Dirk mit der dicken Brille geklaut usw.

Jedoch: in dem Augenblick, in dem ich mit der frisch gestohlenen Pflanzschaufel in den Keller unseres Hauses ging, durch die Waschküche, an dem Eingeweckten in Gläsern und den übriggebliebenen Kohlen vorbei, ganz nach hinten, da, wo meine Großmutter Zeug sammelte, bis mein Vater in seinem Ordnungssinn das Gerümpel verbot, und ganz hinten nun nur noch ein recht ansehnlicher großer, leerer Raum war, der Boden gestampfte Erde, hart und trocken; in dem Augenblick, in dem ich begann, mit der Pflanzschaufel den Boden abzukratzen, an ein Graben war nicht zu denken, vorerst, und mir mit dem Dreck die Hosentaschen füllte, um dann ebenso leise und unbemerkt wieder aus dem Keller hinauszuschleichen, und dann draußen meine Taschen zu leeren: in diesem Augenblick begann die erste echte Lüge. Und außerdem begann mein Leben.

„Scheiße nochmal“, sagte Elli, „was soll das heißen? Mit elf? Wieso gräbst du mit elf Löcher in den Keller?“
„Einen Brunnen“, sagte ich, „kein Loch.“
„Hat das Ding Wasser?“
„Nein …“
„Dann ist es ein Loch.“
Über meine große Schwester muss man wissen, dass sie schon früh Verantwortung übernehmen musste und sich diese dann nie wieder nehmen ließ. Elli hatte das Sagen, Elli traf die Entscheidungen und Elli verlangte Antworten.
„Wen interessiert der Brunnen?“ Thea kreischte. Und fing an zu weinen. Beides gleichzeitig. Auch etwas, das nur Thea konnte. Direkt aus dem Nichts in ein Kreischheulen verfallen. „Papa …“, keifte Thea. „Papa!“

Während Thea also heulte, stellte ich mir vor, ich würde meiner Therapeutin davon erzählen. Ich hatte eine sehr nette Therapeutin, sie war mütterlich-rundlich mit hübschen blonden Locken und einer Brille, die es schwer machte, ihr in die Augen zu sehen. Ich stellte mir vor, auf der Couch zu liegen und ihr zu erzählen, wie mein Papa mausetot am Grund des Brunnens lag und meine eine Schwester mich anfauchte, warum ich hier einen Brunnen gegraben hätte und die andere dramatisch, wie eine Dreijährige, die kein Eis bekommt, kreischte – und meine Therapeutin würde lächeln und sagen: „Sie immer mit Ihren Geschichten.“
Und ich würde fragen: „Warum glauben Sie mir nicht? So war es, ganz genau so.“
Dann würde sie für einen Moment die Brille abnehmen und sich die Augen wischen, aber so abgewandt, dass ich keinen Blick hineinwerfen könnte, und mir dann voller Ernst erklären, dass Menschen so nicht reagieren. „Schock“, würde sie sagen, „Ihre Schwestern wären geschockt. Sie könnten die Situation weder erfassen noch glauben, und in dem Versuch, die Lage zu beherrschen, würden sie sich zuallererst um Ihren Vater bemühen, also unter anderem … doch viel wichtiger ist die Frage: Warum erzählen Sie solche Geschichten? Was macht das mit Ihnen?“
Ja, ich habe eine sehr nette Therapeutin. Leider hat sie keine Ahnung von Menschen.

Thea heulte noch immer, Elli war davon genervt, traute sich aber nicht, Thea anzufahren oder gar sie zum Schweigen zu bringen. Deswegen lehnte sie mit verkniffenem Mund an der Brunnenumrandung und sah mich böse an.
„Ich hasse dich“, sagte sie zu mir. „Ich habe dich schon immer gehasst.“

Dass meine Therapeutin keine Ahnung von Menschen hat, zeigte sich zum Beispiel darin, dass sie eben bemängeln würde, in meiner Geschichte würden die Schwestern sich nicht – nach einer angemessenen Zeit für das Überwinden des Schocks, versteht sich – um meinen Vater bemühen. Sagen wir: Elli, die Große, sich nicht in den Brunnen hinab lassen, um nach dem Puls des Vaters zu tasten, und Thea, die Kleine, zum Telefon greifen, um den Notarzt und die Polizei zu verständigen, oder mindestens: dass nicht beide auf mich einbrüllten, warum ich dies getan hätte bzw. nicht getan hätte – und bei all dem, was meine Therapeutin sich da zusammendenken würde, fiele ihr für keinen Moment ein, dass meine beiden Schwestern gar nicht im Keller sein dürften.

