Leseprobe: Heike Duken – „Rabenkinder”

An Wildschweinen sterben mehr Menschen als an Haien
Nele 1975

Der erste Mann nach dem Tod meines Vaters kam an einem Sonntag in die Familie. Meine Mutter hatte uns vorbereitet. Sie habe jetzt einen Freund. Heinrich.
„Er hat eine ganz schlimme Kindheit gehabt, auf dem Dorf, weit weg von der Mutter“, erzählte sie uns.
Ich lauschte wie bei einer gruseligen Gutenachtgeschichte.
„Sein Vater ist gefallen. Im Krieg. Und später hat Heinrich eine Frau geheiratet, die ist verrückt geworden. Sie ist in ein Krankenhaus gekommen, und da ist sie geblieben.“
„Für immer?“
Sie nickte.
Ich glaube, sie wollte uns gnädig stimmen. Diesen Mann mit der verrückten Frau und der ganz schlimmen Kindheit, den sollten wir nicht zu sehr auf die Probe stellen, wir drei, Hannes, Karen und ich, die Kleine.
Heinrich tat mir leid. Ich beschloss für mich, er sollte es von jetzt an besser haben im Leben. Ich würde dafür sorgen. Es war gut, dass dieser Mann zu uns kam. Alles würde nun anders werden für ihn. Und für meine Mutter auch.
„Er ist da! Heinrich ist da!“, rief ich, als es klingelte. Ich rannte zur Haustür und hüpfte auf und ab, auf und ab, bis Mutter endlich öffnete, und da stand er. Der arme Mann. Er beugte sich zu mir hinunter.
„Du bist die Nele, stimmt’s?“
Ich nickte. Ganz ernst und feierlich.
„Du hast ja wirklich so schöne Augen!“
Er lächelte.

Ich nahm seine Hand und zog ihn ins Zimmer, der Tisch war schon gedeckt. Es gab süße Teilchen, Kaffee für die Erwachsenen und Limonade für uns Kinder. Das kriegten wir sonst nicht zu sehen, Gebäck und Limonade, wir stürzten uns darauf wie ausgehungert.
Ich schaute sie die ganze Zeit an, meine Mutter und ihn, wie sie vorsichtig miteinander waren und zuvorkommend.
Mein Vorhaben festigte sich. Heinrich würde es gut bei mir haben. Er würde alles vergessen und glücklich werden, bei mir, der kleinsten von allen. Meine Beine baumelten über dem Sofarand, ich trank meine Limo, ich hatte sogar einen Strohhalm bekommen.
Später brachen wir auf. Wir saßen zu dritt hinten in Heinrichs Auto, die Mutter vorne. Er konnte gut Autofahren. Ich wusste, Heinrich würde niemals einen Unfall bauen.
Unser letzter Ausflug war lange her. Ich konnte mich gar nicht mehr daran erinnern. Ein Auto hatten wir nie gehabt. Ich schaute aus dem Fenster, ich sah ein Pferd und eine Herde Schafe.
Wir liefen durch den Wald, und Hannes tat so, als würde er sich auskennen und erklärte alles mögliche, das seien Buchen und das Eichen, und das seien Wildschweinspuren.
„Wildschweine, die sind gefährlich, Nele, die rennen dich um. Und die Eber, die rammen dir die Zähne in den Bauch. Das ist tödlich, verstehst du?“
„Hör auf, Hannes!“, sagte meine Mutter, aber er dachte nicht daran.
„An Wildschweinen sterben mehr Menschen als an Haien. Das ist eine Tatsache.“
Heinrich nahm meine Hand. „Ganz so schlimm ist es nicht“, sagte er. Ich ging eine Weile an seiner Hand. Er machte viel größere Schritte als ich, passte aber immer auf, dass ich mitkam. Es war weit. Meine Füße taten schon weh.
„Kannst du denn noch laufen?“, fragte Heinrich.
Ich schüttelte den Kopf.
Er hob mich hoch und setzte mich auf seine Schultern. Da oben konnte es ruhig noch viel weiter sein. Aber dann machte er plötzlich „Pscht!“, blieb abrupt stehen und sagte: „Ganz ruhig alle!“
Ich hatte furchtbare Angst. Die Wildschweine. Jetzt waren sie da. Hannes hatte auch Angst, ich sah es ihm an, und das machte es noch schlimmer. Karen versteckte sich hinter der Mutter.
„Schaut mal, da vorne!“ Heinrich deutete auf einen kleinen Sonnenfleck, nur ein paar Meter entfernt, aber ich sah nichts Besonderes.
„Schaut doch, auf dem Stein. Seht ihr sie?“
Wir suchten, zuckten mit den Schultern.
„Zwei Kreuzottern. Sie sind ineinander verschlungen. Auf dem Stein.“
Jetzt sah ich sie. Zwei Schlangen.
„Ja, da!“, rief ich, und jetzt sahen die anderen sie auch. Wir staunten. Sie waren so nah. Ich hatte noch nie eine echte Schlange gesehen. Irgendwie hatte Heinrich sie heraufbeschworen, für mich. Und auf seinen Schultern war ich ganz sicher vor ihnen und konnte sie einfach so beobachten.
„Sie lieben sich“, sagte Heinrich und sah meiner Mutter in die Augen. Sie schaute nicht weg und hielt es lange aus, ohne zu blinzeln.
Als es weiter ging, waren wir alle ganz aufgekratzt wegen der Schlangen und wegen des Ausflugs und wegen Heinrich und allem. Karen beschwerte sich, sie könne jetzt auch nicht mehr laufen, sie wolle jetzt auch mal eine schöne Aussicht haben.
„Also gut, gerecht muss es sein.“
Heinrich hob mich herunter und stemmte Karen auf seine Schultern, ihre Beine hingen ganz lang an ihm herunter, weil sie schon viel zu groß für so was war. Hannes verdrehte die Augen, das war für ihn Mädchenkram. Er kam mit einem Stein an.
„Das ist ein Kreuzotternei, seht ihr?“
„Tatsächlich!“, meinte Heinrich. „Das ist sehr selten, Hannes, pass gut darauf auf.“
„Ich nehme es mit, und zu Hause lassen wir die Babys schlüpfen. Die dürfen dann in deinem Zimmer schlafen, Nele.“
Ich hüpfte im Kreis herum. „Das macht mir nichts, ich hab keine Angst!“
Wir Kinder rannten voraus und wieder zurück, wir sahen überall Schlangen und Schlangeneier, hoben Stöcke auf und schlugen damit gegen Baumstämme, immer wilder wurden wir, die Gesichter rot, die Köpfe verschwitzt.
„Treibt es nicht zu bunt!“, rief meine Mutter, aber wir hörten nicht auf sie, Hannes hob einen schweren Prügel hoch und schwenkte ihn über dem Kopf.
„Heinrich, kannst du das auch?“ rief er.
Heinrich lief ein Stück ins Unterholz und suchte nach einem Stock für sich, Hannes hinter ihm her, er heulte wie ein Indianer und drehte sich im Kreis, beide Hände an seinem Prügel, Heinrich bückte sich, Hannes drehte sich weiter, aber dann bekam er zu viel Schwung und konnte den schweren Ast nicht mehr halten, der flog durch die Luft, und als Heinrich gerade aufstand, traf ihn der Prügel mit einem dumpfen Geräusch am Hinterkopf.