Nehmen wir an, Sie – Sie wären Ende dreißig/Anfang vierzig, hätten eine Karriere und eine Familie. Ein Haus und einen Mann oder keinen Mann, dafür aber einen wichtigen Termin, und Kinder haben Sie auch noch. Und einen Hund. Dann ruft eines Morgens um sechs Uhr, Sie schlafen noch oder vielleicht sind Sie gerade dabei Kaffee aufzusetzen, jedenfalls, es ist noch früh, der Schlaf sitzt Ihnen in den Augen, den Knochen, dem ganzen Körper und dann ruft Sie das Geschwisterchen an und sagt: „Hey du, komm mal rum, Papa ist tot.“

Ein Papa, der, und das ist jetzt wichtig, vor über zwanzig Jahren verschwand. Dessen Fallakte längst verstaubt in irgendeinem Archiv liegt, ein Papa, den Sie sehr vermisst haben oder zumindest sich verpflichtet fühlten, ihn zu vermissen, jedenfalls ein Papa, von dem man nicht wissen kann, ob er tot ist, und auch wenn er es wäre, kein Grund bestünde ‚mal eben rumzukommen‘ und es letztlich einfach nur dieses Geschwisterchen ist, das immer mit seinen seltsamen Geschichten und Lügen daherkommt und nichts hat – keine Familie, keine Karriere, kein Haus. Keinen Hund. Natürlich würden Sie nicht lachend den Hörer auflegen und egal wäre es auch nicht, aber Sie würden zuerst ein paar Fragen stellen. Ungläubig. Und zwischen Besorgnis und Verärgerung schwanken, Sie würden zusehen, dass Sie recht bald rausfahren könnten, in das Elternhaus auf dem Hügel am Rande der nichtssagenden Kleinstadt, natürlich würden Sie nachsehen, was da nun wieder los ist, allein schon, weil die Mutter ja auch da ist und wenn das Geschwisterchen mal wieder durchdreht …
Sie würden Termine verschieben, Babysitter besorgen, vielleicht jemand anderen vorschicken, sie würden die Schwester anrufen, ob sie das auch schon gehört hat, was da wieder los ist. Sie würden vieles. Vielleicht. Je nach Temperament und Charakter.
Aber Sie würden nicht: Meine Worte hören, ohne eine weitere Frage zu stellen ein klares, direktes ‚Komme‘ aussprechen, auflegen, sich krank melden/die Kinder dem völlig überforderten und verärgerten Partner übergeben (heute musst du, mir ist egal wie, krieg‘s hin, Notfall), den aufmerksamen Blicken des Hundes keine Beachtung schenken, in die erstbesten Jeans schlüpfen, in das Auto springen und hierher fahren.
Niemand würde.

Meine Schwestern taten aber genau das.
Und auch das hatte wie alles seinen Grund.

4 – (Un)Sichtbarkeit

Wer graben will, muss unsichtbar sein.
Nicht dass ich vorher sichtbar gewesen wäre. Ich bin das mittlere Kind. Und meine Schwestern sind die mit den strahlenden Persönlichkeiten, meine Mutter hatte mit anderen Dingen zu tun und – nun ja – ich will nicht schlecht über meine Familie sprechen. Es hat sich ja keiner so ausgesucht. Meine Familie war wie etwas, das das Meer angespült hat. Sicherlich gab es für alles einen Grund, eine Erklärung, aber letztlich waren es die Strömungen und Winde des Schicksals, die uns zusammen an den Strand warfen, und da waren wir nun und mussten irgendwie zusammen leben. Meine Persönlichkeit war von je her farblos. Ich spreche nicht viel, ich kann nicht viel, aber immerhin genug, um nicht weiter aufzufallen. Das Netteste, was man über mich sagte, war, was für ein unkompliziertes Kind ich doch sei. Und ein solches war ich tatsächlich und deswegen beachtete mich niemand. Was aber eben nicht heißt, dass mich niemand beobachtete. Da war Papa, dessen Blick wir stets im Nacken spürten, Mama, die uns, wenn es sich fand, plötzlich und aus dem Nichts heraus mit Liebe überschüttete, und meine Schwestern, die neidvoll und hungrig nicht allein jede Zuwendung mitzählten, sondern auch jede Ablehnung. Es ist ein gravierender Unterschied zwischen Beachtung und Beobachtung.
Deswegen ist unsichtbar auch das falsche Wort. Unsichtbar hieße ja, ich wäre verschwunden, und wenn ich verschwunden wäre, hätten meine Schwestern mich im gleichen Augenblick gesucht. Mich aufgespürt und ausgequetscht, was ich mir traue, was ich mir erlaube, dieses Haus, dieses Leben zu verlassen.
Auch durchsichtig wäre falsch, denn durchsichtig ist viel zu merkwürdig, als dass man es übersehen könnte – im Prinzip musste ich genau das Gegenteil von unsichtbar werden. Undurchschaubar. Den Menschen eine feste Fassade bieten, über die ihre Augen hinweghuschen konnten und sich versichern, dass absolut alles in Ordnung ist. Aber zu glatt und perfekt durfte die Fassade nicht sein, nichts verabscheuen Menschen mehr, als jemanden, der ein feiner Kerl ist und gut klarkommt, nein, man muss die anderen etwas finden lassen, was sie bemängeln und kritisieren können, was sie ändern wollen.
Dann übersehen sie das Offensichtliche.

Wie ein Zauberer muss man das Verborgene ganz offen vor aller Augen tun – und nur dafür sorgen, dass die Blicke auf etwas anderes gerichtet sind. Und ich sage es ebenso offen: Unsichtbar zu sein ist eine Kunst, und ich beherrsche sie wie kein Zweiter. Fragen sie meine Therapeutin, möchte ich hinzufügen – aber dafür müsste sie mich ja sehen können.
So begann ich mein Leben als Grabender.
Das klingt ganz wunderbar, möchte ich meinen: mein Leben als Grabender. Es klingt nach Bedeutung, einem Ziel, einer Aufgabe. Die Wahrheit war jedoch, wie alles in dieser Welt, ernüchternd. Denn es war schlicht so, dass ich, wann immer sich die Gelegenheit bot, in den Keller ging und meine Hosentaschen mit Dreck füllte, und sie dann später, irgendwo draußen, stets an einer anderen Stelle, wieder ausleerte. Ansonsten blieb es wie gehabt – ich ging zur Schule, ich brachte den Müll raus, ich stritt mich mit meinen Schwestern und versuchte, meinen Eltern aus dem Weg zu gehen, so gut das möglich war und ohne dass es ihnen auffiel.