Einen ganz kleinen Moment lang war es vollkommen still. Sogar die Vögel hielten die Luft an.
Und dann passierte es wahnsinnig schnell. Heinrich rannte los, zu meinem Bruder hin, holte aus und schlug ihm mit der Faust ins Gesicht. Hannes flog nach hinten, viele Meter weit, so kam es mir vor, wie in einem Film, und er machte dabei so ein kurzes, schlimmes Geräusch, es kam aus seinem Hals.
Ich starrte zu ihm hin. Er lag auf dem Waldboden und hatte Dreck und Blätter in den Haaren. Jetzt setzte er sich auf. Sein Blick war so verwirrt und erschrocken, dass er mir leid tat wie verrückt. Er langte sich ans Kinn. Seine Lippe blutete.
Ich fing an zu weinen.
Heinrich stand da. Er tastete sich den Hinterkopf ab und sah an der Hand nach, ob es blutete. Kein Blut.
Das war nicht gerecht.
Trotzdem, er tat mir auch leid.
Auf der Rückfahrt nach Hause sagte keiner ein Wort. Heinrichs Hand am Steuer war an den Knöcheln ganz rot. Hannes saß neben mir. Seine Arme hingen wie tot herunter. Karen summte leise. Ich tat, als würde ich schlafen.
Als wir anhielten, öffnete ich die Augen und sah, dass Heinrich eine Hand hinüber zu meiner Mutter legte. Auf ihr Bein. Sie bewegte sich nicht, sah nur geradeaus. Keiner stieg aus. Karen summte nicht mehr.
„Heinrich?“ sagte meine Mutter, ohne ihn anzuschauen.
„Ja?“
„Meine Kinder werden nicht geschlagen.“
Sie war vollkommen ruhig.
Heinrich antwortete nicht.
„Überleg dir, ob du das schaffst. Überleg es dir gut“, sagte sie.

Er stieg nur aus und öffnete mir von Außen die Tür.
Ich kletterte hinaus.
„Tschüss, Nele“, sagte er.
„Tschüss.“
Dann gab er Hannes etwas in die Hand.
„Dein Schlangenei.“
Hannes schaute auf den Stein wie auf etwas Seltsames, Fremdes.
Spät abends schlüpfte ich noch einmal aus dem Bett und ging zur Toilette. Ich musste gar nicht. Durch den Türspalt sah ich meine Mutter im Wohnzimmer vor dem Fernseher sitzen.
Im blauen, flimmernden Licht sah sie bleich aus.

Xie Xie
Nele 1999

Der Schmerz kam schlagartig und sofort mit voller Wucht. Er fühlte sich anders an als alles, was ich kannte. Als würde mein Unterleib sich zur Faust ballen und gewalttätig werden.
Nach einer Aspirin und nach einer Stunde gekrümmt auf dem Sofa versuchte ich, Bert zu erreichen. Aber er war auf einer der Baustellen und hatte keinen Empfang. Das kannte ich schon.
Wen konnte ich anrufen? Wen denn? Unsere einzigen Freunde hier wohnten außerhalb in Happy City, siebzig Kilometer entfernt, und sie beherrschten auch nur die gleichen ungefähr zehn chinesischen Wörter wie ich.
Blieb nur Greta, meine Assistentin. Sie war es gewohnt, am Sonntag angerufen zu werden. Wir waren es alle gewohnt. Aber Greta kam gerade heute nicht in Frage. Auf keinen Fall.
Als hätte er das eingesehen, gab mein Leib plötzlich Ruhe. Schweigen da unten. Vielleicht bekam ich doch nur meine Tage. Vielleicht reagierte ich über, wieder einmal allein in dieser absurd großen Wohnung, gefangen zwischen Fensterscheiben, die sich nicht öffnen ließen. Ich sah hinunter auf das neue Shanghai. Novembersmog. Winzige Autos bewegten sich durch den gelblichen Nebel, aus dem halbfertige Hochhäuser ragten wie schlechte Zähne. Der Himmel darüber seit Wochen konstant grau und tief durchhängend, eine apokalyptische Lebensfeindlichkeit, so kam es mir vor, am Horizont grellrot leuchtend die Coca Cola- Werbung, ein einsames Signal, eine letzte Assoziation: Europa.
Das am Freitag mit Greta wäre mir vor ein paar Wochen noch nicht passiert. Aber mein Heimweh hatte nun doch diese letzte wütende Phase erreicht. Man fing an, alles zu hassen, wirklich alles zu verabscheuen, das wurde beliebig, jede Kleinigkeit nur ein weiterer Beweis für dieses Exil, moderne Sklaven waren wir, verschleppt in der Businessclass.
Greta hatte in der Datei für die Präsentation wieder das falsche Logo verwendet, in dem das V mit dem W vertauscht war, so dass unsere schöne deutsche Marke, in der ganzen Welt mit solider Wertarbeit assoziiert, der Lächerlichkeit preis gegeben war, eine Verballhornung, die sich hartnäckig in den Dateien hielt und sämtliche Chefchefs in nullkommaeins Sekunden auf hundertachtzig brachte.
„Diese unendliche chinesische Blödheit!“ brüllte ich durchs Großraumbüro, außer Kontrolle geraten, eine Rassistin war ich, und Greta stand auf, die gemeinte Chinesin, die sich ihren seltsamen Vornamen aus Ehrfurcht vor den deutschen Vorgesetzten selbst verliehen hatte. Das war so üblich.
„Oh, vergessen“, sagte sie und trippelte auf ihren Zehn-Zentimeter-Lackpumps und in ihren Rüschenhotpants um den Schreibtisch herum. Sie war besonders umgänglich und bemüht in den letzten Tagen, weil es um die Hochzeit ging. Auch das war üblich, die Vorgesetzten erschienen zur Hochzeit und hielten Lobreden.
„Ich werde nicht zu deiner Hochzeit kommen“, sagte ich. „Und merk dir das endlich mit dem Logo. Merk es dir, Greta, hörst du?“
Ich konnte es jetzt nicht fassen. Was war aus mir geworden? Und auch das war ja nur eine klägliche, eigennützige Reue.
Greta hatte gelächelt, sich umgedreht und war gegangen. Vielleicht hatte sie auf dem Klo geweint. Bestimmt sogar. Dieses Hochzeitsding war einfach extrem wichtig.

Der Schmerz kehrte zurück, und diesmal blieb mir die Luft weg. Ich bekam richtige, kalte, schweißnasse Angst. Und wählte Gretas Nummer, denn jetzt war es schon egal. Meine Assistentin ging jedoch dieses eine Mal nicht ran. Mailbox.
„Greta, hier ist Nele. Ich muss zum Arzt. Bitte, kannst du mich fahren und übersetzen? Es ist dringend, glaube ich.“
Ich wartete. In der Küche über die Spüle gebeugt, ständig ganz kurz davor, mich zu übergeben. Ich trank ein Glas Wasser.
Wie sterbensallein sie war, diese Frau in der Küche im 39. Stock mit dem Glas Wasser in der Hand. Sie war mir fremd.
„Ich bin’s noch mal, Nele. Es tut mir leid, Greta! Melde dich, wenn du das hörst, bitte! Ich fahre jetzt mit dem Taxi ins blaue Krankenhaus. Vielleicht ist Dr. Mayers da.“
Im blauen Krankenhaus, ein Gebäude mit blauen Stahlstreben innen wie außen, tummelten sich die Menschen, klein und schwarzhaarig, jeden Alters, mit Plastiktüten voller Essen am Arm und mit Kindern im Schlepptau, vor einem Tresen, anscheinend so etwas wie eine Anmeldung. Ich musste drängeln, alle drängelten, alle wollten ja nur dran kommen, sie hielten Geldscheine hoch. Ohne Geld wurde hier niemand behandelt. Niemand. Ein Mann schubste mich, ich schubste zurück. Vorne beim Tresen zeigte ich ein Bündel Geldscheine und eine Karte mit dem chinesischen Wort für Schmerzen. Eine Karte für ‚Unterleib’ hatte ich nicht, deshalb musste ich auf meinen Unterleib deuten, eine Frau neben mir wegdrücken, und wieder auf meinen Unterleib zeigen.
„Dr. Mayers? Ist Dr. Mayers da?“ fragte ich.
Keine Antwort. Nur eine Armbewegung, das hieß wohl nach oben, und ich ging nach oben. Die Treppe wollte gar nicht mehr aufhören, in meinem Unterleib ein schwerer Stein. Aber tatsächlich, da stand ein lesbares Wort, Gynecology. Ein Wartezimmer war auch da. Frauen saßen auf Bänken, es war merkwürdig still nach dem Aufruhr in der Eingangshalle. Alle schauten auf den Fußboden. Blau. Nichts passierte. Ab und zu holte eine Schwester eine der Frauen ab, und eine neue Frau kam dazu.
Ich versuchte noch einmal, Bert anzurufen. Aber die Schwester rannte erbost auf mich zu und deutete auf das Zeichen an der Wand: Handys verboten.
Dann spürte ich die Feuchtigkeit. Ich sah an mir herunter. Ein dunkler Fleck breitete sich aus. Wurde größer und größer. Ich brauchte eine Toilette. Jetzt. Unbedingt. Ich suchte den Gang entlang, aus der Feuchtigkeit wurde Nässe, meine Socken sogen sich voll, die Turnschuhe, und dann gab es schon eine rote Spur, erst Tropfen, dann Schlieren.
Das Toilettenschild. Der Gestank wie eine Wand. Putzmittel, alter Urin und frische Exkremente. Nichts als eine Rinne, über die man sich hockte. Es war nur eine weitere Frau da. Sie hockte schon. Sah nicht auf. Ich zog meine Hose herunter und hockte mich auch. Aus mir heraus kam ein hellroter Strahl. Als hätte man einen Hahn aufgedreht. Ich sah das Blut die Rinne entlang fließen, und die Frau neben mir entleerte sich. Sie war hochschwanger. Sie hatte sich einen Einlauf gemacht, die Utensilien lagen vor ihr auf dem Fußboden.
Was sollte ich tun, unten in Wellen die Krämpfe, es gab ja nur noch unten, oben war ich nicht mehr da, oben war ich leer. Und dann spürte ich ein Etwas aus mir heraus schwämmen, ein Klümpchen, mit einem Schwall, es wurde ruhiger in mir ohne dieses Etwas, der Schmerz ließ nach, obwohl das Blut weiter floss, immer weiter.