5 – Stellst du dich absichtlich blöd?

„Thea, hör auf zu heulen.“ Elli reichte es jetzt.
Thea hörte schlagartig auf – verschränkte aber die Arme vor der Brust und sagte: „Es ist doch aber Papa!“
„Eben“, sagte ich und jetzt sahen mich beide erst an und dann sehr schnell irgendwo anders hin.
„Wir haben ein Problem“, sagte Elli und an sich war es vollkommen überflüssig dies auszusprechen, aber sie sagte es auch nur, damit meine Stimme nicht mehr im Raum hing. „Irgendjemand eine Idee zur Lösung?“
Thea verdrehte die Augen. „Am Ende zählt doch eh nur, was du willst.“

Wir ließen ihr Schmollen ein paar Minuten so stehen, dann wurde Thea unsicher und sagte: „Wir müssen die Polizei rufen.“
„Wozu?“, sagte Elli.
„Na, weil man das so macht: die Polizei rufen.“

Machte man das so? Wahrscheinlich schon. Wenn man ein rechtschaffener Mensch ist und entdeckt, dass das Geschwisterchen einen Brunnen gegraben hat und auf dem Grund dieses Brunnen der eigene Vater liegt – dann ruft man die Polizei. Und sagt Sätze wie: „Ich verstehe nicht, wie das geschehen konnte. Wir waren doch eine ganz normale Familie!“

Wenn ich auch nur für einen Moment geglaubt hätte, dass meine Schwestern rechtschaffene Menschen seien, dann hätte ich die Polizei auch gleich selbst rufen können. Oder meine Sachen packen und mich davonstehlen. Oder die Leiche entsorgen. Jedenfalls hätte ich mir die Anrufe sparen können und all das Menschliche, was jetzt hier unten stattfand, gleich mit.
„Wieso hast du uns eigentlich angerufen?“, fragte Elli, der wohl Ähnliches wie mir durch den Kopf ging.
„Weil ich die Leiche nicht allein entsorgen kann.“
Auch das wieder eine Lüge – mir wäre schon etwas eingefallen, es drängte ja nicht. Ich hätte Papa in kleine Häppchen zerlegen können und Stück für Stück verteilen, ich hätte seinen inzwischen so leichten Körper vielleicht sogar im Ganzen aus dem Haus bringen können oder – die einfachste Lösung – den Brunnen über ihm zuschütten. Und die Sache vergessen.

Der Grund, aus dem ich meine Schwestern angerufen hatte, war, dass ich es ihnen schuldete. Sie hatten das Recht auf ein Ende. Oder zumindest das Recht auf die Chance zu einem Ende – denn nicht einmal ich, obwohl ich seit über zwanzig Jahren darüber nachdenke, kann auch nur ansatzweise erahnen, ob das, was mit uns ist, was uns hierher gebracht hat, je endet. Ob es einen Grund gibt, auf den man die Vergangenheit betten und zur Ruhe kommen lassen kann.
Wie dem auch sei – ich schuldete meinen Schwestern den Versuch. Und auch das ist etwas, was meine Therapeutin nicht verstehen würde, weshalb ich es ihr bei Gelegenheit erzählen sollte.

Sie denken jetzt bestimmt, dass wir wohl keine sehr schöne Kindheit hatten, meine Schwestern und ich. Aber das stimmt nicht, es war schon ganz in Ordnung. Es gab sie für uns, die guten Zeiten, nur waren sie recht kurz. Es waren jene Stunden des Tages, in denen wir mit Mama allein waren – und Mama nicht mehr nüchtern, aber auch noch nicht betrunken. Dann spielten wir im Garten. Und das Lachen meiner Mutter war hell. Wir spielten Verstecken und Fangen. Oder Mama tanzte mit uns. Sie zeigte uns Walzer und Polka, Foxtrott und Discofox. Das alte Radio plärrte seine Melodien in den Garten und Mama wirbelte uns herum, das Glas Sekt in der einen Hand und die andere in fester Führung um uns gelegt. Nicht dass ich je zum Tanzen taugte, meine Schwestern waren weit begabter darin, die Füße an die richtigen Stellen zu setzen und sich in den Hüften zu wiegen. Vielleicht lag es daran, dass mein Blick stets auf die Flasche gerichtet war und ich wusste, mit jedem Schluck würde die Laune meiner Mutter schlechter werden, und wenn sie die zweite Flasche öffnete, würden ihre Schritte unsicher und ihr Griff uns nicht mehr halten. Meine Schwestern aber tanzten ausgelassen, als könnte der Augenblick ewig dauern, als gäbe es das Danach nicht. Das Danach, das von Tag zu Tag, von Monat zu Monat schneller kam und irgendwann trank Mutter keinen Sekt mehr, sondern gleich Korn und Wodka. Und dann wurde nicht mehr getanzt.

„Die Steine“, sagte Elli.
„Was für Steine“, fragte Thea, aber Elli beachtete sie gar nicht. Wandte sich ganz mir zu.
„Wo hast du die Steine her?“
Sie meinte die wunderschöne Umrandung des Brunnens. Es waren prächtige Natursteine, Granit und Gneis, nur gehalten vom eigenen Gewicht und der geschickten Schichtung, die mich Monate gekostet hatte.
„Wie hast du bitte diese Steine herbekommen? Mit elf?“
„Ich sagte, ich habe angefangen zu graben, als ich elf war – nicht, dass ich mit elf damit fertig wurde.“ Mein Augenrollen brachte sie in Rage, ich wusste es und ich wusste auch, dass das mies von mir war – aber ich kann es nicht leiden, wenn Menschen nicht mitdenken.
„Vergiss die Steine“, sagte Thea. „Wir müssen die Polizei rufen.“
„Spinnst du?“ Elli war wieder ganz und gar die große Schwester. Zwei Worte und es war klar, wer hier das Sagen hatte – egal, wie viel Thea noch reden würde. Oder kreischen.
„Wir können nicht … das hier … man muss doch … wir …“ Thea rang um Worte. Aber es war kein verzweifeltes Ringen.
Verzweiflung ist etwas, das hinter uns liegt. Jeder Mensch bekommt ein gewisses Maß für sein Leben mitgegeben. Irgendwann ist es aufgebraucht, bei dem einen früher, dem anderen später. Dann bleibt nur die Wut, die endlos ist, und der mühsame Kampf, sie zu kontrollieren. Und genau das war es, was wir drei noch gemeinsam hatten, was uns fest, unauflösbar verband: Die Wut. Und die Fähigkeit, sie zu kontrollieren.

„Also keine Polizei?“, fragte Thea.
„Stellst du dich absichtlich blöd?“, fragte Elli.
Der gesunde, der normale Mensch wird sich jetzt fragen, was in aller Welt daran blöd sein soll, die Polizei zu holen, wenn man sein Geschwisterchen dabei ertappt (na gut, das Geschwisterchen offenbart), dass es den Vater umgelegt hat.
Zwar nicht direkt, immerhin hatte ich ihn ja nicht erschlagen, sein Tod konnte durchaus als ein natürlicher bezeichnet werden, aber dennoch würde der Umstand, dass ich ihn Jahrzehnte in einem selbst gegrabenen Brunnen gehalten hatte, bei seinem Tod wohl eine Rolle gespielt haben. Kurzum: ich hatte mich schuldig gemacht. Meine Schwestern dagegen waren unschuldig. Und nun war es eigentlich an der Zeit, dem Recht und Gesetz auf die Sprünge zu helfen.
„Ich werde mich in diese Scheiße nicht reinziehen lassen!“, kreischte Thea.
„Du bist in der Scheiße geboren“, sagte Elli.
Und dann stritten sie, so, als wäre ich gar nicht da. Ich setzte mich neben den Brunnen, lehnte mich an die kühle Natursteinumrandung und dachte mir: „Hey, ganz wie früher“. Und dann huschten meine Gedankenglühwürmchen ins Irgendwo. Wut und Kontrolle. Je wütender meine Schwestern waren, um so mehr konnte ich mich darauf verlassen, dass sie die Kontrolle nicht verlieren würden.

6 – Wozu der Brunnen?

Man könnte meinen, ich hätte beim ersten Stich der Pflanzschaufel schon gewusst, was daraus werden sollte, ich einen Plan, mindestens aber eine Vision meines Tun gehabt hätte – und vielleicht stimmt das. Vielleicht aber auch nicht. Das mit dem Wissen ist so eine Sache.
Wahrscheinlich wird der Forensiker, der mich im Gefängnis befragt, davon ausgehen, dass ich zu graben begann mit dem festen Vorsatz, meinen Vater auf den Grund des Brunnen zu stoßen und ihn dort jämmerlich verrecken zu lassen. Was mit Sicherheit falsch ist. Denn dafür war ich bei weitem nicht mutig genug. Wütend genug vielleicht, aber nicht mutig genug. Und es fehlte mir an Kontrolle. Mein ursprünglicher Plan war, mir ein Grab zu schaufeln. Mich hineinzulegen und darin zu streben.

„Denken Sie manchmal über Suizid nach?“, fragte mich einmal meine Therapeutin.
„Oh ja“, sagte ich.
„Seit wann?“
„Nun, etwa seit der zweiten Klasse.“

Das war die Zeit, in der meine Mutter von Sekt auf Korn umstieg. Aber das war nicht der Grund. Auch nicht ihr Schweigen, wenn wir von der Schule kamen, ihr leerer Blick, mit dem sie auf dem weinroten Sofa im Wohnzimmer unseres unbedeutenden Hauses auf dem Hügel am Rande der unbedeutenden Stadt saß. Auch nicht der mehr und mehr anwachsende Ärger des Vaters, welcher wahrscheinlich völlig berechtigt war, wenn man ehrlich ist. Wer will schon nach harter Arbeit in ein Zuhause kommen, in dem drei Kinder streiten und die Frau sich stöhnend erhebt, um das Abendessen zu kochen. So wenig meine Mutter tat, mal abgesehen vom Trinken, wenn mein Vater nicht daheim war, so fleißig war sie, sobald er durch die Tür trat. Als wäre sie schlagartig nüchtern. Sie kochte, putzte, werkelte im Garten. Aber sie lachte und tanzte nicht. Und sie stöhnte. Immerzu. Leise. Der Vater kam heim, brachte den geschwisterlichen Streit zum Verstummen und prüfte die Hausaufgaben. Er berief sich gern darauf, dass unser aller vorzeigbare Leistungen in der Schule nur darauf zurückzuführen seien, dass er uns prüfte. Härter und strenger als jeder Lehrer. Ja, nun, sicher – auch nach seinem Verschwinden wirkte der uns indoktrinierte Anspruch fort und aus meinen Schwestern ist ja auch etwas geworden.