Ich fing an zu schreien. Die Frau neben mir schaute in die Rinne und bekam ein Entsetzen ins Gesicht und jammerte etwas, ich verstand sie nicht und schrie weiter. Die Frau stand auf, säuberte sich hastig, kam zu mir her, und ich flehte sie an: “Holen Sie Hilfe!“
Aber sie blieb da, nahm ein Stofftuch aus ihrem Bündel, zog mich hoch und presste mir das Tuch zwischen die Beine. Dann deutete sie auf sich und machte die Zahl drei mit der Hand und deutete auf meine Scham und machte wieder die Zahl drei und deutete wieder auf sich selbst. Sie hatte das dreimal erlebt? War das ihre Botschaft? Standen mir noch zweimal bevor?
Die Frau lächelte jetzt und zeigte auf ihren hochschwangeren Bauch, der Nabel stand hervor, es konnte nicht mehr lange dauern bis zur Geburt. Sie nahm meine Hand und legte sie auf ihren mächtigen Leib.
In dem Moment wusste ich es. Erst jetzt kam bei mir an, was passiert war, der gespannte Bauch unter meiner Hand. Dr. Mayers hatte gesagt, ich könne nicht schwanger werden. Zu wenig Hormone. Und doch war es geschehen. Und doch floss meine Schwangerschaft mit dem Durchfall dieser Frau den Abguss hinunter. Jetzt wusste ich auch, was sie mir hatte sagen wollen. Ich packte ihre Hand, sie war ein Mensch, der letzte in einer menschenleeren Welt, und ich sagte: „Xie Xie.“ Danke. Mehr schaffte ich nicht mehr. Ich knickte ein. Landete auf dem Boden, die Füße von der Hose gefesselt, Brechreiz bis zum Hals.
Die Frau rannte hinaus, die Schwester kam und zerrte mich auf einen Rollstuhl, immer noch die Hose unten, schob mich in einen Saal mit etlichen Gynäkologenstühlen nebeneinander, auf allen Frauen wartend, die Beine gespreizt, und auf einen wurde ich gehievt, eine Schüssel zum Auffangen des Blutes unter mir. Die Tropfen machten beim Aufschlagen auf das Plastik ein Geräusch, dann ein anderes, als die Schüssel sich langsam füllte. Mein Handy lag mit meiner Hose auf einem Tisch unendlich weit weg. Neben mir klopfte ein Gerät die Herztöne eines Föten. Während ich das hörte, wurde ich ruhiger. Der Blutfluss hatte nachgelassen. Ich sah auf meine Füße, die nassen Socken, die Waden auf den Halterungen des Gynäkologenstuhls.
Und dann tauchte ein glitzernder Pandabär zwischen diesen Füßen auf, auf einem pinkfarbenen T-Shirt, eine schwarze Brille und eine Bärchenhaarspange.
Ich fing sofort an zu weinen. Greta umarmte mich.
„Chefin!“, rief sie, „Chefin!“ und drückte mich fest und sagte: „Dr. Mayers kommt, ich habe gesagt, Sie sterben. Und Mann kommt auch, ich habe alle verrückt gemacht, und sie haben ihn gefunden.“
Ich schluchzte immer lauter und zitterte und hatte meine Stimme nicht mehr im Griff. „Greta, es tut mir so leid.“
Sie wischte das mit einer Handbewegung weg. „Das waren nur Hormone. Nicht Sie, Chefin, Hormone. Das sind Biester!“
Ich bemühte mich zu lächeln, heulte aber weiter wie ein kleines Mädchen. „Ich werde auf deiner Hochzeit…“
„Schluss damit. Erst Auskratzung, dann Hochzeit.“
Jetzt lächelte ich tatsächlich.
„Ich war schwanger“, sagte ich, plötzlich ganz ruhig.
Greta biss sich auf die Lippe, streichelte eine Weile meinen Fuß in der blutigen Socke, beugte sich dann über mich und flüsterte: „Einmal schwanger, immer wieder schwanger. Sie müssen nur Sex haben. Bald!“
Sie kicherte. Und hielt einfach meine Hand.