Mit dem Korn endete das Tanzen. Aber das war auch die einzige offensichtliche Veränderung, wenn man davon absah, dass meine Schwestern heranwuchsen und Elli, die damals die Dreizehn erreichte, so schön war, dass die Sonne selbst sich verwunderte, wenn sie ihr ins Gesicht schien. Aber anders als in Märchen, in welchen schönen Mädchen nach mehr oder weniger Prüfung ein Prinz beschieden ist, also auf die Hoffnungslosigkeit ein Wunder folgt, so blieb uns nur die Scheiße, in die wir hineingeboren waren. Also konnte ich auch sterben. So meine feste Überzeugung, bis mir beim Graben – etwa da, als das Loch groß genug war, ein richtiges schönes Grab, rechteckig und six feet under – aufging, dass vielleicht ich, ich ganz allein, für dieses eine märchenhafte Wunder sorgen konnte. Dafür müsste ich aber in einen Brunnen hinabsteigen. Von da an dachte ich noch immer jeden Tag an Selbstmord, aber auf eine andere Weise. Nicht mehr gleich und sofort, sondern als einen Abschluss. Als das gute Ende eines Märchens. Wie es sich gehört. Denn wenn die Prinzessinnen erlöst sind, ist keine Rede mehr von den Gnomen und Feen, die das Ihre dazu beigetragen haben.

„Warum zum Teufel sollten wir dir helfen, die Leiche zu entsorgen?“, kreischte Thea.
Theas Kreischen. Wie gesagt, eine merkwürdige Sache. Seit sie geboren wurde, erfüllte sie meine Welt mit aus dem Kehlkopf gepressten Lauten. Dem Baby Thea kann man solches sicher nachsehen, aber die restlichen sechsunddreißig Jahre voller Lärm hätten nicht sein müssen. Auch hier und heute musste es nicht sein.
„Was glaubst du eigentlich, was du hier machst? Spinnst du …“ Thea keifte mit einer Art Kopfstimme, ich kann das kaum wiedergeben, es war wirklich eine besondere Form des Schrei-Sprechens, das nervig-penetrant-eindringlich war, aber eben nicht laut. Ganz und gar nicht laut. Theas Kreischen war der manifestierte Wutanfall eines Kindes, das genau wusste, dass ihm Übles blühte, wenn die Eltern es hörten.
„Wie macht man das eigentlich?“, fragte Thea, plötzlich mit ganz normaler Stimme. „Rollt man so ne Leiche wie bei der Mafia in einen Teppich? Und kaufen wir den Teppich neu oder hat jemand einen alten?“
„Hier rollt überhaupt niemand irgendwas“, sagte Elli. „Du machst Kaffee und wir frühstücken mit Mama. Falls was zu essen im Haus ist.“
Der letzte Satz fiel zusammen mit einem verächtlichen Blick auf mich, in dem ganz und gar herrliche neununddreißig Jahre geschwisterlicher Feindschaft lagen. Ich quittierte ihn mit einem Lächeln und dem Vorschlag, eine Frittata zuzubereiten.

7 – Frühstück im Oktober

Habe ich erwähnt, dass es ein Mittwoch war? Einer im Oktober? Herrlicher Goldsonnenschein und reichlich raschelndes Laub auf den Wegen, es hatte seit Tagen nicht geregnet – ich musste sogar noch einmal gießen im Garten. Viel war nicht mehr an Zucchini und Landgurken, aber dennoch wäre es schade gewesen, dieses letzte Gemüse des Jahres vertrocknen zu lassen. Es war Oktober und noch einer dieser Tage, an denen man auf der windgeschützten Terrasse sitzen und frühstücken konnte. Mit einer Decke über den Beinen. Mama hatte ich zusätzlich noch in einen Schal eingeschlagen, so, wie man es mit kleinen Kindern macht, und nun saß sie da, sah auf das goldene Licht des Vormittags im Oktober und schmatzte zufrieden an eingeweichter Brezel und Zucchiniomelett. Elli aß nichts, Thea dafür um so mehr. Auf Ellis Blick hin sagte Thea: „Wenn ich mal bedient und bekocht werde, dann esse ich auch. Kommt selten genug vor.“ Ich goss Elli Kaffee nach, schob Mama zwei Tabletten in ein Stück Leberwurst, welches ich ihr dann unauffällig auf den Teller legte.
Täuschung und Lüge. Und Unsichtbarkeit. Gäbe ich Mama das Stück Leberwurst offen, dann wäre sie sofort misstrauisch. Viel war von ihrer Persönlichkeit nicht mehr übrig, aber das tiefe Misstrauen der Familie gegenüber hielt sich wacker durch die gesamte Demenz. Sie würde die Wurst nehmen, mich mustern und sie dann lächelnd in den Mund schieben, ein „Hmhm“ intonieren, die Tabletten herauslutschen und so unauffällig es ihr möglich war in die nächste Pflanze spucken.
Auch wenn sie nach und nach alles vergaß, die Zeit, die Menschen, die Lieder ihrer Kindheit: dass die verdammte Leberwurst seltsam war, würde sie sich merken. Wobei merken das falsche Wort ist – es würde sich ihr einprägen, Kerben hinterlassen auf dem Rest, der von ihr geblieben ist. Mit der Leberwurst ist es wie mit allen Lügen, man muss da sehr genau aufpassen. Mit der Wahrheit ist es einfacher, die will niemand hören. Die wird weggewischt wie Vogelscheiße am Fenster. Restlos weggeputzt, bis nichts mehr davon bleibt.
Ebenso verhält es sich mit dieser Geschichte. Nehmen wir an, meine Schwestern hätten während dieses Frühstücks auf der windgeschützten Terrasse an jenem Oktobermorgen erkannt, dass es das einzig Richtige wäre, die Polizei zu rufen, und dann bestürzt ihre Aussagen gemacht: Thea, wortreich nach Gründen für „all das“ suchend und Elli, stiller und klarer, betonend, wie wichtig es sei, dem Papa ein würdiges Begräbnis auszurichten, wo er doch nun schon kein würdiges Leben gehabt hatte.
Da wäre die Last, die mit einer solchen Tat, mit einem solchen Geschwisterchen einhergeht, eine Last, die einen ganzen Roman füllen könnte. Es war schließlich der Vater! Der eigene Vater! Usw. Sie wissen schon. Und dann vielleicht eine fulminante Flucht und ein cleverer Kommissar, eine Jagd durch halb Europa. Roadmovies sind ja etwas sehr Schönes, weil der Held zugleich in Bewegung und auf sich selbst zurückgeworfen ist. Deswegen gibt es in Märchen so viele Reisende.
Ich habe es mir durchaus überlegt, wirklich, an jenem Oktobermorgen, als ich Mama dabei zusah, wie sie heimlich, also zumindest glaubte sie, sie tue es heimlich, die Leberwurst im Ganzen, so ohne jedes Brot darunter, vom Tellerrand naschte. Ich habe es mir ganz ernsthaft überlegt. Ob es nicht besser wäre, die Geschichte so enden zu lassen und dem forensischen Psychiater, der mich im Gefängnis befragt, nachdem der clevere Kommissar mich geschnappt hat, zu erzählen, es sei halt nie ganz einfach zu Hause gewesen …
Ja. Ich habe es mir überlegt. Es wäre ein Ende gewesen und nur darum geht es ja: ein Ende zu finden. Die Dinge zu Grunde zu legen.
Aber dann sagte Mama in den Oktobersonnenschein hinein, ganz ruhig und nebensächlich, aber so, dass wir alle es hören konnten: „Der war nicht gut. Ich hab euch das nie gesagt. Das gehört sich nicht, dass man so was sagt. Merkt euch das, man sagt das nicht den Kindern. Aber er war nicht gut.“ Und sie trank ihren Kaffee und summte eine Melodie, ich denke, es war ein Walzer.

8 – Steine und Katzen

„Wo hast du die Steine her?“, fragte Elli beim Abwasch. Wir hatten keinen Geschirrspüler in unserem Elternhaus. Mein Vater demonstrierte stets seine Abneigung gegen jede Art von Haushaltsmaschinen. Damals, vor seinem Verschwinden, waren Geschirrspüler noch weit davon entfernt, selbstverständlich zu sein, aber dafür gab es einen legendären Streit, ob ein neuer Staubsauger notwendig sei oder ob wir Kinder nicht ‚die paar Teppiche‘ mit dem Klopfer bearbeiten könnten, so, wie er es auch als Kind getan hatte. Die Einführung der Waschmaschine hatte ich verpasst, das war vor meiner Geburt, aber ich kann mir gut vorstellen, wie Papa dastand, groß und gutaussehend, und die Vorzüge des Waschbretts pries. Jedenfalls wirkte der Glaube an den Fleiß der Hände fort, war nicht mit dem Vater verschwunden, und so gab es keinen Geschirrspüler, weil solcherlei Faulheit noch immer nicht denkbar war.
Selbst einem verschwundenen Vater konnte man sich nur schwer widersetzen.

„Wo hast du die Steine her?“, fragte Elli beim Abwasch.
„Ausgegraben.“
„Ach? So schöne Steine hat es hier?“
„Ja. Wusste ich auch nicht. Haben sich nach und nach angesammelt.“
„Das war dann nicht dumm, die für die Umrandung zu nehmen.“
„Danke.“
Jeder zweite Satz von Elli an mich, geschätzt natürlich und im Rückblick der Jahre, lautete und lautet: „Gott, bist du blöd“. Von daher war ‚nicht dumm‘ ganz weit oben auf der Liste der Komplimente. Und das freute mich.