Nachts örtlich bis fünfzehn Grad unter Null
Karen 2007

Ein später Anruf.
Karen zögerte, aber sie ging ran.
„Ja? Hallo?“
Schweigen.
„Tim?“
Es musste Tim sein, um diese Zeit. Er sagte nichts, dann legte er auf.
Es war also wieder mit etwas zu rechnen. Es stand wieder etwas bevor. Karen war gewarnt, aber das nützte ihr nichts, denn eine Warnung ergibt ja nur einen Sinn, wenn man eine Fluchtwegbeschreibung hat oder einen Evakuierungsplan, aber das hatte sie alles nicht. Sie saß jetzt nur gewarnt vor dem Fernseher anstatt gemütlich.
Trotzdem erschrak sie, als es an der Tür läutete.
Sie rührte sich nicht. Und in ihrer Starre kam ihr dieser Gedanke: Ich habe Angst. Angst vor Tim. Etwas wehrte sich aber in ihr, denn das war so verkehrt, so widernatürlich, wie wenn ein Bein gebrochen ist, und es steht so verkehrt ab.
Tim hatte angerufen, also wusste er, dass sie da war. Es brannte Licht im Haus. Er würde nicht so schnell aufgeben. Und sofort ging ein Sog von ihm aus, alles im Haus bewegte sich zu ihm hin, die Möbel, die Geräte und Utensilien, die Bücher, die Bilder an den Wänden. Es war, als wölbte sich die Haustür nach Außen, weil er davor stand und wieder auf die Klingel drückte.
Karen kannte das schon. Man sitzt im Haus und zittert und hält sich irgendwo fest und stemmt sich gegen dieses Saugen, diesen ungeheuer starken Luftstrom, und man beißt sich in den Arm und betet, obwohl man nicht mehr an den da oben glauben kann, denn der da oben sieht ja immer einfach nur zu. Den hatte sie kennen gelernt, danke schön. Der hatte noch sein Vergnügen daran, wie sie sich abquälte, die Frau da unten, wie sie sich anstrengte, schließlich hatte man ihr das eingetrichtert: Nicht hereinlassen, kein Geld geben. Und dann brachte sie es doch nicht fertig, das war zum Schießen, wenn sie doch wieder mit einem Scheinchen herausrückte und Tim endlich zufrieden war und sich davonmachte, um Spaß zu haben, wie er das nannte, Hauptsache Spaß, unendlicher Spaß, das Scheinchen würde ihm schon dabei helfen, das zerknüllte in der Hosentasche.
Auf keinen Fall Geld geben. Auch wenn es hart ist.
Dabei war es doch egal. Ob sie ihm Geld gab oder nicht, es war ein und dasselbe. Diese Berater, diese jungen Leute, blutjung waren die und kannten sich wahnsinnig gut aus mit so was, die saßen aber nicht allein in einem Haus, wenn es läutete!
Karen stand jetzt mitten im Wohnzimmer und hatte Angst, Angst vor Tim. Kein weiteres Läuten. Vielleicht hatte er doch aufgegeben und war schon wieder unterwegs in die Stadt.
Doch plötzlich eine Bewegung, direkt vor ihr, sie fuhr zusammen, Tim war auf der Terrasse. Er stand im Dunkeln, eine Gestalt, die jetzt an die Scheibe trat und sie ansah, direkt ansah. Es war Tim, er war es, aber er war es auch nicht, denn alles Timhafte an ihm war verschwunden, ausgemerzt. Die Augen wie eingetrocknet, zwei Rosinen in viel zu großen Höhlen, die Haut weiß und tot, der Mund weg, er hatte keinen Mund mehr, keine Lippen, nur noch eine Öffnung, einen Schlitz. Und wo war sein Haar? Das lockige, das Kastanienhaar? Tim liebte doch sein Haar, die Stunden im Bad, der Geruch von Shampoo und Haargel, und jetzt hatte er es abrasiert, geopfert, auch diese Bastion fallen lassen, jetzt war er nicht mehr Tim, jetzt war er irgendwer, und er wollte ins Haus.
„Mach auf, mir ist kalt!“, rief er.
Ja, es war kalt draußen. Es würde bis auf fünfzehn Grad unter Null gehen, das hatten sie vorhin in den Nachrichten gesagt. Eine bitterkalte Nacht. Aber wenn Tim dachte, das würde sie weichklopfen, hatte er sich getäuscht. Denn anders als er merkte sie sich alles ganz genau. Sie hatte nichts vergessen, gar nichts, sie wusste es noch, sie dachte daran, und ihr Hals schmerzte. Er hatte zugedrückt. Nicht lange. Aber auch wenn es nur kurz gewesen war, er hatte ihr den Hals zugedrückt, kein Luftholen mehr, zu zu zu der Hals, das konnte man nicht vergessen, nie.
Sie schüttelte den Kopf.
Er klopfte an die Scheibe. „Mama, mach auf. Bitte! Ich hab mich ausgesperrt.“
Sie schüttelte wieder den Kopf.
„Die letzte S-Bahn ist weg. Ich komm nicht mehr zurück. Du musst mich reinlassen!“
NICHT HEREINLASSEN.
Das hämmerte in ihrem Kopf.
NICHT HEREIN LASSEN.
Tim klopfte gegen die Scheibe.
„Es ist kalt, verdammt!“
Karen schüttelte wieder den Kopf. Mechanisch, hin und her, hin und her.
Er schlug mit der Faust gegen das Fenster, ein Nicht-Tim, ein Wesen. Er schmiss den Gartentisch um, der auch im Winter draußen stand, und trat gegen einen Blumenkübel und schrie: „Du bist keine Mutter, du bist ein Monster!“