Aber wie konnte es denn möglich sein, dass ich einen Brunnen gegraben hatte. Im Keller eines kleinen Hauses auf dem Hügel am Rande der unbedeutenden Kleinstadt. Das voller Menschen war und kein einziger dieser Menschen bekam etwas davon mit. Und meine Schwester, meine kluge, erfolgreiche, wunderschöne ältere Schwester lobte angeblich nur wenige Stunden, nachdem sie den Vater tot auf dem Grunde des Brunnens gesehen hatte, meine Steinsetzerkunst. Meine Therapeutin würde lachend den Kopf schütteln, damit ich ihren Blick ganz sicher nicht sehen konnte, und sagen: „Sie und Ihre Geschichten. Wofür steht der Brunnen?“

Nun. Der Brunnen steht für einen Brunnen. Und zu sagen, dass keiner von dem Brunnen wusste, ist nur eine weitere Lüge. Was aber nicht heißt, dass jemand davon wusste. Denn mit dem Wissen ist es so eine Sache.

Es gab in unserem Hause immer eine Katze. Ich bin mir nicht sicher, ob es all die Jahre dieselbe war, sie sah aber immer gleich aus und hieß immer Miez. Eine dreifarbige Katze, weil dreifarbige Katzen Glück bringen. Meine Mutter konnte mit den ‚Viechern‘, wie sie alle Tiere zusammenfassend zu bezeichnen pflegte, wenig anfangen, meine Schwestern liebten die Katze, mir war sie weitgehend egal – aber mein Vater war ganz und gar vernarrt in sie. Jeden Tag, wenn er von der Arbeit kam, begrüßte er die Katze. Er strich ihr über den Kopf, kontrollierte, ob Wasser in ihrem Napf war und öffnete unter großem Zeremoniell und Worten wie „Ja, hast du Hunger? Hm? Magst du was fressen? Fressi? Ja? Fressi?“, welche allesamt von der Katze lauthals bemaunzt wurden, eine Dose eines recht teuren Katzenfutters und servierte ihr die Mahlzeit. Später dann lag sie auf seinem Schoß, wenn er die Nachrichten sah. Man kann durchaus sagen, mein Vater liebte die Katze. Kurz bevor ich mit dem Graben begann, verschwand sie. Mein Vater suchte sie, rief ihren Namen in den Abend, in die Nacht und den nächsten Morgen hinaus, ließ Mama das ganze Haus absuchen und uns Kinder jeden in der Nachbarschaft fragen, ob sie denn die Katze gesehen hätten und ob sie nicht in ihren Garagen und Schuppen und Kellern nachsehen könnten, vielleicht wäre die Katze darin. Doch alles blieb erfolglos.
Am dritten Tag tauchte ein Erpresserbrief auf, wie in einem alten Krimi war das Schreiben mit aus der Zeitung ausgeschnittenen Buchstaben verfasst und darin wurde ein Lösegeld von eintausend Mark gefordert, sonst würde es der Katze übel ergehen. Der Brief enthielt eine ausführliche Beschreibung, was mit der Katze genau geschehen würde, wenn die gewünschte Summe nicht binnen drei Tagen unter einem Baum im nahen Wäldchen abgelegt würde – und es waren Dinge, die ich hier nicht aufführen möchte. Drohungen, die einem sehr dunklen Geist entstiegen sein müssen, schlichte Taten allesamt, aber von klarer, unaufhaltsamer Brutalität.

Ich schauderte, als Vater uns den Brief vorlas. Warum er das tat, habe ich nie verstanden, aber ich verstehe eh wenig, was ich jedoch begriff, war seine Aufforderung an Mama – sie erfolgte sofort nach dem Vorlesen des Briefes. Den er einfach nur las ohne ein weiteres Wort dazu zu sagen, ja, nicht einmal eine Regung zeigte sich in seinem Gesicht, er las ihn vor, als wäre es ein Brief von Oma, geschwätzig über ihren Garten und das Dorf erzählend; und seine einzige Reaktion war die Aufforderung an Mama, umgehend eine neue Katze zu besorgen. Bei Himmelweihers hätte es gerade einen Wurf und da sei sicher eine dreifarbige dabei. Ich verstand, dass ich mich geirrt hatte – mein Vater liebte diese Katze nicht. Nicht genug, als dass er es zugelassen hätte, über sie verwundbar zu sein. Mein Vater, begriff ich, war unantastbar. Also beschloss ich, mir mein Grab zu schaufeln. Die Katze tauchte am nächsten Tag wohlbehalten und hungrig auf, mein Vater begrüßte und fütterte sie. Und alles war wie immer.

Manches ist ganz eindeutig – das weiß man oder man weiß es nicht. Ich zum Beispiel weiß, warum der Himmel blau ist, wie man Pudding kocht, und kann den Zinseszins berechnen. Keine Ahnung habe ich, wie die Hauptstadt von Estland heißt. Aber das könnte ich nachschlagen.
Völlig anders verhält es sich mit dem, was zwischen uns geschieht.
Nehmen wir Elli, die neben mir steht und abwäscht. Weiß ich, wovon sie spricht? Von den Steinen, natürlich, und doch weiß ich es nicht. Selbst wenn sie jede Emotion dieses Augenblicks in Worte fassen würde, jeden Gedanken und Hintergedanken aussprechen, wüsste ich es nicht. Und mehr noch: selbst das, was ich wissen könnte, den Worten und Wörtern entnehmen und dem dazwischen herauslesen – wenn ich alles wissen könnte: Würde ich es wissen wollen?
Ich nehme nicht an, dass sich Elli ernsthaft für die Steine interessierte. Wie gesagt, ich weiß es nicht, aber ich nehme es an, immerhin hatte sie noch nie Interesse an Steinen gezeigt. Es war nur ein Versuch, mit mir über das Unaussprechliche zur reden.