Ihr Hals schmerzte. Sie bewegte sich nicht. Sah Tim auf der Terrasse hin und her wandern, und bemerkte es, da war etwas mit ihm, er war nicht nur übernächtigt, dünn und verwahrlost wie immer, nein, er war krank. Er zuckte und verdrehte den Kopf, zog Grimassen, es war gespenstisch. Sie dachte an das, was sie gelesen hatte: Löcher im Gehirn. Tim hatte jetzt also Löcher im Gehirn. Der Gedanke ließ sie gar nicht mehr los. Er hatte es geschafft. Er war kaputt. Er zuckte herum wie ein Spastiker und verzog sein Gesicht und merkte es nicht einmal.
Sie wollte weinen; wollte, konnte aber nicht.
Stattdessen fing Tim an zu weinen. Er lehnte den Kopf an die Scheibe und weinte. Er sagte etwas, aber zu leise, sie verstand ihn nicht.
„Tim, ich kann dir ein Taxi rufen. Es ist zu kalt“, rief sie.
„Na und?“
Er schlug wieder mit der Faust gegen die Scheibe, dann drückte er sich im Ganzen dagegen, wurde flach, ein Tim wie ein Blatt Papier. Seine Jacke lächerlich dünn.
„Geh in eine Notschlafstelle. Oder in die Klinik. Sie nehmen Tag und Nacht auf.”
Das sagte die Hoffnung in ihr, das hinterfotzige Stück, das nicht tot zu kriegen war. Später lachte es höhnisch, das kannte sie schon.
„Ich brauch nur hundert Euro. Für den Schlüsseldienst.“
Der Sog, nur eine Scheibe trennte sie von ihm. Warum nicht. Einhundert Euro und eine friedliche Nacht. Ins Bett gehen, schlafen. Oder ihn vielleicht doch … hereinlassen.
„Du bist keine Mutter!“, schrie Tim und versuchte, einen ihrer Büsche aus der Erde zu zerren, doch der Boden war gefroren, und er brach nur ein paar Zweige ab. Er trat gegen die Scheibe, aber sie hielt.
„Geh in die Klinik, Tim!“
„Ha! Du bist eiskalt, was? Kein Wunder, dass mein Vater dich verlassen hat!“, rief er und lachte, es war ein hässliches Lachen.
Karen ging aus dem Zimmer. Dass er jetzt von seinem Vater anfing. Dass er ihren Busch so zerrte. Dass er die gefrorenen Zweige abbrach.
Irgendwann erschöpft sich die Liebe, das merkte sie jetzt, und es wunderte sie. Tatsächlich, sie hört einfach auf, die Liebe, sie bleibt zurück, sie kann nicht mehr, und man muss weiter, sonst geht man mit drauf, und sie ruft vielleicht noch hinterher, die Liebe, aber man dreht sich nicht um und geht ganz schnell weg, so schnell man kann, man rennt davon und lässt sie im Stich.
Karen stieg die Treppe hoch, drehte sich nicht um, ging ins Bad und machte alles wie immer. Zähneputzen, Gesicht waschen, Creme, Haare bürsten. Und etwas in ihr wurde leicht dabei. Frei. Sie würde Tim nicht aufmachen. Sie ließ sich nicht erpressen. Das wäre ja noch schöner! Fing mit seinem Vater an, der Sohn, der missratene. Die Nachkommenschaft. Ha, die Spielplätze fielen ihr ein. Die Mütter mit ihrem Gezücht. Das Muttertier. Das Mutter. Basteln, Adventskalender, Laternen. Elternabende. Lehrer. KON-FIR-MA-TION, danke sehr.
Und dann: Beratungsstelle. Die eine, die nächste, die andere. Hauptsache Beratung, Hauptsache irgendwer wusste es besser, besser als sie, weil sie hatte es ja schon bewiesen, dass sie es nicht wusste und alles verdorben hatte.
Im Notfall die Polizei rufen. Das hatten sie ihr gesagt. Das Telefon war unten. Im Nachthemd schlich sie die Treppe hinunter. Die Terrasse war leer. Sie atmete auf. Sie hatte dieses eine Mal gewonnen.
Aber dann sah sie Tim im Garten. Er hatte sich die Gartenliege aus dem Schuppen geholt und lag zusammengekauert da, mit dem Rücken zu ihr, und bewegte sich nicht.
Jetzt trieb er es zu weit. Er überspannte den Bogen. Das Bogenüberspannen war ja sein Sport geworden.
Ohne mich, dachte Karen.
Mit mir nicht, Freundchen.
Sie packte den Riemen an der Terrassentür und ließ den Rollladen herunter. Er krachte unten auf, die Schlitze gingen zu, keine Aussicht mehr, kein Garten, kein Tim.
Aber sie war kein Monster. Sie war nicht eiskalt. Sie war ein Mensch, Tim nicht. Er hatte zugedrückt, aber sie würde nicht zudrücken, sie war nicht er, sie war sie: Karen. Also ging sie in den Keller und holte ihren Schlafsack, den Minus-30-Grad-Schlafsack, zog den Rollladen wieder ein kleines Stück hoch, öffnete die Terrassentür und fing an, das Daunending durch die Öffnung zu stopfen. Jetzt würde Tim nachgeben, jetzt war er so weit, weichgeklopft, weichgefroren. Er würde in den Schlafsack schlüpfen und Ruhe geben, und am Morgen würde er verschwunden sein.
Eine Hand, Tims Hand, die Finger knochig, steif gefroren, die Nagelbetten eingerissen, griff nach dem Schlafsack und zerrte ihn nach draußen.
Karen ging ins Esszimmer, um auch dort den Rollladen zu schließen, aber da stand er schon, Tim, zitternd, die Lippen blau, seine Zähne schlugen aufeinander, er verzog wieder das Gesicht, streckte den Kopf in den Nacken.

Karen erschrak über sich, denn sie fühlte nichts, gar nichts, er sollte nur abhauen, der sogenannte Tim, und weg sein, WEG.
Er holte ein Feuerzeug aus der Hosentasche, so betont langsam, wie ein Zauberer auf der Bühne, der genau das Tuch und den Hut und die Münze zeigt, so zeigte Tim ihr das Feuerzeug. Er grinste. Dann versuchte er, den Schlafsack anzuzünden, brannte Löcher hinein, aber der Stoff fing nicht richtig Feuer. Es schmorte und rauchte nur. Tim sah sich um, hektisch, und dann öffnete er den Deckel der Regentonne. Er hämmerte mit dem Schlafsack in der Hand auf die Eisschicht ein und stieß durch und drückte den Schlafsack ins Wasser, sah Karen dabei an, mit diesem Grinsen, ein Verzerren der Öffnung, die kein Mund mehr war. Er zog den Schlafsack aus dem Wasser, schleppte ihn zur Gartenliege und zwängte sich hinein in den triefenden Klumpen und rollte sich so verpackt wieder ein, mit dem Rücken zu ihr.
Karen überlegte.
Na gut, wenn du willst, dachte sie. Wenn du meinst. Das kannst du haben, du Sohn, du.
Sie löschte die Lichter und stieg die Treppe nach oben.
Die Bettdecke war erst kühl, dann wurde sie warm. Schön, so ein Federbett. Karen lag in ihrer Betthöhle und atmete. Ein ganzes Leben lang nicht mehr froh zu werden, das ging doch nicht, das musste doch mal ein Ende finden.
Einst war ein Kind auf sie zugerannt, es war in ihre Arme geflogen, ein Vögelchen, sie fing es auf, sie drehten sich im Kreis, das lockige Haar, es wirbelte herum.

Aber wenn es stimmt
Max 2010

Ich heiße Max und gehe nicht auf eine normale Schule. Ich gehe auf eine Schule für Idioten. Meine Mutter sagt, dass ich das nicht sagen soll. Aber wenn es stimmt. Ich kenne keinen auf meiner Schule, der kein Idiot ist. Sogar Manuel ist ein Idiot, und er ist Klassenbester. Ich bin außerdem dick. Ich habe eine Brille und komische Zehen, die alle aus meiner Klasse eklig finden und ich auch. Deshalb darf ich keinen Sport machen. Ich darf nur Fahrradfahren, und ich hasse Fahrradfahren. Ich hasse Gemüse. Ich mag alle Süßigkeiten, die es gibt, wirklich alle. Ich stopfe sie in mich hinein, ich kann nicht anders. Mit Wurstbroten ist es genauso. Das einzige, was meine Mutter gut findet, ist das Schokomüsli, allerdings das knusprige. Sie freut sich, wenn ich es esse, obwohl sie weiß, dass es fast genauso ungesund ist wie Nutella. Für sie ist es eben immer noch ein Müsli. Dass meine Mutter sich über mich freut, kommt nicht gerade oft vor. Sie hat wahnsinnig viele Probleme mit mir und hat sich das sicher anders vorgestellt. Tja. Das sagt meine Oma immer: Tja. Ich muss jede Woche zur Ergotherapie und in die Beratung und alles. Ich bin nämlich verhaltensgestört. Das hat Lena zu mir gesagt, dass ich verhaltensgestört bin. Weil ich sie in den Schwitzkasten genommen habe. So schlimm finde ich das auch wieder nicht, das macht Robin mit mir jeden Tag in der Pause, und er macht es auch nicht viel kürzer als ich es mit Lena gemacht habe, nämlich die ganze Pause lang. Dann habe ich keine Zeit mehr, was zu essen, und ich muss es im Unterricht machen. Na und? Aber sie sagen wieder meiner Mutter Bescheid, ehrlich gesagt, was kann sie denn dafür, wenn ich im Unterricht esse, und ich muss wieder zur Beratung, dabei ist es in Wahrheit Robin, der verhaltensgestört ist, weil sein Vater ihn schlägt. Robins Vater ist ein Arschloch. Mein Vater ist weg. Ich weiß, warum. Meine Mutter sagt, ich soll das nicht sagen, weil es Unsinn ist. Aber wenn es stimmt. Meine Mutter weiß es eigentlich auch. Mein Vater ist wegen mir ausgezogen. Das ist eindeutig. Klar wie Kloßbrühe. Das sagt meine Oma immer: Klar wie Kloßbrühe. Ich habe sie streiten hören, meine Eltern, und es ging immer um mich. Einmal hat mein Vater gesagt: Es war eben ein Fehler. Tja. Und dann hat meine Mutter gesagt: Geh doch. Und er hat sofort seine Sachen gepackt und ist ungefähr eine halbe Stunde später aus dem Haus gegangen. Ich weiß das, weil die Simpsons immer noch liefen. Er ist nicht mehr wieder gekommen, nur ein einziges Mal, als er noch mehr von seinen Sachen geholt hat. Ich denke nicht daran, ihn zu besuchen. Er hat bloß darauf gewartet, dass meine Mutter sagt: Geh doch. Er wollte, dass sie das sagt. Ich vermisse ihn kein bisschen. Die Idioten in meiner Schule haben alle keinen Vater außer Lisa und die bescheuerte Anna-Marie, die überhaupt keinen Vater verdient hat. Also vor der würde ich als Vater erst recht davonlaufen. Wahrscheinlich können bloß Mütter bei Kindern bleiben, die Idioten sind. Sogar Adoptivmütter. Ich bin nämlich adoptiert. Tja. Manche Eltern holen sich ein Kind aus dem Heim, weil sie selber kein richtiges Kind machen können und weil es andere Eltern gibt, die ihr Kind nicht haben wollen. Meine Mutter (ich nenne sie immer meine Mutter, obwohl sie mich nur adoptiert hat, die andere nenne ich Schlampe), also meine Mutter sagt immer, ich soll das nicht sagen, Schlampe eben und dass die Schlampe mich nicht haben wollte. Aber wenn es stimmt. Meine Mutter sagt, die Schlampe konnte mich nicht gut versorgen, weil sie Probleme hatte, und die Schlampe wollte nur, dass ich es gut habe. Aber als Kind hat man es nicht gut, wenn man im Heim ist und dann adoptiert wird. Das sollte mal im Fernsehen kommen. Man kann das als Kind nämlich nicht verheimlichen. Alle wissen es, der ist bloß adoptiert, und wenn es Stress gibt, sagen sie, du hast ja nicht mal eine richtige Mutter, und die Schlampe hatte recht, dass sie dich nicht haben wollte. Mir ist das egal. Meine Mutter tut so, als würde es ihr nichts ausmachen, dass ich nicht auf einer normalen Schule bin und außerdem dick. Und wieso weint sie dann? Ich hab gesehen, wie sie geweint hat. Ich weiß auch, warum. Tja. Da holen sich Eltern ein Kind aus dem Heim, und dann ist es ein Idiot und verhaltensgestört. Das haben die sich bestimmt anders vorgestellt. Wahrscheinlich dachten sie, ich gehe mal aufs Gymnasium wie meine Cousins alle, und dass ich Fußball spiele. Oder Geige wie Lena. Meine Zehen waren allerdings schon verkrüppelt, als meine Eltern mich geholt haben. Ich hab sie gefragt, und sie haben Ja gesagt. Ich hätte an ihrer Stelle dann ein anderes Kind genommen. Ich hab auch gefragt, warum meine Zehen verkrüppelt sind und eklig aussehen. Meine Mutter hat nur gesagt, ich soll das nicht sagen, und hat mir keine Antwort gegeben. Ich weiß trotzdem, warum. Es war die Schlampe. Oder ich bin schon so geboren, und die Schlampe hat sich das Baby angeschaut, das aus ihr herausgekommen ist, so ganz blutig und verschrumpelt, und sie hat die Arme gesehen, die Finger, die Beine und dann die Zehen. Ich kann mir das total gut vorstellen. Sie ist ganz starr geworden und hat die Augen aufgerissen wie die Frau in dem Film mit dem Menschenfresser. Und die Schlampe hat sofort gerufen, dass sie das Kind mit diesen ekligen Zehen nicht haben will. Nein, so kann es in Wirklichkeit nicht gewesen sein. Das glaube ich nicht. Ich glaube, dass sie schuld ist, die Schlampe, dass ich verkrüppelt bin. Sie hat das gemacht. Ich träume nämlich von ihr, und sie hat Schlitzaugen. Ich kenne niemanden, der Schlitzaugen hat außer mir. Deswegen muss sie es sein. Sie ist wahnsinnig böse. Sie ist hinter mir her und hat eine Zange als Waffe, und ich kann mich nur ganz langsam bewegen, ich komme nicht vorwärts. Wie ein Faultier. Ich habe eins im Fernsehen gesehen, es war auf einer Straße und wollte wegrennen, das war wahnsinnig gefährlich auf der Straße, aber das Faultier ist eben das langsamste Säugetier der Welt, es kann überhaupt nicht wegrennen, es kann sich nur in Zeitlupe bewegen, und so ist das in meinem Traum auch, ich bin dann das langsamste Säugetier der ganzen Welt. Die Schlampe kriegt mich und packt mich, und dann wache ich auf und schreie, und Mama kommt zu mir ins Zimmer und beruhigt mich. Manchmal schreie ich einfach so, nur damit sie kommt. Sie kommt immer. Und sie redet ganz leise und riecht gut und streichelt mich. Aber das muss sie auch, sie ist ja meine Adoptivmutter. Da kann sie nicht sagen, sie lässt das Kind halt schreien, wenn es Albträume hat, weil sie lieber ihre Ruhe haben und weiterschlafen will. Das geht nicht. Da käme das Jugendamt und würde ihr sagen, dass sie keine gute Adoptivmutter ist. Zu meinem Vater ist das Jugendamt nicht gekommen, glaube ich, aber der ist ja nur der Vater. Der kann ruhig abhauen. Sogar Manuels Vater ist abgehauen, und Manuel kann nächstes Jahr vielleicht auf die normale Schule. Nur Lenas Vater, der würde wahrscheinlich nicht abhauen, weil der ist ein Vater wie in den Filmen, die ich früher mit Mama anschauen durfte. So Familienfilme halt. Da gab es immer einen total netten Vater. Damit werden die Kinder, die sich das anschauen, für dumm verkauft. Lass dich nicht für dumm verkaufen, sagt meine Oma immer. Es gibt nur einen einzigen Vater auf der Welt, der so ist wie in den Filmen, und den hat Lena, meine Cousine, für alle anderen ist keiner mehr übrig. Ich hasse Lena. Sie bildet sich auf ihren Vater und auf ihre Brüder was ein. Ich habe keinen Bruder. Zum Glück. Wenn Eltern ein eigenes Kind haben und dazu noch ein Adoptivkind, dann mögen sie das eigene Kind automatisch lieber. Jan ist Lenas großer Bruder, und er hat mich geschlagen, weil ich sie in den Schwitzkasten genommen habe. Die arme, kleine Lena! Sie heult immer gleich los, auch wenn ich noch gar nichts gemacht habe. Und sie freut sich, wenn ihr Bruder mich schlägt. So arm ist sie nämlich gar nicht. Ich hab ihr gesagt, wenn sie mich verpetzt, dann sorge ich dafür, dass sie ins Heim kommt, und da wird sie dann von ganz bösen Eltern adoptiert, die ihr weh tun und ihr nichts zu essen geben, und ihre Brüder können ihr dann auch nicht mehr helfen oder ihr Vater. Die richtigen Eltern dürfen nämlich die Kinder nicht mehr sehen, wenn sie erst einmal adoptiert sind. Die richtigen Eltern dürfen dann gar nichts mehr. Nicht zum Geburtstag und nicht zum Schulanfang kommen und keine Geschenke bringen, nicht einmal anrufen. Die Schlampe wollte mich eh nicht anrufen. Sonst hätte sie mich ja nicht ins Heim gebracht. Das wäre unlogisch. Wer sein Kind ins Heim bringt, sollte eine Giftspritze kriegen wie in Amerika. Oder auf dem elektrischen Stuhl landen. Da kommen die Augen herausgequollen, das habe ich bei Robin in einem Film gesehen. Ich muss immer daran denken. Ich habe oft Angst, weil ich mir vorstelle, wie die Augen so herausquellen. Das war das ekligste, was ich je gesehen habe. Außer der Frau, die vom Teufel besessen ist. Das war noch ekliger, und ich habe oft Angst, weil ich daran denken muss. Mit Robin schaue ich immer Filme an. Ich sage meiner Mutter, ich gehe Rad fahren, aber ich fahre bloß zu Robin rüber, stelle mein Rad bei ihm in den Hauseingang, und dann schauen wir Filme an. Robins Vater hat auch Sexfilme. Man kann alles genau sehen. Die Schlampen in den Filmen kriegen es richtig besorgt. Das hat Robin gesagt. Und dass ich es bei ihm genauso machen soll, aber ich habe bloß die Hand genommen. Ich will keine Schwuchtel sein wie Thomas, der andere Bruder von Lena. Er hat es selbst zugegeben, sie hat es mir erzählt. Wenigstens hat sie einen schwulen Bruder, das geschieht ihr recht. Ich hab ihr gesagt, dass wir es ausprobieren müssen, wie das geht, wenn man nicht schwul ist, also in echt, und dass das alle machen, und sie hat sich nicht gewehrt. Ich hab gesagt, wenn sie es irgendwem erzählt, kommt sie ins Heim und wird adoptiert von Leuten, die den ganzen Tag mit ihr das gleiche machen wie ich. Sie hat geweint. Das hat ihr recht geschehen. Was soll daran auch so schlimm sein. Aber ich muss dauernd denken, dass sie es doch jemandem sagt. Dass meine Mutter es erfährt und mich wieder ins Heim bringt. Das geht, man kann Kinder zurückgeben, wenn sie etwas sehr Schlimmes gemacht haben.
Mama? Ich war das nicht! Es ist dunkel. Ich schreie. Du musst kommen, Mama, ich hab Albträume, komm, bitte komm, dann kann ich sehen, dass du es nicht weißt. Ich werde mir Mühe geben und auf die normale Schule kommen. Ich gehe nicht mehr zu Robin. Ich gehe nicht mehr zu Lena. Mir ist schlecht. Vielleicht bin ich vom Teufel besessen. Mama?
Sie sagt, alles ist gut. Sie ist ganz warm. Sie sagt, du brauchst keine Angst zu haben. Du hast nur geträumt. Aber das stimmt nicht.

7 Kommentare

  1. Sie packt. Sie greift nach mir. Einfach so. Die Autorin: Heike Duken. Mit dieser LP hat sie mich am Wickel und ich würde allzugerne wissen, was zwischen diesen Jahren geschah.

  2. Anika Brox

    Es entstehen schlimme Bilder im Kopf, aber die Autorin schreibt so eindringlich, fesselnd und sprachlich gut, dass ich trotzdem weiterlesen würde (zugegebenermaßen immer in der Hoffnung auf ein paar kleine Lichtblicke).

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