9 – Aus Gründen

„Ihre Mutter trinkt?“, fragte meine Therapeutin in einer unserer ersten Sitzungen, als das Grundbiografische erzählt und abgeklärt war. Sie formulierte dies als Frage, aber natürlich war es eine reine Feststellung. Eine Eigenheit meiner Therapeutin ist, auch noch das Offensichtlichste als Frage zu formulieren, es mir förmlich wie einen Ball zuzurollen und mich somit jede, absolut jede Aussage selbst treffen zu lassen. Sie war wie eine überdimensionale Qualle und alles, was man auf sie warf, verschwand in ihr und ploppte irgendwann als Frage wieder heraus.
„Ihre Mutter trinkt?“, frag-feststellte meine Therapeutin und beugte sich dabei nach vorn.
„Na, nee, nu nicht mehr“, murmelte ich und begann an einem der Couchkissen herumzuzupfen. Eigentlich sollte ich liegen während der Sitzungen, aber ich sah immer zu, dass ich möglichst und mindestens zur Hälfte saß. Die Füße auf der Couch, den Oberkörper schräg, so dass es durchaus wie ein Liegen war, aber eben nicht ganz.
„Ihre Mutter ist trocken?“
„Zumindest trinkt sie nicht mehr.“
„Ähm? Bitte?“
„Danke?“
„Also gut – fragen wir anders: Seit wann trinkt ihre Mutter nicht mehr.“
„24. Dezember 1993.“
„Ihr Mutter hörte an Weihnachten mit dem Trinken auf? Wieso das?“
„Weil sie keinen Grund mehr hatte, um zu trinken?“
„Was?“
„Was?“
„Wie bitte?“
„Äh?“
Das ging noch ein wenig weiter so hin und her, sie wurde ärgerlich, sie wird immer ärgerlich, wenn sie glaubt, ich würde mich ‚dumm stellen‘. Was ich ihr nie vermitteln konnte, war, wie dumm ich wirklich war und wie wenig ich mich so stellte. Seien wir ehrlich, ein kluger Mensch, nicht einmal ein einigermaßen schlauer oder genauer noch: ein jeder, der nicht ganz blöd war, hätte niemals, in gar keinem Fall getan, was ich getan habe.

Aber meine Therapeutin hatte irgendwann beschlossen, ich sei einigermaßen klug und wisse, was ich tue und sage, und deswegen maß sie meinen Worten Bedeutung bei, versuchte sie zu verstehen und heraus kam dann eine ihrer Fragfeststellungen: „Ihre Mutter hatte also keinen Grund mehr zu trinken?“
„Sehen Sie“, sagte ich und setzte mich nun endgültig von der Couch auf, beugte mich nach von, verschlang die Finger ineinander und fuhr mit den Daumen wechselseitig die Handflächen entlang, „alle fragen immer nach dem Grund, warum Mama aufhörte zu trinken. Also – ‚alle‘ soll heißen, ‚alle‘, die je darüber reden oder reden würden, dass Mama mal getrunken hat. Deswegen sind ‚alle‘ nicht so sonderlich viele, wenn man es genau nimmt, denn die meisten, die es wissen oder wissen müssten, tun ja so, als hätte Mama nie getrunken. Also nicht mehr, als man eben so trinkt. Ein Gläschen Wein bei einem guten Anlass.“
Meine Therapeutin nickte, und ich dachte mir, ich kann jetzt auch so tun, als wäre ich der Überzeugung, sie hätte verstanden, was ich sagte, was ja durchaus auch möglich sein konnte, man weiß es ja eben nie, was zwischen den Menschen ist.
„Jedenfalls, die wenigen, die über das Trinken je sprachen, das wären dann Tante Bärbel, Elli und Sie – also sie alle fragen: ‚Warum trinkt sie nicht mehr? Was ist der Grund?‘ Vielleicht ist das ja auch wirklich so, dass Menschen einen Grund brauchen, damit sie aufhören – aber Mama. Nein, Mama brauchte immer einen Grund, um zu trinken. Und wenn es keinen Grund gab, so trank sie nicht. Deswegen stimmt es auch nicht, wenn man sagt, sie hätte aufgehört.“
„Verschwand nicht Ihr Vater an Weihnachten?“, fragte meine Therapeutin und begann in ihren Notizen nach meinen genauen Angaben zu Papas Verschwinden zu kramen. Dieses Mal war es eine echte Frage, sie wusste es nicht.
„Ja.“
„An jenem Weihnachten?“
„Ja.“
„Also war Ihr Vater der Grund für das Trinken Ihrer Mutter? Wollen Sie mir das sagen?“
Will ich das?
Was musste mein Vater getan haben, was musste er für ein Mensch gewesen sein, um als ein eindeutiger, legitimer Grund für das Trinken meiner Mutter zu gelten?
Und was musste er getan haben, was muss er für ein Mensch gewesen sein, damit es einen Grund gab, ihn auf dem Grund eines Brunnens zu versenken?

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert