Kategorie: Leseprobe

Leseprobe: Ela Meyer – “Es war schon immer ziemlich kalt”

1

Marc und ich hatten den ersten milden Frühlingsabend auf der Hafentreppe gesessen und schweigend aufs Wasser gestarrt.
Unter uns die Elbe, die sich wie ein unruhiges Tier vorüberwälzte und die Lichter vom Freihafen und den Industrieanlagen spiegelten sich auf der schwarzen Wasseroberfläche. Es war unmöglich, zu erkennen, was sich darunter befand. Marc öffnete den Mund nur, um Bier zu trinken und ich störte ihn nicht in seinen Gedanken, war schläfrig und dankbar, nicht reden zu müssen, empfand die Stille zwischen uns wie einen Gleitflug, frei von Anstrengung. Erst auf dem Weg nach Hause, begann er zu sprechen.
„Ich zieh nach Friesland zurück. Ins Dorf“, sagte er und sah mich nicht an.
Ich grinste, sagte: „Schon klar“, wartete darauf, dass auch er grinsen würde, aber sein Gesicht blieb ernst.
„In zwei Monaten.“
„Du spinnst!“
Marc schüttelte den Kopf.
Einmal, vor Jahren, hatte ich auf einem abgeernteten Maisfeld gestanden, gleich hinter unserem Dorf. Eine riesige Fläche, und die abgemähten Stoppeln hatten wie Stacheln aus der Erde geragt. Ein Rauschen, das ich nicht hatte einordnen können, hatte sich von hinten genähert. Ich drehte mich um und sah eine Wand aus Regen auf mich zurasen. Mir blieb gerade noch Zeit, die Kapuze aufzusetzen, da erreichte sie  mich. Kaltes Wasser trommelte auf meinen Kopf, umschloss mich, drang durch meine Jacke. Innerhalb von Sekunden war ich durchweicht, hatte das Gefühl zu schrumpfen und ich hockte mich auf den Boden, umschloss meine Beine mit den Armen, um mich vor dem Regen und der Kälte zu schützen.
Jetzt kam es mir vor, als würde ich wieder auf diesem Feld stehen. Marc räusperte sich, als wollte er etwas sagen, aber es kam nichts. Ich beschleunigte meine Schritte und wir bogen in unsere Straße ein. Die Laternen versprühten weißes Licht, das nicht ganz bis zu uns nach unten gelangte. Alles viel zu dunkel: Der Spielplatz, die Büsche, die vollgesprühten Hauseingänge und Toreinfahrten. Unter einem geparkten Auto schoss eine Katze hervor und flitzte vor unseren Fü.en entlang. Für einen kurzen Moment wurde mir schwindelig, ob vom Alkohol oder Marcs Ankündigung, schwer zu sagen.
„Aber warum? Was willst du da?“, fragte ich und wühlte in meiner Umhängetasche nach dem Schlüssel.
„Die Werkstatt von meinem Opa wieder aufmachen.“
„Das heißt, du bleibst länger?“
„Ich zieh da hin.“
„Nach Friesland? Ins Dorf?“
„Ja, hab ich doch eben gesagt.“
Wir stapften hintereinander die Treppe hinauf, ich vorne, Marc hinter mir her. Durch die verglasten Eingangstüren der Wohnungen schien kein Licht, es war nach eins und ich müde, war um sechs aufgestanden. Kein Wunder, dass es mir die Sprache verschlug, Marc hatte den Moment günstig gewählt, spekulierte vermutlich darauf, dass ich zu fertig wäre, um mit ihm zu diskutieren.
Oben angekommen steuerten wir direkt die Küche an. Ich schnitt dicke Scheiben vom Brot, die er mit Käse belegte und in den Sandwichtoaster schob, eingespieltes Team, das wir waren. Marc holte zwei Flaschen Bier aus dem Kühlschrank und wir stießen an.
„Paula?“
„Hm?“
„Bist du sauer?“, fragte er.
Sauer, verwirrt, ich wusste es nicht. Hatte nicht vergessen, welche Befreiung es gewesen war, Friesland hinter uns uns gelassen zu haben, damals vor acht Jahren. Jedes Mal, wenn ich ans Dorf dachte, war dort Winter. Um zu den anderen Jahreszeiten vorzudringen, musste ich tiefer schürfen. Als erstes Bild tauchte in meinem Kopf immer das letzte Stück des Wegs nach Hause auf, eine Abkürzung, die ich jeden Tag mit dem Rad genommen hatte, nur fünfhundert Meter von der Haustür entfernt, wo ich nie anzukommen schien, ein Standbild am Ende des Hohlwegs. Pfützen, in denen sich schmierig-braun das Wasser sammelte, Nieselregen, meine Hände am Lenker wie festgefroren, die Bäume kahl, die Rinde schwarz von der Feuchtigkeit. Der graue Himmel und die kurzen Tage, die die Sonne an den Rand der Welt gedrängt hatten. Stillstand, die Stille so still, dass sie in den Ohren dröhnte. Nicht nachvollziehbar, dass er dorthin zurückwollte. Marc stapelte die fertigen Brote auf das Schneidebrett und schob es auf den Tisch. Wir hockten uns nebeneinander aufs Küchensofa, ich breitete die Wolldecke über uns aus und wir stopften die Käsetoasts in uns hinein. Seit wir zusammen wohnten, hatte ich mir das Schlingen angewöhnt. Marc war ein schneller Esser, wenn es ums Teilen ging, musste ich dafür sorgen, nicht zu kurz zu kommen. Er behauptete, ich würde mindestens so ein Tempo vorlegen wie er, weshalb er aufpassen müsse, nicht abgehängt zu werden, wollte mir nicht glauben, dass er mit dem Wettfuttern angefangen hatte. Jetzt riss ich mit den Zähnen dicke Stücke vom Toast ab und verbrannte mir den Gaumen.
„Mir wäre es auch lieber gewesen, noch zu warten“, sagte Marc, „aber meine Oma macht Druck.“
„Aha.“ Ich formte ein O mit den Lippen und sog kühle Luft ein.
„Ja, der Bauer, der seine Maschinen in der Werkstatt unterstellt, hat sich eine Scheune gebaut und gekündigt und sie meint, wenn ich jetzt nicht zusage, verkauft sie. Das ist meine letzte Chance.“
Schon als Kind hatte Marc immer nur Automechaniker werden wollen, hatte sich jede freie Minute bei seinem Opa in der Werkstatt herumgedrückt und davon geträumt, sie eines Tages zu übernehmen. Wir waren fünfzehn Jahre alt gewesen, als er Nico und mir vorgeschwärmt hatte, wie er die Wände neu kalken und in dem angrenzenden Raum eine Teeküche einbauen würde.
„Mit Sofas zum Abhängen und immer einer Kanne Tee und Rumkandis.“ Rumkandis waren damals voll angesagt gewesen bei uns.
„Und dann veranstalte ich Konzerte, Heavy Metal auf der Hebebühne.“
„Keinen Punk?“, hatte Nico gefragt.
„Doch auch, aber Metal wegen Metall, Autowerkstatt.“
„Ja, ja, schon kapiert.“
„Und in die Grube projizieren wir Horrorfilme. Oder ich spann draußen am Tor eine Leinwand und davor parken die Leute. Frieslands erstes Autokino!“ Marc war immer lauter geworden, klang wie ein Jahrmarktschreier.
„Willst du dann trotzdem noch Autos schrauben, ich meine trotz Autokino und Konzerten?“, hatte ich gefragt.
„Na, klar, ist doch das Wichtigste!“
Marcs Ambitionen waren also nichts Neues, aber wie ernst es ihm tatsächlich damit war, hatte ich unterschätzt, obwohl er seinem Ziel Jahr für Jahr, wie ein Aufziehauto, entgegengetuckert war. Lehre, Gesellenzeit, Meisterschule.
Immer am Schrauben und noch immer nicht genug davon.
„Ich sollte nicht so überrascht sein, oder?“, fragte ich.
„Ne, ich hab immer gesagt, dass ich das irgendwann machen will.“
„Eben, irgendwann, ich dachte, wenn wir älter sind, aber doch nicht jetzt. Und was ist mit deiner Band, deinen Freunden, deinen Lovern, und was wird aus mir?“
Ich hatte geglaubt, die Werkstatt gehörte zu der Sorte von Träumen, die man ein Leben lang hegt, aber nie verwirklicht, weil der Traum dann kein Traum mehr wäre, weil der Traum im Laufe der Jahre so fett geworden war, dass er niemals den an ihn gerichteten Erwartungen gerecht werden konnte.
Vielleicht hatte ich das auch nur glauben wollen. Ich ballte die linke Hand, die auf meinem Oberschenkel lag, zur Faust, hob sie auf Schulterhöhe und ließ sie knapp neben Marcs Hand auf die Tischplatte plumpsen. Unsere Blicke trafen sich und an der Art, wie er den Mund seitlich verzog, erkannte ich sein Unbehagen. Mit seiner Hand fuhr er die wenigen Zentimeter bis zu meiner Faust, die wie ein toter Vogel zum Liegen gekommen war, und machte Anstalten, sie darauf zu legen, aber ich zog sie weg und versteckte sie unter der Achsel.
„Du könntest mitkommen“, sagte er.
„Zurück nach Friesland?“
„Ja, warum nicht?“
„Ins Dorf?“
Er nickte und ich schüttelte den Kopf.
Marc lachte. „Was denn, wenn ich zurückgehe, kannst du das auch.“
„Eine Woche würde ich mir geben, höchstens. Nach einem Tag mit meiner Mutter krieg ich schon die Krise.“
„Das liegt aber nicht am Dorf.“
„Na, und? Ich will hier nicht weg.“
Unsere Wohnung war klein, die Küche mit dem Sofa der größte Raum. Marc hatte sich ein Hochbett in sein Zimmer gebaut, darunter staute sich sein auf Flohmärkten und vom Sperrmüll zusammengetragener Krempel. Fahrrad- und Mofateile, rostige Werkzeuge, seine Sammlung altertümlicher Trockenhauben, die wie Lampenschirme an den Wänden hingen und die er als Kleiderständer benutzte. Nach und nach waren aus seinem Zimmer immer mehr Sachen in die restliche Wohnung gesickert.
Mein Blick fiel auf den katzenförmigen Topfuntersetzer, seine Spielesammlung, mit der wir nie spielten, den vor Jahren angefangenen Fliegenvorhang aus Kronkorken.
Unvorstellbar der Gedanke, dass all das verschwände, wenn er auszog.
„Leicht fällt es mir auch nicht, hier abzuhauen, das kannst du mir glauben, aber ich bin ja nicht aus der Welt. Hab lange genug davon geträumt, nun ist auch mal gut. Du weißt schon, jetzt oder nie, und ich glaube, meiner Oma ist es nur recht, wenn sie nicht mehr länger alleine in dem großen Haus leben muss.“
„Du ziehst bei ihr ein?“
„In die obere Etage, in die Wohnung, die seit Jahren leer steht, du weißt schon, die von der alten Wilken. So haben wir beide unseren eigenen Bereich und ich bin bei ihr, wenn mal was ist. Sie wird langsam en beten tüdelig. Außerdem werde ich voll oft hier sein und dich besuchen und proben und Großstadtluft tanken.“
Auf dem Brett lag noch eine Scheibe Toast, ich schnitt sie in der Mitte durch, der Käse zog sich wie Kaugummi, ich wickelte mir die Fäden um den Zeigefinger und lutschte ihn ab.
„Weißt du, was komisch ist“, sagte Marc und biss in seine Hälfte. „Mit jedem Jahr, das ich nicht mehr dort wohne, erscheint mir das Dorf idyllischer. Ich weiß nicht mal mehr, warum wir es da so scheiße gefunden haben.“
„Soll ich es dir erzählen?“
„Ne, lass mal.“
Das Dorf war eine Ansammlung von Höfen und Einfamilienhäusern inmitten eines Monokulturanbaugebiets, Mais. Wenn es nicht nach Gülle stank, wurde gespritzt.
Dahinter erstreckten sich platte Wiesen, im Sommer grün, den Rest des Jahres braun oder gelb, vom Wind gekrümmte Bäume und hinter dem Deich die Nordsee. Kilometerweit graubraune Matsche, bis zum Horizont, ab und an vom Meer unter Wasser gesetzt. Ich habe die Nordsee fast nie voll gesehen, meistens streckt sie der Welt das nackte Wattenmeer entgegen. Der ewige Wind, die einsamen dunklen Winter, die Monotonie der Landschaft und die Abgeschiedenheit waren nur einige Gründe, weshalb ich froh war, nicht mehr dort leben zu müssen.
Der Kühlschrank sprang an, zwei Gläser klirrten aneinander, schienen direkt in meinem Kopf zu klirren. Entnervt stand ich auf und rüttelte daran, bis er verstummte, dann zog ich meinen Tabak aus der Tasche und drehte mir eine. Meine linke Hand war seit zwei Tagen taub, als wäre sie eingeschlafen.
Die Kippe hatte die Form eines Regenwurms.
„Solange du nicht von mir erwartest, dass ich mich für dich freue“, sagte ich zwischen zwei Zügen.
Marc nuckelte an seinem Bier und duckte den Kopf, ich kannte das von ihm, dieses Hals einziehen, als wäre der aus Gummi.
Das hatte er zu Hause bei seinen despotischen Eltern gelernt.
„Was ist mit deinen Alten, hast du ihnen schon die frohe Kunde gebracht, dass ihr bald Nachbarn sein werdet?“
„Oma hat es ihnen erzählt.“
„Und freuen sie sich?“
Marc antwortete nicht, vermied meinen Blick, sah zur Uhr, die in Form eines Apfels über der Spüle hing. Ein Rankgewächs hatte sich um das Ziffernblatt geschmiegt und es sah aus, als würde der Apfel eine grüne Perücke tragen. Es war nach zwei und ich seit über zwanzig Stunden wach.
„Macht bestimmt Spaß, sie jeden Tag zu sehen.“
Er antwortete nicht.
„Kannst Sonntags immer schön mit ihnen essen.“
„Ist gut, ich hab verstanden, du findest die Idee zum Kotzen, aber denk auch mal an meine Oma.“
„Okay, nur mal angenommen, deine Oma wäre fit oder schon tot, würdest du dann auch zurückgehen?“
„Sag so was nicht!“ Es entging mir nicht, wie Marc reflexartig mit der rechten Hand das hölzerne Tischbein berührte.
„Stell dich nicht so an. Würdest du? Ja oder nein.“
„Ja.“
„Also, dann komm mir nicht mit der Samariternummer.“
Marc wurde rot, der Kühlschrank klirrte erneut, ich trat dagegen und er verstummte. Viel lieber hätte ich Marc getreten. Ich schluckte die Tränen hinunter, die sich ihren Weg hinaus bahnen wollten, legte den Kopf in den Nacken und sah an die Decke, damit sie wieder zurückrollten, dorthin, woher sie gekommen waren. Über mir schaukelten Spinnweben und Staubfäden im Luftzug, der durch die undichten Fenster drang.
Marc war seit dem Kindergarten mein bester Freund, war wie ein drittes Bein, an das ich mich gewöhnt hatte und das mir Stabilität und Standhaftigkeit gab. Wir benutzten dieselbe Gesichtscreme, hatten Magendarmgrippen, Herpes und Läuse miteinander geteilt, und die Vorstellung, ohne ihn auf Konzerte zu gehen, in die Kneipe oder ins Kino, ohne ihn zu kochen und zu essen, Fernsehen zu glotzen und herumzuhängen, verursachte mir Übelkeit. Es war, als hätte er mir die Decke weggerissen, unter der wir beide eben noch nebeneinander gesessen hatten.
„Ich wollte nie wirklich weg aus Friesland.“ Marcs Stimme hatte einen trotzigen Ton angenommen. „Du warst die, die dauernd rumgejammert hat, wie schrecklich sie da alles findet. Mir hat es dort gefallen, die Ruhe, die frische Luft, die Weite.“
Der Stillstand, die Gülle, die dörfliche Enge, hätte ich dagegen setzen können, aber er hatte recht. Nico und ich waren es gewesen, die die Tage gezählt hatten, wann wir dem Ganzen endlich den Rücken kehren konnten. Marc war zufrieden gewesen mit dem Geschraube bei seinem Opa, seiner improvisierten Mofawerkstatt, unserem Schuppen und der Band.
Wenn er nicht so viel Stress mit seinen Eltern gehabt hätte, die weder seine Berufswahl noch sein Schwulsein akzeptierten, wer weiß, vielleicht wäre er sogar geblieben.
„Dann sei doch froh, dass du das alles bald wieder hast“, sagte ich.
„Bin ich auch.“
„Dann ist ja gut. Seit wann steht dein Plan?“, fragte ich.
„Als ich nach Neujahr meine Oma besucht habe, kam das Thema auf, aber fest erst seit gestern. Da hab ich mit der Bank geredet, wegen Kredit und so.“
Das Lachen tat mir im Hals weh. Marc auf der Bank wegen Kredit und so. Ich erinnerte mich daran, als er wieder gekommen war, am dritten oder vierten Januar. Seine Oma hatte ihm eine riesige Dose Neujahrskuchen mitgegeben, die, inzwischen leer, oben auf dem Regal stand. Mit keinem Wort hatte er die Werkstatt erwähnt, weder am Abend nach seiner Rückkehr, als wir die Dose erst bei Tee und später bei Grog fast geleert hatten, noch in den folgenden Tagen.
„Warum hast du mir vorher nichts gesagt?“
„Ich hatte Angst, dass du sauer wirst und ich wusste ja auch nicht, ob es klappt.“
Marcs Angst vor Konflikten, schnell den Hals einziehen und sich klein machen, wenn es mal ungemütlich wurde. So wie jetzt, Arme und Beine unter der Decke zusammengeklappt, die Brille schief auf der Nase, die er zu groß fand, aber ich konnte mir keine andere für ihn vorstellen. Er wirkte traurig, müde und ein bisschen betrunken. Alles in seinem Gesicht hing nach unten. Vermutlich sah ich ähnlich aus.
„Los, lass uns schlafen gehen“, sagte ich, nahm meine Tasche vom Stuhl, die ich beim Nachhausekommen darauf geworfen hatte, und verließ die Küche. Erst, als ich die Tür zu meinem Zimmer geschlossen hatte, hörte ich, wie er vom Sofa aufstand und ins Bad schlurfte. Mein Körper sank tonnenschwer auf die Matratze. Eine Wohltat, der Schmerz der Entspannung. Ich angelte nach dem Kuli, der neben mir auf dem Boden lag und markierte, bis wohin die Taubheit meiner Hand reichte, die zweite Linie, mehr als einen Zentimeter über der ersten. Mit der Rechten knipste ich die Nachttischlampe aus und als ich die Augen schloss, überfiel mich der Schlaf wie ein ausgehungertes Tier.

2

Am nächsten Morgen erwachte ich vom Zuknallen der Wohnungstür. Marcs Schritte polterten die Treppe hinunter, mein Wecker zeigte fast halb zwölf und durch das Fenster drang das Gekreische der Nachbarkinder und das monotone Gurren der Tauben. Im Zimmer war es kalt, das Fenster die Nacht über gekippt gewesen. Dies war mein einzig freier Tag der Woche und Marc und ich hatten verabredet, zusammen auf den Flohmarkt zu gehen, wollten danach in der Frühlingssonne Kaffee trinken und später ein paar Freunde zum Essen einladen. Nach dem gestrigen Abend war ich mir nicht mehr sicher, ob wir den Tag gemeinsam verbringen würden. Wie ich ihn kannte, hatte Marc sich verkrümelt, um mir aus dem Weg zu gehen. Wäre er zu Hause und zwischen uns alles im Reinen, hätte ich ihn gefragt, ob er mir einen Kaffee brächte. Ein Ritual an freien Tagen, uns gegenseitig Tee oder Kaffee ans Bett zu bringen. Dann kuschelten wir uns unter die Decke und quatschten und tranken unsere morgendlichen Heißgetränke und überlegten, was wir den Tag über unternehmen würden. Aber Marc war nicht da, mit uns war nicht alles im Reinen und meinen Kaffee würde ich mir selber kochen müssen.
In der Küche hing der Wachsgeruch des ausgeblasenen Teelichts, das im Stövchen unter Marcs Morgentee gebrannt hatte. Seine Zimmertür stand offen, genau, wie das Badezimmerfenster, und es zog kalt herein. Im Flur klingelte das Telefon.
„Hallo.“
„Hi, ich bin‘s.“
Nicos Stimme war mir fast so vertraut, wie meine eigene, auch wenn wir uns nur noch alle zwei oder drei Monate sahen.
Er wohnte in Hannover, wo er studiert hatte und nun als Musikpädagoge arbeitete. Den Hörer zwischen Ohr und Schulter geklemmt, drehte ich die Espressokanne auf und befüllte sie mit Wasser und Pulver. Nico klang beschwingt, kam gerade vom Joggen, war schon immer ein ehrgeiziger Renner gewesen und bei jedem Wetter den Fluss im Dorf entlang geprescht. Selten hatte ich ihn so gelöst gesehen, wie nach einem ausgiebigen Sprint, wenn er sich ins Gras fallen ließ, die Kiefer entspannt, das schweißige Gesicht und der Blick weich von den Endorphinen, die ihm beim Laufen durch den Körper gespült wurden. In solchen Momenten wollte ich mich ganz nah neben ihn ins Gras legen.
Während ich darauf wartete, dass der Kaffee nach oben blubberte, öffnete und schloss ich meine linke Hand, in der Hoffnung, sie so aus dem Tiefschlaf zu erwecken.
„Wie lange geht dein Job noch?“, fragte er.
„Zwei Wochen.“
„Perfekt! Und danach?“
„Keine Ahnung, warum?“
Ich arbeitete als Aushilfsbriefträgerin. Gute Bezahlung und viel Bewegung. Mit dem schwer beladenem Rad gelangte ich in Ecken Hamburgs, die mir so fremd waren, als wäre ich in einer anderen Stadt. Angenehmer wäre die Arbeit im Sommer, da bei Regen und Kälte das Briefeaustragen schnell zur Qual wurde. Mit rot gefrorenen Fingern die Post heraussuchen, die Umschläge und Zeitschriften, die klamm und nass aneinanderklebten. Morgens vor Sonnenaufgang aufstehen, auch Samstags. Die Temperaturen waren zwar in den letzten Tagen gestiegen, trotzdem hatte ich nichts dagegen, dass mein Vertrag bald auslief, und ich wieder Arbeitslosengeld beantragen konnte.
„Hast du Lust, mitzukommen, meine Mutter besuchen?“, fragte Nico.
„Deine Mutter?“ Das hatte ich nicht erwartet, hatte er sie doch, seit sie sich vor über zehn Jahren nach Spanien abgesetzt hatte, nicht mehr gesehen, hatte ihr nie verziehen, dass sie damals, er war sechzehn gewesen, ohne Vorankündigung oder Erklärung, ihre Sachen gepackt und abgehauen war. Nur zu gut erinnerte ich mich an den Morgen, der auf den Abend ihre Verschwindens gefolgt war. Nico war kurz nach Sonnenaufgang bei mir zu Hause aufgetaucht, unter seinen Augen so dunkle Schatten, dass ich im ersten Moment gedacht hatte, er wäre verprügelt worden. Seine Lederjacke hing ihm von den Schultern, die Schnürsenkel seiner Doc Martens flatterten um seine Knöchel und die dunklen Haare hingen wirr um seinen Kopf und verliehen ihm das Aussehen eines Welpens, der sich im Sturm verlaufen hatte. An diesem Morgen hatte ich Nico das erste Mal weinen gehört, ein rostiges Schluchzen, das sich in meine Brust bohrte.
„Wann denn?“, fragte ich jetzt und schloss Marcs Zimmertür.
„In zweieinhalb Wochen.“ Robert, sein Vater, hatte ausgemistet und wollte die letzten Sachen seiner Exfrau loswerden. Nico sagte, er hätte ihm angeboten, sie ihr zusammen mit Marc und mir zu bringen, vorausgesetzt, wir hätten Zeit und Lust mitzukommen. Er schlug vor, mit Marcs und meinem hundertfach geschweißten Mercedesbus zu fahren, quer durch Frankreich, dann ein paar Tage bei seiner Mutter zu bleiben und wieder zurück. Drei bis vier Wochen insgesamt. Da ich nicht weiter, als bis zur Beantragung des Arbeitslosengeldes geplant hatte, kam mir der Urlaub gelegen. Er würde mir Aufschub geben und mit dem Abstand hoffentlich die nötige Klarheit bringen, was ich als nächstes tun sollte.
„Warum nicht“, sagte ich.
„Cool, dann muss ich nicht alleine mit ihr sein.“
„Ist Leo denn nicht da?“
„Interessiert mich nicht, ob der da ist oder nicht!“
Leo war sein leiblicher Vater und der ehemals beste Freund von Robert. Nico hatte erst von ihm erfahren, als seine Mutter abgehauen und zu ihm gezogen war. Bisher waren sie sich weder begegnet, noch hatten sie den Versuch unternommen, Kontakt zueinander aufzunehmen. Beide schienen so tun zu wollen, als ob der jeweils andere nicht existierte. Nico aus Solidarität mit Robert, wie ich vermutete, über Leos Motive würde ich in wenigen Wochen sicherlich mehr wissen. Mir war bekannt, dass das Leo-Thema, genau wie das Mutter-Thema, tabu war, doch da er das eine aufgemacht hatte, war ich davon ausgegangen, dass das andere nun auch diskutiert werden durfte.
„Ja, ja, sorry, war ja nur eine Frage. Und du bist sicher, dass du deine Mutter sehen willst?“
„Ja, klar, aber ich hab auch Schiss, ist doch normal.“
„Vermutlich.“
Seine Mutter war mir immer verdächtig vorgekommen. Allein, wie sie jeden Morgen, nach allen Seiten grüßend und lächelnd, mit dem Rad durchs Dorf zur Arbeit gefahren war und am Nachmittag, die Fahrradkörbe vollgestopft mit Blumen und Obst und üppigen Salatköpfen, zurückgeradelt kam. Als wäre sie direkt aus der Rama-Werbung gefallen. Viel zu positiv war mir das alles vorgekommen, um echt zu sein. Und recht hatte ich behalten.
„Keiner zwingt dich, hinzufahren, sie kann sich ihren Kram doch auch selber abholen“, sagte ich, setzte mich mit dem fertigen Kaffee aufs Küchensofa und wickelte die Decke um mich.
„Ja, aber ich kann auch nicht ewig vor ihr wegrennen.“
„Können schon.“ Dass Nico bei dem bevorstehenden Besuch mulmig war, verstand ich, was ich nicht verstand, war, warum er sie auf einmal unbedingt sehen wollte. Bestimmt nicht wegen der Kisten. Ich drehte mir eine Kippe, inhalierte den Rauch und hustete. Der erste Zug am Morgen war immer hart.
„Ich glaub, ich bin nie drüber weggekommen, dass sie einfach abgehauen ist. Nicht, dass ich ständig daran denke, aber die Nummer, die sie gebracht hat, und dann noch ohne Vorwarnung, das kann nicht spurlos an mir vorbeigegangen sein. Ich hab dir doch mal erzählt, nachts, wenn es still ist, dann hab ich so ein Summen im Kopf. Das kommt bestimmt von dem Trauma.“
Nico hatte vor vier Monaten eine Therapie begonnen und ich vermutete, sein Therapeut nötigte ihn, in den alten Geschichten herumzuwühlen.
„Du meinst deinen Tinnitus.“
„Ja, genau. Und weißt du was krass ist, manchmal erinner ich mich nicht mal mehr genau daran, wie sie aussieht. Ich hab Angst, dass ich es bereue, wenn ich ihr nicht noch mal eine Chance gebe.“
Ich hoffte, seine Mutter würde die Chance zu nutzen wissen.
Wie ich Nico einschätzte, würde es so schnell keine weitere geben.
Schon einmal, wenige Monate nachdem sie sich davon gemacht hatte, hatten er und ich und Marc zu ihr nach Spanien fahren wollen. Nico und ich waren siebzehn gewesen, Marc ein Jahr älter. Er hatte gerade erst seinen Führerschein bestanden, das Abi ein Jahr vor den Prüfungen geschmissen und war einige Wochen zuvor von zu Hause abgehauen. Einen so radikalen Schnitt hätte ich ihm niemals zugetraut. In der Nacht unserer Abreise hatte Marc seinen Eltern einen letzten Besuch abgestattet. Nico auf der Rückbank, ich auf dem Beifahrersitz, im Kofferraum unser Gepäck. Er hatte mit der Motorhaube Richtung Straße geparkt und war zur Haustür gerannt, hatte den Finger auf die Klingel gedrückt, die wie ein Alarm schrillte, bis sie herausgekommen waren, sein Vater und seine Mutter, beide in Bademänteln.
„Übrigens, ich bin schwul und fahr jetzt nach Spanien!“
Seine Stimme gellte durch die Nacht, Nico und ich johlten und klatschten Applaus. Ohne ihnen Gelegenheit zu geben, zu reagieren, war er ins Auto gesprungen und mit quietschenden Reifen losgerast. Weiter als bis nach Holland waren wir nicht gekommen, weil das Auto unter uns zusammengebrochen war. Marc und ich wären auch noch weiter getrampt, aber Nico hatte seine Meinung geändert und entschieden, seine Mutter nie wieder sehen zu wollen.
„Schon das Neuste gehört?“, fragte ich. „Marc will zurück nach Friesland.“
„Ich weiß. Er hat mich vor zwei Wochen oder so angerufen.“
Asche fiel auf die Wolldecke und als ich darüberwischte, blieb ein grauer Schatten auf dem orangefarbenen Stoff zurück. Marc hatte Nico vor mir von seinen Plänen erzählt.
Mein Magen zog sich zusammen, der bittere Geschmack der Eifersucht. Sie hatten ohne mich darüber geredet und dann offensichtlich beschlossen, mir nichts zu verraten.
„Der Arsch! Ihr beide! Wieso habt ihr mir nichts gesagt?“
„Er hat Angst, dass du es ihm ausreden willst“, sagte Nico.
„Natürlich will ich das, was sonst?“
„Siehste! Genau darum. Ich glaub, er wollte nie wirklich weg aus Friesland. So oft, wie er seine Oma besucht, hatte er die ganze Zeit Heimweh, wenn du mich fragst. Für ihn ist das bestimmt das Richtige.“
„Aber nicht für mich.“
„Es geht aber nicht immer nur um dich und außerdem, wer weiß. Tut euch bestimmt ganz gut.“
Ich hätte mir gewünscht, Nico auf meiner Seite zu wissen. Er hatte Einfluss auf Marc, fand immer die überzeugendsten Argumente, schien immer besser als andere zu wissen, was richtig oder falsch war, als hätte er eine Art moralischen Kompass eingebaut. Wenn er seine Meinung sagte, war es, als würde er eine Wahrheit verkünden. Die erste Zeit unserer Freundschaft war ich gleichermaßen fasziniert und eingeschüchtert von ihm gewesen. Ich war gerade aufs Gymnasium gekommen und saß zunächst neben einem Mädchen aus dem Nachbardorf, das ständig in der Nase bohrte und die Popel danach aufaß. Niemand wollte mit ihr befreundet sein. Mir war das Gepopel egal und wir taten uns zusammen. Zu zweit waren wir nicht länger allein. Die Popelfresserin wollte nicht, dass ich meine Pausen mit Marc, der einen Jahrgang über uns war, verbrachte, sie forderte alleinige Aufmerksamkeit, und ich wechselte meinen Sitzplatz. Von da an saß ich neben einem schmächtigen Jungen, der finster blickte und nie etwas sagte. Marc hatte mir erzählt, dass er gerade erst bei ihm gegenüber eingezogen sei, sie aber noch kein Wort miteinander gewechselt hätten. In den Pausen saß er alleine auf einem Hügel, der mit alten, halb eingebuddelten Autoreifen bedeckt war. Die Schulhofausstattung hatte die Stadt nicht viel gekostet. Autoreifen und Asphalt und Bänke aus Beton. Der Neue hockte oben auf dem Autoreifenhügel, mümmelte an seinem Brot und guckte finster. Kopfhörer saßen auf seinen Ohren und er nickte zum Takt einer Musik, die wir nicht hören konnten. Marc fand, wir sollten ihm eine Chance geben. Meine erste Frage an ihn lautete, ob er eine Klasse übersprungen hätte. Die Frage lag nahe, er reichte mir nur bis zum Kinn. Sein finsterer Blick kannte noch eine Steigerung und ich schloss daraus, dass die Antwort negativ war. Meine zweite Frage war, wie es ihm hier gefalle.
„Scheiße“, sagte er und Marc und ich klopften ihm auf die Schulter. Nico war zwar gerade erst zu uns ins Dorf gezogen, aber hatte die begrenzten Möglichkeiten der friesischen Einöde bereits erkannt. Sein finsterer Blick beeindruckte mich. Wenn die Lehrer ihn etwas fragten, er angepöbelt wurde oder geschubst, starrte er sein Gegenüber an und kein Muskel bewegte sich in seinem Gesicht. Schon bald stand er in dem Ruf, irgendwie gestört zu sein, was ihn für uns erst recht interessant machte.
Seitdem waren wir zu dritt und ich wusste, ich konnte mich auf die beiden verlassen. Ich war mir sicher, wenn ich auf die Idee käme, auf einem Seil über einen Abgrund zu balancieren, würde Marc seine Höhenangst überwinden und mich, an meine Hand geklammert, begleiten, nur um mich nicht alleine zu lassen. Nico würde unten aufpassen, um uns aufzufangen, um ein Netz zu organisieren, oder was auch immer nötig wäre, damit uns nichts passierte, falls wir abstürzten.
[…]
„Gib mir mal Marc. Ich will ihn fragen, ob er auch mitkommt“, sagte Nico.
„Der ist nicht da und ich glaub kaum, dass er noch Zeit hat zu verreisen.“
Ich musste ihm versprechen, Marc auszurichten, dass er ihn zurückrufen sollte, legte auf und kochte mir einen zweiten Kaffee. Die Dielen unter meinen nackten Fü.en waren kalt.
Krümel klebten unter meinen Sohlen, es war an der Zeit, mal wieder zu fegen.
[…]

3

Während Marc die letzten Tage in seinem alten Betrieb arbeitete, sein Zimmer ausmistete und die neue Wohnung renovierte, verbrachte ich den Großteil meiner Zeit in Gesellschaft von Ärzten und Pflegepersonal. Das taube Gefühl in meinem Arm war weiter Richtung Schulter gewandert, und trotz aller Taubheit fühlte es sich an, als würde er in heißem Wasser hängen. Meine Hausärztin hatte Alarm geschlagen und mich ins Krankenhaus überwiesen und ich ließ mich von der ärztlichen Alarmstimmung anstecken. Im Krankenhaus erwartete mich ein strammes Programm. Ich starrte auf Bildschirme mit herumirrenden Punkten, mein Hirn wurde gescannt und man zapfte mir Blut und Rückenmarksflüssigkeit ab, letzteres eine Erfahrung, die ich nicht wiederholen wollte. Marc besuchte mich und fragte, was genau los sei, aber ich konnte es ihm nicht sagen, noch gab es keine klaren Ergebnisse. Der ein oder andere Diagnoseverdacht stand im Raum, aber ich hatte kein Verlangen, mit Marc, dessen Panikanfälle in Krankheitsdingen kein Limit kannten, darüber zu spekulieren. Er brachte mir eine Tupperschüssel mit Kartoffelpuffern von seiner Oma mit und erwürgte mich fast mit seiner Umarmung. Ich verbot ihm, meine Mutter und Nico zu informieren, wollte mit niemandem reden. Obwohl es keinen eindeutigen Befund gab, wurde mir Kortison verabreicht. Die ersten beiden Tage waren ein Höhenflug, ein Energieschub, wie ich ihn selten erlebt hatte. Ich rannte die Flure rauf und runter und zeichnete stundenlang. Dann, am dritten Tag der Absturz, nach einem Höhenflug kam immer ein Absturz.
„Der Verdacht, dass es sich um multiple Sklerose handelt, Ela Meyer: Es war schon immer ziemlich kalt 21 von 30 kann nicht ausgeschlossen werden“, teilte mir ein Arzt mit und ich wurde entlassen. Mir blieb nichts anderes übrig, als das MRT in drei Monaten abzuwarten und darauf zu hoffen, dass sich kein weiterer Schub einstellte. Ich belauerte meinen Körper, als wäre er ein Raubtier, das nichts besseres zu tun hatte, als mich anzugreifen und zu zerfetzen. Jedes Kribbeln, Zwicken und Ziepen, jeder leichte Schwindel und jedes kleinste Flackern vor den Augen ließen alle Sirenen in meinem Kopf schrillen und mich in Schweiß ausbrechen.
Marc holte mich mit unserem Bus vom Krankenhaus ab. Er redete die ganze Fahrt davon, was er alles noch vor dem Urlaub erledigen musste und zählte auf, was er schon geschafft hatte.
„Ölwechsel, die Scheibenwischer und Innenbeleuchtung und in der neuen Wohnung die Regale, den alten Teppich raus, roch voll nach der alten Wilken, haha, und morgen wird der Sperrmüll abgeholt, hast du auch noch was?“- „Nein.“
Ich sehnte mich nach jemandem, an dem ich mich festhalten konnte, der mir Mut machen und mich aus dem Nebel, der mich einhüllte und zu verschlucken drohte, ziehen würde. Aber Marcs undifferenzierte Furcht vor Krankheiten hätte mich nur immer weiter hineingeschubst. Außerdem nahm ihn die Planung seiner Zukunft voll in Anspruch, während mir meine Zukunft vor allem Sorge bereitete. Er driftete von mir fort. Es war, als ob wir bisher zusammen auf demselben Gleis gefahren wären und nun in entgegengesetzte Richtungen rollten. Sein Hauptinteresse galt seinem Umzug, für alles andere war kaum Platz. Bei einer Werkstattauflösung hatte er Schnäppchen geschlagen.
„Da hätte ich sonst das Dreifache für geblecht!“
„Glückwunsch.“
„Bist du immer noch sauer?“, fragte er.
„Ne, warum sollte ich?“
„Weil ich ausziehe. Du klingst so.“
„Bin ich aber nicht.“
Ich lag auf meinem Bett und starrte auf die Flecken an der Decke, Zeugnisse erschlagener Mücken aus vergangenen Sommern. Aus den Boxen, die auf dem Boden standen, dröhnte EA80, die Bässe vibrierten durch die Matratze.
„Was machen wir denn nun mit meinem Zimmer?“, fragte er mich später am Tag. Er saß, verschwitzt vom Ausmisten, auf meinem Schreibtischstuhl und trank aus einer Coladose.
„Keine Ahnung, hab ich mir noch nicht überlegt.“
„Wenn wir wiederkommen aus Spanien, bin ich ja nur noch eine Woche oder so hier, und ich hab gedacht, dann könnten wir auch vorher schon jemand Neues suchen und ich spare mir den Monat Miete. Aber nur, wenn das für dich okay ist.“
„Mir egal.“
Er sah mich an, das Gesicht angestrengt in Falten gelegt.
Ich sprang auf und riss das Fenster auf. Unter meiner Haut krabbelten Millionen von Ameisen. Die Panik drohte mich von Innen aufzufressen. Tief atmen, redete ich mir zu. Los, atme! Luft holen!
„Du siehst nicht wirklich so aus, als ob es dir egal wäre“, sagte er.
Ich hörte, wie Marc aufstand, von seiner Cola trank und rülpste. Er schob sich neben mich ans Fenster und legte mir den Arm um die Schulter.
„Ich kann auch noch warten. Aber gestern hat Jochen mir erzählt, dass seine Schwester ein Praktikum beim NDR macht und was für drei Monate sucht.“ Jochen spielte Bass in Marcs Band. „Dann musst du dich nicht gleich fest für jemanden entscheiden.“
„Wenn sie nett ist.“
„Ich kenne sie nicht, aber Jochen meinte, ja.“
„Sehr witzig.“
Er grinste. „Hier, die Telefonnummer.“ Er reichte mir einen Zettel, den ich in die Tasche meiner Jogginghose stopfte.
Marc zog die Augenbrauen zusammen und ich schüttelte seinen Arm ab.
„Ich ruf sie an, versprochen.“
Er seufzte. Diese Seufzer, die er von tief unten aus der Lunge holte, genau wie sein Vater. Ich war froh, diese Seufzer, in denen immer ein subtiler Vorwurf mitschwang, bald nicht mehr hören zu müssen. War froh, mich nicht mehr aufregen zu müssen, weil er nie Klopapier einkaufte und den Käse höhlte, ohne vorher die Rinde abzuschneiden. Er säbelte einfach die Mitte heraus, bis der Käse aussah wie die Kufen eines misshandelten Schaukelpferdes. Ganz zu schweigen von den Resten, die er in seiner Teetasse ließ. Der letzte Schluck, den er nie trank. Überhaupt, sein Spleen mit den Teetassen, es gab nur zwei, aus denen er trinken wollte, alle anderen waren ihm zu dickwandig, zu groß, oder hatten die falsche Form.
Marc zog los, um die Bananenkartons, die der Gemüsehändler von der Ecke für ihn aufbewahrt hatte, abzuholen. Die Tür knallte ins Schloss und ich schmiss mich wieder aufs Bett. Nebelfelder, immer mehr Nebelfelder breiteten sich vor mir aus und ich hatte keine Ahnung, wohin ich trieb, wohin es mich trieb.
Um nicht völlig abzuschmieren, zeichnete ich. Insekten.
Schon als Kind hatte ich tote Käfer, Motten und Spinnen eingesammelt, sie untersucht, sie in ihre Einzelteile zerlegt und alles mit spitzem Strich aufs Papier übertragen. Auf meinen Bildern krabbelten sie aus Ohren, Nasen und Augen, krochen zu Tausenden durch Blutgefäße, legten ihre Eier ins Fleisch, zersetzten, zerkauten, trieben die Auflösung voran. Wenn ich die Augen schloss und lange genug die Luft anhielt, spürte ich sie in mir, wie sich sich unter meiner Haut wanden, an mir nagten, mich zerstören wollten.
Meine Finger fuhren über die Narben, die Schnitte waren längst verheilt. Ich war stolz, mir seit Jahren keine neuen zugefügt zu haben. Aber der Druck nahm zu, das Tosen und Reißen in mir, und ich befürchtete, ich würde dem nicht mehr lange standhalten können, wusste, mir war nicht zu trauen.
Dann würde meine Hand die Klinge in die Haut drücken und wenn sie eindrang, würden die ersten Tropfen Blut fließen und mit dem Blut die wimmelnde Masse hinausgeschwemmt werden. Und mein Herz würde schlagen und erst käme der Schwindel, dann die Erleichterung, und die Scham, die käme erst später.
[…]
Meine Angst vor Marcs Panik in seinen Augen, wenn ich ihm von dem Diagnoseverdacht erzählte, davor, dass wir uns in unserer Angst gegenseitig hochschaukeln würden und sie sich so ins Unendliche multiplizieren würde, hielt mich davon ab, was zu sagen. Das und der Gedanke, wenn ich es erst einmal ausgesprochen hätte, würde es wahr werden. Marc gab sich Mühe, kochte abends meine Lieblingsgerichte, Linsensuppe, Ofengemüse, mit Grünkern gefüllte Paprika, und erinnerte mich an einen Hund, der Wurst geklaut hatte und sich, aus schlechtem Gewissen, unauffällig aber zuvorkommend verhielt.
Aus seinen Äußerungen schloss ich, dass er dachte, meine miese Stimmung hinge ausschließlich mit seinem bevorstehenden Auszug zusammen und ich ließ ihn in dem Glauben. Am letzten Tag vor unserer Abreise lud er Freunde ein.
„Pizza und Wein, das wird fein!“, reimte er und grinste verlegen.
„Ich mach Salat.“ Ich wunderte mich nicht weniger als er über mein Angebot.
„Schreib auf, was du brauchst, ich kauf ein. Heut geht alles auf mich!“, sagte er und knuffte mich gegen die Schulter.
Als Marcs Schritte im Treppenhaus verklangen, kramte ich meinen Rucksack aus dem Kabuff neben der Haustür. Es war keiner dieser bunten Plastikrucksäcke, sondern ein ausgeblichener Armeerucksack, der meinem Vater gehört hatte.
Nach seinem Tod hatte meine Mutter ihn in einer Truhe mit anderen Erinnerungsstücken von ihm aufbewahrt. Mit vierzehn war ich darauf gestoßen und seitdem begleitete er mich auf meinen Reisen. Ich stopfte alles, was ich nach Spanien mitnehmen wollte, hinein. Meine Armsymptome waren dank des Kortisons fast verschwunden. T-Shirts, Regenjacke, kurze Hose. Ich wollte daran glauben, dass sie nicht wiederkämen, war entschlossen, meine Gedanken und Gefühle zu kontrollieren, so dass kein Platz blieb für die Paranoia.
Socken, Unterhosen, Sonnencreme. Doch wie sich mein Körper in Zukunft verhalten, wann und wie er wieder zuschlagen würde, war nicht absehbar. Zum Schluss packte ich meine Zeichensachen und den Schlafsack ein und duschte das erste Mal seit Tagen.

Nico würden wir in Friesland treffen, wo wir erst Marcs Kartons ausladen und danach die Kisten seiner Mutter einladen würden. Es war einige Monate her, seit ich meine Familie besucht hatte. Meine Mutter wohnte noch immer mit meiner zehn Jahre jüngeren Schwester in dem Haus, in dem ich aufgewachsen war. Ich war zwei gewesen, als sie mit mir ins Dorf gezogen war und die alte Dorfschule gemietet hatte. Ein grau verputztes Gebäude mit großen Fenstern. Gurgelnde Wasserleitungen sangen uns in den Schlaf und unter der Treppe wohnte ein gigantischer Koksofen, der das ganze Haus über ein krakenartiges Rohrsystem heizte. Trotz neuer Holzböden blieb es selbst im Sommer fußkalt und wir trugen immer mehrere Paar Socken übereinander.
Als ich jetzt davor stand, wirkte das Haus viel heruntergekommener, als ich es in Erinnerung hatte. Die Tür vom Hühnerstall, den ich als Jugendliche ausgebaut hatte, hing nur noch an einer Angel und klapperte im Wind. Die Hühner pickten auf dem Komposthaufen, der unter einer Schicht Laub vom Vorjahr lag. Selbst nach den acht Jahren, die ich schon fort war, überrumpelte mich die Vertrautheit meines alten Zuhauses. Als würde man einem Körperteil von sich selbst unvermutet gegenüberstehen. Unsere Schaukel mit dem ehemals roten Brett, die an einem Ast der Kastanie baumelte, deren Wurzeln quer über den ehemaligen Schulhof reichten. Der gepflasterte Weg, der in einem Bogen vom Tor zur Tür führte und deren Steine seitlich wegrutschten. Die abblätternde Farbe der Scheune. Der Silogeruch der umliegenden Höfe. Die Schrotträder, die unter dem Scheunendach vor sich hingammelten. Ein Verflossener meiner Mutter hatte sie reparieren wollen, aber ihre Beziehung ging, wie nicht anders zu erwarten gewesen war, in die Brüche, bevor er auch nur eine Schraube gelöst hatte. Der Kombi meiner Mutter parkte vor dem Tor. Rot mit blauer Motorhaube. In Hamburg fuhr einer herum, der genauso aussah.
Jedes Mal, wenn er mir entgegenkam, durchfuhr mich eine Mischung aus Freude und Fluchtimpuls.
Sie winkte mir vom Küchenfenster aus zu, formte mit dem breiten Mund, den sie mir vererbt hatte, übertrieben Wörter, die ich nicht verstand. Ich verließ meinen Zaunplatz und ging im Slalom um die Pfützen herum, die sich zwischen den Pflastersteinen gesammelt hatten. Das Windspiel, das vor der Tür im Luftzug bimmelte, war neu. Sie wartete im Eingang auf mich. Die blonden Haare trug sie auf den Kopf getürmt und zwei Strähnen kringelten sich an ihren Schläfen. Mit ausgebreiteten Armen empfing sie mich und drückte mich an sich, schaukelte uns, als würden wir uns zu einem albernen Tanz wiegen. Ich widersetzte mich dem Geschaukel und ließ den Rucksack von meinen Schultern auf den Boden rutschen, wo er neben der Treppe liegen blieb. Im Flur roch es nach Erde, Rauch und Essen.
„Die Sauce!“, rief sie und rannte aufgeregt lachend in die Küche. Ich folgte ihr. Dort war alles wie immer. Die vollgestopften Regale, die Eckbank, der zerkratzte Tisch, die Hängekörbe mit Obst und eingestaubten Kräutern und die Rankgewächse, deren Nachkommen sich auch in meiner Wohnung rankten.
„Ich dachte, du kommst früher“, sagte sie und ihre Stimme, die immer eine Spur zu laut war, schabte mir übers Trommelfell.
„Ich hab Marc beim Kistenausladen geholfen und danach bei seiner Oma noch einen Tee getrunken.“
Sie zupfte an ihrer Schürze, die sie über dem grünen Hemd trug und warf einen Blick auf ihr Handy.
„Setz dich, willst du Tee?“
„Ich hatte schon einen, gerade eben, bei Marcs Oma.“
„Wie weit ist er denn mit seinem Umzug?“
„Fast fertig, fehlt nur noch Kleinkram.“
„Und? Fällt dir sicher schwer, ihn ziehen zu lassen, was?“
Ihr schräg gelegter Kopf, der empathische Blick, der Geruch des Hauses. Meine Tränen kamen unerwartet, ich hatte nicht gewusst, dass sie so nah gelauert hatten.
„Ach, Süße. Komm mal her.“ Sie drückte mich an sich und ich wollte versinken in ihrer Umarmung, mich verkriechen, verstecken vor der Welt. Ihr Handy piepste und sie ließ mich so abrupt los, dass ich beinahe umgefallen wäre. Der Vanilleduft ihrer Creme hing in meinem Pulli, lag auf meinem Gesicht, hatte sich in meinen Haaren verfangen.
„Wo ist Katinka?“
„Die kommt heute erst spät, hat sie gesagt.“
Meine kleine Schwester hatte mich schon häufiger in Hamburg besucht. Beim letzten Mal hatte sie an allem herumgemäkelt, dem Essen, der Matratze, die ich ihr neben meine gelegt hatte, dem Krach der Nachbarn, der U-Bahn, den Kneipen, dem Wetter. Nichts hatte ihr gepasst. Seit einem Jahr war sie nun nicht mehr bei mir gewesen und wenn ich kam, sorgte sie dafür, dass wir uns kaum sahen.
„Wie geht es ihr?“
„Kennst sie ja.“ Meine Mutter wedelte mit der Hand, was alles Mögliche bedeuten konnte. Ich nahm zwei Teller aus dem Regal, sagte: „Sie geht mir aus dem Weg.“
„Nimm das nicht persönlich, mir auch. Das ist das Alter, das war bei dir auch nicht anders.“
„Trotzdem komisch.“
„Sonst alles gut bei dir?“ Ihr Handy piepste erneut.
Plötzlich der Wunsch, ihr vom Krankenhaus und dem MS-Verdacht zu erzählen. Ich wartete auf den richtigen Moment, einen, in dem sie nicht abgelenkt wäre, in dem ich all ihre Aufmerksamkeit für mich alleine hätte. Mir brach der Schweiß aus bei dem Gedanken, es auszusprechen, wollte es schnell hinter mich bringen. Eine kindliche Hoffnung flatterte in mir, dass dann alles nur noch halb so schlimm wäre, weil sie, als meine Mutter, die Macht hätte, alles ungeschehen zu machen und die Angst wegzupusten. Heile, heile Gänschen. Mit zittrigen Fingern stellte ich die Teller auf den Tisch.
„Mama, ich muss dir was Wichtiges sagen.“
„Ich dir auch!“ Sie sprang zum Kühlschrank und zupfte ein Passbild unter einem Magneten in Kartoffelform hervor und hielt es mir vors Gesicht. Ein Mann war darauf, dunkle Locken, Schnauzer und Ohrring. Wie ein Bilderbuchpirat, ganz ihr Typ.
„Das ist Bernd!“ Sie strahlte mich an, ihre blauen Augen glitzerten. Ohne zu antworten drehte ich mich um und riss die Besteckschublade auf. Ich fühlte mich wie ein Vogel, der immer wieder gegen die selbe Scheibe knallt, weil er glaubt, der Himmel, die Bäume, die Idylle, die sich darin reflektieren, seien echt.
„Vor drei Monaten hat er bei uns als Rettungssanitäter angefangen.“ Seit ich vier war, arbeitete sie als Köchin in der Krankenhauskantine. Mit eckigen Bewegungen platzierte ich Gabeln und Messer auf den Tisch. Sie griff über mich ins Regal und stellte einen dritten Teller dazu.
„Ich dachte, Katinka kommt nicht.“ Meine Stimme hallte in meinem Kopf wie in einem leeren Raum wider. Das Gesicht meiner Mutter leuchtete vor Aufregung.
„Du und Bernd, ihr müsst euch unbedingt kennenlernen, bevor du morgen gleich weiterfährst.“ Sie klatschte in die Hände und lachte dieses alberne Lachen, das ich nicht ausstehen konnte. Durchs Fenster sah ich, wie ein Auto vor dem Tor hielt, gleich hinter dem ihrem, ein Golf oder Polo. Der Passbildpirat stieg aus. Mein Gesicht fühlte sich wie eingefroren an und Säure schoss in meinen Magen. Ich hätte ihr das ätzende Zeug am liebsten ins Gesicht gespuckt.
„Scheiße, muss das sein! Du hättest mich wenigstens fragen können! Ich wollte dir was Wichtiges sagen!“
Ich knallte die Besteckschublade zu, die sofort wieder aufsprang und haute noch einmal dagegen. Meine Mutter reagierte weder auf meine Schubladenattacken noch auf mein Geschrei. Sie riss die Küchentür auf und rannte nach draußen. Ich sah, wie sie sich umarmten und küssten, schnappte mir mit zittrigen Händen meine Jacke von der Eckbank und entwischte durch die Hintertür.

Leseprobe: Yannick Dreßen – “Verdichtet”

VERDICHTET

von

Yannick Dreßen

Wer das Dichten will verstehen,
Muß ins Land der Dichtung gehen;
Wer den Dichter will verstehen,
Muß in Dichters Lande gehen.

Johann Wolfgang von Goethe

Α

Im Anfang war das Wort und das Wort war bei ihm, und er war das Wort. Alles wurde durch dasselbe, und ohne dasselbe wurde nichts. Das Wort schuf die Idee und die Idee die Erzählung, und durch die Erzählung entstand die Welt, und diese Welt wurde Raum und wurde Zeit, wurde Form und wurde Sinn, wurde Kraft und wurde Tat. Das Wort wurde Wirklichkeit.

I

Ein Schrei stieß ihn aus dem Text, und er stürzte hervor wie das Kind aus der Mutter.
Plötzlich war alles Licht. Ein Feuer, das sich in seine Augen züngelte und sich bis in die Neuronenbahnen seines Gehirns brannte. Er blinzelte, mühselig, verdrießlich, kniff die Augen jedoch rasch wieder zu, als die Flammen seine Synapsen ansengten.
Hilflos prustete er, rang nach Atem. Blut und Fäkalien hafteten an ihm, Bestandteile des Romans, aus dem er gepresst worden war, Worte und Sätze, die er noch nicht abgeworfen hatte, die an ihm klebten und ihn wie eine zweite Haut umgaben, ein Mantel, der über ihm lag, eng umschlungen, aber schützend.
Als er die Lider wieder aufschlug, vorsichtig und misstrauisch, da die Glut weiterhin in seinem Sehnerv loderte, verblich zwar die Strahlkraft der Sonne, der er entgegen schaute, doch noch immer nahm er nichts wahr, erkannte nichts, fühlte nichts. Nichts, bis auf einen leichten Schmerz, der sich hartnäckig in seinem Kopf festgebissen hatte, eine Zecke, die ihn zwickte und zwackte, ein stilles Stechen und Hämmern, hinten, an der Rückseite seines Kopfes, ein Nagel in seinem Okzipitallappen, der ihn daran erinnerte, dass er lebte, dass er war.
Doch er war noch nicht. War noch nicht er. War immer noch ein anderer. Gefangen im Text, eine Figur in einem Roman. Allein sein Herz verriet ihm das Gegenteil, denn es polterte und donnerte, als begleitete es das dumpfe Dröhnen großbäuchiger Trommeln während eines Initiierungsrituals. Es kreischte neben ihm, doch er hörte es nicht. Seine Sinne waren noch nicht wiedergekehrt und so legte er gedankenverloren das Buch beiseite, aus dem er soeben gefallen war. Ehrfurchtsvoll strich er mit dem Handrücken über das verschwommene Bild, das den Schutzumschlag zierte, ein Spiel mit Brennweite und Unschärfe, hinter dem sich eine Welt verbarg, die ihn mitgerissen hatte.
Satz für Satz war er in das Labyrinth hinabgestiegen, hatte sich zwischen den Worten und Buchstaben verirrt und schien immer noch gefangen, gefangen in einem Nichts, in einer Zwischenwelt, nicht hier, nicht da, obwohl das Gebilde, das sich ihm aufgezwungen hatte, bereits wie eine Plazenta von ihm abgefallen war und in den Annalen seiner Erinnerung verging.
Die Geschichte war beendet, die letzte Seite ausgelesen, und dennoch konnte er sich nicht von den Charakteren trennen, in die er geschlüpft war. Seine Gedanken schossen umher, stoben durcheinander, wild und ungelenk, voller Misstrauen und Fragen, und prallten wie ein Wurf Murmeln an einer Häuserwand zusammen. Doch sie verharrten nur einen Augenblick, denn schon erhoben sie sich wieder wie ein Schwarm Insekten, kreisten in elliptischen Bahnen weiterhin um die Geschichte, und stürzten sich auf das offene Ende hinab, das ihn unvollendet ausgespien hatte. Immer wieder warfen sie sich hinunter, wühlten in den Eingeweiden der Erzählung, suchten nach Fleisch und Innereien, nach einem Ende, das ihn befriedigte, doch die Geschichte war zerlegt. Nichts gab es mehr zu ergattern, keine Beute mehr zu erringen, auch wenn der Hunger weiterhin in ihm tobte und nach Nahrung verlangte. Übrig blieben nur die Gebeine, auf die er schaute, als hätten sie niemals Fleisch getragen.
Sein Kopf schwirrte. Noch immer flatterte das Ende des Romans lose am Mast seines Verstandes und wurde vom Sturm seiner Gedanken mal in die eine, mal in die andere Richtung gerissen. Die Offenheit gebar Fragen, die er nicht beantworten konnte, Fragen, die in ihm brodelten und gärten, doch aus welcher Perspektive er es auch besah, das Ende blieb unentschieden, es blieb unscharf, wie das Bild, das ihn nun vom Buchdeckel hinauf anstarrte. Es dauerte einige Augenblicke, bis er es einsah, Augenblicke, in denen er sich nach und nach aus dem Buch herausschälte und die Welt aus Buchstaben wie eine Eierschale von sich abwarf, bis er es verstand, bis er begriff, dass es genauso hatte enden müssen, dass es gar keinen anderen Schluss hatte geben können, ja dass dem Anfang bereits eingeschrieben war, wie die Geschichte endete.
Ein Schmunzeln huschte über seine Lippen und er schaute auf. Das Gesicht der Wirklichkeit blickte ihm entgegen und endlich löste er sich. Endlich kappte er die Nabelschnur zum Roman und erwachte im Hier und Jetzt. Das Bild schwirrte vor ihm, verzerrte sich in der Mitte und floss an den Enden aus. Erst nach und nach gewann es an Schärfe und bildete Konturen, feine Linien, Formen und Farben, die sich wie ein Puzzle zusammensetzten, Stück für Stück, bis aus Sand und Meer und Himmel ein Ganzes vor ihm stand. Wie so oft hatte er sich in der Literatur verloren und nur stockend gewann er wieder Sinn für diese Welt, für seine Erzählung.
Das Kreischen erschrak ihn und ließ ihn zusammenzucken.
Es riss ihn aus seiner Gedankenwelt und sein Blick fand die Möwe, die seit geraumer Zeit auf der Brüstung der Veranda saß und die Reste des Essens einforderte, ein paar wenige Krümel, die verstreut auf dem Tisch lagen. Unverfroren blickte sie ihn an, hielt seinem Blick stand und wägte ihre Chancen ab, und gerade, als sie auf den Tisch zu springen wagte, verscheuchte er den Vogel mit einer raschen Handbewegung und das Tier erhob sich, hoch und höher, ließ sich in den Winden treiben und landete in einiger Entfernung im Sand.
Da saß er also wieder, wie immer, wie jeden Abend. Vor ihm das Glas Wein, halb geleert. Sein Blick schweifte über den Horizont. Hinter tiefhängenden Schäfchenwölkchen, die golden rot und violett erstrahlten und so malerisch beisammenstanden, als seien sie einem Bild Caspar David Friedrichs entronnen, lugte die Sonne wie ein Fächer hervor und überzog den Himmel mit einem orange schimmernden Kleid. Nur gemächlich zogen die Wattebäusche vorüber, zogen auf das Meer hinaus, das den Schein des roten Lichts widerspiegelte und mit seiner friedlichen Ewigkeit prahlte. Mancherorts brachen sich sanfte Wellen in den Weiten, sie griffen nach den Möwen und hinterließen deckweiß farbene Schaumbäder. Eine leichte Brandung rauschte an den Strand, rhythmisch, beschwichtigend, und malte immer neue Muster in den Sand, flüchtige Bilder, die nur für den Augenblick überlebten.
Sandkörner stoben auf und eine Brise, die von der See her blies, kühlte sein Gesicht und spielte mit seinen Haaren.
Der warme Tag klang allmählich aus. Er genoss die Idylle am Meer, die Ruhe, die der Abend gebar und seine wirren Gedanken verstreute, so leichtfertig und spielerisch, als seien sie Wolken, die nur eines kräftigen Windes bedurften, um zu vergehen. Tagsüber brauten sie sich zusammen, stürmten und tobten, drohend und unheilvoll, ein Gewitter, das er selbst heraufbeschwor, indem er um die richtigen Worte rang, Worte, die seine Welt beleben sollten, die sie errichten und erbauen sollten, die Welt seines neuen Romans, an dem er unermüdlich arbeitete. Nun aber ließen die schweren Gedanken ab von ihm, stoben auseinander und schwirrten in alle Himmelsrichtungen, wo sie sich auflösten und vergingen.
Er atmete tief ein. Die Meeresluft trug eine salzige Frische in seine Lungen. Sie strömte durch seinen Körper und verdünnte das Gift der Fiktion, solange, bis die Wirkung verfiel und er wieder war, wieder da war, wieder er war. Er ließ den Blick über die Bucht schweifen, deren Enden wie ein Hufeisen ins offene Wasser ragten, und gab sich dem malerischen Ort hin, der auf ihn schaute und seine sterblichen Gedanken in den Schlaf wogte. Immer noch erschien ihm sein Leben wie ein Traum. Immer noch wähnte er sich im tiefen Dickicht seiner Phantasie, gewogen in Morpheus Armen. Manches Mal zwickte er sich, um zu erwachen, doch sooft er auch die Finger in sein Fleisch bohrte, spürte er nur den stechenden Schmerz. Das Gemälde vor ihm entsprang nicht seiner Einbildung, es war wirklich, es war real, auch wenn er es kaum fassen konnte. Noch vor wenigen Monaten hatte er in seinem engen Appartement gesessen, am Rande Frankfurts, in Zimmern, die kein Tageslicht sahen, genervt vom Rattern der nah vorbeirumpelnden Güterzüge. Und nun saß er hier, blickte auf das Mittelmeer, das sanft auf ihn zu brandete, als sei er der Mittelpunkt der Erde, und war glücklich. Dankbar leerte er sein Glas und griff nach der Flasche.
Aus dem Hals des Gallo Nero rieselten die letzten Tropfen des Chianti, dessen Reben auf den sonnenverwöhnten Hügeln des Hinterlandes heranwuchsen, nicht weit ihrer neuen Heimat, mitten zwischen Zypressen und Olivenbäumen. Dann aß er das letzte Stück Bruschetta und auf seiner Zunge mischte sich der Geschmack frischer Tomaten und Basilikum mit Olivenöl und gerösteten Brotes. Freudetrunken, ob vom Wein oder Ausblick, schaute er hinaus aufs Meer und las den Horizont wie den Vers eines Gedichts. Als die Sonne immer rascher versank und das Meer schließlich das prasselnde Feuer zu löschen begann, umwehte ihn ein Gefühl von Erhabenheit, von Vollkommenheit, hier, an diesem Ort, an dem er endlich gefunden zu haben schien, wonach er sein ganzes Leben gesucht hatte.
Die letzten Sonnenstrahlen des Tages umspielten sein Gesicht und entflammten die Narbe auf seiner Stirn. Für einen Augenblick leuchtete sie auf, hellrot, als könnte man das Magna erkennen, das sich unter ihr sammelte. Dann nahmen die Wellen endgültig, was ihnen gehörte, und verschluckten Helios Wagen. Seine Narbe erlosch und die allabendliche Aufführung war zu Ende.
In ihm applaudierte es, doch etwas stieß durch seine Muskeln vor und betäubte ihn, eine umfängliche Müdigkeit, die bis tief in seine Knochen drang. Für gewöhnlich entzündete die Dämmerung seine Kreativität, doch nicht so heute. Er fühlte sich matt und erschöpft und strich den Gedanken, sich wie jede Nacht an den Schreibtisch zu setzen und mit dem Taktstock über sein Manuskript zu fahren. Heute tat er besser daran, seiner Frau ins Bett zu folgen, in das sie sich bereits vor einer guten Stunde zurückgezogen hatte.
Und so erhob er sich, zu schnell wie es schien, denn er wankte und musste sich am Tisch festhalten, um die Welt wieder ins Gleichgewicht zu drücken. Als ihm nach einigen Wimpernschlägen endlich ein klareres Bild vor Augen stand, griff er nach der Flasche und dem Glas und schlich ins Haus. Behutsam zog er die mächtige Panoramatür hinter sich zu und suchte im Dämmerlicht den Weg in die Küche.
Zwei leere Weinflaschen blickten ihm bereits vorwurfsvoll entgegen, als er die dritte hinzustellte.
Und plötzlich zwickte ihn etwas in den Hinterkopf. Es biss ihn, fräste ein Loch in seine Schädeldecke und hustete hinein. Eine Stimme echote durch den Hohlraum, warnte und belehrte, schimpfte. Doch rasch unterdrückte er seine Gewissensbisse, erstickte sie, bevor sie sich ihm aufhalsten. Dieser Tag war ein besonderer gewesen, den man hatte feiern müssen, ein Jahrestag, der ruhig auch mit einem Schluck mehr als gewöhnlich hatte begossen werden dürfen. Denn heute war ihr Geburtstag – der erste ihres neuen Lebens.
Er schob die aufsprudelnden Bilder beiseite, die mit Schuld beladen waren, leerte den Rest des Weinglases, um sie zu ertränken, und, als nichts half, schüttelte er sich, um die Erinnerungen wie Schneeflocken von sich abzuwerfen. Doch der Alkohol waberte zu stark durch seine Adern, er verlor die Orientierung und landete wie ein Kleinkind auf dem Hosenboden.
Einen Augenblick blieb er sitzen, versuchte das Bild vor seinen Augen anzuhalten und nicht zu erbrechen. Erst als die Küche nicht mehr vor ihm zitterte, zog er sich an den Schränken hoch und torkelte in den Flur, die Treppe hinauf. Unbeholfen hielt er sich am Geländer fest, zog sich mit der einen Hand daran hinauf, um mit der anderen die Wand zu stützen, auf dass sie nicht auf ihn fiele.
Auf dem Weg ins Schlafzimmer strampelte er seine Hose ab, pellte sich aus seinem Hemd und schmiss beides an Ort und Stelle von sich. Instinktiv wankte er zu seinem Kind und kniete sich neben das rosane Babybett, ein Geschenk seiner Eltern zur Geburt. Mit dem rechten Handrücken fuhr er seiner Tochter über das pausbäckige Gesicht, sanft und zärtlich, eine Liebesbezeugung, die er ihr jeden Abend entgegenbrachte. Sie rümpfte die Nase, brabbelte unverständliche Laute. Ihr Brustkorb hob und senkte sich, wieder und wieder, und er war glücklich.
Noch lange betrachtete er sein eigen Fleisch und Blut, schaute auf die Stupsnase, die hin und wieder zuckte, auf den kleinen Mund, dessen Lippen durch die Hamsterbäckchen geschürzt wurden, schaute auf den Flaum auf ihrem Kopf, diese samtweichenen Haare, deren Farbe sie von der Mutter geerbt hatte, schaute weiter auf die Wurstfinger an ihren Händen, und auf die winzigen Nägel, die kaum zu schneiden waren. Ein Lächeln auf ihren Lippen verriet, dass sie fröhlich zu träumen schien und nichts davon ahnte, dass es nur dem Zufall zu verdanken hatte, überhaupt das Licht der Welt erblickt zu haben.
Tränen sprudelten in seine Augen. Liebevoll küsste er seine Tochter auf die Stirn, bevor er wieder aufstand.
Als er sich umwandte, erhoben sich bereits die Umrisse zweier Schmetterlinge und flogen auf ihn zu, Seite an Seite. Sie erwachten vor seinen Augen und tollten in den Lüften umher, umkreisten sich und spielten miteinander, hingebungsvoll, als seien sie auf ewig vereint. Die goldene Kette um den Fußknöchel fing das Tattoo jedoch wieder ein. Das Gelenk, fein und zartgliedrig, brachte sonnengebräunte Beine hervor, so fest und ebenmäßig, so makellos, als seien sie aus Marmor gemeißelt. Aufreizend überkreuzten sie sich, umschlungen den Deckenbezug wie eine Schlange. Bewundernd fuhr sein Blick Wade und Oberschenkel hinauf, fuhr über ein schwarzes Höschen, das die Hälfte eines Hinterns umspann, in dessen Apfelform es ihn zu beißen gelüstete, fuhr über die Senke der Taille und über ein weißes T-Shirt, auf dem Surfer die Wellen ritten, die die festen Brüste darunter aufwarfen. Blonde, dicke Locken lagen wild um eine entblößte Schulter und verdeckten Hals und Gesicht.
Verlangen stieg in ihm auf, doch übermächtig war die Müdigkeit, die sein Feuer löschte, bevor es aufflammen konnte. Ehe er sich an die Seite seiner Frau legte, um dem Schlaf zu geben, wonach er verlangte, stand er vor ihr wie der Sternenhimmel, dessen Maserung aus dem Schoß der Nacht spross und sich allmählich durch das Fenster abzeichnete, stand still und bewegt. Sein Auge ruhte auf ihr wie auf einem Gemälde. Tränen stiegen ihm in die Augen vor dem Heiligen, das so anspruchslos und reizend dalag. Er liebte sie und Freude und Stolz tobten in ihm, von ihr geliebt zu werden. Seit dem ersten Augenaufschlag war er ihr verfallen, seit dem ersten Erröten, das mehr versprochen hatte als eine windige Liebschaft, war er ihrer Aura erlegen, eine Aura, aus der er sich bis heute nicht zu lösen vermochte, obgleich er es niemals versucht hatte. Denn ewig wollte er in ihrem Bann leben, ewig ihre Wärme spüren, ewig ihr sein. In ihr hatte er seine Welt gefunden und niemals hätte er sich verziehen, wenn sie gestorben wäre, niemals hätte er die Last tragen und weiterleben können, wenn sie ihr Leben verloren hätte – damals, vor einem Jahr.
Und so legte er sich, wenn auch vom Tage erschöpft, so doch trunken vor Glück, an ihre Seite. Sogleich umwehte ihn ein Geruch, der ihn kitzelte und umgarnte, ein Duft nach Jasmin, der in seine Nase kroch und sich entfaltete. Zärtlich griff er in die Lockenpracht neben sich und roch an ihr, vergrub sich zwischen den Strähnen und atmete tief ein. Seine Finger glitten ihren starren Körper entlang, strichen sachte über die Rundungen, die wie gemeißelt vor ihm lagen. Und plötzlich fuhr Leben in ihr Fleisch. Als sei sie Galatea, öffneten sich ihre Augen, zärtlich und sanft, wie sich eine Knospe aufschließt, und mit gläsernem Blick, halb erwacht, sah sie ihn an. Ein müdes Lächeln zupfte an ihren Lippen und riss an Friedrichs Herzen.
Es ist alles gut! Schlaf ruhig weiter, sagte er und versuchte, sie durch seine beruhigenden Worte wieder in den Schlaf zu wiegen.
Immer noch mehr im Traum gefangen als in der Wirklichkeit, lächelte sie ihn an und er vergaß die Welt um sich herum.
Ich liebe dich, Friedrich!
Ich dich auch, Susette!
Glücklich schlang er seinen Arm um sie und gab ihr einen Kuss auf die Stirn, bevor der Schlaf auch ihn der Welt entriss.

2

Friedrich erwachte aus ruhigen Träumen.
Sachte glitt er in den Schoß der Wirklichkeit hinüber, glitt aus dem Muttermund einer Welt, die ihn eben noch fürsorglich ernährt und wie eine zweite Haut ummantelt hatte. Wohlwollend verabschiedete ihn der Traum aus seinem Reich und Friedrich hopste bereits vergnügt auf der dünnen Schwelle zum Wachsein. Es bedurfte nur noch einer kleinen Gewichtsverlagerung, um sich in die Arme des neuen Tages fallen zu lassen. Schon jetzt verblasste das Land, aus dem er zu schweben schien, schon jetzt versagte ihm die Erinnerung, wo und was und wer er gewesen sein sollte. Doch der Schlaf wirkte noch nach, beruhigend und versöhnlich.
Gerne hätte er sich noch einmal von der Schwelle abgewendet, gerne wäre er noch einmal umgekehrt, um in den Traum zurückzueilen. Aber mit jedem neuen Moment, in dem er sich seines Zustandes bewusster wurde, mit jeder neuen Sekunde, die verstrich und ihn ins Leben drückte, verschwand das Gebilde hinter ihm, fiel wie ein Kartenhaus in sich zusammen und war für immer vergangen.
Vergeblich versuchte er, sich an die letzten Fetzen seines Traumbildes zu klammern, um noch einmal in die gebrechliche Welt einzutauchen, sie noch einmal mit dem Bewusstsein einer Scheinwelt zu formen, ja sich diese Welt, wie in seinen Dichtungen, Untertan zu machen.
Doch die Pforte war verschlossen. Es gab kein Zurück mehr. Das verschwenderische Land, aus dem er zu reisen schien, da er sich kräftig und erholt fühlte, nahm ihn nicht mehr auf. Ihm blieb nichts übrig, als sich abzuwenden. Im nächsten Augenblick würde ihn die Wirklichkeit empfangen, der Tag würde ihn begrüßen, ein neuer Tag, an dem er sich seiner Welt widmen dürfte, seiner eigenen Geschichte. Nur ein Schritt fehlte noch, ein Ruck und er würde erwachen.
Sein Bewusstsein regte und streckte sich, befreite sich aus dem Spinnennetz seiner Phantasie, doch noch balancierte er weiter auf dem dünnen Seil, das sich über dem Abgrund seines Erwachens spannte. Noch schlug er die Augen nicht auf, sondern hielt das Gleichgewicht, um den Zustand zwischen Wachen und Schlafen auszukosten und sich im Klangraum der Inspiration zu baden. Bilder fielen wie ein warmer Sommerregen auf ihn hinab und malten den kommenden Tag bereits in bunten Farben aus. Wie auf ein Gemälde, das vor seinen Augen entstand, blickte er auf eine Person hinab, der er sich langsam näherte. Ihre Züge, zunächst verschwommen und unkenntlich, spiegelten bei näherer Betrachtung sein Gesicht wider. Die Skizze, die in jedem Augenblick mehr an Farbe und Detailreichtum gewann, zeigte ihn am Schreibtisch, wo er entfesselt an seiner Geschichte schrieb. Glücklich schaute er zu, wie das expressionistische Bild um ihn herum Kontur annahm und eine Verheißung in sein Ohr flüsterte. Denn tagelang hatte er nach Worten gerungen, tagelang hatte er aus dem Kessel der Wörter keinen Satz schöpfen können, hatte sich in den tausenden Gängen und Zwischengängen der Syntax und Grammatik verloren, bis er in eine Leere gefallen war, die ihn unversöhnlich mit der Sprache gestimmt hatte. Und nun schaute er zu, wie seine Hand den Stift rauschhaft über das Papier schwang, Wort an Wort aneinanderreihte und etwas Einzigartiges erschuf, etwas Unerhörtes – Leben.
Und plötzlich spross aus seiner Schrift ein anderes Bild hervor. Wie eine Blume schoss es vor seinen Augen in die Höhe und fesselte seine Aufmerksamkeit. Glücklich hielt er sein Kind im Arm, wiegte und tätschelte es, brachte es zum Lachen und lachte selbst, so ausgelassen, wie es nur wahre Lebensfreude zuließ. Er warf seine Tochter in die Höhe, erfreut über das Phänomen der Liebe, über die Frucht, die sie gebar, und fing sie wieder auf, wieder und wieder. Sie lallte und kicherte und offenbarte ihm durch ihre Existenz das Wunder des Lebens.
Berauscht von den Bildern, ergriff ihn eine fiebrige Ungeduld. Nun wollte er aufwachen, wollte den Schlaf endgültig abschütteln und den Tag beginnen, der mit solch sehnsuchtsvollen Versprechungen auf ihn wartete. Und so wandte er sich endlich ab und übertrat die Schwelle, um zu erwachen.
Doch es gelang ihm nicht.
Wie Blei drückte etwas seine Lider hinab, eine Schwere, gegen die er nicht bestand. Er mühte sich, die Augen zu öffnen, bot all seine Kraft auf, um den Vorhang zu lichten, doch vergebens. Seine Wimpern lagen starr auf seinen Wangen, einbetoniert im Fundament seines Fleisches, so schwer ruhte der Traum noch immer auf seinen Augen. Sie schienen verschlossen und versiegelt, und unweigerlich flogen seine Gedanken die Jahre zurück, flogen zu den Märchen seiner Kindheit, die seine Großmutter ihm erzählt hatte, flogen zum Sandmann, der die Augen der Kinder bestreute und in dessen Körnern wilde Träume schlummerten.
Der Sandmann.
Erinnerungen bestürmten ihn. Die unheimliche Erzählung Hoffmanns breitete sich plötzlich als verworrenes Gemälde vor ihm aus und sog ihn in sich ein. Mit einem Mal fand er sich neben Nathanael wieder und erschauderte.
Verbissen bemühte er sich, die Augen aufzuschlagen.
Krampfhaft wollte er sie dem Schlaf entreißen, doch noch immer gelang es ihm nicht. Sein Wille reichte nicht aus, gegen diese merkwürdige Macht zu bestehen, die auf seinen Lidern lastete. Ein Schwall Nervosität überfiel ihn, summte durch ihn hindurch wie ein Schwarm Bienen, die ihre Stacheln in seinen Magen schlugen.
Er entschloss sich, aufzustehen. Entschloss sich, einem Blinden gleich, den Weg ins Badezimmer zu ertasten. Er wollte den Schlaf abwaschen, von dem er annahm, dass er ihm die Augen verklebte. Wollte endlich den Tag beginnen, der auf ihn wartete. Doch seine Glieder gehorchten ihm nicht. Er war keiner Bewegung mächtig. Konnte sich nicht rühren, nicht den Arm heben, nicht das Bein recken. Es schien, als sei er gefesselt, als sei er einbetoniert, begraben – lebendig begraben.
Sein Atem stockte. Etwas kroch aus seinem Magen hervor, langsam aber bestimmt, und drückte seinen Hals zu. Er hörte, wie etwas nach Luft schnappte, wie jemand röchelte und japste. Panik schrillte plötzlich durch seinen Körper, tönte durch jeden Muskel, als befände er sich in Lebensgefahr. Er versuchte, sich zu beruhigen, versuchte, Erklärungen für seine Situation zu finden. Doch noch immer konnte er sich nicht rühren, noch immer konnte er seine Glieder nicht regen. Die Verbindung zwischen Gehirn und Muskeln schien gekappt. Schutzlos war er den äußeren Umständen ausgeliefert. Ein wacher Geist in einer toten Hülle. Gefangen in einem starren Körper. Machtlos und schwach.
War er bereits tot?
Die Frage durchschoss seine Synapsen und durchwühlte seine Neuronen. Es dauerte einige Augenblicke, unruhige Momente, in denen der Schwarm Bienen seinen Magen verwüstete, bis er sich besann. Die merkwürdige Situation erschien ihm wie ein Traum, in dem oft Widersprüchliches zusammenfiel, es war wie das Verharren auf einer Stelle, obwohl man sich mit aller Kraft mühte, wegzulaufen. Immer noch musste ihn der Traum gefangen halten, immer noch musste er ihn hinter den Gitterstäben seines Reiches verschlossen haben und mit Unmündigkeit strafen.
Er beruhigte sich und konzentrierte sich darauf, aufzuwachen. Er strengte sich an, fokussierte sich, spannte seine Muskeln, bündelte seine Kraft, mühte und quälte sich, schwamm und rann, stieß und drückte, hinaus, nur hinaus. Er wollte aufwachen, endlich aufwachen.
„Aufwachen!“
Da hörte er plötzlich Stimmen. Mit einem Mal stachen sie in sein Bewusstsein vor. Zunächst war es nur ein Flüstern in der Ferne, tief und eintönig, mehr ein Brummen denn ein Sprechen. Wie durch einen langen Tunnel hallte es zu ihm, ein dumpfer gregorianischer Gesang.
Doch je mehr er sich mühte, den Traum hinter sich zu lassen, desto klarer formten sich aus dem unverständlichen Gebrabbel Worte, ja ganze Sätze, die ihn schließlich aus seinem Traum befreien sollten.
„Er wacht auf“, überschlug sich eine dieser Stimmen freudig und erbrach sich so hell und scharf durch sein Trommelfell, als hörte er zum ersten Mal, „er wacht tatsächlich auf!“
„Er kommt zurück! Sieh doch nur, er kommt zurück!“, schrie eine andere, sanfter im Ton, dennoch ebenso beschwingt und klar. „Lauf, Heinrich! Lauf schnell und hol den Arzt!“
Friedrich blinzelte. Die Neugier verlieh ihm den letzten Schwung, den er benötigte, um die Augen endlich zu öffnen. Doch grell war das Licht, das wie eine Armee in ihn einfiel. Zu grell. Es stach in seine Augen vor, bohrte sich wie Messer in seine Pupillen. Unweigerlich musste er die Augenlider wieder schließen, um nicht Gefahr zu laufen, mit einem Schlag zu erblinden.
„Friedrich, oh mein Friedrich, du kommst zu dir!“
Eine Frauenstimme war es, die ihm entgegenschlug. Sie schluchzte und jammerte, doch Euphorie und überschwängliche Freude klangen in ihr mit. Er wollte etwas entgegnen, wollte etwas erwidern. Doch seine Lippen wollten sich noch nicht formen, seine Stimme sich noch nicht erheben. Gerne hätte er etwas gesagt, um dem Gewirr um ihn herum zu begegnen, gerne hätte er reagiert, um sich seiner und der Situation bewusst zu werden. Doch er konnte nicht. Und so unternahm er erneut einen Versuch und blinzelte in das schneidende Licht hinein, das ihm schier die Sehkraft rauben wollte. Er brauchte einige Augenblicke, um sich an die Helligkeit zu gewöhnen. Augenblicke, die ihm endlos erschienen.
Augenblicke, in denen er in ein hell erleuchtetes Nichts gepresst wurde, nackt und blind. Erst dann zeichneten sich allmählich die Umrisse seiner Umgebung ab und aus dem Licht- und Schattenspiel manifestierte sich nach und nach ein Augenpaar. Es schwebte über ihm, blickte auf ihn nieder, besorgt, doch zugleich freudig. Tränen waren in ihnen zu lesen, doch die Augen strahlten, strahlten vor Begeisterung, strahlten vor Freude.
Er kannte diese Augen. Er kannte dieses Grün, das auf ihm ruhte und ihn umschloss. Kannte diesen Blick, den er schon so oft in seinem Leben auf sich gespürt hatte.
Kannte die Person, deren Konturen sich mit jedem Wimpernschlag schärfer stellten, erkannte die Gesichtszüge, in denen er sich selbst wiederfand.
Doch er verstand es nicht.
„Was machst du hier?“
Er hörte seine Worte wie aus dem Mund eines Fremden dringen. Leise presste er sie hervor, einzeln, als müsste er sich vor jedem Laut wieder von neuem sammeln. Das Sprechen erforderte eine unheimliche Anstrengung, die rasch den Rest seiner Kraft vertilgen sollte.
„Ach Friedrich, mein Kind“, sagte die Person und lächelte ihn an, tief ergriffen und erleichtert, beinahe fassungslos. Als sie sich über ihn beugte, löste sich eine Träne aus ihrem Augenwinkel und fiel auf seine Wange. „Wie sehr habe ich dich vermisst! Sprich noch nicht! Komm erst einmal zu Kräften! Nun bist du ja wieder hier! Nun wird alles gut!“
Wie einem Kleinkind streichelte sie ihm über die Stirn.
Sie küsste ihn auf die Wange und drückte seine Hand so herzergreifend, dass er sich wunderte, was passiert sein mochte.
„Was…was ist denn geschehen, Mutter?“
„So vieles, mein Sohn, so vieles!“ Sie schüttelte gedankenverloren den Kopf. „Aber die Hauptsache ist doch, dass du wieder bei uns bist, dass du wieder hier bist! Und dieses Mal musst du bleiben, hörst du!“
Sie wischte sich mit einem Taschentuch die Tränen von der Wange, damit nicht weitere auf ihren Sohn niederregneten. Auch ihm tupfte sie über die seine, liebevoll, behutsam. „Dieses Mal musst du bleiben, hörst du, dann wird sich alles klären, dann wird alles wieder gut! Verstehst du?“
Er verstand nicht.
Die Worte drangen in sein Bewusstsein vor, doch sie entfalteten keinerlei Wirkung. Es war, als spräche seine Mutter eine andere Sprache. Verwirrt sah er sich in seinem Schlafzimmer um. Auch wenn ihm die Augen wieder und wieder zufielen und er sich mühen musste, gegen die tonnenschwere Last anzukämpfen, die ihn wie ein Stein in die Matratze drückte, hielt ihn der Schrecken wach. Denn wie er nun feststellen musste, war er nicht zu Hause, lag nicht in dem Zimmer, in dem er sich wenige Stunden zuvor noch freudetrunken zu Bett gelegt hatte.
Es war eine unvertraute Umgebung, in der er sich wiederfand, unheimlich und rätselhaft. Ein Bett lag unter ihm, das nicht das seine war, und ein Zimmer erhob sich um ihn herum, dessen Mauern ihn einkesselten. Ein auffällig dezentes Weiß beherrschte den Raum. Es übertünchte die anderen wenigen Farbtupfer und prasselte von den Wänden, von der Decke, ja beinahe von allem, was sich in diesem Raum befand, auf ihn nieder. Spärlich war das Zimmer ausgestattet, sein müder Blick fand nur ein Bett, eine Lampe, einen Schrank, einen Tisch und zwei Stühle, allesamt in Weiß gehalten. Eine einzelne Blume stand als Widersacher gegen die farblose Dominanz vor einem Fenster, verloren in einer zu großen Vase. Zwar ließ sie traurig ihre Köpfe hängen und einzelne Blätter verwelkten bereits im Kreisrund neben ihr auf der Fensterbank, doch das zarte Blau des Vergissmeinnichts sorgte immerhin für ein wenig Abwechslung in dem Raum.
Seine Kraft erlahmte bereits und Verwirrung legte sich wie Nebel auf seine Sinne. Wie in Zeitlupe wandte er den Blick wieder seiner Mutter zu. Dicht saß sie an seinem Bett und ließ ihn keinen Augenblick unbeobachtet. In ihren Augen standen weiterhin Tränen der Rührung und Freude. Tränen, die sie erfolglos zu verbergen versuchte.
„Wo bin ich hier?“, fragte Friedrich unsicher.
„Der Doktor kommt sogleich und wird dir alles Weitere erklären“, sagte sie und mahnte, „du darfst nur nicht wieder fortgehen, hörst du! Du darfst nicht fortgehen!“
Sie betonte die Worte, als ginge es um Leben und Tod.
Hob sie hervor, als wäre es ein Befehl, den zu verletzen Lebensgefahr bedeutete, und Friedrich wunderte sich.
„Wo sollte ich denn hingehen, Mutter? Ich kann mich kaum bewegen. Kann kaum sprechen.“ Angestrengt musste er schlucken. Seine Zunge lag wie Blei in seinem Mund. Auch das Atmen fiel ihm schwer und so brauchte er einen Augenblick, bis er weiterreden konnte. „Mama, sag mir doch bitte, was geschehen ist! Wo bin ich hier? Was mache ich hier? Wie bin ich hierhin gekommen?“
„Oh Friedrich, ich darf es dir nicht sagen, es ist auf Anordnung des Arztes. Ich darf dich nur nicht fortlassen!“ Nervös lächelte sie ihn an und blinzelte immer wieder zur Tür hinüber, verstohlen, aber doch sichtbar, als erwarte sie baldige Rettung aus ihrer misslichen Lage.
„Hab nur noch ein klein wenig Geduld! Der Arzt wird jeden Moment kommen.“ Sie streichelte ihm über den Kopf, liebevoll, zärtlich, und strahlte. „Ach Friedrich, ich bin so froh, mein Sohn!“
Er war ratlos, verwirrt, besorgt. Er verstand nicht, wo er war, er verstand nicht, was geschehen sein mochte, verstand nicht, wie er hierhin gelangt war. Sorgen türmten sich zu riesigen Wellen in ihm auf, die gegen die Felsen seines Verstandes brandeten, denn allem Anschein nach befand er sich im Zimmer eines Krankenhauses. Doch seine Erinnerung versagte. Er wollte sich bewegen, wollte seinen Körper spüren, wollte Arme und Beine regen, seine Muskeln spannen, aber auch das gelang ihm nicht. Seine Verunsicherung wuchs und seine Mutter, die sich immer noch über ihn beugte und ihn wie ein Neugeborenes anstarrte, voller Erwartung und Hoffnung, peitschte seine Verwirrung auf durch die Art, wie sie mit ihm sprach, geheimnisvoll und flüsternd, zugleich erfreut und bedrückt.
Und dann stach ihn etwas. Plötzlich drang etwas in ihn ein. Wie ein Stachel bohrte es sich durch sein Fleisch, bohrte sich in seinen Geist, schmerzhaft und stürmisch, immer wilder, immer tiefer. Etwas schlitzte ihn auf, und er erschrak. Der Schreck fuhr bis in seine Augen, die mit einem Mal zu flattern begannen.
„Was ist mit Susette?“, fragte er verängstigt. „Und wo ist Desiree? Wo ist mein Kind?“
Wie Pfeile schnellten die Fragen hervor. Und wie Pfeile trafen sie ihr Ziel. Auf einmal wandte sich seine Mutter von ihm ab. Das erste Mal, seitdem er in diesem Zustand erwacht war, nicht wusste, wo und was er war, traf ihr mitleidiger Blick nicht mehr den des Sohnes. Er glitt fort, fort von dem Gesicht des Erwachten, hin zur Tür.
„Was ist mit meiner Familie, Mutter? Warum schweigst du?“
„Ach Friedrich, warte doch nur noch einen Augenblick! Ich kann dir nichts sagen, ich darf dir nichts sagen.“
Ihre Stimme zitterte.
„Was ist geschehen?“, brüllte er plötzlich und seine Augen gruben sich aus den Höhlen hervor. „Was geht hier vor sich, Mutter? So rede endlich mit mir! Wo ist meine Frau, wo ist meine Tochter? Was ist mit ihnen passiert?“ Seine Worte platzten wie Kanonenkugeln aus ihm hervor.
Sie hallten im Zimmer nach und rissen einen Graben zwischen ihn und seine Mutter, einen Graben, der sie voneinander trennte, sie wie Feinde gegenüberstellte.
Sein Ton zeugte von Aggressivität und war doch lediglich Ausdruck seines verwirrten Zustandes, in dem er sich gefangen sah.
„Beruhige dich bitte, Friedrich. Es ist gut. Es ist alles gut.“
Mit neu empor stürmenden Tränen versuchte seine Mutter, ihn zu beschwichtigen, versuchte das Feuer zu löschen, das in ihm entbrannte, doch es gelang ihr nicht mehr. Die Sorge um seine Familie hatte zu stark Besitz von ihm ergriffen, sie loderte wild auf und verbrannte ihn.
„Lass mich los!“, schrie er und riss sich aus der Umarmung seiner Mutter, stieß sie wütend zur Seite und forderte seinen Körper unter allem Kraftaufwand auf, ihm zu gehorchen. Seine Beine, seine Arme, alles sollte seinen Befehlen Folge leisten. Das Feuer glühte und peitschte ihn an. Er schwitzte, vor Anstrengung, vor Aufregung. Und mit ungeheurer Willenskraft erhob er sich, setzte seine Füße auf den Boden und stand auf. Zu hitzig, wie es schien, denn seine Kraft versagte. Seine Muskeln waren so schwach, dass sie ihm den Dienst verweigerten.
Und schon stürzte ihm die weiße Keramik des Bodens entgegen. Hart schlug er mit dem Kopf auf den Fliesen auf, ein stechender Schmerz bebte von seiner Schläfe durch seinen ganzen Körper. Seine Mutter schrie auf, und er merkte, wie in rhythmischen Abständen etwas aus ihm hinausbrach und auf den Boden tropfte. Schwindenden Sinnes sah er noch, wie die Tür aufgerissen wurde und eine Person in einem weißen Kittel hereinstürmte. Aus ihrer Schulter wuchs der Kopf seines Vaters, der beim Anblick des Vorgefallenen die Hände vor das Gesicht schlug.
„Um Himmels Willen, was ist geschehen, Johanna?“
Friedrichs Kopf schwirrte. Schwindel übermannte ihn.
Alles verschwamm vor seinen Augen. Unscharf erkannte er noch, wie sich der Arzt über ihn beugte und versuchte, sein Bewusstsein aufrechtzuerhalten. Doch es entglitt ihm mehr und mehr.
Dann wurde ihm schwarz vor Augen. Er konnte nichts mehr sehen und hörte nur noch die ängstlichen und besorgten Stimmen seiner Eltern und jene dieses Mannes, die in dem langen Tunnel, aus dem er eben gekommen war, wieder verschwanden.
„Friedrich“, schrie seine Mutter verzweifelt, „Friedrich, bleib hier! Bleib in der Wirklichkeit!“
Doch alles verwischte vor ihm. Alles fuhr in einem Strudel hinab. Und so war das Letzte, was er als Flüstern in der Ferne noch vernahm, bevor alles verstummte und er sich in einem Nichts, in einer endlosen Leere befand, die Stimme eines Dritten, wohl des Arztes, die leise nachhallte.
„Es tut mir leid, wir haben ihn wieder verloren!“

Leseprobe: Sina Lippmann – “Wofür wir spielten”

Prolog

Das Unwetter kündigte seinen Auftritt mit einem tiefen Räuspern an. Als die ersten schweren Tropfen in die Oberfläche des Flusses klatschten, rafften wir Murmeln, Zinnsoldaten und den „König Forunculus“ zusammen, wieherten noch ein letztes Mal in Richtung Himmel und rannten mit zurück geworfenen Köpfen durch die Kornfelder in die rettende Deckung unserer Elternhäuser.
„Josephine, willst Du nicht mal mit der Annegret von nebenan spielen, das ist so ein nettes Mädchen?“ hatte meine Mutter am Morgen schon wieder gefragt.
Ich wollte davon nichts hören. Wollte nichts zu tun haben mit dem langweiligen Nachbarskind, das in Spitzensommerkleid und Lackschuhen einen Miniaturkinderwagen die Straße auf und ab schob, als wäre das Leben ein niemals endender Sonntagsspaziergang. Ich folgte lieber den Jungs-Banden meiner beiden großen Brüder. Sobald die Schule vorbei war, feuerten wir die Ranzen in die Ecken unserer Zimmer, bewaffneten uns mit Steinschleudern, Holzgewehren und Fesselseilen und begannen den Streifzug durch das Dorf. Ein ganzes Königreich gab es dort für uns zu erobern. Wir kletterten auf die Trümmer des abgerissenen Hauses am Ende der Straße und suchten unter den Steinen nach verborgenen Schätzen. Mit Tritten und Hieben rangelten wir um unsere Beute, als handele es sich um Stücke aus einem englischen Auktionshaus und nicht bloß um Glasscherben und Teppichreste. Unter Triumphgebrüll rannten wir hinunter zum Fluss. Wir bauten Weidenruten-Paläste an seinem Ufer, richteten sie mit unseren Fundstücken ein und gaben ihnen Namen – „Finsterkerker“, „Waffenhammerkammer“, „Trilliardenleuchtersaal“. Soldaten, Könige und Diener ließen wir aufmarschieren, während die Sonne gemächlich sank. Wir schwangen an Astschaukeln über dem wildgrünen Wasser und ließen uns mit dem Hintern zuerst hinein plumpsen, wir bewarfen uns im Sommer mit Matsch und im Winter mit Schnee, wir kugelten den Hügel hinab bis wir uns zu einem Knäuel ineinander verkeilt hatten. Wir waren Tiger und Bären, Cowboys und Indianer, wir waren Trolle und Drachen, Könige und Vagabunden. Wir lachten bis wir weinten, wir schrien, wir kämpften, wir fluchten, wir jubelten und fauchten.
Es gab keine Welt jenseits der von uns soeben erschaffenen.
Nur ein übler Wetterumschwung oder das ewig überraschende Einsetzen der Dämmerung konnte uns auf den Heimweg zwingen. Zerkratzt, verdreckt und niemals pünktlich schlichen wir von diesen Streifzügen nach Hause an den Abendbrottisch, begleitet von vorwurfsvollen Blicken unserer Eltern, die bereits in einvernehmlichem Schweigen nebeneinander auf der Küchenbank saßen und warteten.
Gegessen wurde, das war das oberste Gebot unseres Vaters, immer mit der gesamten Familie. So hockten wir drei vor unseren Tellern, mit Erdspuren unter den Nägeln und scharfkralligen Kletten im Haar. Nach außen taten wir schuldbewusst, aber heimlich zwinkerten wir uns zu, erfüllt von einer Glückseligkeit, wie sie wohl nur Eroberern neuer Kontinente bekannt sein dürfte.
Wenn wir später im Badezimmer standen, mit nackten Kinderfüßen auf eiskalten Fliesen und uns bettfertig schrubbten, spürten wir dann und wann einen plötzlichen Schmerz im Finger, den wir den ganzen Tag schon mit uns herumgetragen hatten, der sich aber erst jetzt seinen Weg bahnen konnte, die Baumkletterwagnisse, Drachenhöhlenbezwingungen und Flusswasserschlachten hinter sich schiebend. Da saß der Splitter. Kaum sichtbar und so tief ins Fleisch gebohrt, dass selbst ein Hantieren mit der Pinzette nichts gegen ihn ausrichten konnte.
„Der wächst sich raus“, sagte die Mutter dann zu uns.

Manche bleiben.

ERSTER TEIL

0.

Josephine sah zu, wie die Wischerblätter den Schnee in parallelen Halbkreisen von ihrer Scheibe schoben.
Unaufhörlich schabten sie ein Fenster zur Welt frei, dabei blieb am Ende jeder Bewegung ein winziger Rest Schnee zusammengepresst unten auf der Scheibe liegen, so dass die Freiflächen kaum merklich immer ein bisschen kleiner wurden.
Hinter ihr hupte es. Josephine zuckte zusammen, hob entschuldigend die rechte Hand und trat aufs Gaspedal. Die Uhr unterhalb der Tachonadel zeigte halb neun an, sie war spät dran und Herr Hofstätter wartete nicht gern. Erst als sie den Häuserblock am Stuttgarter Platz zum dritten Mal umkreiste, fand sie eine Lücke hinter einem Lieferwagen, in die sie ihren alten Ford Fiesta vorsichtig hineinmanövrierte.
Sie griff nach der für diese Temperaturen eigentlich zu dünne Jacke, holte den Plastiksack mit Putzmitteln aus dem Kofferraum und lief mit eingezogenem Kopf zum Haus ihres ersten Klienten für heute. Beim Anblick des Wetters wäre sie am liebsten im Bett geblieben, außerdem schmerzten bei der Kälte ihre Gelenke. Aber sie war auf das Geld angewiesen und Herr Hofstätter gab manchmal sogar ein Trinkgeld. Er stand schon in der offenen Wohnungstür, als sie das vierte Stockwerk der Leonhardtstraße Nummer 3 erreichte.
„Na, Fräulein Josephine, haben wir etwa heute ein bisschen zu lang geschlafen?“ Ein schelmisches Lächeln huschte über seine Mundwinkel. Er trug einen seidenen roten Morgenmantel und hatte sein weißes Haar sorgsam zurückgekämmt. Sie murmelte eine Entschuldigung, huschte an ihm und der großen Bücherschrankwand im Flur vorbei und machte sich in der Küche daran, die Spülmaschine einzuräumen. Einen Teller, Messer, Gabel, ein Wasserglas, ein Weinglas, manchmal dauerte es bis zum Ende der Woche, dass es sich überhaupt lohnte, die Maschine anzustellen. Herrn Hofstätters schwindende Sehkraft hatte dazu geführt, dass seine Töchter sich bei ihren seltenen Besuchen immer häufiger über Reste von Eigelb, Spuren von klebrigen Soßen und festsitzende Krümel auf dem Geschirr beschwert und schließlich den Kampf um den Kauf einer „tosenden Minna“, wie Herr Hofstätter die Spülmaschine verächtlich nannte, gewonnen hatten. Allerdings unter der Bedingung, dass er keinen näheren Kontakt zu ihr aufnehmen müsste. Das war zu einer von Josephines Aufgaben geworden, die sie an drei Tagen in der Woche erfüllte. An den anderen Tagen, außer am Sonntag, kam eine weitere Pflegekraft, der Josephine bisher aber nur ein einziges Mal per Zufall im Treppenhaus begegnet war, weil sie sich im Datum geirrt und statt am Freitag aus Versehen schon am Donnerstag gekommen war.
Eine junge Frau war das gewesen, Mitte zwanzig, schätzte Josephine, die in einem blau-weiß geblümten Sommerkleid und mit wippendem Pferdeschwanz vor ihr die Stufen mit leichten Schritten erklommen hatte. Als sie einige Stockwerke über sich dann das Klopfen an einer Tür und ein „Herr Hofstätter, ich bin es, Bettina, ihre Betreuerin“ vernahm, erkannte sie ihren eigenen Fehler und drehte leise auf dem Absatz um.
Sie sprühte das Spülbecken mit dem Küchenreiniger an, schäumte und schrubbte mit einem Schwamm so kräftig wie möglich und beobachtete dann, wie die Seifenblasen, vom Wasserstrahl gelenkt, langsam in den Abguss trudelten.
„Josephine, wo bleiben Sie denn? Lassen Sie das mal sein, ist doch alles sauber, soviel Dreck mache ich doch gar nicht.“
Herr Hofstätter hatte offenbar bereits in seinem Sessel im Wohnzimmer Platz genommen.
„Wir haben einiges zu tun, in der Sonntagsausgabe stehen immer besonders viele drin.“
Er hatte den „Tagesspiegel“ bereits aufgeschlagen, Josephine setzte sich neben ihn auf einen Stuhl und griff nach ihrer Lesebrille. Was in der Welt, im Sport und in Berlin passierte, interessierte Herrn Hofstätter schon lange nicht mehr. Das Feuilleton durfte sie gelegentlich vorlesen, aber am wichtigsten waren ihm die Todesanzeigen. Er brannte geradezu darauf zu erfahren, wen es erwischt hatte.
Besonders die 1930er Jahre, also die seinem eigenen Geburtsdatum am nächsten gelegenen, weckten seine Neugier. Die musste sie immer als erstes heraussuchen. Er legte großen Wert darauf, dass sie den Text vollständig und exakt vortrug, mehrfach wiederholte und seine Nachfragen zur Anzahl der genannten Trauernden, zum Ursprung des jeweiligen Bibelzitats und zur grafischen Gestaltung der Anzeige geduldig beantwortete. Manchmal kannte er jemanden, dann erzählte er ihr von seinen Erinnerungen an die Person. Bei jeder Anzeige spekulierte er ausführlich über die mögliche Todesursache und fragte Josephine nach ihrer Meinung. Ihre Spezialität wiederum war das Phantasieren über die berufliche Laufbahn der Verstorbenen, manchmal anhand von vorhandenen Hinweisen, oft aber dachte sie sich eine Karriere einzig und allein anhand des Namens aus. So hatte sich ein Spiel zwischen ihnen entwickelt, dass alle Mensch-ärgere-dich-nicht-Runden und Fotoalben-Durchsichten überdauert hatte.
„Na, dann wollen wir mal,“ sie breitete die Zeitung auf ihrem Schoß aus. Die Doppelseite sah mit den schwarzen Kästen der am gleichen Tag Verstorbenen selbst beinahe aus wie ein Friedhof. Die vermeintlich Wichtigen lagen in ihren großen Schriftgräbern und dazwischen gezwängt die sogenannten Normalsterblichen, fast als lägen sie in genau dieser Anordnung bereits unter der Erde. Nicht mal ganz am Ende konnte man sich seine Nachbarn aussuchen, dachte sie und glitt mit dem Zeigefinger über die Buchstaben.
Dann sah sie ihn.
Markus Weidenberger, in der linken unteren Ecke.
Nach kurzer schwerer Krankheit hat er die Bühne der Welt viel zu früh verlassen.
Geburtsdatum, Todestag, die Namen der traurig Zurückgelassenen, Ort und Uhrzeit der Beisetzung. Heute schon, um zehn Uhr. Darunter ein Segensspruch. Das blieb?
Von einem Leben? Keine sechzig, viel zu…was? Jung? Das interessierte den Krebs nicht.
Der hätte mich genauso erwischen können, ich bin ja nur ein paar Jahre drunter und geraucht wie die Schlote und ungesund gelebt hatten wir damals schließlich alle, dachte Josephine.
Sie hätte vielleicht zu ihm gehen sollen an dem Tag, als seine Vergissmeinnicht-Karte in ihrem Briefkasten lag. Auf der Rückseite: Von Herzen alles Liebe zu Dir. Ich bin sehr müde in letzter Zeit, aber ich schreibe endlich mein Leben auf. Ihr gehört zu dem Besten darin. Danke für die Lichtjahre. Markus von den Antigonisten. Diese Karten waren ihre einzige Verbindung geblieben, als alles andere längst aufgelöst war. Markus hatte nie aufgehört zu spielen. Puppentheater mit Kindern auf Neufundland, Straßentheater mit mexikanischen Frauen, denen die Töchter gewaltsam entrissen worden waren. Von jeder dieser Reisen hatte er ihr seine Pappbildergrüße geschickt. Sie bewahrte sie alle auf, hatte sie mit rot-grün-orange-blauen Stecknadeln in die Wand neben ihrem Bett gepiekt und sich beim Einschlafen an seine Fersen geheftet. So bretterte sie auf Markus´ Beifahrersitz durch die marokkanische Wüste, begleitete ihn als Rucksacktouristin zu den umwucherten Tempeln von Angkor Wat und bestaunte neben ihm die Eisberge auf ihrer behäbigen Reise vom isländischen Jökulsárlón-Gletscher ins Meer. Wie schaffen die einen derart weiten Weg, ohne dabei zu schmelzen, fragte sie sich.
„Was haben Sie denn, Fräulein Josephine, kennen Sie etwa jemanden?“ Erst als die Stimme von Herrn Hofstätter sie aus ihren Gedanken riss, bemerkte sie, dass es auf die Zeitung tropfte und den dazu passenden salzigen Geschmack auf ihren Lippen. Sie stand auf, zog sich ihre Jacke an und steckte die Todesanzeigenseite in die Tasche.
„Es tut mir sehr leid Herr Hofstetter, ich muss mich von jemandem verabschieden, der einmal sehr wichtig für mich war. Vielleicht schaffe ich es, am späten Nachmittag nochmal bei Ihnen vorbeizukommen. Verzeihen Sie mir bitte.“
Als sie an seinem Sessel vorbei zur Wohnungstür ging, streckte er seine in ihre Richtung. Darauf lag eine Packung Taschentücher und die weiße Rose, die gerade noch in der Vase auf seinem Wohnzimmertisch gestanden hatte. Beides nahm sie dankbar entgegen. Dann spurtete sie los.
Das Ensemble aus Engeln, Kreuzen und quadratischen Steinen schaute ratlos ins Weiß und schien sich nicht mehr ganz sicher zu sein, ob jeder noch an seinem richtigen Platz stand. Der Schnee hatte die Grenzen zwischen den Gräbern des Stahnsdorfer Waldfriedhofs über Nacht verwischt.
Josephine suchte Markus und wollte ihn zugleich auf keinen Fall finden. Efeu versuchte schnellstmöglich von hier zu entkommen und nutzte jeden Ast und jeden Rindenknoten der knorrigen Buche als Trittleiter in die Höhe. Auf einen Baumstumpf hatte jemand einen sehr kleinen Schneemann gepflanzt. Er reckte das mickerige Stöckchen im Arm drohend gen Himmel, als wollte er damit seinem alten Erzfeind dort oben den Kampf ansagen.
„Aussichtslos,“ rief sie ihm in Gedanken zu.
Sie wusste keine Richtung, also folgte sie den Spuren des Morgens am Boden. Einer Dame mit spitzen Absätzen, einem Vogel mit großen Krallen, einem Rollator mit jemandem im Schlepptau, einem Schlitten gezogen von einem Mann in Wanderschuhen, einem Eichhörnchen, zwei Fahrrädern. Die hatten sicher alle ein Ziel.
Der Ausgang kam in Sichtweite und damit die Möglichkeit eines Irrtums. Vielleicht war es doch nicht sein Name gewesen auf der Todesanzeigenseite des Tagesspiegels gewesen. Sie tastete nach der Zeitung in ihrer Jackentasche und wollte schon durch die hintere Friedhofspforte hinaus huschen, da lagen sie. Auf der linken Seite, ganz nah am Weg. Die monströsen Blumenberge und das schwarze Loch im Schnee. Sein Name auf allen Schleifen. Sie warf ihre einzelne weiße Rose zu den anderen frierenden Blüten, wo sie nun auch zusammenbrechen und verenden durfte.
Den Gottesdienst und die Beisetzung hatte sie durch die Spurensuche über den Friedhof versäumt. Das kam ihr gelegen, denn die Kirche bedeutete ihr schon lange nichts mehr und sie wollte mit ihm allein sein, mit ihm da unten in seiner Kiste. Sie hoffte, dass sie ihm die löcherige Jeans und den braunen Lederhut gelassen und ihn nicht in eines dieser weißen Nachthemden gesteckt hatten. Das wäre das falsche Kostüm für den letzten Auftritt gewesen. Sie blickte sich um, ging dann in die Hocke, als könnte er sie so besser hören.
Erst wusste sie nicht, was sie sagen sollte, schließlich flüsterte sie ihm zu:
„Gestern war ich im Deutschen Theater und habe mir ein Flüchtlingsstück von diesen Doku-Theater-Leuten angeschaut. Das hätte dir, glaube ich, gefallen. Wir Zuschauer haben mit Gießkannen, Eimern, Flaschen, sogar mit Schlauchboot und Paddel das Wasserstück von John Cage nachgespielt. Weißt du noch, diese irre Nummer, wo er in der Fernseh-Show auftritt, alles in Schwarz-Weiß damals. Cage rennt wie ein Verrückter durch die Gegend, hebt den Deckel von einem pfeifenden Wasserkessel hoch, stellt eine Vase in eine Badewanne und gießt die Blumen darin, versenkt einen Gong in der Wanne, schaltet den Mixer mit Eiswürfeln an, so dass sie anfangen wie wild darin zu tanzen. Dann der Blick vom Fernseh-Moderator, als Cage das Glas mit dem Wein selbst austrinkt und Stephan kippt in deiner WG vor Lachen fast von seinem Podest.
Im Theater sollte ich auf einen Wasserspritz-Hai aus Gummi drücken, einen langgezogenen quietschenden Ton hat das Biest von sich gegeben. Über Kopfhörer haben wir dazu die Geschichten von fünf Flüchtlingsjungen gehört, die erzählten, wie sie mit einem Schlauchboot, das viel zu klein für viel zu viele Menschen war, über das Mittelmeer gekommen sind.
Wie sie nicht aufhören durften zu paddeln, wie das Wasser knapp wurde, wie sie jeden Tag die Telefonnummer ihrer Mutter angerufen haben, die zu Hause geblieben war und wie dort seit drei Jahren niemand den Hörer abnimmt. Heute leben die Jungen in der Schweiz und sagen, es ist ihnen egal, wie das Land heißt, in dem sie leben. Iran, Griechenland oder Deutschland, Hauptsache sie sind in Sicherheit. Sicher ist nur der Tod, das hast du mir damals immer gesagt.“

Eine Drossel huschte unter den tief hängenden Zweigen einer Tanne hervor, hielt inne, schaute mit schwarzen Augen und geneigtem Kopf zurück in den Baum, strich sich mit dem Schnabel über den zerzausten Flügel und hüpfte davon.

Josephine griff in den Schnee, formte eine Eiskugel und schleuderte sie ins Zentrum des Blumenbergs.
„Au revoir, du verrückter Markus, ich werde dich schon nicht vergessen, keine Angst. Mach es gut.“
Langsam stand sie auf. Es hatte erneut zu schneien angefangen, dicke Flocken suchten Halt in ihren Haaren, auf ihrer Jacke, ihren Stiefeln. Sie spürte ihre Finger kaum noch, die Kälte hatte die Muskeln lahmgelegt. Sie schlug die Hände gegeneinander, wandte sich von Markus ab, wollte gehen.

Da standen sie.

Sylvie.
Tom.
Stephan.
Hans.

Ihre Splitter.


Die beste Zeit ihres. Als es mit ihnen zu Ende. Schlimmste.
Der Rest war. Schweigen. Aber ihre Gesichter, Stimmen, Gerüche. Jeden einzelnen Tag. All die Jahrzehnte. Kein. Jetzt waren sie plötzlich. Älter geworden. Sie ja schließlich.
Beinahe nicht erkannt, aber nur. Genauso wie. Damals.

Dichte Flocken fielen vor ihren Gesichtern. Wie eine Bildstörung im eigenen Blickfeld, dachte sie.
Der Grund unter ihr schwankte, taute, gab nach. Sie rannte weg, bedeckte sich mit schaufelweise Schnee, wartete, zu einer Mumie erstarrt, dass die anderen verschwinden würden.
Sie spuckte ihnen ins Gesicht, stieß sie alle ins offene Grab, warf Steine nach ihnen. Sie stürzte sich in ihre Arme. Nichts davon geschah.
Stattdessen versuchte sie sich an ihnen vorbei zu schieben, sich einen Weg durch ihren Halbkreis aus schwarzen Wintermänteln zu bahnen. Sie versuchte zum Friedhofstor gelangen. Fast war sie entkommen, setzte ihre Füße schon auf den Weg, der zum Ausgang führte, sog die eisige Winterluft tief in die Lungen. Da griff Stephan nach ihrem Handgelenk und machte die Flucht unmöglich. Seine Hand war warm und trocken, die Haut eines Elefanten. Dabei hatte sie immer gedacht, dass es ihn zuerst erwischen würde, dass er der erste von ihnen sein würde, den der Tod sich schnappt. Aber er schien den Tanz am Rande des Abgrunds, den er damals so intensiv getanzt hatte, halbwegs unbeschadet überstanden zu haben. Er zog sie zu sich heran. Immer noch die gleichen Eiswasseraugen.
„Josie, warte. Bitte.“

Black.

West-Berlin, 1987

1.

Josephine drückt die Klinke des Hoftors nach unten und bringt sich in Kontakt zur Stadt. Vorbei an dem Graffitivogel, der an der Hauswand sitzt, die Muskauer Straße entlang. Premierenabend. Auf dem Weg zum Theater muss sie noch einmal durch den Text. Sie lernt ihn immer im Gehen. Nur so verfangen die Worte, die Schritte pressen sie in ihre Hirnwindungen.
An gewöhnlichen Tagen zieht sie sich in ihre Rolle wie in ein Schneckengehäuse zurück, blendet den Weltrest völlig aus.
Andere Passanten halten sie wahrscheinlich für leicht verrückt, wenn sie beobachten wie sie, murmel, murmel, über rote Ampeln läuft, plötzlich mitten in der Bewegung stehen bleibt, zum Himmel blickt, murmel, murmel, auf dem Absatz kehrt macht, um dann, murmel, murmel, schnell in die entgegengesetzte Richtung weiterzulaufen. Manchmal trifft sie auf diesen Wortspaziergängen einen anderen Murmeler, als begegneten sich zwei Außerirdische zufällig auf der Erde. Ein kurzes Erkennungsnicken und weiter geht die Reise. Murmel, murmel. Es sind Zeiten höchster Konzentration, mühevoll und intensiv.
Aber heute ist kein gewöhnlicher Tag und das Premierenadrenalin macht ihren Körper federleicht. Etwas verschiebt sich, Welt und Text sind nur zwei Varianten desselben Gedankens.
Eine Tür fällt ins Schloss und einer alten Dame, die davor steht, ein 50-Pfennigstück aus der Geldbörse. Es rollt in Richtung Gulli im Rinnstein.
„O Grab, o Brautgemach, o unterirdische Behausung, die mich ewig in Gewahrsam hält, wohin ich gehe zu den Meinen, deren meiste schon Persephone im Totenreich empfangen hat, nachdem sie umgekommen.“
Josephine stellt geschwind ihren Schuh auf die Münze und gibt sie der Frau zurück. Die dankt. Weiter, weiter jetzt. Ein Mädchen mit blondem Pferdeschwanz läuft aufgeregt zu seiner Mutter, die ein Baby im Kinderwagen schiebt. In den Händen hält die Kleine einen toten Schmetterling, aufgebahrt.
„Doch starke Hoffnung heg ich, wenn ich komme, dass lieb ich komm dem Vater, und geliebt dir, Mutter, lieb auch dir, du brüderliches Haupt. Denn als ihr starbt, hab ich mit eignen Händen gewaschen euch, geschmückt und Güsse über eurem Grab gespendet; aber jetzt, da Polyneikes, deinen Leib ich habe hergerichtet, ernt ich solchen Lohn, und tat doch recht im Urteil der Vernünftigen, zu ehren dich.“
Da ist sie, die niedrige Bank vor dem Straßeneck-Haus, von der die rosa Farbe abblättert und die so aussieht als würde sie sich genauso verdrießlich wie vergeblich nach einem müden Passanten sehnen, der sich auf ihr niederlässt.
„Denn nie, wär ich von Kindern Mutter auch gewesen, noch wär ein Gatte mir im Tod dahingeschwunden, hätt ich den Bürgern trotzend diese Müh mir auferlegt. Stürb mir der Gatte, könnt ich einen andern finden, bekäm von ihm ein Kind auch, hätt ich eins verloren. Da aber Mutter mir und Vater ruhn in Hades´ Reich geborgen, gibt´s keinen Bruder mehr, der je mir wüchs heran.“
Ein Großvater zerrt seine Enkelin von den bunten Kaugummikugeln fort, die hinter den Plexiglasscheiben eines mit Aufklebern übersätem Automaten liegen und die sie wahrscheinlich so gern befreien würde.
„Und nun führt er mich weg, mit Händen so mich greifend, ohne Brautbett, ohne Hochzeit, nicht der Ehe Teil erlangend, nicht das Glück, mir Kinder großzuziehn, nein, so verlassen von den Lieben gehe ich, die Unglückselige, lebend in der Toten Gruft.“
Ein Löwenzahn, der sich durch eine Ritze im Asphalt gekämpft hat und nun seine Blätter in Richtung der Wasserpumpe reckt.
„Welches Recht der Götter hab ich denn verletzt? Was soll ich Arme noch zu Göttern aufblicken? Wen zum Beistand rufen? Denn – das alles ist jetzt klar – den Ruf unheilgen Tuns erwarb ich durch mein heilges Handeln.“
Da ist das kleine Kreuzberger Kieztheater, das sie für diese Inszenierung angemietet haben. Das Bettlaken-Transparent „Heute 20:00 Uhr – Premiere: Antigone-Variationen“ hängt schon über dem Eingang. Sie nimmt Kurs auf die schwere Metalltür und wechselt die Welten.

2.

Der Geruch macht wie immer den Auftakt. Das vertraute Elixier aus Adrenalin, Schweiß, Tränen, Zigarettenrauch und 100fach getragenen Kostümen, das sie nur vom Theater kennt und von dem sie vermutet, dass es sich bis auf kleine Nuancen an allen Bühnen gleicht.
Ein bisschen wie das Parfüm „Übersüßter Hagebuttentee und Scheuermilch“, mit dessen Hilfe auch Blinde erkennen sollen, dass sie es in die Jugendherberge geschafft haben.
Nur besser natürlich, dachte sie.
Ihre Augen brauchen einen Moment, um sich an die Dunkelheit zu gewöhnen, die Boden, Decke und Molton abstrahlen. Umrisse schälen sich aus dem Schwarz, die anderen sind bereits da. Sylvie, Markus, Stephan, Tom. Eine Zigarette wird herumgereicht.
„Hey Josie, alles klar bei Dir? Tom, der Black in der dritten Szene muss glaube ich früher kommen, eigentlich sofort nachdem Stephan den Stuhl umwirft.“
Alles wie immer offensichtlich. Markus hat noch hektisch-wirre Änderungsvorschläge für das Beleuchtungskonzept, die er in bester Dozentenmanier und in letzter Sekunde, vorträgt.
Seine Hände fliegen durch die Luft, unsichtbare Muster zeichnend. Tom nimmt es gelassen auf und will dann mal spontan gucken, was sich da so auf die Schnelle noch machen lässt. Sylvie, mit ihrer 1000Volt-Energie, von der Josephine nie weiß, wie sie in diesem fragilen Körper Platz findet, ohne ihn von innen zu verbrennen, rupft nervös an vermeintlich kaputten Haarspitzen. Vergnügt schaut Josephine aus der kurzen Distanz zu, wie sie versucht, sich ihre Ungeduld auf keinen Fall anmerken zu lassen. Stephan ist still und konzentriert, zieht den Zigarettenrauch tief in sich hinein, fokussiert einen Schmutzfleck auf dem Bühnenboden.
Er ist wahrscheinlich bereits nur noch Text und Rolle. Dabei stört man ihn besser nicht.
Josephine nickt ihrer kleine Theaterfamilie zu und geht schon mal in die Umkleide. Die anderen nicken zurück, sie kennen ihr Bedürfnis, eine Weile allein in der Garderobe sein zu wollen. Damit sie sich der Rolle ungestört nähern kann. Auf der Garderobenstange hängen schon der lange schwarze Ledermantel und das indigofarbene Seidennachthemd.
Schnell rein in die fremde Haut, die sie mit ihrem Körper ausfüllt. Sie schminkt sich selbst, wie alle hier. Viel schwarzer Kajal für Antigone. Ein letzter Blick in den Spiegel. Fertig.
Die anderen kommen herein, der Geräuschpegel in der engen Garderobe verdichtet sich.
„Hat jemand meine Haarspange…diese rote…ich hatte die doch gerade noch…verflixt…das gibt es…“
„Lässt du mich mal ganz kurz…ich habe da hinten…Stiefel…“,
Markus schiebt Sylvie vorsichtig zur Seite.
Reißverschlussschnurren.
„Ja, das ich sterben würd: Ich wusst es wohl – wieso auch nicht? – und hättest du es auch nicht öffentlich verkündet!“
Schnallenklipsen.
Dann sind sie soweit. Warm-Up hinter der Bühne. Sie stehen in einem kleinen Kreis, Markus gibt einen Ton, die anderen steigen ein bis sie sich auf derselben Frequenz begegnen.
„Mmmmmmmmmmmmmmmmmmmm.“
Sie kreisen die Schultern, die Hüften, das Becken, die Knie, die Knöchel, die Handgelenke, die Finger. Sie schreiben mit den Ellenbogen unsichtbare Wünsche auf den Vorhang, klopfen einander ab, die Brust, die Schenkel, die Rücken der anderen. Der Körper muss geschmeidig sein. Sie befreien auch die Stimme.
„Tatata. Papapa. Fafafa.“
„Hallo! – Sie da!“
„Warum? Wieso? Weshalb? Wer? Wo? Was? Wann?“
„Schhhhhhhhhhhhhh!“ „Brrrrrrrrrrrrrrrrr!“ „Ffffffffffffffffffffffffff!“ Lippenflattern.
Sie werfen Geräusche. Einen Soundball.
„Kawusch!“ „Kawusch-Razong!“ „Razong-Schnirp!“ „Schnirp-Hep!“ „Hep-Psssssst!“
Der Kopf muss wach sein. Sie assoziieren, stampfen mit den Füßen im Rhythmus.
„Blau“ – „Beere.“ „Blaubeere – taramtamtam.“ „Baum“ – „Schwein.“ „Baumschwein – taramtamtam.“ „Lampen“ – „Hut.“
„Lampenhut – taramtamtam.“
Josephines liebste Übung. Auf die besteht sie jedes Mal. Die anderen rollen gespielt mit den Augen, machen aber doch immer mit.
„Nur, weil sich Josie dann wieder freut wie eine Schneekönigin.“
Stephan zündet sich eine Zigarette an für einen schnellen Zug bevor der Lappen hochgeht.
„Toi, toi, toi!“
Dreimal bei jedem über die Schulter gespuckt.
Das Adrenalin kommt. Jetzt. Sie weiß es, hat es erwartet und ist überrascht wie beim ersten Mal. Ihr Blut im Kriegszustand.
Sie rettet sich mit ihrem Auftritt. Eine Flucht in die Dunkelheit, die heute von gerade einmal etwa zwanzig Augenpaaren bewohnt wird. Der Scheinwerfer knallt sein Licht auf Josephine. Die Zuschauer verschwinden im Schwarz. Sie ist zu Hause.
„Ja, ich gestehe die Tat und streite sie nicht ab.“
Pause. Atmen. Warten.
„Ja, dass ich sterben würd: Ich wusst es wohl – wieso auch nicht?“
Pause. Der Text kommt von ganz allein. Sie braucht jetzt keine Spaziergänge, keine Schneckenhäuser und kein murmel, murmel mehr. Ihre Stimme ist fest und klar, als Antigone gleiche Rechte für Frauen und Männer einfordert.
Die Zeit fliegt.
Josephine geht ab. In der Gasse steht Sylvie bereit für die nächste Szene, in der sie als Ismene, Antigones Schwester, sprechen wird. Sie steckt sich eine widerspenstige Haarsträhne unter die rote Spange, dann spannen sich ihre Muskeln und Sehnen. Es sieht aus, als würde sie größer werden, als hätte sie einen mutigen Entschluss gefasst. Als würden an all ihren Gelenken plötzlich strahlende Lichter entzündet. Mit einem großen Schritt geht sie auf die Bühne und Josephine in die Garderobe, um sich für ihre Medea-Rolle umzuziehen. Die starken Frauen sind heute im Mittelpunkt des Stücks, das sie als Monolog-Collage präsentieren.
Spot off. Ende. Geschafft. Entspannung. Der Glücksrausch am Ende vom Auftritt wird weggespült durch das nur freundlich verhaltene Klatschen des Publikums. Es klingt doch eher nach Mitleid als nach Begeisterung. Wieder einmal. Sie fassen sich an den Händen, Josephine greift die von Stephan, der rechts neben ihr steht. Seine Schultern hängen schlaff herunter, sein Blick ist gesenkt.
Gleichzeitig machen alle einen Schritt vor und blicken in fragende Gesichter. Tom schickt ihnen zwar ein aufmunterndes Zwinkern von seinem Lichtpult, aber noch während der Vorhang fällt, denkt Josephine, dass es so nicht weitergehen kann.
Und dann rasen ihre Gedanken schon in die Cuvrystraße.
Dort werden sie sich nächste Woche, wenn die „Antigone-Variationen“ abgespielt sind, einen neuen Raum anschauen.
Vielleicht kann dort alles anders werden.

3.

„Hier ist es“, sagt Markus, der über die Anzeige in der Berliner Morgenpost „Etwas in die Jahre gekommenes ehemaliges Bühnenhaus in Kreuzberg sucht Nachmieter, gern zum Spielen“ und nach stundenlangem Telefonzellen-Anstehen am Bahnhof Zoo tatsächlich diesen Ort gefunden hat. Markus wirft den Schlüsselbund, den ihm der Vermieter zur „Besichtigung in Eigenregie“ ausgehändigt hat, hoch in die Luft, fängt ihn wieder auf. Sie drängeln sich durch den Torbogen in den Hinterhof, vorbei an rostigen Fahrradständern, die unter einem löchrigen Wellblechdach stehen. Josephine folgt Markus die ausgetretene schmale Betontreppe nach oben.
„Welcher von diesen könnte denn wohl den Zugang zum Palast freigeben?“ Josephine zeigt ohne Zögern auf einen Eisenschlüssel mit hervorstechenden Zacken und tatsächlich passt er in die hellblaue Holztür. Es folgt ein kurzer Gang, dann stehen sie vor einer Metalltür. Hier passt erst der letzte Schlüssel aus der Versuchsreihe. Sie tasten nach dem Lichtschalter, finden aber nur die Hände der anderen.
„Ich hab ihn,“ Stephan triumphiert und mit einem Flackern gibt die Glühbirne den Blick ins Höhleninnere frei. Josephine sieht sich um. Es stand lange leer, es ist heruntergekommen.
Es wäre hirnrissig hier zu spielen, denkt sie. Und gleichzeitig wunderbar. Auf dem schwarzen PVC-Boden hat sich ein zusätzlicher Belag ausgebreitet, eine Schicht aus Staub, Abgeaschtem, Verschüttetem. Tom entzieht seine Schuhe dieser Mischung mit einem schmatzenden Geräusch.
Vereinzelt liegen Möbelstücke herum. Eine Matratze, deren buschiges Innenleben sich, in der Vergangenheit offensichtlich unterstützt durch die Arbeit verschiedener Nagetiere, nach draußen ergießt. Eine Stehlampe, deren Schirm so abgewetzt ist, dass sich sein Muster aus Schlingpflanzen mit Vögeln darin nur noch erahnen lässt.
Sylvie reißt das einzige Fenster an der Rückwand des Raumes auf, die Frühlingssonne macht das Theater hell.
Sie lassen sich auf einer Ansammlung wackliger Stühle nieder.
Stephan zündet sich eine Zigarette an.
„Also mir gefällt es. Ein bisschen räudig, aber das passt doch ganz gut zu uns.“
Markus, Tom und Sylvie stimmen sofort zu.
Josephine versucht sich den ganzen Dreck und Plunder wegzudenken, es sich vorzustellen mit Zuschauerreihen, einem kleinen Bartresen, einem neuen schweren Vorhang.
Wie sie vor ihrem Garderobenspiegel sitzt und sich die Wimpern tuscht während Tom an seinem Pult den letzten Lichtcheck macht, wie später die Leute zur Tür hereinströmen und an einem Bistrotisch mit der Kasse sagen: „Zweimal, bitte.“ Wie sie dann neugierig und gespannt auf ihren Stühlen sitzen und auf den Beginn der Vorstellung warten.
„Wir sollten es nehmen,“ sagt sie.
Eine Woche später stehen sie als neue Mieter mit Eimern, Besen, Wischlappen, Schrubbern und Putzmitteln am gleichen Ort und legen los. Einfach. Irgendwo. Sie werfen Flaschen, Matratze, Holzlatten, Kartons, leere Farbeimer, Stofffetzen, einen kaputten Fernseher in den Müllcontainer an der Straße und behalten die wenigen Dinge, die noch als Requisiten einsetzbar sein könnten. Tom findet in einer Kiste einen Baustellenscheinwerfer, der funktionstüchtig ist.
Es kommt Josephine vor, als würden sie einen gestrandeten Walfisch von seiner pockennarbigen Verkrustung befreien. Als Stephans Versuche scheitern, den Boden mit einem Wischlappen und Spülmittel vom Schmutz zu befreien, flutet er den Raum eimerweise mit Wasser, kippt eine ganze Flasche Lauge darauf und fegt die ganze Soße zur Tür heraus. Es wird nicht vollkommen sauber, aber es ist ein Anfang.
„Okay Leute, hört mal her, als erstes brauchen wir jetzt mal einen vernünftigen Namen.“ Markus winkt die anderen zu sich. Sie rufen durcheinander, wie sie jetzt heißen wollen.
„Theater im Hof”, „Bühne der Galanten”, „Forum B-West”, „New Off”.
Sie steigern sich, werden immer lauter, beschimpfen einander, verfluchen die Vorschläge der jeweils anderen, stimmen einander doch zu, stimmen ab, verwerfen die Ideen wieder. Dann beschließen sie, noch einmal alles fallen zu lassen und von vorn anzufangen.
„Theater der Antigonisten!“ ruft Sylvie in das Schweigen.
Das ist es. Das wissen sie alle sofort. Josephine denkt, das passt so gut zu ihnen, als wenn man zum ersten Mal erfährt, dass der unbekannte Vogel, der da so lustig ruft, tatsächlich „Kuckuck“ heißt. Sie kann es kaum fassen, dass sie bald ein eigenes Theater eröffnen werden.
Stephan hat für jeden ein Bier dabei. Sie stoßen an. Der Schaum läuft aus der Flasche und ihnen über die Hände. Nur noch ein letzter Schluck Zaubertrank und die große Schlacht kann beginnen.
Sylvie hat einen Sack voller Kostüme mitgeschleppt und kippt den Inhalt auf die neue Bühne. Da sind sie. Ineinander verschlungen, leuchtend, verknüllt, teilweise verdreckt.
Leonce und Lena, Kasimir und Karoline, Antigone und all die anderen. Das Verkleiden beginnt. Josephine zieht die weiten Röcke der Heiligen Johanna der Schlachthöfe über ihre Jeans, Tom ist plötzlich Hedda Gabler im Bademantel, Markus schlüpft in die Stiefel des jungen W. und stampft die Absätze wie ein Cowboy in den Böden, Sylvie ist Desdemona im Negligé, Stephan verwandelt sich in eine Hamletmaschine mit Kunststoff-Kettenhemd und Palästinensertuch.
„Mit diesem Rettich erdolche ich Dich!“ ruft er und schnellt mit einem Hirschgeweih in der Hand auf Tom zu. Der zuckt gespielt erschrocken zurück.
„Seins oder nicht seins!“ krakeelt Sylvie. Dabei fuchtelt sie Markus mit einem gebrauchten Taschentusch vor der Nase herum.
Sie tanzen im Licht des Baustellenscheinwerfers und singen aus all ihren Kehlen. „Yes I think to myself, what a wonderful world!”
Josephine hält inne. Ihr Atem jagt ihrem Herzschlag hinterher.
In der Luft tanzen Millionen Kristalle, der Staub rieselt aus den Ritzen. Sie schließt die Augen.
Nicht aufhören. Niemals. Bitte, denkt sie.

4.

Es ist der zehnte Abend von „Landschaft mit Argonauten – durch die Augen des jungen Woyzeck betrachtet“, ihr erstes Stück am neuen Ort in der Cuvrystraße ist. Josephine blinzelt durch den Vorhang in den Zuschauerraum. Höchstens zehn Gäste heute, mehr nicht. Davon sind die Hälfte Freunde, die aus Solidarität erschienen sind und von denen sie keinen Eintritt nehmen wollen. Es kommt fast niemand zu den Vorstellungen in ihrem kleinen Theater.

Das Geld, das ihnen die Eltern aus westdeutschen Kleinstädten jeden Monat nach Berlin überweisen, ist seit jeher schnell verbraucht. Es geht in die Raummiete, in die Kostüme, die sie sich auf Flohmärkten zusammensuchen, in das Holz, aus dem Tom seine minimalistischen Bühnenbilder sägt. Ich weiß, dass es dauern wird, dass wir einen langen Atem haben müssen, dass wir nicht aufgeben können, zumindest jetzt noch nicht, wo wir endlich einen eigenen Spielort gefunden haben. Die Inszenierungen der Stücke sind vielleicht zu ungewöhnlich, zu unvertraut, aber sie sind gut.
Das Andere hat es eh immer schwerer als das Angepasste. Aber wir wollen hier schließlich etwas erschaffen, das es so zuvor noch nicht gegeben hat, eine Avantgarde von neuen Inszenierungen und ungewöhnlichen Formaten, Stücke, die von den hohen Häusern der staatlichen Theater niemals gezeigt würden. Die Revolution braucht eben Zeit, bis ihre Qualität erkannt wird.

Josephine versucht geduldig zu sein und den anderen Mut zu machen, vor allem an Abenden wie heute.
„Es kommen auch andere Zeiten, seid zuversichtlich, an uns lag es nicht, wir waren toll,“ sagt sie.

Wir rasen direkt in den Abgrund, wenn nicht bald etwas passiert, denkt sie.

Das Stück ist zu Ende. Die Gäste, die keine Freunde sind, haben sich schon auf den Heimweg gemacht. Da entdeckt Josephine ihre beiden Kolleginnen aus dem Café „Muskau“, in dem sie tagsüber arbeitet am Tresen. Sie geht zu Katharina und Veronica, denen Tom gerade zwei Flaschen Bier rüberschiebt. Die Bar hat er selbst gebaut. In einer Nacht- und Nebelaktion hatten sie Holzlatten von einer Baustelle in der Schlesischen Straße geklaut und ins Theater geschleppt, wo Tom sie auf die Unterseiten gestapelter Bierkästen genagelt hat.
„Das ist ja super von euch, dass ihr es noch geschafft habt.“
„Du warst der Hammer, dein Aufruf zum Widerstand am Anfang, Josie ich hab echt fast geheult.“ Katharina strahlt über das ganze Gesicht.
„Und diesen Federfummel, wo hast du den aufgetrieben? Wenn es geht, würde ich mir ihn gern für die nächste Party im „Dschungel“ ausleihen.“ Veronica zupft an Josephines Kostüm.
Sie schwimmt in den Komplimenten der beiden, ist dankbar dafür. Sie sieht ihnen an wie stolz sie sind, eine Schauspielerin zu kennen. Eine, die auf einer richtigen Bühne steht und sei sie auch noch so klein. Zugleich denkt sie an den abendlichen Kassensturz, nach dem es vermutlich wieder nur für eine Pizza „Ali´s“ und eine Runde Bier für alle reichen wird.
Als Katharina und Veronica sich verabschieden und zum Ausgang gehen, lächelt Stephan ihnen aus seiner Ecke neben der Garderobentür zu. Seine Hände halten eine Bierflasche so fest umklammert, dass es fast so aussieht, als wäre sie sein letztes kostbares Besitzstück. Etwas, das er unbedingt gegen Diebe verteidigen muss.
„Komm, lass uns nach Hause gehen, Stephan“, Josephine will sich bei ihm unterhaken.
„Nein, geh du ruhig“, murmelt er, „ich muss noch in den Elefanten.“
Seine Augen fallen auf den Grund der Flasche.

5.

Nach den Vorstellungen verschwindet Stephan immer regelmäßiger im „Grünen Elefanten“. Er sagt, er braucht das, um sich noch intensiver zu spüren. Außerdem könne er dort ein hervorragendes Rollenstudium betreiben, denn im „Elefanten“ würden sich all die düsteren Typen herumtreiben, die er so gerne spielt. Die Kneipe ist nur wenige Meter vom neuen Theater entfernt und nicht viel größer als das Wohnzimmer von Josephines Eltern in Niedersachsen. Ein bisschen erinnert sie die abgeschabte Teppichverkleidung aus goldenen Verschnörkelungen auf dunkelblauem Grund tatsächlich an das Sofa, auf dem ihre Mutter früher unter leisen Flüchen die aufgerissenen Hosen und löcherigen Strümpfe ihrer Kinder ausbesserte.
Im „Elefanten“ ist die Luft immer schwer. Tannenbaumförmige Salzkristalllampen sind unter geringelten Wollsocken versteckt, aus einem Stapel leerer Getränkekisten lugen zwei ausgestopfte Hasen hervor, ein Blechschild über der Tür kündigt „Natur und Terror“ an. In den Ecken Altäre mit Flohmarktfundseligkeiten. Lederne Drehhocker an einem Tresen, hinter dem sich eine Unzahl farbiger Flaschen auf verspiegelten Regalböden drängen. Uwe, hager und haarlos, mit massiven Ringen an den Händen und einer beinahe unsichtbaren Herzstein-Kette um den Hals, spielt Musik ausschließlich von Schallplatten und gibt der einzigen Überlebenden eines Rosenstraußes die Chance auf einen weiteren Tag im Wasserglas.
Über allem kreist wie der Suchscheinwerfer eines Leuchtturms zuckend eine rot angestrahlte Diskokugel.
Am Anfang hat Josephine Stephan ab und zu noch Gesellschaft geleistet, aber schon bald gemerkt, dass sie hier überflüssig ist. Mühelos findet er auch ohne sie seinen Platz an der Theke, zwischen Jochen, dem frisch geschiedenen UBahnfahrer und Martin, der Sozialpädagogik studiert. Er braucht nicht zu bestellen, ein Nicken gibt Uwe zu verstehen, dass es an der Zeit ist, ein Bier auf dem Tresen zu platzieren.
Wie bei einer präzise eingestellten Maschine verläuft Stephans Reaktion auf die sich stetig verdichtende Konzentration des Alkohols in seinem Körper. Erst findet er die Sprache und aus dem abseits der Bühne meist stillen, hageren jungen Mann wird eine Wortfeuermaschine. Silbe um Silbe türmt er auf und reiht Satz an Satz, bis ein schwankender Turm zu Babel ihn umgibt. Nach der siebten Flasche allerdings kommt dieses Gebilde ins Rutschen, die Vokale sind zu lang, die Endungen wollen nicht mehr vollständig herauskommen, die Kontrolle über die Reihenfolge der Konsonanten entgleitet ihm. Am Ende verliert er den Kampf, die ganze Konstruktion zerbricht. Mit einem leisen „uh“ sackt er in sich zusammen, seine blonden Haare kleben nass an der Stirn.
Erst in den Morgenstunden schafft Stephan es aus dem „Elefanten“, bleich und übel riechend, seine Augen zu Schlitzen verengt. Er schleppt sich in seine WG. Auf dem Küchensofa schläft er ein und bleibt dort liegen, bis ihn seine Mitbewohnerin Tine am Nachmittag weckt. Ihr verdankt er, dass er die Proben nicht jedes Mal versäumt. Nach einer Nacht im „Elefanten“ ist Stephan fahrig, vergisst häufig seinen Text. Das bringt ihn so auf, dass er mit den Händen hart gegen die Wände schlägt. Markus und Hans stützen ihn in seinen taumelnden Momenten. Sylvie versucht ihm starken schwarzen Tee zu beleben, Josephine reicht ihm ein volles Wasserglas nach dem anderen, während sie ihm das stinkende Haar aus der Stirn streicht. Sie hat Angst um ihn.
Wenn er es nicht hören kann, sagen die anderen, sie auch.
Wenn er es hören kann, sagen sie: „Stephan, verdammt nochmal, jetzt reiß Dich zusammen!“
Sobald er den Alkohol abgestoßen hat und der Nebel sich hebt, ist er brillant. Er scheint von innen zu leuchten, sie sehen sein Glühen auch ohne Scheinwerfer. Er stößt seine Faust in den Himmel, spuckt die richtigen Flüche an der richtigen Stelle in die Gassen, schnurrt ihnen allen verschwörerische Formeln ins Ohr. So tief taucht er in seine Rolle ein, dass er beinahe darin verschwindet. Seine Tränen sind meistens echt. Sobald der Vorhang sich senkt, geht er in die Knie.
Am fünften Abend des „Argonauten“-Stücks erscheint Stephan nicht zur Vorstellung. Dreißig Zuschauer sitzen auf den Bänken und schauen auf einen Vorhang, der sich nicht hebt. Stephans Part ist wichtig, sie können ihn nicht ersetzen.
Während Markus, Tom und Sylvie hinter der Bühne diskutieren und mit jeder Minute wütender werden, „warum ausgerechnet heute, wo endlich mal ein bisschen Publikum da ist“, rennt Josephine in den „Grünen Elefanten“ und findet Stephan mit auf dem Tresen abgelegten Kopf, ein Speichelfaden tropft aus seinem rechten Mundwinkel. Sie zieht ihn hoch, will ihn stützen, wegziehen, auf die Bühne bringen, den einzigen Ort, an dem er vor sich selbst in Sicherheit ist. Aber als sie die Ausdruckslosigkeit seiner Augen auffängt, kapiert sie auf einen Schlag die Sinnlosigkeit meines Vorhabens. Da ist heute kein Woyzeck. Sie legt seinen Kopf vorsichtig wieder ab, bittet Uwe um ein großes Glas Leitungswasser und kein weiteres Bier für ihn. Auf dem Rückweg zum “Theater der Antigonisten” sucht sie nach beruhigenden Worten, die die anderen davon abbringen könnten, mit ihrer Wut in den „Elefanten“ zu stürmen und Stephan trotz all seiner Trunkenheit doch noch auf die Bühne zu zerren. Die Vorstellung werden sie abblasen müssen.
Eigentlich hatten sie sich geschworen, das niemals zu tun.
Josephine tritt vor die Zuschauer und stammelt eine Entschuldigung, irgend etwas von einer plötzlichen und schweren Erkrankung ihres Hauptdarstellers, vom großen Bedauern des gesamten Ensembles, an diesem Abend das Stück leider nicht spielen zu können, von der selbstverständlichen Rückgabe der gezahlten Eintrittsgelder und einem Freigetränk an der Bar für jeden Gast. Sie bittet um Verständnis und verspricht eine neue Gelegenheit in der kommenden Woche. Beinahe flehentlich sagt sie, die Leute mögen doch ein andermal wiederkommen. Die Zuschauer erheben sich mit enttäuschten Gesichtern von ihren Plätzen und gehen in Richtung Bar oder gleich in Richtung Ausgang. Ein Mann mit blauem Kapuzenpullover und schwarzer Hornbrille berührt Josephine vorsichtig am Arm, bevor er durch die Tür geht.
„Hoffentlich ist es nichts Schlimmes, wünschen Sie dem jungen Mann doch bitte gute Besserung.“
Dieses Mitleid für etwas, das sie erlogen hat, ist Josephine unangenehm. Mit einer schnellen Bewegung schlüpft sie hinter den Vorhang, wo sich die anderen schon zur Krisensitzung versammelt haben. Wie versteinert starren sie vor sich hin, geben eine Zigarette im Kreis herum. Ein Pantomimenensemble aus traurigen Clowns, denkt sie.

6.

Josephine hatte von Markus´ Idee einer Zweitbesetzung für Stephan nichts hören wollen und stattdessen bei den anderen immer wieder gute Worte für ihn eingelegt. Nach dem heutigen Ausfall schmilzt ihr Widerstand. Sie will nach wie vor,

[…]

Leseprobe: Manuel Zerwas – “Der Bücherflüsterer”

Kapitel 2: Unter Günter Grass’ Rockzipfeln

[…]
Es konnte aber auch durchaus der Fall sein, dass ich mehrere Anläufe brauchte, bis eine erstrebte Szene erfüllende Umsetzung fand. Weil meine Bekanntschaft sich nicht auf meinen Wunsch einlassen wollte. Weil ich mit der Umsetzung nicht zufrieden war. Weil etwas schief gelaufen ist. Ich muss sagen, es ist oft etwas schief gelaufen. Die Szenen waren nicht selten etwas speziell. Nicht schlimm, nicht anstößig. Nicht unsittlich. Speziell. Nicht jede Frau wollte mitmachen. Oder selbst wenn, selbst wenn meine Partnerin zusagte, konnte trotzdem etwas schiefgehen. Die Möglichkeiten, dass es nicht so lief, wie ich mir die Szene vorstellte, waren groß. Viele Wege führen nach Rom, aber nur ein Weg führt zur erfüllten Vorstellung der zu erfickenden Passage.

Ich erinnere mich an eine Nacht, in die ich mit freudiger Erwartung eingetaucht war und dabei doch auch auf dem Glatteis der Unsicherheit schlidderte, mit wild rudernden Armen wie ein kleiner Junge, der das erste mal Schlittschuhe trägt. Denn die von mir angedachte Szene ließ viel Raum für Interpretationen. Wahrscheinlich reizte mich genau das daran, sie nachzustellen. Ich musste sie einfach ausprobieren, meine Phantasie war entfesselt, ich musste der Szene meinen eigenen Stempel aufdrücken, sie auf meine Art zum Leben erwecken, sie auf meine Art erficken. Die Szene des Buches ist so absurd, so schleierhaft und auf eigenwillige Weise doch so deutlich, dass ich sie unbedingt testen musste. Literaturprofessoren, Kritiker und Hobbyinterpreten erfreuen sich und verdammen und verzweifeln wahrscheinlich seit Jahrzehnten an dieser Szene, eine Szene, so skurril, so unmöglich und doch so aufregend. Immerhin handelt es sich um die Worte des vielfach kritisierten und vielfach gelobten, genialen und schlussendlich belohnten Günter Grass.
Viele seiner Werke sind nicht gerade unspannend hinsichtlich meiner Passion gestaltet, aber natürlich geht es um Die Blechtrommel. Und nein, es geht nicht um die ebenfalls spannende und beschämend anregende Szene mit der Spucke und dem Brausepulver. Es geht um eine Szene gleich zu Beginn des Romans. Der kleinwüchsige Schreihals und Meistertrommler Oskar Matzerath ist dabei noch gar nicht von Bedeutung. Vielmehr geht es um die Zeugung seiner Mutter Agnes. Legendenumwoben. Rätselhaft. Kurios. Unmöglich vielleicht. Und genau das zu testen, ob es möglich war, was Grass dem Leser da zu verkaufen anmaßt, darin sah ich meine Aufgabe. Den Akt an sich natürlich, ohne Zeugung eines Kindes! Um Himmels Willen!

Mehrere Anläufe waren notwendig, bis ich eine Frau gefunden hatte, die bereit war, die Szene mit mir nachzustellen. Auch diese Szene hatte nichts Skandalöses. Aber auch sie war speziell. Nicht üblich. Und nicht gerade einfach. Was ich bereits ahnte und was ich schließlich auch am eigenen Leib herausfinden sollte.
Die erste kurzweilige Bekanntschaft, der gegenüber ich mein Vorhaben äußerte, lachte zwar, lachte wirklich lauthals, ich glaube, sie lachte mich regelrecht aus, aber sie wollte es nicht ausprobieren.
Ich ziehe doch keine vier Röcke zum Vögeln an, lachte sie mir ins Gesicht. Was das denn solle. Was ich denn für einer sei. Erst ziehe ich sie aus und dann wolle ich sie wieder in vier Röcke stecken. Was für eine Idee. Entweder ich käme jetzt sofort zu ihr ins Bett und vögle sie auf anständige Weise, nämlich vollständig nackt, oder ich könne wieder gehen.
Ich war ein wenig enttäuscht. Aber der Versuchung einer schönen Frau konnte dann doch nicht widerstehen. Ich schlief trotzdem mit ihr.
Die zweite Dame, der ich mein Anliegen unterbreitete, konnte darüber ganz und gar nicht lachen. Sie nannte mich pervers und einen Freak, was mich wiederum wirklich ärgerte und wütend machte. Sie wollte nicht mitmachen, in Ordnung, natürlich war das in Ordnung. Schade, aber okay. Aber sie musste die Sache nicht mit dieser völlig ungerechtfertigten Vokabel pervers belegen. Ich hatte es ihr erklärt, ganz ruhig, auch überzeugend, meiner Meinung nach, ich zwang sie zu nichts, ich erklärte es ihr nur, aber sie wollte gar nicht auf mich hören. Während wir uns wieder anzogen, stritten wir miteinander, ich glaube, es flogen noch Beschimpfungen wie Wichser, Spießerin und kranker Rockfetischist durch ihr Schlafzimmer, ehe ich ihre Wohnung verließ, nicht ohne meinem Ärger mit einem lauten Zuschlagen der Tür Luft zu machen und dann auch noch, unten vor der Haustür, einen gefalteten Zettel in ihre Klingel zu stecken, so dass die Klingel ununterbrochen plärrte. Anschließend hastete ich davon, versteckte mich hinter einem Busch und kicherte leise in mich hinein, als sie genervt und schnaubend nach draußen kam, um ihre Klingel zu befreien. Du siehst also, ich habe meine kindliche Seite nie ganz verloren, auch nicht mit dreiunddreißig Jahren und ich bin stolz darauf. Das ist eine meiner Eigenschaften, die dir, ich weiß nicht wie, schnell an mir aufgefallen ist, als wir uns kennengelernt haben. Das hast du mir gesagt. Und das hat mich gefreut und dich auch.

Der dritte Anlauf sollte erfolgreich sein. Mehr oder weniger. Ich kannte Isabel flüchtig über einen Bekannten. Bei den wenigen Gelegenheiten, bei denen wir bisher aufeinander getroffen waren, hatten wir ein wenig geflirtet, mehr war dabei aber noch nicht herausgekommen. Auf einer Geburtstagsparty traf ich sie überraschend wieder. Diesmal unterhielten wir uns länger, wir tranken zusammen, lachten, ließen individuelle Erinnerungen miteinander verschmelzen, wir wurden etwas betrunkener, wir machten keinen Hehl aus dem gegenseitigen Interesse. Zudem war sie ebenfalls eine begeisterte Leserin. Jackpot.

Ich glaube, behaupten zu dürfen, dass ich ein reflektierender Mensch bin. Ich hinterfrage und ich bin realistisch: Ich sehe ganz gut aus. Ich bin kein Brad Pitt, auch kein Johnny Depp und natürlich ist das alles letztendlich sowieso sehr subjektiv und vom individuellen Geschmack abhängig. Aber mit meinem Aussehen bin ich ganz zufrieden und das ist viel wert. Ich weiß nicht, wie du das siehst oder gesehen hast, aber mit meiner angenehmen Durchschnittsgröße von einem Meter und neunundsiebzig, meinem leicht gelockten, braunen Haar, meinen einigermaßen markanten Wangen, über denen ich oft einen gepflegten Dreitagebart stehen lasse, kann ich doch ganz gut leben. Meine Figur ist auch in Ordnung. Ein großer Sportler bin ich nach wie vor nicht, das hat sich seit der Schulzeit nicht geändert. Ich versuche mindestens einmal die Woche schwimmen zu gehen, gehe tatsächlich alle drei Wochen und ansonsten ernähre ich mich halbwegs bewusst, gehe viel zu Fuß und nehme oft das Rad, anstatt das Auto. Das reicht nicht ganz, um einen sehenswerten Waschbrettbauch mein Eigen zu nennen, aber es reicht, um unerwünschten Kilogramm halbwegs entgegenzuwirken.
Mit meinem Äußeren bin ich bei den Frauen im Grunde relativ erfolgreich. Die Frauen fallen mir nicht reihenweise zu Füßen, sie drehen sich auch nicht auf der Straße nach mir um. Aber im Großen und Ganzen darf ich mich eine recht angenehme Erscheinung schimpfen. Hinderlich ist mir mein Erscheinungsbild zumindest in der Regel nicht.
Es steht auch außer Frage, dass sich nicht alle Frauen von meinem, so vermessen will ich sein, immensen literarischen Horizont, beeindrucken lassen. Aber ich bin zudem recht eloquent und kann mich belesen und intellektuell präsentieren. Ich weiß mich also auszudrücken. Und diese meine Vorzüge weiß ich dementsprechend einzusetzen.
Bei Isabel fielen meine literarischen Kenntnisse auf sehr fruchtbaren Boden. Meine Sprachgewandtheit war der Dünger, mein Aussehen Sonnenschein und Wasser. Mein als Frage getarnter Vorschlag, ob es nicht aufregend wäre, einmal zu versuchen, eine literarische Sexszene nachzustellen, konnte auf diesem Boden erfolgreich Wurzeln schlagen und keimen. Ich will nicht bestreiten, dass auch 150 der nahezu perfekt abgestimmte Alkoholpegel ein wenig förderlich war. Bei Isabel konnte ich wagen, meinen Vorschlag recht offen im Voraus zu äußern.

Ihre Lippen umspielte ein verführerisches Lächeln, ihr Augenaufschlag wurde etwas langsamer, ihr Blick intensiver. Ihre Hand, die zuvor schon mehrmals flüchtige Ausflüge über meinen Arm unternommen hatte, blieb diesmal auf meiner Schulter liegen.
„Und du hast wahrscheinlich auch schon eine bestimmte Szene im Sinn, nehme ich an?“
Ihre Pupillen waren wie zwei schwarze Tunnelöffnungen zu einem kleinen Paradies. Ihr glattes schwarzes Haar ein seidener Vorhang. Sie trug ein blaues Cocktailkleid, eine Farbe wie ein Ozean, der zum Eintauchen einlud. Ich sah sie einen Moment an, machte zwei oder drei Momente daraus und ihr Lächeln wurde größer.
„Was hältst du von Günter Grass?“
Sie hielt meinem Blick stand.
„Da fallen mir spontan die Masturbationsszenen aus Katz und Maus ein.“
„Ich weiß leider nicht, wo in der Nähe ein Schiffswrack aus dem Wasser ragt.“
„Außerdem“, sagte sie, „hätte ich da auch nicht allzu viel von.“
„Hast du Die Blechtrommel gelesen?“
Sie nickte. Ich wartete, ob sie selbst darauf käme. Sie sah sich um.
„Glaubst du, auf der Party gibt es Ahoi-Brause und Wodka?“
„Ich habe eher das erste Kapitel im Sinn“, sagte ich.
„Hilf mir auf die Sprünge.“
„Oskar Matzeraths Großmutter erntet Kartoffeln. Der Brandstifter Joseph Koljaiczek flüchtet vor dem Gesetz, stößt auf Anna Bronski, die vier Röcke übereinander trägt und ohne lange nachzudenken, lüftet sie ihre Röcke und der Flüchtende versteckt sich darunter. Anna seufzt mehrmals verdächtig, verdreht die Augen, ruft oder schreit vielleicht mehrmals die Namen von Heiligen. Neun Monate später wird Oskars Mutter Agnes geboren.“
Das Lächeln war nicht von Isabels Lippen verschwunden, wenn sich auch etwas Verwunderung in ihren Blick geschlichen hatte.
„Ich erinnere mich. Nur Andeutungen, nichts Konkretes, hab ich recht? Was unter den Röcken passiert, ist eindeutig uneindeutig.“
Ich nickte. Sie auch.
„Viel Raum für Interpretation.“
Ich nickte wieder. Ihr Blick ließ mich nicht los. Der Funke hatte übergeschlagen, das konnte ich sehen.
„Ich habe mehrere weite Röcke zu Hause. Lange nicht mehr getragen.“
Himmlische Worte. Ich sagte nichts, ich hatte das Gefühl, sie musste den letzten Schritt gehen. Vielleicht hielt ich die Luft an, während ich wartete und bis sie endlich sagte: „Wir könnten ja mal testen, ob sie mir noch passen.“

Ich war ziemlich aufgeregt. Was genau mich erwartete, konnte ich noch nicht sagen. Wie Isabel schon festgestellt hatte, die Sätze des Buches stachen nicht unbedingt durch konkrete Details hervor, ganz im Gegenteil. Das machte es ja auch so spannend. Wie genau ich vorgehen, wie genau das ganze überhaupt funktionieren sollte und konnte, war mir eigentlich noch etwas schleierhaft. Aber ich blickte der Sache optimistisch und erregt entgegen.
Ich verschwendete meine Blicke nicht lange auf die Einrichtung ihrer Wohnung. Es war beinahe wie im Film. Wir küssten uns vor ihrer Wohnungstür, während sie gleichzeitig versuchte, mit dem Schlüssel ins Schloss zu treffen. Wir küssten uns weiter, während wir durch den Flur stolperten, ich glaube, irgendetwas ging dabei sogar zu Bruch, wir ließen unsere Jacken fallen, ohne unsere Münder voneinander zu trennen. Als wir in ihrem Schlafzimmer ankamen, hatten wir beide keine Schuhe mehr an, wir hinterließen eine Brotkrumenspur aus Kleidern, mein Hemd und ihr blaues Kleid waren bereits auf der Strecke geblieben. Ihr BH fiel zu Boden, ich nahm ihre Brüste in beide Hände, sie waren groß, die linke ein wenig kleiner als die rechte und Isabel öffnete fingerfertig meinen Gürtel und entledigte mich meiner Hose.
Dieses Vorspiel kommt in der literarischen Vorlage selbstverständlich nicht vor. Wir erfahren nichts über die Brüste von Oskar Matzeraths Großmutter, die zu diesem Zeitpunkt ja noch keine Großmutter ist, die beiden küssen sich nicht, ziehen sich nicht gegenseitig aus. Aber ein wenig Spielraum war an diesem Abend durchaus angebracht, ohnehin fiel es uns beiden schwer, uns zurückzuhalten. Ehe Isabel auf die Idee kam die Sache mit den Röcken außen vor zu lassen, zog ich mich mit einer nicht geringen Willensanstrengung von ihr zurück.
Wir standen uns gegenüber, schwer atmend, verführerische Blicke, wie auch immer verführerische Blicke aussehen, ich glaube, man kann solche nicht angemessen beschreiben, das ist eine Sache des Moments.
„Lass uns die Szene ausprobieren“, sagte ich dann und kurz hatte es den Anschein, als wollte sie mir widersprechen, sich lieber gleich auf mich stürzen, was mir natürlich auch schmeichelte. Dann ging sie jedoch zu ihrem Kleiderschrank. Sie schob einige Kleiderbügel zur Seite, wühlte in ihren Klamotten und auch auf die Gefahr hin in Klischees zu verfallen, ging ich davon aus, dass ihr Schrank eine Fundgrube immensen Inhalts sein musste. Ich wartete geduldig. Vorfreude und Spannung hielten meine Erregung am Leben, nährten sie wie Blumennektar einen zitternden Schmetterling.
Es dauerte ein paar Minuten, bis Isabel die vier Röcke hervorgeholt hatte. Nach dem dritten fragte sie, ob das nicht genüge, aber es gelang mir, sie zur weiteren Suche zu animieren, indem ich ihr sagte, wir wollten den alten Grass doch nicht enttäuschen, woraufhin sie lachte und wieder in ihrem Schrank abtauchte.
„Soll ich mich wirklich wieder anziehen?“
Ihr Blick war herausfordernd. Ich nickte langsam. Wieder schien sie zu überlegen. Dann zog sie einen Rock nach dem anderen an.
Ein neuer modischer Trend wurde damit sicherlich nicht kreiert, per se bot Isabel im Grunde keinen allzu anregenden Anblick, wie sie da vor mir stand, mit nacktem Oberkörper und vier Röcken übereinander, die ihre Hüfte ziemlich breit wirken ließen, unförmig irgendwie, ihre Kontur sah aus, wie eine nicht ganz realistische Holzschnitzerei. Trotzdem steigerte sich meine Erregung erneut, da ich eine Frau vor mir hatte, die äußerst willig war, diese literarische Szene mit mir zu erficken.
Ich ging zu ihr, küsste sie, führte sie, ließ sie sich auf die Bettkante setzen. Dann tauchte ich ab.

Sie ihrer Unterwäsche zu entledigen war nicht allzu schwer. Meine eigene loszuwerden dafür allerdings umso mehr. Ich hatte nicht gerade viel Platz. Und sehen konnte ich auch nichts. Ich befand mich in einer lichtlosen, stickigen und warmen Höhle, ein verlockender Geruch ging von ihrer Scham aus, vermischt mit dem Geruch der etwas muffigen Röcke, die wohl seit längerer Zeit nicht mehr aus dem Kleiderschrank befreit worden waren.
Ich küsste sie ein wenig auf den Innenseiten ihrer Oberschenkel und streichelte ihre glatten Beine. Dann versuchte ich, meine Boxershorts auszuziehen. Ich trat ihr gegen das Schienbein und sie gab einen kurzen Schmerzenslaut von sich, lachte aber gleich darauf und fragte mich, ob da unten alles in Ordnung wäre.
„Selbstverständlich, alles bestens.“
Mein Rücken protestierte, mit dem Kopf hing ich im Stoff des untersten Rocks. Sie schlug mir ihr Knie gegen die Stirn. Ich zerrte an meiner Unterwäsche.
„Ich kann deinen Fuß sehen“, sagte sie.
Ihre Stimme klang etwas dumpf, immerhin befanden sich vier Lagen Stoff zwischen uns. Beziehungsweise, nur zwischen unseren Gesichtern. Meine Nase streifte ihre Schamhaare. Ich zog meinen Fuß wieder nach innen, machte einen kleinen Hopser, sie konnte sicherlich den Umriss meines Kopfes durch die Röcke sehen, dann war ich endlich mein letztes Kleidungsstück los.
„Bekommst du genügend Luft da unten?“
Nein, dachte ich.
„Klar doch“, sagte ich.
Ich küsste ihre Knie.
„Glaubst du wirklich, das wird was?“
Ich war mich nicht mehr ganz sicher, aber ich küsste weiter ihre Beine und fragte mich, was Oskar Matzeraths Großvater, der ja auch noch kein Großvater war, unter den vier Röcken wirklich getrieben hat. Küssen war kein Problem, aber wie ich letztlich einen Schritt weiter kommen sollte, war mir noch nicht klar. Aber irgendwie muss er es ja geschafft haben. Immerhin hat er ihr im Buch einige tiefe Seufzer entlockt. Dahingehend war von Isabel bisher noch nicht viel zu vernehmen.
„Was treibst du denn da unten?“
Sie klang ein wenig ungeduldig.
Ich sagte nichts, sondern drang mit meinem Gesicht noch tiefer in die Dunkelheit vor, fuhr mit den Händen ihre Kniekehlen entlang, ihre Oberschenkel, ließ meine Zunge über ihren Venushügel wandern. Sie begann zu stöhnen. Zumindest klang es danach, so weit die Schalldämmung der vier Röcke es zuließ. Meine Erregung ließ mich meine Rückenschmerzen und die unbequeme Sitzposition vergessen. Ich achtete sehr darauf, dass kein Teil von mir, egal welcher, unter den Röcken hervorlugte, schließlich befindet sich Joseph Koljaiczek auf der Flucht vor der Polizei und darf sich keinesfalls verraten.
Es wurde immer heißer in meiner kleinen, feuchten Höhle. Ich schwitzte. Mir war, als befände sich in unmittelbarer Nähe ein heißer, Dampf ausstoßender Geysir. Isabel stöhnte mittlerweile lauter und häufiger, ich merkte, wie sie feucht wurde, vielleicht tropfte aber auch Kondensflüssigkeit von meiner Stirn und ihren Röcken. Es war wie in einer Sauna, die stickige und stehende Luft, vermischt mit der Hitze der Erregung, entfachte eine schwüle Glut, einen heißen Brodem, auf lediglich, ich weiß auch nicht, eineinhalb Kubikmeter Raum. Aber auch meine Erregung wuchs, ich war in der Szene, wir waren in der Szene, noch am Anfang quasi, der Ausgang war noch immer etwas ungewiss, aber wir waren drin, in der literarischen Vorlage, wir wandelten auf den richtigen Pfaden und machten sie uns zu eigen. Es wurde Zeit, dass es einen Schritt weiterging.
Ich nahm meine Hand von ihren Schamlippen und streckte sie unter den Röcken ins Freie. Da draußen war es regelrecht kalt.
„Kannst du mir bitte ein Kondom geben?“
Sie stöhnte, kicherte, stöhnte noch einmal, dann schien sie nach etwas zu greifen, ein Präservativ in viereckiger Verpackung landete auf meiner offenen Handfläche. Ich riss die Packung mit einer Hand und Zähnen auf, mit der anderen Hand fuhr ich vorsichtig über ihre Klitoris. In der Dunkelheit konnte ich nicht erkennen, wie rum ich das Gummi aufsetzen musste. Ich hielt es mir dicht vor die Augen, ich sah nichts. Ich hielt es mir noch näher und traf mir damit ins Auge.
Es half nichts, ich brauchte kurz Licht. Die Gefahr war zu groß, das Kondom erst falsch herum aufzuziehen. Dann bräuchte ich ein neues. Ein beflecktes Kondom zu benutzen, so gering die Gefahr vielleicht auch war, kam nicht in Frage. Ich wollte nicht Urheber des Stammbaums eines wirklichen Oskar Matzerath werden.
Ich ließ von Isabels Kitzler ab und kämpfte mich unter den Röcken hervor. Zu meinem Glück erwarteten mich im Schlafzimmer keine Polizisten. Die frische Luft war himmlisch.
Isabel richtete sich auf und sah mich fragend an.
„Ich konnte nicht sehen, wie rum ich das Ding anziehen muss.“
Sie lachte.
Ich holte schnell nach, was mir in der herrlichen Höhle unmöglich gewesen war und wollte erneut in die Tiefen der Röcke vorstoßen. Isabel nahm mein Gesicht in ihre Hände.
„Willst du nicht lieber hier oben bleiben? Es war ja 375 zwischenzeitlich ganz nett, was du da unten gemacht hast, aber so langsam wäre ein wenig mehr ganz schön. Ich weiß nicht so genau, was du da unten noch vorhast.“ Ich hielt inne, hielt die vierfache Stoffdecke über meinem Kopf, kurz davor abzutauchen. So genau wusste ich das ja auch nicht. Aber ich war guten Mutes.
„Ich krieg das schon hin.“
„Sicher?“
„Klar.“
Ich verschwand wieder in der Dunkelheit. Ich versuchte meinen Körper auf dem engen Raum zurechtzurücken.
„Aua!“
Ich trat ihr auf die Füße.
„Entschuldige.“
Ich versuchte mein Becken anzuheben. Die Brückenposition, bei der ich auf Händen und Füßen stand und meinen Penis nach oben zu strecken versuchte, wollte mir nicht gelingen. Ich war zu ungelenkig und der Platz reichte auch nicht aus. Umsetzen. Neue Position. Mein Kopf stieß schmerzhaft gegen ihr linkes Knie.
„Langweilig.“
In ihrer Stimme lag etwas Belustigung, aber leider nicht mehr allzu viel, sie klang eher etwas ungehalten und, vielleicht noch schlimmer, wirklich gelangweilt. Keine guten Voraussetzungen. Ich musste etwas tun.
Ich begab mich in den Schneidersitz und begann erneut, sie oral zu befriedigen. Nach einigen Sekunden schien sie wieder etwas besänftigt. Die Seufzer waren zwar leiser und zaghafter als zuvor, aber ich war wieder im Spiel. Dann ein neuer Versuch. Schnell, ich hatte nicht allzu viel Zeit. Isabel musste bei Laune gehalten werden. Schwerfällig hievte ich mich auf die Knie, reckte meine Hüfte in die Höhe, aber ich kam bei weitem nicht hoch genug. Zwischen unseren Geschlechtsteilen klaffte eine lustlose Lücke von mindestens dreißig Zentimetern Luft. Wie sollte ich unter den Röcken meine Hüfte nach oben bekommen? Umpositionierung. Rücken auf den Boden. Mein Becken robbte näher heran. Ich versuchte mich an einer Art Kerze, aber meine Beine standen zu sehr in der Luft. Meine Hüfte kam zwar höher, ich glaube für eine glücksberauschte Sekunde streifte die Spitze meines Penis ihre Schamhaare. Aber wohin mit meinen Beinen? Meine Füße verhedderten sich in ihren Röcken. Ich rollte mich wieder ab, ein ungesundes Knacken in meinem Nacken. Der erneute Versuch einer Brücke, diesmal aber nur mit einem Arm als Stütze. Schon etwas besser. Ich kam höher. Mein Schwanz streifte kurz ihre Schamlippen, rutsche aber sofort wieder am Ziel vorbei. Noch einmal, ich vollführte so etwas Ähnliches wie einen Stoß nach oben. Schwanz klatschte gegen Oberschenkel, einmal links, einmal rechts. Ich tastete mich weiter vor, aber die Position war anstrengend, unbequem auch, lange würde ich das nicht halten können, ich befürchte, ich stocherte mit meinem Ding auch nur in der Nähe des Ziels herum, ohne tatsächlich allzu viel zu bewirken. Eine überforderte Wünschelrute zitterte zwischen meinen Beinen, die die Richtung zwar kannte, das Gesuchte witterte, aber an der schlussendlichen Durchführung scheiterte. Joseph Koljaiczek wird im Buch als eher klein beschrieben, vielleicht liegt darin sein Vorteil, vielleicht steht er sogar gebückt unter den Röcken oder er war einfach sehr gelenkig.
Mein Arme und meine Beine zitterten, meine Muskeln protestierten, der Geist war willig, überaus willig sogar, williger war ein Geist vielleicht nie gewesen, aber das Fleisch war schwach, ein Teil des Fleisches zumindest, das meiner Muskeln in Armen und Beinen, das Fleisch zwischen meinen Beinen hingegen pochte und pulsierte und bemühte sich ungehemmt weiter. Nachdem mein Penis für eine halbe Sekunde den Weg zwischen Isabels Schamlippen gefunden hatte, danach jedoch erneut auf Zehntelstrecke verloren ging, schien sie die Geduld zu verlieren. Sie erhob sich kurz, lüftete eine wenig ihre Röcke und ließ sich dann regelrecht auf mich fallen. Ich lag jetzt auf dem Rücken, mein Kopf lugte unter den Röcken hervor. Gierig sog ich frische Luft in meine Lungen. Sie setzte sich auf mich, führte mich in sie ein und begann mich wild zu reiten. Aus ihrem Eifer sprach eine zu lang strapazierte Geduld. Auch meine Füße lagen jetzt wieder im Freien, ihre Röcke lagen auf meiner Brust. Isabels Hände krallten sich in meine Seiten. Ich wollte protestieren, wollte es noch einmal versuchen, ich war doch kurz davor, ich wusste, dass es machbar war, aber ich kam nicht zu Wort, wollte auch gar nicht mehr, konnte nichts mehr sagen, überließ mich ihr völlig. Einmal rutschte einer der Röcke noch über mein Gesicht, ich schmeckte ein paar Fussel auf der Zunge, dann kam ich und ich glaube, sie auch.

Die Szene aus der Blechtrommel habe ich nicht noch einmal ausprobiert. Ich habe länger darüber nachgedacht, habe mich auch mit Isabel darüber unterhalten, danach, wir lachten beide sehr viel, mit ihr konnte ich gut darüber reden. Wir mutmaßten, ob Joseph Koljaiczek nicht doch lediglich Cunnilingus ausübt, das hatte ja bei uns in der Praxis recht gut funktioniert. Vielleicht findet im Buch keine wirkliche Penetration statt, denn wie sollte das funktionieren, wie sollte es möglich sein, unterhalb der vier Röcke die beiden Becken dafür nah genug zueinander zu bringen, noch dazu verborgen, ohne dass Außenstehende, die es bei Isabel und mir glücklicherweise nicht gegeben hatte, etwas davon mitbekamen? Anna Bronskis Stöhnen ist ja kein hinlänglicher Beweis, dass es zum tatsächlichen Akt gekommen ist. Aber irgendwie muss es doch funktioniert haben. Denn schließlich wird Anna Bronski ja schwanger. Die einzige Möglichkeit, die mir noch einfallen will, wie eine Schwangerschaft ohne wirklichen Koitus zustande kommt, ist die, dass Koljaiczek Anna mit Mund und Hand bespielt, während er mit seiner anderen Hand an sich selbst herumspielt. Er ejakuliert sich auf die Hand reibt dann damit erneut über Annas intimste Zonen. Aber dieses Szenario mutet mir selbst für einen Günter Grass zu unwahrscheinlich an. Ich will lieber glauben, dass es wirklich möglich ist. Zumindest in der Phantasie von Günter Grass. Leider kann ich ihn nicht mehr fragen. Ich stelle mir gerne vor, dass er sich über meinen Leserbrief zwar gewundert, aber gefreut hätte, wie eine Art literarischer Doktor Sommer.
Isabel und ich beließen es bei diesem einen Versuch. Und ich beließ es generell bei diesem ersten und einzigen Test dieser Szene. Spaß gemacht hat es letztendlich auf jeden Fall.
Nebenbei, der erste Satz aus der Blechtrommel beginnt so: „Zugegeben: ich bin Insasse einer Heil- und Pflegeanstalt …“.
Klasse!

Mir stellt sich die Frage, ob du so viele Details vielleicht gar nicht hören willst. Zu viel Information, zu umfassend mein Bericht und meine Beichte. Aber ich schrieb dir bereits, dass ich nichts auslassen werde. Du sollst alles wissen. Ich habe beschlossen, mich dir völlig zu öffnen und dir alles darzulegen. Für mich gehört dazu, dass ich dir alles sagen muss. Verzeih mir, wenn es für dich zu viel sein sollte und verzeih mir auch meine Bitte, trotzdem alles zu lesen, alles anzuhören. Ich habe die Hoffnung, dass du mich am Ende besser verstehst. Dass du vielleicht nicht alles gutheißen wirst, wahrscheinlich sogar, aber dass du zumindest akzeptierst. Dass du mir meine anfängliche Verheimlichung verzeihst. Und ich denke, dass deine Fantasie immer noch schlimmer sein könnte, als meine Beichte der Wirklichkeit. Ich denke, es ist besser für dich, alles zu wissen, anstatt viel zu mutmaßen. Diese ehrliche gedankliche Rekonstruktion meiner Passion, diese unbeschränkte Offenheit, das alles ist nur für dich. Weil du etwas mit mir gemacht hast, was ich vorher nicht kannte.
Ich sah dich damals im Bus und glücklicherweise sahst du mich auch. Wie hättest du mich auch nicht sehen können, so wie ich meinen Kopf verrenkt habe, um die Buchtitel lesen zu können, die du auf deinem Schoß balanciert hast? Und als ich bemerkte, dass du mich bemerkt hast, wie ich versuchte die Titel zu lesen, war ich kurz wie erstarrt, versteinert wie ein Gargoyle, wie ein Troll bei Tagesanbruch, ich saß zwei Plätze neben dir, nach vorne gebeugt, meinen Hals gereckt und starrte auf deine Bücher und blieb genauso sitzen und es war genauso unbequem wie es ausgehen haben muss. Dein Blick war irritiert und gleichzeitig belustigt und nicht abgeschreckt oder ungehalten darüber, was diesem Spinner einfalle, einfach so unverhohlen auf deine Bücher zu starren. Und ohne deinen Blick zu ändern, machtest du diese kleine Geste, diese kleine Bewegung, die in mir den unbestimmten aber unwiderruflichen Wunsch weckte, dich kennenlernen, deine Stimme hören und deine Geschichte erfahren zu wollen. Du schobst deinen wankenden Bücherstapel ein klein wenig zur Seite, so dass ich die Titel besser lesen konnte. Dann hast du weggesehen, nicht ohne auf deinen Lippen ein sehr feines, ein sanftes, nur für den genauen Beobachter zu erkennendes Lächeln zu hinterlassen. Es war ein ganzer Stapel literaturwissenschaftlicher Werke und diese Tatsache entzündete sofort einen Funken in mir. Sogleich schossen mir allerlei Mutmaßungen durch den Kopf, in welcher Verbindung du wohl mit Literatur stehen mochtest. Dann machte der Bus eine ruckartige Bremsung, wir wurden durchgeschüttelt und deine Bücher brachen wie ein Jenga-Turm zusammen, bei dem man das falsche Holzstäbchen gezogen hatte. Ich half dir beim Aufsammeln der Bücher, die zwischen Schuhe, Haltestangen und Einkaufstüten geschliddert waren. Und als wir alle wieder beieinander hatten, dankest du mir mit diesem bezaubernden Lächeln und sagtest dann gleich, du müssest hier raus und ich, ich verließ einfach mit dir den Bus und dann standen wir auf der Straße, ich übergab dir deine restlichen Bücher und du bedanktest dich erneut und fragtest mich, ob ich hier überhaupt auch hatte aussteigen müssen und ich sah mich um, grinste verlegen und sagte, nein.

Kapitel 3: Einfach ein Vater

Dir alles zu sagen heißt wohl auch, noch weiter zurück zu gehen, auch die Vergangenheit zu ergründen, zu beleuchten. Eine biographische Spurensuche. Ob dies wichtig oder aufschlussreich ist, ich weiß es nicht genau. Ich vermute schon. Was sind wir anderes, als das Produkt unserer Vergangenheit? Wir, unsere Person und unser Charakter, sind doch letztlich eine unzählige Ansammlung von Erinnerungen und Erfahrungen. Und wenn ich dir versichere, alles zu sagen, dann gehört dies auch dazu.
Vielleicht liefere ich dir auch lediglich noch mehr Informationen über meine Person. Mein Wunsch ist es, dass du dir ein eigenes Urteil bildest. Und dass du mich noch besser kennenlernst, alles an mir. Ehe du mir hoffentlich die Chance gibst, mit dir gemeinsam alles weitere von der Welt kennenzulernen.
Ich will versuchen, dir meine Kindheit aus den Augen des Kindes zu schildern, das ich damals war. Um meine damaligen kindlichen Gedanken besser verstehen zu können. Um besser mit mir in diese Geschichte meiner Vergangenheit einzutauchen und sich besser in diese einfühlen zu können.

Meine Mutter wollte immer noch mehr Kinder haben. Das sagte sie mir zumindest häufig. Damit versuchte sie mir, als ich noch Kind war, wohl zu begründen, warum sie so oft Sex mit meinem Vater hatte.
„Ich hätte so gerne noch ein Kind, Alexander. Deshalb sind Papa und ich so oft zusammen.“
Das war ihrer Meinung nach wohl eine hinreichende Erklärung. Und was sollte ich das als plus minus Sechsjähriger auch weiter hinterfragen?
Aber es klappte nicht. Warum, wusste angeblich niemand. Biologisch gesehen gab es weder bei meiner Mutter noch bei meinem Vater Hindernisse. Sagte sie. Allerdings schien ihr Wunsch nach weiteren Kindern weitaus größer als seiner. Sie probierten es sehr häufig. Ich glaube sogar, fast jeden Tag und jede Nacht. Sie schienen nicht müde zu werden. Irgendwann später, als ich älter war und die biologischen Funktionen der nächtlichen Schreie aus dem Schlafzimmer eindeutig interpretieren konnte und kannte und verstand, stellte ich mir die Frage, wie viel Sperma meine Mutter eigentlich in diesen Jahren in ihrem Körper aufgenommen hatte? Das war eine Vorstellung, die mir nicht behagte, die mich jedoch immer wieder hinterlistig anfiel, wie ein Ninja oder ein Guerillakämpfer. Wie viele Billionen von Spermien mussten durch die Vagina meiner Mutter geflossen sein? Und nie kam dabei ein Bruder oder eine Schwester für mich heraus. Manchmal konnte ich sie hören, vor allem meine Mutter, auch wenn sie sich Mühe gaben, den Geräuschpegel gering zu halten. Aber wenn meine Mutter zu laut wurde, konnte ich die Stimme meines Vaters vernehmen, wie er sie ermahnte, leiser zu sein, sonst würde ich sie noch hören. Einmal erwischte ich sie abends im Wohnzimmer. Ich konnte nicht einschlafen und bin mit schweren Augen aus meinem Zimmer getrippelt, das Platschen meiner nackten Füße auf dem Boden in den eigenen Ohren. Und dann sah ich sie auf meinem Vater sitzen, einander zugewandt, sie sprang auf und ab, er hatte ein verzerrtes Gesicht, was ich etwas unheimlich fand. Sie bemerkten mich nicht und ich stand etwa eine Minute als stummer Beobachter hinter dem Sofa, ehe ich genauso stumm wieder kehrt machte und mich zurück in mein Bett legte. Vielleicht hatte Gott keinen weiteren Zuwachs für die Familie Portereit geplant. In unserer Familie glaubte allerdings niemand an Gott, also machte ihm auch niemand einen Vorwurf, noch wurde er um etwas gebeten. Meine Mutter allerdings sprach später, nachdem sich meine Eltern getrennt hatten und mein Vater aus meinem Leben verschwand, davon, dass die Einstellung meines Vaters Schuld gewesen sein musste. Er wollte kein weiteres Kind. Sagte sie. Und auch  wenn er wohl alle körperlichen Voraussetzungen erfüllte und den erforderlichen Ertüchtigungen häufig und regelmäßig mit meiner Mutter nachging, wollte er kein weiteres menschliches Wesen daraus entstehen sehen. Sagte sie. Er hätte es wohl hingenommen, aber er war auch froh, dass es nicht dazu kam. Und das war nach Meinung meiner Mutter der Grund, der transzendentale, übernatürliche, nicht weiter zu erklärende Grund, für das Ausbleiben einer erfolgreichen Fusion von Ei und eines der unzähligen zappelnden und fleißigen Spermatozyten. Sagte sie. Auch das schien ihr gegenüber ihres jungen Sohnes als hinreichende Erklärung. Und das war es für mich auch.

Mit vier Jahren lernte ich lesen und mit fünf Jahren schreiben. Auf meinen eigenen Wunsch hin. Meine Mutter brachte es mir bei, weil ich so gerne vorgelesen bekam. Schon als Kleinkind bettelte ich um Geschichten und Erzählungen jedweder Art. Allerdings war sie abends, wenn ich ins Bett ging, oft nicht zu Hause, da sie als Krankenschwester arbeitete. Und mein Vater, als er noch da war, wollte und konnte nicht gut vorlesen. Also musste ich mich wohl oder übel selbst darum kümmern. Das hatte auch nichts mit Hochbegabung zu tun, lediglich mit einem starken Willen und einem noch stärkeren Wunsch, in diese abenteuerliche und endlose Welt der Geschichten einzutauchen. Dementsprechend fiel es mir recht leicht und ich lernte sehr schnell. Das Verlangen nach den Geschichten beflügelte mich, sorgte für eine für ein Kind meines Alters ungewöhnliche Konzentration. Ich wollte wissen, was diese Zeichen auf den Buchseiten bedeuteten, diese seltsamen Striche und Punkte, die scheinbar unermessliche Geheimnisse beinhalteten, ich wollte sie ihnen entlocken, ich musste diese Schätze unbedingt bergen. Meine Mutter war beeindruckt und stolz. Mein Vater nahm die Neuigkeit, dass sein Sohn schon lesen und schreiben könne, noch bevor er in der Schule war, mit einem Kopfnicken zur Kenntnis. Ich meine mich zu erinnern, dass er mir auch kurz zulächelte, als ich stolz ein Buch in der Hand hielt und die ersten drei Sätze daraus langsam, aber recht flüssig vorlas. Dann stand er auf, ging zum Kühlschrank und holte sich ein Bier. Auf dem Rückweg zum Sofa fuhr er mir kurz über meine braunen Locken, was sich toll anfühlte und mir als Lob von seiner Seite aus genügen musste. Meine Eltern waren beide keine allzu großen Leser, aber trotzdem erkannte zumindest meine Mutter die Bedeutung frühkindlicher Förderung durch die Literatur. Unterstützt wurde sie dabei von meiner Tante, ihrer Schwester, die eine große Literaturliebhaberin war und der ich sicherlich auch einen großen Teil meiner Vorliebe für Bücher zu verdanken habe. Dazu später mehr. Immer wenn sie abends Gelegenheit dazu hatte, las mir meine Mutter vor. Angefangen haben wir mit den klassischen Märchen. Noch heute kenne ich sie alle. Und immer lauschte ich wie gebannt, wenn es um Prinzessinnen, sprechende Tiere oder böse Stiefmütter ging. Ich war fasziniert und beglückt. Ich sog die Worte in mich ein. Welche kluge Idee von Hänsel und Gretel, eine Spur aus Steinen und Brotkrumen zu legen. Wie genial von Rapunzel, ihr Haar aus dem Turmfenster zu hängen, damit der Prinz daran empor klettern konnte. Und wie mutig von dem anderen Prinzen, sich durch das dichte Dornendickicht zu kämpfen und dann noch die Geistesgegenwart zu besitzen, Dornröschen zu küssen, um sie aus dem Schlaf zu wecken. Ich war fasziniert von diesen fremden Geschichten, diesen fremden Welten, in denen das Fremde doch so selbstverständlich war. Und ich war begeistert von der Vorstellung, dass es da Menschen gab, die sich diese Geschichten ausgedacht hatten. Sie mussten die wahren Zauberer sein, die unter uns normalen Menschen wandelten. Sie erfanden Geschichten! Jeder Abend, an dem meine Mutter mir nicht vorlas, war ein großes Drama. Nicht selten gab ich mich vor dem Schlafengehen ausgiebigen Schreikrämpfen hin, wenn meine Mutter arbeiten musste und mein Vater mir nicht vorlesen wollte. Ich bettelte, ich weinte, ich machte Versprechungen mein Zimmer aufzuräumen – er blieb hart. Er wollte und konnte nicht gut vorlesen, war seine Standardantwort. Und dass ich mich ja zusammenreißen sollte, sonst würde es was setzen. Er schlug mich zwar nie, aber er las mir auch nie vor. Leise weinte ich mich in den Schlaf, an die bereits bekannten Abenteuer denkend, nach denen ich so sehr schmachtete und auch an jene, die mir entgingen. Schnell lesen zu lernen war für mich also eine nahezu lebenswichtige Notwendigkeit. Und als ich diese komischen Zeichen dann endlich entschlüsseln konnte und sie sich in Buchstaben, Worte und Sätze verwandelten, nahm ich mir alles vor, was mir zwischen die Finger kam. Märchen, Walt-Disney-Bücher, Fünf Freunde, Janosch, Kochbücher und Fernsehzeitschriften. Einmal fand ich im Schlafzimmer meiner Eltern ein Erotikmagazin. Beim Durchblättern der dünnen Seiten dachte ich mir Gründe und Geschichten aus, warum darin alle nackt waren. Und ich überlegte mir, was die Worte bedeuten konnten, die ich noch nicht kannte. Klitoris interpretierte ich als ein bestimmtes Körperteil der Frau, welches sehr kitzlig war, womit ich ja gar nicht so verkehrt lag. Ficken bedeutete so viel wie miteinander lachen und spielen, auch nicht schlecht eigentlich, und ein Vibrator war ein neues fremdländisches Küchengerät. Oft verstand ich nicht alles, was ich las, ich war einfach noch zu jung dafür. Offensichtlich. Aber das machte mir nichts aus. Die unendliche Geschichte las ich mit sieben. Ich war mir sicher, auch wenn mir nicht alle Zusammenhänge des Inhalts einleuchteten, dass ich es mit einer wunderbaren Geschichte zu tun hatte. Ich erfreute mich an dem, was ich verstand und las es später noch einmal und dann noch einmal, bis ich es verstand. Ich liebte den Drachen Fuchur und die riesige Schildkröte Morla und die kindliche Kaiserin und ich fürchtete mich vor dem bösen Werwolf Gmork. Ich las in meinem Bett unter der Decke, ich las auf dem Klo, ich las in der Küche auf dem Boden sitzend und mit dem Rücken gegen den Kühlschrank gelehnt, unter dem Esstisch, draußen auf der Wiese, in der Pausenhalle der Schule, im Schwimmbad, in der Badewanne. Später las ich am liebsten in der Bibliothek, in der meine Tante arbeitete. Meine Mutter unterstützte mich, mein Vater nahm es hin. Meine Mutter fragte mich oft nach dem Inhalt meines momentanen Buches und ich berichtete ihr mit Freude und Übermut, schilderte ihr die Figuren, wollte ihr unbedingt zeigen, wie spannend das Buch sei und ihr deutlich machen, was mir daran so sehr gefiel. Mein Vater fragte nie danach. Manchmal ergriff ich die Initiative und versuchte ihm etwas aus den Büchern zu erzählen. Entweder hörte er mir stumm zu und nickte in regelmäßigen Abständen und dachte sicherlich an etwas ganz anderes. Oder er stoppte mich nach ein paar Sätzen und sagte mir dann, er habe dafür momentan keine Zeit. Ich hatte nie das starke Bedürfnis, ihn besonders stolz zu machen. Ich suchte nicht übermäßig seine Nähe. Ich hatte nicht das Gefühl, dass mir etwas Grundlegendes fehlte, in der Vater-Sohn-Beziehung. Zumindest würde ich heute mein Verhältnis zu ihm mit diesen Worten beschreiben. Als Kind konnte ich meine Gedanken und Gefühle natürlich nicht in solche Worte fassen, aber ich glaube, dass ich damals so dachte und fühlte. Es war nun einmal so, wie es war. Auf jeden Fall hätte ich mich gefreut, wenn mein Vater mehr Interesse gezeigt hätte. Wenn ich mit ihm hätte reden und mich ihm anvertrauen können. Wenn er meine Begeisterung für Bücher und Geschichten geteilt hätte. Aber dem war nicht so. Ich akzeptierte das. Ich verstand nicht so richtig. Aber ich akzeptierte. Ich kann nicht sagen, dass er ein schlechter Vater gewesen war. Aber auch nicht, dass er ein guter war. Er war einfach ein Vater. Und irgendwann war er halt nicht mehr da. Der Verlust traf mich, aber nicht allzu hart. Ich hatte meine Bücher.

Und ich hatte meine Mutter. Ich liebte sie und sie liebte mich. Da bin ich mir sicher. Und sie zeigte es mir zwar mehr und häufiger, als es mein Vater getan hatte, aber von einer übermäßig liebevollen und innigen Beziehung kann auch hier nicht die Rede sein. Sie sagte mir, dass sie mich lieb hatte, manchmal. Sie küsste mich auf die Stirn, ab und zu. Sie fragte mich nach meinem Tag, nach dem Buch, das ich gerade las. Sie brachte mir das Lesen bei, wofür ich ihr auf ewig unendlich dankbar sein werde. Aber nicht selten kam mir unser Verhältnis etwas oberflächlich vor. So wie mein Vater eben mein Vater war, war es nun mal eine Tatsache, dass sie meine Mutter war, nur dass sie ihre Rolle ein wenig ernster nahm. Aber eben nur ein wenig. Vielleicht kann man es so am besten beschreiben: ich war nun einmal ihr Sohn und seinen Sohn hatte man nun einmal lieb. Es gehörte sich, dass man ihm ab und zu sagte, dass man ihn lieb hatte, dass man ihn ab und zu auf die Stirn küsste und dass man fragte, welches Buch er gerade las. Eine Pflichterfüllung mit einer gewissen Wärme, aber ohne Feuer. Warum sie unbedingt weitere Kinder haben wollte, verriet sie mir nie. Ich konnte damals nur mutmaßen. Der Gedanke, dass ich ihr vielleicht nicht genügte oder nicht gut genug war, kam mir erst so spät, dass er mich gar nicht mehr so sehr treffen konnte. Kurz bevor ich ohnehin die Wahrheit erfuhr. Meine Hauptthese bezüglich ihres nicht nachlassenden Kinderwunsches, die ich mit etwa zehn Jahren entwickelte, konnte ich natürlich nicht beweisen: Ich war irgendwann der Meinung, dass es sich bei ihrer Liebe um eine Art Rechnung handeln musste. Nach dem Prinzip: Je mehr Kinder, desto mehr Liebe. Mit jedem Kind, würde ihre Liebe wachsen. Exponentieller Wachstum sozusagen. Ein Kind bedeutete ein 805 wenig Liebe. Zwei Kinder hätten doppelt sie viel Liebe bedeutet, drei Kinder gleich ein Vielfaches mehr an Liebe. Allerdings blieb ich Einzelkind. Also gab es auch nur ein wenig Liebe. In Mathe war ich auch nie so gut. Die Wahrheit kam, wie gesagt, etwas später.

Meine Eltern trennten sich, als ich acht Jahre alt war. Gründe und Erklärungen kenne ich nur jene, die meine Mutter mich wissen lassen wollte. Mein Vater zog an einem Freitag aus. Kurz nachdem ich von der Schule heimkam. Den Schulweg ging ich schon alleine, er betrug keine zehn Minuten. Ich stand vor unserer Haustür und wollte gerade zweimal kurz und einmal lang klingen, mein persönliches Klingelzeichen, als sich die Tür bereits öffnete und mein Vater, beladen mit einem großen Koffer, mich fast umgerannt hätte. Bis heute denke ich manchmal darüber nach, wie ich seinen Blick von damals deuten soll. Es war Überraschung, da bin ich mir sehr sicher, aber keine freudige, und trotzdem glaubte ich, auch eine Spur Dankbarkeit darin lesen zu können. Vielleicht hat sich diese Interpretation aber auch über die Jahre in meinen Kopf geschlichen und festgesetzt. Wollte er verschwinden, ohne sich von mir zu verabschieden? Bedeutete ich ihm so wenig? Oder wollte er es mir dadurch einfacher machen? So wie Möbius in Die Physiker, der seinen verrückten Weltraumfahrerpsalm über seine Familie niederregnen lässt, um ihnen den unwiderruflichen Abschied zu erleichtern. Eine kompromisslose Trennung, ohne Lebewohl, ohne Tränen und ohne verlegene Worte, die niemals, niemals, niemals die richtigen Worte sein können. Verschwinden, als hätte es ihn nie gegeben. Als ob das möglich wäre. Momentan gebe ich mich der Ansicht hin, dass er ohne Abschied gehen wollte, aber dann im Grunde schmerzlich dankbar dafür war, dass es doch nicht so gekommen ist. Für einen kurzen Moment weilte sein Blick auf mir und obwohl ich erst acht Jahre alt war, oder weil ich schon acht Jahre alt war, ist mir dieser Tag und dieser Moment sehr gut in Erinnerung geblieben, schmerzhaft eingebrannt in mein Gedächtnis. Oder eher geschnitzt, wie mit einem Taschenmesser in eine Holzbank, denn der Tag und der Moment zogen sich lange hin, als hätten sie beschlossen, nicht zu enden oder zumindest die Gesetze der Zeit nicht zu beachten. Sein Blick weilte auf mir und er fühlte sich schwer an, wie ein Gegenstand, ich konnte ihn auf meinem Kopf und meinen Schultern spüren. Dann lud er seinen Koffer in sein Auto. Ich blieb dabei wie angewurzelt stehen, drehte nur meinen Kopf und folgte seinen Bewegungen. Dann kam er zurück und kniete sich vor mich. Er sah mir in die Augen und ich konnte mein Gesicht in seinen eigenen sehen, was mir damals wie ein Wunder anmutete. Er legte seine Hände auf meine Schultern, strich mir über die weichen Kinderwangen, legte seine Hände wieder auf meine Schultern. Seine Augen waren Zeugnis für den Kampf der Worte, der in seinem Kopf tobte. So weit ich mich erinnern kann, war er nie ein Mann großer Worte gewesen. Was erwartete ich also? Man hätte zwar meinen können, auch wenn man sonst nicht mit übermäßiger Eloquenz oder mit einem Überfluss an Redseligkeit gesegnet war, dass eventuell in einem solchen Moment zumindest ein paar bedeutende Worte den Weg von seinem Kopf über seine Zunge gefunden hätten, und wenn es nur dieses eine Mal in seinem Leben gewesen wäre. Aber alles, was er sagte, während eine ganze Zeit lang das Gewicht seiner Hände auf meinen Schultern meinen Körper schwer werden ließ, war: „Ich wünsche dir ein tolles Leben, mein Sohn.“ Das war’s. Dann drehte er sich um, stieg in sein Auto und fuhr los. Es war ein Freitag, die Sonne bellte, irgendwo schien ein Hund und ich hatte keine Hausaufgaben auf.

[…]

Leseprobe: Kerstin Meixner – “Am Fuß des Berges”

ZWEITES KAPITEL

Ein letzter Herbstabend zu zweit auf dem Balkon, kurz bevor die erste Bombe fällt

Draußen wird es jetzt wieder früher dunkel. Sie sitzt auf dem Balkon und raucht. Hinter den Häusern auf der gegenüberliegenden Straßenseite ist die Sonne schon fast verschwunden. Den Geschmack von selbstgebackenem Butterkuchen hat sie noch immer im Mund, daran ändern auch die Zigaretten nichts. Sie zählt die Fenster, in denen das Licht angeht. Irgendwann kommt Ilija von der Arbeit heim, setzt sich neben sie und raucht ebenfalls. Seit etwa einem Jahr zieht er die Krawatte nicht mehr aus, sobald er nach Büroschluss in der U-Bahn sitzt. Er lockert sie nur so weit, dass er sein Hemd darunter aufknöpfen kann und man seine Brusthaare sieht. Bis in seine späten Zwanziger hat er an der Überzeugung festgehalten, man könne ein Roter Stern Belgrad-Trikot in allen Lebenslagen tragen, aber diese Zeiten sind nun vorbei. Sie wirft einen heimlichen Seitenblick auf die dichten, dunklen Haare auf der vom Sommer gebräunten Haut, die sich an der hellen Knopfleiste vorbeidrängen. Seine Brust gefällt ihr immer noch, aber ohne Krawatte fände sie sie schöner. Ilija bemerkt ihren Blick und lächelt. Marko und Faizah werden bald zu Hause sein. Dann werden sie alle zusammen essen. Marko wird ihnen halbwahre Geschichten über seine Stunden im Wettbüro erzählen, Faizah wird sie fragen, wie es bei ihrer Familie gewesen ist und Ilija wird mit nichts über seinen Tag herausrücken. Was in seinem Leben passiert, während er Krawatte trägt, gehört zu den Geheimnissen, die er für sich behält. Er erzählt über Begegnungen, die er in der U-Bahn hat, über die alte Frau mit dem Vogelkäfig auf dem Rollator, die versucht Stadttauben zu fangen, und darüber, dass er irgendwann einmal die Gaststätte Zum goldenen Eck kaufen wird, die auf seinem Arbeitsweg liegt, und dass er dann den ganzen Tag davor sitzen und den armen Gestalten nachblicken wird, die sich zu ihren Jobs schleppen, weil er selbst längst ausgesorgt haben und die Gaststätte nur zum Spaß besitzen wird, um schlechte Coverbands auftreten zu lassen. Alle, die ihn kennen, finden Ilija unterhaltsam und das stimmt, aber dass sie ihn kennen ist nur eine Illusion. Manchmal kommt sie darüber ins Grübeln, ob er schon immer so gewesen ist oder er einmal andere Anlagen gehabt hat, aber im Grunde ist auch das nutzlos.

»Woran denkst du?«, fragt Ilija plötzlich und bläst seinen Zigarettenrauch über ihren Kopf hinweg. »Ich denke darüber nach, ob es einen Menschen gibt, mit dem ich tanzen gehen würde, obwohl ich wüsste, dass vielleicht gleich Bomben fallen werden und ich zu Hause dann sicherer wäre.«

»Ihr Deutschen.«

Er schüttelt den Kopf. »Bist du deswegen mit uns befreundet? Weil wir etwas über Bomben wissen?« Sie nimmt eine neue Zigarette aus der Packung. »Nein. Ich bin mit euch befreundet, weil wir alle schon miteinander gefickt haben.«
Sie wählt den Ausdruck bewusst, denn sie weiß, dass Ilija der einzige von ihnen ist, dem sowohl die Tatsache als auch das Wort etwas ausmachen. »Bitte«, sagt er schulterzuckend und blickt in den Himmel, wo man jetzt die ersten Sterne sehen kann, »es ist trotzdem eine komische Frage, die du dir da stellst.« »Wäre es denn weniger seltsam, wenn sie mir jemand anderes stellen würde?« »Nein», antwortet Ilija ernst. »Es bleibt einfach eine merkwürdige Sache, die du da wissen möchtest.«

Schweigend sitzt er einige Minuten neben ihr, den Kopf in den Nacken gelegt, die Augen geschlossen, die Hände zwischen seinen Oberschenkeln ruhend. Sie nimmt ihm die Zigarette aus den Fingern, bevor er sich an dem herabgebrannten Stummel verbrennen kann. »Ich bin nämlich heute bei meiner Großmutter gewesen«, sagt sie. »Mein aufrichtiges Beileid«, kommentiert Ilija teilnahmslos, ohne die Augen zu öffnen. »Und die hat dich auf so komische Gedanken gebracht?« Sie nimmt einen letzten Zug von seiner Kippe, dann drückt sie den Rest im langsam überquellenden Aschenbecher aus. »Sie hat mir erzählt, dass sie meinen Großvater am Anfang gar nicht hat leiden können, als er ihr Patient im Lazarett war.« Überrascht öffnet Ilija nun doch die Augen. »Aber ich dachte, das sei die eine echte Liebesgeschichte, die deine Familie hat?« Sie lacht und blickt auf das Brusthaar, das tatsächlich die Luft anzuhalten scheint.

»Ist es ja auch, keine Sorge. Sie hat nur nicht gewusst, dass sie sofort in ihn verliebt war.«

»Interessant.«

»Er wollte immerzu tanzen gehen, auch wenn man mit Bomben rechnen musste, und sie ist mitgegangen und hat sich gleichzeitig darüber aufgeregt.«

»Natürlich.«

»Aber sie ist eben trotzdem immer mit ihm mitgegangen und da habe ich mich gefragt, ob es wohl einen Menschen gäbe, dem ich so folgen würde.«

»Reike, ich würde mit dir tanzen gehen, selbst wenn die Flieger schon unterwegs zu uns wären.«

»Du hängst aber auch nicht besonders am Leben.«

Ilija lacht auf. »Da hast du vollkommen recht«, bestätigt er ihre Aussage und verschränkt die Arme grinsend vor der Brust, »deswegen kenne ich solche Dilemmata nicht.«

In reinen Fakten ausgedrückt ist Ilija ein in Belgrad geborener, aber in Deutschland aufgewachsener, mathematisch hochbegabter Mann Mitte Dreißig, der als Risikobewerter für einen großen Versicherungskonzern arbeitet. Schon nach dem Abitur hatten sich verschiedene Universitäten für ihn interessiert, aber Ilija war zunächst für zwei Jahre zurück nach Serbien gegangen, hatte seine Familiengeschichte erforscht und war dann mit einem Begabtenstipendium wieder zurück nach Berlin gekommen, auch, weil er es dann doch erleben wollte, dass Deutschland sich einmal bei ihm anbiederte. In den ersten Fünfundzwanzig Jahren seines Lebens ist er zweimal beinahe gestorben und einmal beinahe Vater geworden, außerdem ist er ein passabler Sänger und ein hervorragender Fußballtorwart. Er fasst sich gerne in Listen zusammen und verschweigt den Menschen die Zusammenhänge, in denen die darin enthaltenen Informationen über ihn zueinander stehen. Die Restunsicherheit, die andere seine Person betreffend verspüren, amüsiert ihn.

»Meine Großmutter will jetzt ihr Erbe regeln«, sagt sie, als Ilija schon fast aufgestanden ist, um sich etwas zu essen zu machen. Überrascht setzt er sich wieder hin. »Und da fragt sie ausgerechnet dich?« Sie zuckt mit den Schultern.

»Ich habe mich nicht erkundigt, ob ich ihre erste Wahl war.«

»Und gibt es denn wenigstens etwas zu erben?«

»Ihr Haus auf dem Land. Aber nur wenn ich dort auch leben wollen würde. Also bekomme ich kein Haus.«

»Ich würde mit dir aufs Land ziehen.«

»Soweit kommt es am Ende noch.«

Ilija schaut sie beleidigt an. »Ich habe dir heute gesagt, dass ich mit dir tanzen gehen würde, selbst wenn bald Bomben fallen würden und du willst nach all unseren Jahren zusammen nicht einmal mit mir auf dem Land wohnen. Das ist erschütternd.« Sie lehnt sich nach vorne und küsst ihn auf den Mund. »Ich würde nur nicht wollen, dass die Stadt ohne schlechte Coverband-Abende im goldenen Eck auskommen muss.« Ilja lächelt und zieht sie in seine Arme. »Also, bleiben wir hier.«

FÜNFTES KAPITEL

Drei Kinder, von denen eines noch neu ist und zwei nur im Rückblick existieren

Im Gegensatz zu Faizah weiß Reike in beiden Fällen, von wem das Kind gewesen wäre. Sie hat sich beigebracht, wenig über die Vergangenheit nachzudenken, aber die fortschreitende Schwangerschaft ihrer Freundin macht es schwieriger für sie. Sie ertappt sich jetzt häufiger dabei zurückzublicken.

Sie war gerade erst Sechzehn geworden, verbrachte den Sommer zwischen Mittlerer Reife und Oberstufe wahlweise am See, auf den Bänken vor dem Bahnhof oder auf der Terrasse hinter ihrem Haus und hatte mit noch niemand anderem als Ilija geschlafen, als sie feststellte, dass ihre Regel ausblieb. Ihre beste Freundin Hannah, die der einzige Mensch war, mit dem sie darüber sprach, war der Ansicht, das Ganze werde sich mit Sicherheit in ein paar Tagen schon als falscher Alarm herausstellen, aber Reike hatte kein Interesse an dieser Form des Selbstbetrugs gehabt. Sie klaute in einem Drogeriemarkt einen Schwangerschaftstest und pinkelte im nächstgelegenen McDonald’s auf das kleine Stäbchen, bis sowohl ihre Hand als auch die weiße Plastikhülle vor Pisse glänzten. Als nach drei Minuten zwei blaue Streifen im Sichtfeld erschienen, ging sie zurück in den Drogeriemarkt, klaute eine neue Packung, die weiter oben im Regal lag, und fragte die Kassiererin, ob es vielleicht im Geschäft ein WC gäbe, das sie benutzen dürfe, da sie gerade mitten im Laden zum ersten Mal ihre Tage bekommen habe und nun nicht so recht wisse, was sie tun solle. Die Kassiererin hatte Mitleid mit ihr. Sie zeigte ihr die Angestelltentoilette, brachte ihr Tampons und Binden und fragte, ob sie ihr noch irgendetwas erklären solle. Reike bedankte sich, nahm die Tampons zur Tarnung mit und machte in der Kabine den zweiten Schwangerschaftstest. Als er ein rotes Pluszeichen anzeigte, weinte sie hemmungslos, denn sie hatte gehofft, dass das Klo bei McDonald’s vielleicht einfach so vollgepinkelt gewesen sei, dass der Test von dem Urin einer anderen Frau positiv geworden war. Sie blieb einige Minuten lang zusammengekauert auf der Kloschüssel hocken, einen Arm fest vor den Bauch gedrückt, von dem sie nun wusste, dass ein Baby in ihm wuchs, dann verließ sie die kleine Kabine, wusch sich das Gesicht und ging zur Kasse, wo sie der Verkäuferin die leere Packung des zweiten Schwangerschaftstests auf das Laufband legte und sie mit so provozierender Kälte anstarrte, dass diese ohne zu lächeln von ihr wissen wollte, ob sie es bitte passend habe.

Zwei Wochen erzählte sie niemandem außer Hannah von der Schwangerschaft und erlaubte Ilija, der zu dieser Zeit von nichts anderem redete, als davon, nach dem Abitur wieder zurück nach Belgrad zu gehen, nicht mehr, sie anzufassen. »Ich verstehe es nicht, hast du einen anderen?«, fragte er sie immer wieder, wenn sie ihre Hand aus seiner zog oder sich wegdrehte, wenn er einen Arm um ihre Hüfte legen wollte. »Ich brauche keinen anderen, wenn ich schon auf dich keinen Bock habe«, antwortete Reike ihm schroff und hoffte, Ilija werde einfach verschwinden, bevor er merkte, was mit ihr los war. Die Sommerferien waren fast zu Ende und auch wenn sie die Schwangerschaft früh bemerkt hatte, wusste sie, dass sie nicht mehr viel Zeit hatte, wenn sie die Sache, wie sie es nannte, regeln wollte, ohne für große Aufregung zu sorgen. Abgewiesen zu werden jedoch, war ein Umstand, mit dem Ilija seit frühester Kindheit vertraut war und mit dem er sich schnell arrangierte, also blieb er trotzdem. Er versuchte nicht mehr, ihre Hand zu halten oder seinen Arm um sie zu legen, aber er tauchte einfach weiterhin im Garten ihrer Eltern auf, sprach von Belgrad, las oder rauchte schweigend ein paar Zigaretten und ging dann wieder nach Hause. Erst, als sie ihm sagte, es sei Schluss zwischen ihnen, kam er nicht mehr.

Hannah hatte ihr die Telefonnummer eines Mädchens besorgt, das vor ein paar Jahren auf ihre Schule gegangen und in der gleichen Situation wie Reike gewesen war. Von ihr bekam sie die Adresse eines Arztes, der ihr gerne helfen wollte, wie er es formulierte. Seit dem letzten Sommer hatte Reike ihr Geld gespart, um Ilija möglichst bald in Belgrad besuchen zu können, sollte er wirklich gehen, jetzt hatte sie es sich auszahlen lassen, um sein Kind wegmachen zu lassen. Und alle Leute, die sie aus der Schule kannte und denen sie nicht rechtzeitig aus dem Weg gehen konnte, fragten sie erstaunt, warum Ilija und Reike so plötzlich Geschichte geworden waren.

Früh am Mittwochmorgen in der Woche ihres Abtreibungstermins fand sie ihren Exfreund unerwartet vor ihrem Haus sitzend vor, wo er die ganze Nacht gewesen war, weil er so viel Angst davor gehabt hatte, dass sie ihn vielleicht gerade für etwas Schreckliches verstieß, das er getan hatte und an das er sich nicht erinnern konnte, dass er sich am Abend vorher nicht getraut hatte, zu schellen, um sie danach zu fragen.

»Sag mir bitte, warum Schluss ist«, bat er sie, »es war doch alles so schön bis vor kurzem.« Reike setzte sich auf den Bordstein, von dem er aufgestanden war, als er sie aus dem Haus hatte kommen sehen, und blickte zu ihm auf.

»Und welchen Sinn hat es, dass es schön ist, wenn du sowieso weggehen willst? Dann lass es uns doch lieber jetzt beenden.«

»Wegen Belgrad, meinst du? Belgrad ist doch nur Gerede. Spinnerei. Was soll ich denn da?«

Er lächelte erleichtert. »Also, sei bitte wieder meine Freundin.« Reike hatte gehofft, dass es einfacher sein würde, aber eigentlich hätte sie wissen müssen, dass Ilija es einem selten leicht machte. »Es ist nicht nur Belgrad«, sagte sie, »es sind viele Dinge.« Aber ihr fiel nichts ein, was sie noch hätte aufzählen können und was von Bedeutung gewesen wäre, denn tatsächlich war es sehr schön gewesen, mit Ilija zusammen zu sein. Schweigend hatten sie nebeneinander auf dem Bordstein gesessen, Ilija hatte abwechselnd auf seine Hände oder hinüber zu den Häusern auf der anderen Straßenseite geguckt und Reike hatte ihren Arm fest vor ihr Baby gepresst, das es bald nicht mehr geben würde. Als sie ihm schließlich doch erzählte, dass sie schwanger sei, aber von einer Freundin bereits eine Adresse habe- von einem Arzt, der das regeln könne, ohne dass es jemand erführe- fing Ilija an zu weinen und fragte sie, ob sie sich denn nicht mehr daran erinnern könne, wie sie einmal zusammen Dirty Dancing gesehen hatten, und dass er ihr nicht würde helfen können, wie Baby damals Penny nach der stümperhaften Abtreibung geholfen hatte, als alles schief ging, weil er niemanden kenne, der Arzt sei, und den er im Notfall würde holen können. Also hatten sie mit ihren Eltern gesprochen. Ihr Vater hatte Ilija einige Schläge verpasst, noch bevor er seine Tochter angeschrien hatte, und anschließend den weiteren Verlauf in die Hand genommen, ohne Reike ein einziges Mal zu fragen, ob sie das Kind vielleicht doch behalten wolle. Ilijas Vater hatte zunächst nur erfahren, dass ein fremder Mann seinen Sohn geschlagen hatte und dann warum und nie wieder ein Wort darüber verloren.

Seit diesem Tag hatte Reike die Familie ihres Freundes nicht mehr besucht. Für die Schule hatte man ihr ein Attest aufgrund einer zu behandelnden Pilzinfektion in der Scheide geschrieben. Ihre Lehrerin hatte versucht, nicht darauf zu reagieren, aber doch angeekelt die Nase verzogen und keine weiteren Fragen gestellt. In der ersten Woche nach den Ferien war ihr Baby tot gewesen.

Fünf Jahre später war sie von Marko schwanger gewesen. Sie hatte ihn am Ende ihres ersten Semesters an der Universität auf einer Party kennengelernt, zu der sie eigentlich mit einem Kommilitonen gekommen war, den sie seit einigen Monaten regelmäßig traf, aber Marko hatte einen Blick, der so etwas schnell vergessen ließ. Bereits am Ende der Nacht hatte sie ihn mit in ihre neue, noch halbleere Wohnung nehmen wollen. Stattdessen hatten sie schon in dem kleinen Park am Ende des Campus Sex miteinander gehabt. Marko war trotzdem mit ihr nach Hause gekommen, hatte sich das zu vermietende Zimmer angesehen und am nächsten Vormittag hatte sie all ihre Aushänge an den Informations-brettern der Universität wieder abgehängt, damit er es sich nicht doch noch anders überlegte, falls jemand des Zimmers wegen anriefe und ihm so eine Ausstiegsmöglichkeit böte. »Nur besitzen, besitzen darfst du mich nie wollen«, hatte er gesagt, als er seine Sachen in die Wohnung gebracht hatte und sie hatte genickt und es auch so gemeint. Es war da schon drei Jahre her gewesen, dass sie das mit dem Besitzen aufgegeben hatte.

Als sie festgestellt hatte, dass sie möglicherweise zum zweiten Mal in ihrem Leben schwanger sein könnte, war Marko noch nachts losgefahren, um einen Test zu besorgen. Sie machte ihn in ihrem eigenen Bad und er saß bei ihr und wartete das Ergebnis in solcher Gelassenheit ab, dass sie wirklich zu glauben begonnen hatte, sie würden eine Familie gründen können. Die Zuversicht hatte bis in die sechste Woche angehalten. Reike hatte die Blutung erst bemerkt, als sie aus der Dusche gestiegen war und sich abgetrocknet hatte. Sie hatte Marko auf dessen Arbeitsstelle angerufen, der sofort gekommen war, und sie zu ihrer Gynäkologin gebracht hatte. »Das passiert bei ersten Schwangerschaften leider häufig«, sagte eine Frau in der Praxis zu ihr, die erkannte, was mit ihr los war, und Reike nickte stumm und versuchte nicht zu weinen.

Einen Monat später hatte Ilija plötzlich vor der Tür gestanden. Er war mittlerweile Informatikstudent, auch wenn er nie in irgendwelche Seminare ging. »Kann ich bei dir pennen?«, hatte er gefragt, als seien keine drei Jahre vergangen, seit sie sich das letzte Mal begegnet waren. Sie hatte ihm gesagt, dass sie das zunächst mit ihrem Mitbewohner besprechen müsse. Marko hatte Ilija einige Augenblicke gemustert, vor allem die eng sitzende Hose zwischen dessen Beinen, dann hatte er zustimmend genickt und dem Neuen die Hand gereicht.

Als sie an einem Dienstag drei Monate später früher als geplant von ihrem Job in einem Biergarten nach Hause gekommen war, war ihr Ilija nackt aus Markos Zimmer entgegengekommen. »Tut mir leid«, hatte er sich verlegen nuschelnd entschuldigt, aber sie hatte nur mit den Schultern gezuckt und gesagt, dass sie es verstehe. Marko hatte einen Blick, bei dem man mehr als eine Sache vergessen konnte.

Gemeinsam hatten die Jungs kurz nach ihrem Hochschul-abschluss schließlich Faizah mit in die Wohnung gebracht und sie in der ersten Zeit untereinander geteilt, als sei sie ein besonders schönes Diebesgut, das keiner für sich allein behalten dürfe. Faizah jedoch war nicht dafür gemacht, sich herumreichen zu lassen, wie es anderen gefiel. Wie Marko ließ sie sich nicht besitzen, damals noch nicht, sie eroberte lieber selbst. Und so war Reike eines Abends von der Uni nach Hause gekommen und hatte Faizah nackt und mit gespreizten Beinen auf ihrem Bett sitzend vorgefunden, ein selbstverständliches Lächeln in ihrem Gesicht, das sich erst in einen anderen Blick verwandelte, als auch sie sich ausgezogen hatte.

Marko ist fest davon überzeugt, sie habe sein Kind nicht bekommen können, weil sie Ilijas nicht bekommen hat. Er erzählt gerne von bedingten Wahrscheinlichkeiten, die er im Wettbüro beobachten könne und die den Menschen häufig erst hinterher bewusstwürden. Unmittelbar nach der Fehlgeburt hatte Reike geglaubt, dass eine solche Feststellung das Ende sein müsse, aber Marko hatte trotzdem weiterhin sowohl mit ihr als auch mit Ilija geschlafen. Jetzt jedoch hatte er ein gemeinsames Schlafzimmer mit Faizah und das Babybettchen für ihr Kind in seinem Schlafzimmer aufgebaut.

Sie selbst und Ilija blieben außen vor und manchmal machte es Reike Angst, sich in dieser Konstellation wiederzufinden. Marko und Ilija hatten noch einige Male am Nachmittag miteinander geschlafen, aber da es Faizah zu stören schien, hatten die Männer damit aufgehört und Ilija hatte zufrieden damit gewirkt, dass all das Durcheinander nun beendet war. Vielleicht hatte er schon seit langem mehr zum Schein dieses Leben geführt, damit er bei ihr bleiben konnte. Sie fragte ihn nie danach.

Wäre Ilija es gewesen, der Faizah fest in seinem Schlafzimmer aufgenommen hätte, sie würde ihn wohl vermisst haben. An Marko dachte Reike jedoch nie und an Faizah hatte sie mit dem Sichtbarwerden der Schwangerschaft das Interesse verloren, weil sie mit dicken Brüsten, in die die Muttermilch schoss, nichts anzufangen wusste.

Am Abend sitzt Reike allein auf dem Boden des Balkons und raucht ihr letztes Gras. Wenn Faizah wüsste, dass noch Drogen im Haus sind, sie würde sie vermutlich rausschmeißen, auch wenn sie es eigentlich nicht darf, weil ihr Name als Hauptmieterin in den Mietvertrag eingetragen ist. Diese Tatsache jedoch würde weder Faizah noch sie interessieren, wenn es soweit käme. Bevor sie schwanger geworden war, hatte Faizah spät in der Nacht oft Albträume gehabt. Dann war sie aufgewacht, hatte den Körper neben sich gesucht und ihre Haut, denn sie schlief immer nackt, so fest gegen die fremde Wärme gedrückt, dass es einen beinahe erstickt hatte. Mit der Schwangerschaft wurden die Träume nicht weniger schlimm, aber sie umarmte nun in der Dunkelheit ihren wachsenden Bauch und vergaß die fremden Körper neben sich. Manchmal treibt diese Tatsache Marko hinaus auf den Balkon, doch heute bleibt drinnen alles still. Er versteht nicht, dass es egal gewesen wäre, von wem Reikes zweites Baby war. Sie hatte das zweite nicht auf eine Welt bringen können, auf der es das erste nicht gab und sie hatte es schon als Sechzehnjährige gewusst, dass es so sein würde – schon als sie von ihrem Vater zur Abtreibung ins Krankenhaus gebracht worden war. »Du bist noch jung, das wird sich noch ändern«, hatte der Arzt gesagt, als sie ihn nach einer Sterilisation gefragt hatte, »es wäre unverantwortlich, dir das wegzunehmen, deswegen ist es verboten.« Doch sie hatte Recht behalten. Mit den Vätern hatte es nichts tun. Marko aber glaubte ihr nicht und vielleicht war Faizahs Kind in Wahrheit Ilijas Tochter und er nahm sie ihm aus Rache weg.

»Wenn Faizah dich sieht, schmeißt sie dich raus.« Ilija ist im Rahmen der Balkontür erschienen und blickt zu ihr herunter. »Lass uns zusammen nach Belgrad gehen«, schlägt Reike ihm vor. Ilija lacht. »Na, aus dem Land jagen wird sie dich schon nicht. Und ob ich mit dir mitgehen würde…« Er wiegt den Kopf abschätzend grinsend hin und her, bis er erkennt, dass sie nicht gescherzt hat. Er setzt sich neben sie. »Was sollen wir denn in Belgrad?« Sie hat darauf keine Antwort.

»Aber etwas Eigenes, das können wir uns auch hier besorgen. Nur für uns. Zwei Zimmer, Küche, Bad. Das schaffen wir selbst mit unseren Gehältern.«

»Es war ja nur so ein Gedanke«, sagt sie, »aber wenn du das natürlich möchtest.« Ilija seufzt. »Warum klingt es immer, als wäre ich der Trostpreis in deinem Leben?« Sie zieht seinen Kopf auf ihren Schoß. Er rollt sich zusammen wie ein Embryo und drückt seine Stirn gegen ihren Pullover. Wenn er in ihren Bauch kriechen könnte, er würde es jetzt vermutlich tun. Sie streichelt seinen Kopf. Seine dunklen Locken sind härter als Faizahs weiche Haare und Marko hat nun schon bald eine Glatze. Sie summt leise vor sich hin. »Ich verstehe eben nur nicht, warum es jetzt nicht so sein kann, dass Faizah Marko hat und du hast mich«, sagt Ilija. »Ich muss noch etwas rauchen«, antwortet sie. Er reicht ihr den Joint. Sie hält ihn noch in der Hand, als Faizah nach Hause kommt, aber sie bekommt es nicht mehr mit.

Leseprobe: Franziska Gänsler – “Kahn”

Kahn // Franziska Gänsler

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Es war die Mutter, die ihn schützte und der Vater, den er fürchtete, und so war es immer gewesen. Die Wut kam plötzlich über den Vater, über ein Stuhlbein, über die Art, wie der Sohn die Kirschen aß. Dann klappte etwas auf in seinem Gesicht und ein Zucken durchlief die Familie.
Kahn war das einzige Kind und wenn der Vater über die eigenen Grenzen trat, zu den Wänden, dem Fußboden, der Wohnung, dem ganzen Haus wurde, dann sah Kahn zur Mutter, die still blieb wo sie saß oder stand. Ihr Blick, irgendwo auf der Brust des Vaters, auf den weißen Händen in ihrem Schoß. Bis die Tür schlug und sie allein zurückblieben. Erst dann legte sie ihm die Hand auf den Kopf, bevor sie die Scherben, die Asche, die kleinen, krummen Reste ihrer Zigaretten auffegte, ihr Haar kämmte.
Dann saßen sie später zusammen am Fenster und sahen zu, wie dünne Regenschnüre auf das Gras fielen und der Schreck verschwand hinter blinden Flecken, hinter der still gesagten Wiederholung: Wir lassen den Kopf nicht hängen.
Dann stand am nächsten Tag auf dem Tisch ein Blumenstrauß und eine Karte, auf der, in winziger Handschrift, die Signatur des Vaters saß wie eine Fliege. Die Mutter lächelte und drehte die Vase mit der linken Hand, die rechte auf Kahns Bein und langsam schoben sich die Wände, die Fenster, die Teppiche wieder in ihre gewohnten Winkel.
Der Krieg war da schon lange vorbei, aber der Vater trug an den Sonntagen, auf dem Weg zur Kirche, das schwarze Kreuz auf der Brust, unter dem Jackett, an einem gestreiften Band. Bevor sie das Haus verließen, während die Mutter ihren Sonntagsmantel anzog, beugte er sich tief zu Kahn, die Hand am Kreuz. Sein Lächeln, die warmen, glatten Hände, so nah. „Tapferkeit vor dem Feind. Vergiss das nicht.“
Der Vater im Krieg, der sechzehn Kameraden aus dem Feuer geholt hatte. Der von der Universität nach Hause lief, zu seiner Mutter, den Schwestern, durch die brennende Stadt, den zerbombten Friedhof, aufgesprengte Särge, die aus der Erde ragten.
Tapferkeit vor dem Feind.
Der Vater, der nun jeden Tag um 07:30 das Haus verließ um anderen zu helfen. Kahn sah ihn dann, neben der Mutter im grauen Türrahmen, wie er die braunen Stufen des Mietshauses hinunter schritt, und im gleichfarbenen, braunen Anzug mit geradem Rücken im Dämmerlicht der unteren Etagen entschwand. In seiner rechten die Aktentasche, darin der steife, weiße Kittel, das Stethoskop.
Wie er der Wohnung floh, die ihm eng war und wie die Mutter und Kahn oben blieben und schon an seine Wiederkehr dachten.
„Er heilt die Kranken“, so erklärte die Mutter was der Vater den Tag über tat, und Kahn sah eine lange Zeile verletzter Menschen, die sich vor dem Schreibtisch des Vaters aufreihten. Der Vater, die gewaschenen Hände, die tasteten, urteilten, schließlich das rechte Medikament, die rechte Behandlung verschrieben.
Das eiserne Kreuz lag dann in einer flachen Holzkiste in der obersten Schublade im Nachtkästchen, neben einer weiteren Schatulle, die der Vater an manchem Abend hervorholte und Kahn zu halten gab. Darin, glänzend und schwer, in einem aufgeschlagenen Tuch, seine Sauer 38H.
Nie blickte der Verabschiedete sich um. Auf dem letzten Absatz, auf dem Kahn von dem Anzug nur noch eine Seite der gedrehten, braunen Schulter sah, endete die Existenz des Vaters und den Rest des Tages gehörte sich der Sohn allein und dem leisen Räumen der Mutter.
Wie eine Kette stiller Waben reihten sich die Stunden in der Wohnung aneinander, angezeigt und verändert nur durch das Wandern der Lichtfelder auf den Fußböden.

Im Winter war die Welt vor den Fenstern weiß und die Wohnung lag zwischen den beschneiten Dächern ringsum. Wenn sie dem Vater dann frühs von der Tür aus nachsahen, dann zog der seinen Schatten im Lampenlicht in einen dunklen Morgen.
Im Sommer wurde der Plastikboden weich, Staub stand in der Luft und die Sonne fiel durch Scheiben, an die in der Hitze die Fliegen schlugen und dann, schwer auf der heißen Fensterbank, starben. Kahn roch das Holz der Möbel und die gelben, dicken Buchseiten, die er hinter dem Sofa auf dem Boden liegend durchblätterte. Unten spielten dann Kinder im Hof und Kahn lag auf dem Rücken und hörte zu.
Wie eine Festung erschien ihm diese Wohnung, warm und abgeschlossen, hoch oben und fern von allem, was fremd und laut war.
Er und die Mutter, als würden sie mit ihren Bewegungen Linien auf das selbe Blatt Papier zeichnen. Aneinander vorbei, durch die Stühle, die Kommoden, den langen Flur, die vier kleinen Räume. Sie war sie und er war er, und doch hatten sich in der hohen Wohnung vom ersten Tag an ihre Wesen miteinander verwebt, war Kahn vom ersten Tag an auch sie und sie auch er, spürte er mit der Mutter mit, wusste er nicht, wo er selbst endete und die Mutter begann.
Und doch: „Du bist wie dein Vater“. Die Mutter sah ihn an, von ihrem Lehnstuhl aus, auf dem sie die Nachmittage verbrachte. Sie trug ein helles, schmales Kleid. Vom Fußboden gesehen, standen ihre weißen Waden überkreuzt vor ihrem Oberkörper in flachen, weißen Schuhen. Darüber, ihr weiches Gesicht. „Du bist wie er.“, in ihrem Blick die Hände des Vaters, die ihr halfen, die kleine Kette in ihrem Nacken zu schließen. Die Blumen. Die ordentlichen Striche, mit denen er markierte, wie oft die Seiten einer Schallplatte gehört wurden. Die kleine Handschrift, die die Ausgaben der Familie notierten.
Später saß Kahn neben der Mutter am offenen Fenster. Erdbeeren lagen auf einem Porzellanteller, bemalt mit einem Ring blauer Blüten, auf dem Schoß der Mutter. In der rechten Hand hielt sie ein gefaltetes Tuch, das vom Saft der Beeren dunkel und feucht war. Der Rauch, der langsam zwischen ihnen nach oben zog, ein weiches, weißes Band. Unten im Gras spielten nur noch zwei der fremden Kinder. „Was wünscht du dir?“, fragte die Mutter. Es war der 28. Juli, Kahns fünfter Geburtstag. Das größere Kind schlug mit einer Schaufel auf einen Eimer, das Klopfen drängte sich in den Nachmittag. “Ich will, dass alles immer so bleibt wie es ist.” Die Mutter drückte die Zigarette in den Aschenbecher und legte ihre kühle Hand auf seinen Kopf. „Wir haben ja alles hier.“, sagte sie. „Wir haben ja alles.“

Um sechs Uhr deckte die Mutter den Tisch. Um halb sieben kam der Vater. Kahn, hinter dem Sofa mit einem Buch, hörte wie der Schlüssel im Schloss drehte, hörte wie glatte Sohlen abgestreift wurden, hörte wie die Aktentasche auf den hölzernen Schemel neben der Tür gestellt wurde. Kahn roch den Teppich. Er sah die Haare, die Staubflocken hielten, Krumen, tote Fliegen.
Als die Mutter rief, kroch er hervor und lief ins Esszimmer, in dem der Vater schon am Tisch saß, mit hochgerollten Hemdsärmeln und einem Schweißfilm auf der Stirn. Über die offene Balkontüre zog Wind von der Straße nach oben, wölbte die Gardine. Ihr Schattenmuster schob sich in Rauten in den Raum, wölbte den Boden und den Tisch und das weiße Hemd.
Während Sie aßen, sank der Abend langsam vor die Scheiben, er trug einen süßen Geruch in die Wohnung. Der Tag löste sich auf, bis er als warme Erinnerung aus dem Zimmer zog und der Vater sich an den Geburtstag des Sohnes erinnerte.
Die Mutter hatte schon die Teller abgetragen und stand spülend in der Küche, ihr langer Schatten krumm unter der fahlen Lampe, als der Vater sich anzog, Kahn die Sandalen hinschob und ihn mit sich nahm, das braune Treppenhaus hinunter, in die Dunkelheit der Etagen, des Hofs, der Stadt. Der Asphalt war noch warm, die Luft schon kühl. Es gab kein Ich mag nicht gegen die Begeisterung des Vaters, nur das Heimweh nach der spülenden Mutter, dem Bett, der weißen Decke, dem Kissen.
Der Vater führte ihn vorwärts, bergab, und die Wohnung lag bald hinter Kreuzungen und Bäumen.
Es wurde lauter, sie tauchten in eine Menge ein, braune Hosenbeine und weiße Waden, die Luft klang von vielen Stimmen, der sü.e Duft, nach Zuckerwatte und Popcorn, war jetzt stark und dicht. Die Hand des Vaters zog ihn voran und blieb stehen, löste sich von ihm und Kahn blieb allein in der Dämmergesellschaft fremder Schuhe und Kniekehlen. Rufen, Lachen und Gesang sank durch Haare und Stoffe wie durch Astwerk auf den Waldgrund. Die Mutter, im weißen Kleid und den müden Augen – weit fort. Und der Gedanke an den langsamen, ruhigen Tag – wie ein fremdes Leben. Da aber fand die Hand ihn wieder und zog ihn voran und die Furcht wich der Erleichterung. Die Beine lichteten sich. Von einer weißen Plattform hob ihn der Vater in die hohe Kammer eines Riesenrads. Es war dunkel geworden. Langsam schoben sie sich über die Fremden, über die Häuser, über die Stadt. Der Mond stand tief, unter ihnen umschlossen bunte Lichtpunkte das Feld aus weißen Scheiteln und grauen, braunen, schwarzen Hüten. Die Stimmen und Klänge waren jetzt fern, getrennt von ihnen, die in der Gondel im Himmel hingen. Er und der Vater, eng nebeneinander auf der einen Seite, gegenüber ein Einzelner, ein eleganter, schmaler Mann mit Hut in einem schwarzen Wollanzug. Der Vater gab Kahn Gebäck aus einer Papiertüte und bot sie dann, hoch oben, auch dem Fremden an, der schweigend kurz den Kopf schüttelte. Unter ihnen, die Stadt, die Erfolge des Vaters. Sein Zeigefinger, der in die Nacht stieß. Hier – die Klinik. Dort – die medizinische Fakultät. Da – das Haus, in dem er geboren war und da die Kirche, in der er die Mutter geheiratet hatte. Der Vater faltete sein langes Leben vor dem kurzen des Sohnes auf und ereiferte sich, wie er der Mann geworden war, wie er sich zu dem Mann gemacht hatte, der er jetzt war – entgegen aller Widrigkeiten, die das Elternhaus, die Kindheit und das Leben ihm dargebracht hatten. Nach vorn, immer nach vorn.
Wie er als Stillgeborener, als Nichtschreiender auf die Welt gekommen war. Wie er dann – schon tot geglaubt – geschrien und gelebt hatte. Wie er gelernt hatte, die Welt wie eine Gebrauchsanweisung zu lesen und zu befolgen. Wie er alle anderen überholt hatte.
Im Krieg den Aufstieg geschafft, das eiserne Kreuz! Sechzehn Kameraden, die ihm das Leben verdankten. Er, der dann von der Front zurückgekehrt war um sich dem Studium zu widmen, er, der Unzählbare in seiner Funktion als Mediziner behandelt und geheilt hatte.
In der Kabine war es dunkel und unter der breiten Krempe sah man von dem Fremden nur den Mund, wie eine Kerbe in die Haut geschlagen. Er reagierte nicht auf Vater und Sohn, nur sein Hals war, als der Vater vom Krieg sprach, um ein kurzes Stück verrückt.
Die Kammer hatte ihren Gipfel überschritten und näherte sich wieder der Dichte von Köpfen und Körpern. In der Nähe definierten sich schon Münder und Augenhöhlen, Hälse und dann greifende, haltende Finger. Die Stimmen wurden lauter, einzeln brachen Namen und Gelächter für kurze Momente durch den allgemeinen Lärm. Der Vater, Kahn und der Fremde tauchten ein, durchkreuzten und wurden der Menge dann wieder enthoben, in den kühlen, stillen Himmel.
Diesmal, als sie fast ganz oben angekommen waren, hielt das Rad in seinem Umlauf inne und für eine Minute wiegten sie über der Stadt. Die Dächer lagen silbern und fremd aufgereiht unter ihnen und Kahn suchte die Wohnung und die Mutter. Ein helles Quadrat, hoch und einsam in einer schwarzen Wand. Unter dem Dach, könnte man es anheben, die Mutter im Bett, wie von oben in ein Puppenhaus gelegt. Die Wände, dünne Trennlinien zum leeren Wohnzimmer, zur Küche, zum Kinderzimmer. Kahns leeres Bett, in dem er sonst um diese Zeit schon lange schlief. Er, im Riesenrad, der wie ein Spielender auf diese kleine Welt, die kleine Mutter, hinab sah.
Das Rad lief wieder an. Der Vater, der Großzügige, der gut gelaunte, las die Gebrauchsanweisung und sprach den Fremden noch einmal an. „Der Junge hat Geburtstag.“, sagte er und streckte wieder die Tüte aus. Der Fremde nickte, aber der Mund harrte weiter stumm über der Stadt und seine Hände lagen ihm steif und knochig im Schoß. Der Vater schob sich ein kleines Stück dem Fremden entgegen. „Können Sie nicht sprechen?“, die Härte in seinem Ton wurde zur Härte in Kahns Brust, der stille Atem, darunter das Herz. Neben sich, der schnelle Umschwung im Vater, schwarzes Wasser, das stieg und stieg. Kahns Blick lag auf den glänzenden Schuhspitzen des Vaters, tief unter sich auf dem Grund der Kabine, auf den Händen des Alten, die sich kurz hoben und das Jackett öffneten.
Die Stimme des Fremden war leise und rau, sie hing danach zwischen den engen Bänken, zwischen den Männern. Kahn erwartete die Welle, das Brechen der schwarzen Wand. Doch, das Rad lief wieder an und der Vater schwieg. Auch der Mann im Anzug saß nun wieder still, und dann, unten, stieg er grußlos in die Menschenmenge und verschwand.
Vater und Sohn fuhren noch einmal in die Höhe und wieder hinunter, aber das Fest war beendet.
Kahn achtete auf jede Bewegung des Vaters, wartete auf eine Auflösung, eine Richtung, der er folgen konnte, doch der Vater blieb stumm.
Ohne ein Wort hob er ihn unten aus der Gondel und schob ihn, hart, durch den schwülen Wald aus Waden und Stoff. Als sie wieder an die frische Luft kamen, lag die Straße vor ihnen.
Sie führte heimwärts. Den Hang hinauf, zur Wohnung, zum Bett, zur Mutter.
Vor ihnen kreuzte einer im Schein einer Laterne ihren Weg. Ein Einzelner, mit Hut, tief gebeugt, schreitend, der Mann aus dem Riesenrad. Die Schritte des Vaters wurden schneller. Er zog Kahn mit sich und als der Vordere um eine Ecke bog, zwang er den Sohn hastig voran, dass sie den Verfolgten nicht verloren. Sie folgten dem Mann in die schmale, fremde Gasse. Bald wuchsen die Häuser dicht und hoch um sie und der Mond fand nur noch dünne Löcher zwischen den Kabelsträngen. Aus den Häusern dampfte es und Wäschestücke hingen aus den Fenstern. Wieder schlossen fremde Beine ihn ein, drängten ihn vorwärts. Der Grund war schlammig, Abwasser sammelte sich, Gestank machte die Luft zu dick, sie einzuatmen. Die Männer trugen, trotz der gestauten Hitze, lange Mäntel und Hüte, schoben sich um ihn, schwarze Wände, aus denen, hoch oben, ernste, unbewegte Köpfe ragten. Knöchel reihten sich in geraden, blassen Bögen aus Lederschuhen, sie zogen wie auf Schienen. Die Hand des Vaters schob Kahn an den Rand und dann weiter, in Eile, vorwärts.
Manche Häuser hatten zur Gasse keine Mauern. Davor saßen Frauen auf Schemeln, über ihnen leuchteten nackte Glühbirnen. Aus den Häusern drängte es auf die Gasse, Innen und Außen lösten sich auf, alles war eins. Leise Stimmen strömten mit den Schritten der Männer. Die Frauen saßen still und starrten, und vor ihren Plastikschuhen liefen Essensreste in Kanälen.
Manche hielten Babys an ihre Blusen gepresst, von denen sah man nur die zerdrückten Köpfe.
Wie Wächterinnen saßen sie vor ihren offenen, gefliesten Wohnräumen, in denen auf den Böden, auf Tüchern, Fleisch, Kartoffeln und Rüben lagen. Dahinter standen Betten an Wänden, in denen weißhaarige Alte lagen. Einer saß auf seiner Bettkante, mit dem Fuß angelte er nach einem Schuh, der unter dem Bett lag. Ein Kind kroch eine Treppe hinunter. Beide bewegten sich langsam und taub und als Kahns Blick sie traf hielten sie still und blickten scheu und erschrocken zurück.
Er stolperte, die Hand des Vaters hielt. Blieb bindende Schnur zu allem, was so bleiben sollte, wie es war.
Sie trieben den Fremden bis die Straßen wieder breit und leer waren, sie kreuzten Plätze, umschattet von hohen, kahlen Kirchtürmen und tiefen Pappeldächern. Ihre Schritte hallten weit über die Flächen, in die Gehwege, Kahns undeutlich und schnell, die des Vaters einzeln und fest. Fenster zerrannen zu tausenden über ihnen. Nie schlossen sie zu dem Fremden auf. Nie sprach der Vater ein Wort, nur seine Finger schlossen sich um Kahns Hand und sein Blick drang in den verfolgten Rücken. Der Andere trug seine Gestalt rastlos durch die schlafende Stadt, er wechselte Straßenseiten, er passierte Brücken und Gärten, Schaufenster und Bänke, Licht und Schatten. Seine weißen Hände hielt er auf dem Rücken geknotet und in den dunklen Abgründen der Fassaden war es irgendwann nur noch dieser harte Fleck heller Haut, dem sie folgten.
Irgendwann, eine weiße Fassade, eine Mauer, ein halbrunder Durchgang. Spitze, schwarze Blätter aus einem verborgenen Garten, die gegen den Nachthimmel standen. Der dumpfe Klang einer Kapelle durch geschlossene Fenster. Der Alte blieb stehen, den Hut im Weiß leuchtender Buchstaben. Der Vater zog Kahn jetzt dichter an den Buckel heran.
Im näher dringen warf er schon von oben seinen Schatten auf die weißen Handknochen, die ihren Weg markiert hatten.
Zum ersten Mal drehte der Fremde sich zu ihnen um, der Hals krümmte sich nach oben und das Licht erhellte sein ganzes Gesicht. Ein Gesicht, weiß unter dem Hut, trübe Augäpfel über einer groben Nase. Der Blick des Alten stieß in das wartende Gesicht, als wären sie sich zuvor nie begegnet, als wäre die Nacht, die Verfolgung, Verschwendung gewesen.
Er senkte den Kopf wieder in den Schatten und drängte zurück. „Nun gehen Sie doch zur Seite.“ Vom Vater, in einer Stimme, die wie die eines Jungen klang: „Verzeihen Sie.“
Als er sich an ihnen vorbei schob roch es nach altem Obst, Tabak und Staub. Dann war der Alte im Durchgang verschwunden. Nur die Blattspitzen bewegten sich, während alles andere still stand.
Kahn und der Vater in der leeren Gasse. Der Vater hatte die Hand des Sohns losgelassen. Es lag etwas Unklares über ihnen, im Licht der Buchstaben, langsam entziffert, das Wort Palacio, das keinen Sinn ergab. Kahn wartete. Die Füße in den Sandalen, auf dem kalten Asphalt. Er fasste nach oben, die Hand des Vaters hing leer in der Luft, griff nicht zurück.
Sie standen still.
Dann von oben: „Du wartest hier.“
Es waren die ersten Worte, die der Vater seit der Fahrt im Riesenrad an ihn richtete. Sie klangen fern, wie aus großer Höhe in einen Schacht gesagt, als kämen sie aus Kahns eigenem Kopf. Er spürte den Vater davongehen, verschwinden in den fremden Eingang, in das Halbrund, das in den dunklen Garten führte. Du wartest hier. Die Musik war verstummt, aus den fernen Fenstern, Stimmen, Gelächter. Die plötzliche Angst, verlassen zu sein an diesem fremden Ort, den Vater verloren zu haben. Bis die Furcht vor der Gasse größer wurde, als die Furcht vor dem Zorn des Vaters.
Die Schritte in den dunklen Durchgang, der fremde Geruch. Dann, endlich, der Rücken, die vertrauten Hände, eng im Schatten der kalten Mauer. Dahinter lag ein Hof im Licht goldener Laternen. Große Palmen in steinernen Wannen mit schweren Blüten, die Brunnenfigur eines Knaben, der einen Fisch hielt. Kahn sah, was der Vater sah. Da stand der Fremde, im Hut, im Anzug, nicht mehr allein. Vor einem hohen, schwarzen Tor stand ein anderer in einem weißen Hemd, in der Hand der glühenden Punkte seiner Zigarette.
Worte die unverständlich blieben. Der Vater blieb im Dunkel, als der Andere auf den Alten zu trat.
Der Vater blieb im Dunkel, als eine Hand den Alten griff, als sein Zurückweichen ein Stolpern wurde.
Der Vater blieb im Dunkel, eng an der kalten Wand, als der Alte auf den Boden schlug.
Der Hut ging dabei verloren, der Kopf des Alten, kahl, ein schwerer Ball unter den Tritten, glänzende Schuhspitzen, die den grauen Kopf trafen, als sollte dieser vom Rest des Körpers abbrechen.
Aus dem Dunkel des Durchgangs scheint der Angreifer wie eine Hand, eine Hand, die ihren Schatten groß an eine Wand wirft, eine Geschichte, ein Spiel.
Dann, Rufe, die von der Gasse durch den Gang hallen, der Einzelne, der kein Ende findet, bis von dem Fremden nur noch der Hut und der leere schwarze Anzug auf dem Boden zurückbleibt, aufgespreizt, wie hingeworfen.
Darüber die Hand. Ihr Schatten zieht sich über die ganze Fassade, ein Hundekopf, ein Wolf, über den Fenstern deren weiches Licht durch die Spitze feiner Gardinen drang. Der, den sie verfolgt hatten, lag still.

Wieder, die Rufe, schon nah am Durchgang, Stimmen, die kaum älter klangen als die der Kinder im Hof. Die Hand beugt sich über den Anzug, schlägt ihn auf, fischt in den Taschen, dreht sich dann. Im Näherkommen kurz das Knacken eines Feuerzeugs, eine Flamme vor einem jungen Gesicht. Der Vater drängt zurück, doch da ist die Wand.
Im grauen Hof markiert die Glut der Zigarette das Nahen, Glut, die von der Brust zum Gesicht zieht. Rauch, ein dünnes weißes Band, steigt still nach oben.
Draußen startet ein Auto, für einen Moment fahren die Lichtkegel durch den Durchgang, auf den Hof, wie Zeiger drehen sich ihre Schatten mit dem Licht. Der Anzug auf dem Boden, ein leeres Bündel.
Vom Eingang tönen jetzt die Stimmen der Freunde, Gelächter.
Der Einzelne bleibt vor ihnen stehen. Nah vor dem Vater, zuckt er nach vorn, der Vater zurück. Der Fremde lacht. Wieder das Knacken des Feuerzeugs, die Flamme zwischen den Gesichtern, dem Vater, dem Fremden. Der Blick des Vaters ist der der Mutter, liegt tief auf der fremden Brust.
Seine Hand ist kalt, sie drückt Kahn nach hinten.
Gelächter. Etwas fällt vor ihnen auf den Boden, Metall, eine Münze.
„Könnten Sie die Ambulanz rufen, da hinten ist einer gestürzt.“
Das Lachen, das lachende gelbe Gesicht hinter der Flamme. Die kleinen Zähne.
Der Vater bückt sich. An der Hand, in der die Zigarette glüht, vorbei. Glatte Schuhspitzen, die weißen, langen Finger des Vaters am Boden, die suchen, finden, aufheben.
Endlich wich der Fremde zurück. Endlich, Schritte die sich entfernen, Stimmen, Gelächter das in der Gasse verschwand, dann Stille.

Erst dann, als sie allein waren, trat der Vater, der Arzt, aus dem Schatten. Er stieß mit der Schuhspitze an den Anzug. Aus einem Ärmel, eine weiße, einzelne Hand. Kahn bleibt hinter ihm. Sieht, wie sich vor dem Vater aus dem Dunkel ein weißes Gesicht dreht, auf der Stirn, am Haaransatz, eine Linie wie ein H, aus der es blutet. Mühsam öffnet der Alte seinen Mund, graue Zähne über den Pflastersteinen, hustet schwarze Flecken auf den Boden, auf den Schuh des Vaters.

Der Vater weicht zurück, dreht sich. Sein Blick trifft den Sohn, der nicht geblieben war, wo er sollte. Etwas gräbt sich in diesem Moment in das Gesicht des Vaters, etwas, was sich in Kahn festsetzt und bleibt. Er umschlingt das braune Hosenbein und vergräbt sein Gesicht in dem harten Knie. Will um Verzeihung bitten und weiß nicht wie.
Der Vater greift ihn von oben, reißt ihn herum.  In seinen Händen steckt die brechende Wand. Ein „DU“ fährt auf Kahn hinunter, eine Hand, die ihn davon stößt. Dann jagt der Vater davon, kein Blick zurück. Hinter ihnen, die Stille des Alten im Licht der Laternen, vor dem Jungen, der den Fisch hält. Als eine Tür schlägt wird der Vater schneller. Kahn steht auf, hinterher, durch den Durchgang, die Gasse, die Nacht. Die schwarze Spucke des Alten wie Schimmel auf dem Schuh des Vaters, langsam verlaufen und getrocknet. Kommt und geht im Takt der Schritte.

Irgendwann blieb der Vater stehen. Erst da erkannte Kahn das Haus, als er den Schlüssel im Schloss sah, die Hand des Vaters, die ihn drehte, das braune Treppenhaus im Morgenlicht. An seinem Rücken klebte das nassen Hemd, darunter, dunkle Felder auf den Armen, blaue Flecken, die noch rot waren, bald violett, gelb wurden.

Kahn wurde krank. In den Tagen die folgten, lag er alleine zwischen Schlaf und Wachen unter einer schweren Decke. Manchmal hörte er, wie die Eltern im Nebenzimmer aßen. Das Schaben ihrer Messer und Gabeln mischte sich mit dem Wirren der Gassen, der Beine, der Hände, die sein Zimmer füllten.
Das Riesenrad.
Die große, große Hand.
Das Dunkel vor der kalten Wand.
Der Fremde, das Feuerzeug.
Der Alte, am Boden.
„DU“.
Die Geräusche, die Hitze, sie brachen aus seinem Geist, lauter und schneller bis er schlief und hochschreckte, bis er rief aber sein Hals bitter war und die Zunge zwischen den Zähnen klebte und kein Laut kam. Die Mutter brachte ihm, wenn sich die Wohnungstüre hinter dem Vater geschlossen hatte, kaltes Wasser und in Milch eingeweichtes Brot. Sie saß dann kurz an seinem Bett, legte die kühle Hand auf seine Stirn, sie gab ihm zu trinken und zu essen, sie lüftete die Decke. Einmal fragte er sie, was mit ihm sei.
„Du bist nur krank. Das geht vorbei.“ und sie ging und er versank wieder in der Enge seiner Erinnerungen.
Mittags, wenn die Sonne langsam durch das geöffnete Fenster stieg, hing davor ein nasses Küchentuch, das im Wind schlug und Kälte brachte. Er schwitzte und fror.
Vom Vater sah er nur einmal, abends, durch den Türspalt, im Dunkel des Gangs, einen weißen Arm.
Er war nur krank und es ging vorbei. Nach einer Woche hörten die Träume auf, bald konnte er wieder aufstehen und mittags mit der Mutter am Fenster sitzen. Die Welt war die selbe geblieben. Die Fliegen starben, draußen war es heiß, die Wiese färbte sich braun, Wolkenbänder drückten auf den Hof. Kinder spielten, Kahn und die Mutter aßen Beeren, hörten sie singen und sahen sie rennen.
Alles war gleich und doch schien Kahn das Leben anders. Etwas hatte sich verändert und es dauerte eine Weile, bis er erkannte, dass es der Vater war. Wenn er jetzt um 07:30 in die Tiefe des Treppenhauses entstieg, krümmte sich der braune Rücken und die Haustür schloss sich zaghaft und leise hinter ihm. Abends aß er schweigend und saß dann, die Zeitung haltend, auf dem Sofa. Er sprach nicht mehr. Wie aus Einzelteilen zusammengesetzt, aus Händen, einem unbeweglichen Kopf, einem steifen Körper. Er reagierte nicht, wenn man ihn ansprach, er bewegte die Augen nicht, wenn er las. Der, zu dem der Vater sich gemacht hatte, zu dem er sich, gegen alle Widrigkeiten, die ihm das Elternhaus, die Kindheit, das Leben bereitet hatte, gemacht hatte, war verschwunden.

Einmal fragte Kahn die Mutter, ob denn auch der Vater nun krank war. Sie sah ihn aus dem Lehnstuhl heraus an, dann nickte sie. „Er ist zu weich für die Welt.“ sagte sie irgendwann.
„Er kommt schon zurück.“

In diesem Sommer waren die Nachrichten voll von der Geschichte eines verschwundenen Geschwisterpaars, Heinrich und Elfriede Rössle. In einem Randbezirk der Stadt waren beide in einer Nacht aus dem Kinderzimmer in der elterlichen Wohnung verschwunden und seitdem nicht mehr aufgetaucht. Das Radio zählte die Tage, an den Nachmittagen wurde täglich eine Sondersendung übertragen, Eltern und Lehrer sprachen. Heinrich, der Schmetterlinge sammelte, der über den Winter einen verletzten Vogel aufgezogen hatte. Die Mutter drehte jedes Mal das Radio lauter und blieb dann, nach vorne gebeugt sitzen, bis die Sendung vorbei war. Ihr Mitgefühl galt den Eltern. „Lass du mich nie allein.“, und er sah die Mutter an seinem leeren Bett stehen, mit dem gleichen konzentrierten Blick, der sonst dem Radio galt.
Ein Bild der Geschwister wurde über die Zeitungen verbreitet. Sie standen darauf auf einem grauen Wiesenhügel, im nahen Hintergrund scharfe Berghänge. Er in kurzen Lederhosen und die Schwester in einem bestickten Kleid. Der Bruder legte den Arm um die Schultern der Schwester, in der freien Hand hielt er einen kleinen karierten Pappkoffer. Für Kahn war es das Bild ihrer Abreise, eine Postkarte, ein Abschiedsgruß.

Die Geschwister Rössle wurden ein Fixpunkt in diesen Wochen. Abends im Bett, wenn die Eltern nebenan schwiegen, dachte sich Kahn, wie die zwei Kinder hoch in den Bergen auf der Wiese lebten, der kleine Koffer voll mit Beeren und Schmetterlingen. Jeder der abgezählten Tage, ein Sieg.

Am Donnerstag der zweiten Woche nach dem Verschwinden der Geschwister wachte er zum ersten Mal auf, als die Eltern im Wohnzimmer die Lichter ausschalteten. Er hörte, wie sich die Schlafzimmertüre schloss. Er lag wach und beobachtete die Äste, die die Straßenlaternen auf die Zimmerdecke zeichneten. Er dachte sich Heinrich, der neben der schlafenden Schwester lag, über ihnen der Himmel.

In der zweiten Nacht, in der er erwachte, stand er auf. Die Wohnung lag stumm um ihn, wie gezeichnet. Da gab es plötzlich keinen, der ihn sah. Er strich durch den Flur, in die Küche, ins Wohnzimmer.
Die Schuhe des Vaters neben der Haustüre.
Die Schürze der Mutter am Nagel in der Wand.
In den Schränken pressten sich Kleider, Hemden, Mäntel auf Bügeln, Tassen und Teller, in Pappkisten, eingeschlagen in Stoffe und Papier. Bücher hinter Glastüren.
In der Küche, im Zeitungsständer das Bild der Geschwister.
Heinrich und Elfriede auf der Bergwiese, während unten die Stadt schlief. Kahn, am Fenster, während unten die Stadt schlief. Auf der Fensterbank, im Staub, lagen die harten Körper der gestorbenen Fliegen. Er sammelte sie in der linken Hand, mit der rechten hob er sie an den Flügeln hoch.
Er setzte sich in den Lehnstuhl der Mutter. Die Fliegen knirschten zwischen den Fingern, die Wohnung roch noch leicht nach dem Tag, nach Kaffee, Rauch und Waschmittel.
Die silbernen Wände, kurze Schatten, nichts bewegte sich.
Seine Beine auf dem kalten Leder, irgendwo bellte ein Hund. Er griff die Lehne mit der rechten Hand, wie die Mutter es tat und wartete.
Der Hof als leeres Quadrat unter dem Küchenfenster.

In einer Nacht fand er nur eine einzelne Fliege. Er trug sie zum Lehnstuhl, in der Häuserwand gegenüber waren die Fenster schwarz.
Unten im Innenhof, die helle Laterne.
Irgendwann. Die Buben trugen in der freien Hand jeweils ein Köfferchen, kurze Hosen, dünne weiße Beine. Kahns Herz schlug schneller, aber es war nur die Familie vom Metzger. Die Frau zog die Zwillinge um die Ecke, vom Hof.
Kaum waren die drei verschwunden, da ging beim Metzger das Licht an. In dem hellen Viereck stand der große weiße Tisch, der Metzger, in der weißen Schürze legte weiße Teller rund herum.
Männer betraten den Raum weiter hinten, durch die braune Holztür.
Sie sammeln sich um den Tisch, sie reihen sich vor dem Fenster auf. Ihre Köpfe sind leer umzeichnete Schablonen mit weißen Ohren. Sie sitzen in einer Reihe um einen Tisch. Über ihren Köpfen hängt eine bunte Girlande aus Papier. Sie spannt sich durch das ganze Zimmer, eine rote dünne Schnur aus bunten Rauten. Der Tisch ist mit einem Laken belegt, Kahn sieht ihn von oben, ein weißes Feld mit den runden, weißen Tellern. Der Metzger steht und spricht, die anderen hören ihm zu. Kahn denkt sich die tiefe Metzgerstimme, er war schon manchmal mit dem Vater in seinem Geschäft gewesen. Die Mutter fragt dann abends, beim Essen, nach dem Metzger. Sie hat Angst vor ihm, aber sie fragt und sie schaudert, wenn der Vater antwortet.
Wenn die Zwillinge im Hof spielen, schließt die Mutter die Fenster. Der Metzger spricht, während es draußen hell wird. Die anderen tragen Anzüge, nur der Metzger trägt seine weiße Schürze. Die anderen essen von den weißen Tellern, während der Metzger spricht.
Einer isst nicht, sein Teller bleibt weiß. Erschrocken erkennt Kahn ihn, den Mann aus der Nacht, aus dem Hof. Kahn denkt, dass er sich alles merken muss, jedes Gesicht, jede Geste.
Er fixiert die Köpfe, aber da sehen sie alle gleich aus. Sie wechseln die Plätze. Dann singen sie, er kann sie nicht hören, aber er sieht die Münder, er sieht wie sie alle sich zusammen öffnen und schließen. Nur der Fremde sitzt dazwischen und bleibt still, sein Blick, unter der Hutkrempe, durch das Fenster, über den Hof, zu Kahn.
Die Männer sitzen und ihre Münder bewegen sich und Kahn sitzt hinter der schwarzen Scheibe und kann nicht weg, kann nur abwarten. Bis sie aufhören und aufstehen und das Fenster verlassen.
Zurück bleibt ein leerer Tisch, weiß, mit einem weißen Teller.

In seinem Rücken öffnete sich leise die Schlafzimmertüre der Eltern. Kahn, dicht hinter der hohen Lehne, bleibt unsichtbar. Leise Schritte im Flur, dann das leise Schließen der Haustüre. Der Vater steigt im Hemd die braune Treppe nach unten während Kahn und die Mutter noch schlafen.

Leseprobe: Martina Berscheid – “Die Klassenkameradin”

Die Klassenkameradin // Martina Berscheid

1

Uwes Atem stank nach Bier und Einsamkeit.
„Hey, setzt du dich zu mir?“
„Keine Zeit.“
Eva schnappte sich den Spüllappen von der Theke und eilte zu dem Tisch am Fenster, den sie gerade abgeräumt hatte. Sie wischte über die hölzerne Platte, wo sich die Ränder von Biergläsern in den braunen Anstrich gefressen hatten, über Ecken und Kanten, von denen die Farbe abplatzte. Die Vorhänge verströmten den Geruch nach Tabak, obwohl hier schon lange niemand mehr rauchen durfte. Gelbstichig geworden, schleifte der ehemals weiße Webstoff träge über die Fensterbank. Wie zerschlissen er war. Darüber konnten auch die zweiundzwanzig Kornblumen nicht hinwegtäuschen, die sich auf der ausgefransten Borte aneinanderdrängten. Kreuzstich, mit ungeübter Hand eingestickt. Sie hatte sie schon oft nachgezählt, einfach so. Als könnte sich ihre Zahl ändern. Außer dem Wetter änderte sich gar nichts, weder hier in der Alten Buche noch in Kiesbach. Sie hätte jetzt Lust auf eine Zigarette. Oder einen Schnaps. Am besten beides, allein und weit weg. Als sie sich aufrichtete, stieß sie sich den Kopf an der Lampe. Sah aus wie ein Nachttopf ohne Henkel. Und dann noch orange.
Sie schob die Stühle an den Tisch. Die Lehnen hatten die Form von Herzen. Oder Pobacken, ganz wie man wollte. Heute waren wenige Gäste da, selbst am Stammtisch nur zwei. Wie sie da saßen, mit aufgefächerten Karten vor wichtigen Mienen, als ginge es um was. Die Schmelzers hockten in ihrer Ecke in einträchtiger Schweigsamkeit. Und dann natürlich Uwe, der sich am Tresen festklammerte. Immerhin war er noch nüchtern genug, um den Takt des Schlagers mitzuklopfen, der aus dem Radio dudelte. Jetzt eine ihrer alten Metalplatten auflegen. Sie hatte Gerda sogar gefragt, aber die hatte den Kopf gewiegt und gemeint: „Ich würd ja, aber die Gäste …“
„Eva! Zahlen, bitte“, rief Herr Schmelzer und wedelte mit seinem kunstledernen Portemonnaie. Wie die meisten Besucher der Alten Buche nannte er sie wie selbstverständlich beim Vornamen. Sie ging zum Ecktisch der Schmelzers. „Neun Euro neunzig.“
„Stimmt so.“ Er zählte ihr zehn Eineuromünzen in die Hand.
„Dankeschön“, sagte sie und zwang die Mundwinkel nach oben. Herr Schmelzer hakte beide Daumen hinter die Hosenträger, dehnte sie wie zwei Schleudern und ließ sie knallen.
„Gut war ‘s.“
Als ob er nicht zwei Wiener Würstchen aus dem Glas, sondern ein Rinderfilet verspeist hätte. Das Brot hatte er mal wieder liegen gelassen. Daneben klebte Senf wie ein frisch abgelegter Hundehaufen.
„Richte ich aus.“
Sie stellte das Bierglas, das Weißweinglas mit Frau Schmelzers pinkfarbenem Lippenabdruck und den Teller auf das Tablett. Frau Schmelzer drehte an ihrem goldenen Ehering und beobachtete jeden ihrer Handgriffe. Als wollte sie überprüfen, ob Eva alles richtig machte. Erst als sie fertig war, erhob sich das Ehepaar stühlequietschend.
„Schönen Abend noch“, wünschte er und watschelte, seine Gattin im Schlepptau, zum Ausgang.
„Ihnen auch.“
Eva trug das Tablett zur Theke. Uwe brabbelte unablässig auf Gerda ein. Sein fleckiges Hemd sonderte den Mief tagelang aufgesogenen Schweißes ab. Gerdas Hand zitterte am Zapfhahn. Ihr Unterarm war scheckig wie das Fell eines Leoparden. Zwischen ihren rostrot gefärbten Strähnen schimmerte die Kopfhaut. Dass die sich das noch antat, ganz allein, mit fast siebzig. Aber weil Gerda es sich antat, hatte Eva einen Job. Den sie brauchte. Uwe beugte sich vor. „Alles roger?“
Spuckeblasen zerplatzten an ihrem Hals. Sie presste die Lippen zusammen, trat einen Schritt zurück.
„Eva hat Feierabend.“ Gerda wies mit dem Kopf zur Tür. Ist doch nichts los, bedeutete ihr Blick. Hau schon ab.
„Schaaaade“. Uwes Oberlippe glänzte.
„Hier Uwe, dein Pils.“
Gerda knallte das Bierglas auf den Tresen, dass der Schaum über den Rand schwappte, und nickte Eva zum Abschied zu.

Draußen zog Eva die Tür hinter sich zu. Der Abend war drückend. Aschgraue Wolken ballten sich am Horizont. Darunter kauerte Kiesbach, eingepfercht von Feldern und Hügeln. Im Osten bohrten sich Hochspannungsmasten fischgrätig in den Himmel, im Westen erstreckten sich Wald und Wiesen. Kaum zu glauben, dass ein paar Kilometer dahinter die Stadt anfing. Sie fröstelte und zog die Strickjacke über. Trotz des aufkommenden Windes war sie froh, ein paar Schritte zu gehen. Sie holte das Handy aus der Tasche. Kurz vor neun. Keine Nachricht. Sie schaltete das Telefon aus. Für Matthias’ Kontrollanruf war es ohnehin noch zu früh. Der würde erst gegen 21.30 Uhr kommen, eine halbe Stunde, bevor die Buche schloss. Da war sie längst zu Hause. Die Straße führte abwärts am Bolzplatz vorbei. An seinen Rändern wuchs Unkraut. Wenige Schritte weiter begann der Wald. Auf dem Parkplatz davor tauchte ein roter Kleinwagen seine Schnauze in die Brennnesseln, als schämte er sich für die Rostflecken an der Kühlerhaube. So einen hatten sie auch mal, in grünmetallic. Es hatte sie geschmerzt, als Matthias den Wagen kurz nach Charlys Geburt gegen einen neuen Kombi eingetauscht hatte. Weil sie gewusst hatte, dass damit eine Zeit endete, bevor sie richtig begonnen hatte. Eva kramte in ihrer Tasche nach ihrem MP3-Player, nur um festzustellen, dass sie ihn vergessen hatte. Sie kickte gegen eine platt gefahrene Coladose. Scheppernd schlitterte sie über den Asphalt, bis ein Schlagloch sie bremste. Zu beiden Seiten der Straße markierten Zäune das Sperrgebiet des Spießertums. Dahinter standen weiß verputzte Häuser mit Blumenkästen vor den Fenstern, aus denen rosa Geranien quollen. Evas Geranien waren rot. Das Brummen eines Rasenmähers fräste sich durch die Stille. Um diese Zeit. Dabei wussten die Kiesbacher doch sonst immer, was sich gehörte und was nicht. An der Kreuzung zur Talstraße blieb sie stehen. Links oder rechts. Beide Wege führten nach Hause. Der Linke dauerte länger, der Rechte kürzer. Also links. Nach ein paar Schritten bereute sie ihre Entscheidung. Die Lauer, gelegentlich Besucherin der Alten Buche, tratschte mit ihrer Nachbarin. Die Stockrosen neben ihr beugten sich neugierig über den Zaun. Am liebsten wäre Eva umgekehrt. Nein, damit machte sie sich nur lächerlich.
„Diese schwüle Suppe macht mich fertig“, klagte die Lauer.
„Mich auch. Hoffentlich kommt heut Nacht mal was runter.“ Die Nachbarin deutete zum Himmel und verzog das Gesicht, als hätte sie Zahnweh. Die Lauer schnaubte zustimmend. „Letztes Jahr ist mir der Garten ersoffen, und diesen Sommer verdorrt alles.“
Zur Bekräftigung scharrte sie über ihren struppig gelben Rasen. Zwischen ihren Zehen wucherten violette Plastikblumen.
„Guten Abend“, sagte Eva laut.
Die Frauen zuckten zusammen. Die Lauer taxierte sie. Ihre aufgemalten Augenbrauen verliehen ihrem Gesicht einen Hauch von Spott.
„Grüßen Sie Ihren Mann“, rief sie. „Ich komme diese Woche noch zu ihm in den Laden. Brauche Karten für meinen Geburtstag.“
„Mach ich.“ Einen Dreck würde sie tun.
Als sie die Frauen vorbeiging, spürte sie deren Blicke im Rücken. Sie bog in eine Straße, die zum ursprünglicheren Teil Kiesbachs gehörte. Ausgemergelte Kletterrosen klammerten sich an altersfleckige Fassaden. In den Vorgärten lagen sich umgestürzte Gartenzwerge wund. Zu verkaufen, stand in roten Lettern auf einem Pappschild hinter einem blinden Fenster. Sie blieb stehen. Das wild wuchernde Gras und das spröde Holz des Balkongeländers erinnerten sie an ihr Elternhaus, das drüben in Hirschweiler gegen den Verfall kämpfte. Wie ihr Vater im städtischen Altenheim. Über den buckligen Dächern platzte der Himmel auf. Für einen Moment gewährte die Sonne dem Tag noch ein paar Strahlen, bevor sie sich wieder hinter schwarzen Wolken verschanzte. Der Wind frischte auf. Auf Evas Armen bildete sich Gänsehaut.
Sie zog die Strickjacke fester um sich und beschleunigte ihren Schritt. Ignorierte das strammstehende Männchen der Fußgängerampel, überquerte die Fahrbahn, ohne nach links und rechts zu schauen, um diese Zeit kam ohnehin kein Auto. Ihr Haus thronte auf einer Anhöhe. Sein größter Vorteil war, dass es nur eine Nachbarin gab. Eva ging an deren Hecke vorbei. Daneben, im Licht der Lampen, die den Weg zum Eingang flankierten, posierte das Haus. Schmal und hochbeinig, die Fenster mit blauen Rahmen, die Haustür lippenstiftrot. Sie hatte Matthias nie gesagt, dass sie beides scheußlich fand. Eine Vorstadtpomeranze, dachte sie. So wie ich. In der Ferne zuckte ein Blitz über den Himmel.
Die Haustür öffnete sich. Matthias’ Konturen zeichneten sich vor dem erhellten Flur ab.
„Da bist du ja schon. Ich hab gerade versucht dich anzurufen, aber dein Handy war aus.“
„Ich musste mir ein bisschen die Beine vertreten.“
„Okay. Aber ich mag es nicht, wenn du abends allein …“
„Es ist doch nicht mal dunkel.“
Sie blieb am Gartentor stehen, schaute Richtung Horizont, wo ein weiterer Blitz den Himmel zerriss.
Matthias kam auf sie zu. „Was ist?“
Seine Stimme vibrierte vor Ungeduld. Sie unterdrückte ein Seufzen und folgte ihm ins Haus.
„Hast du Hunger?“, fragte er.
„Ich muss duschen.“
Oben nahm sie ein paar CDs aus dem Regal, schnappte den Palyer und schloss sie sich im Bad ein. Sie entschied sich für Metallica, stellte den CD-Player an und regelte die Lautstärke so hoch, dass das Dröhnen der Bässe selbst das Rauschen der Dusche übertönen würde.
Und Matthias’ Rufe.
Eva warf ihre Kleider auf den Boden, stieg in die Kabine und drehte auf. Ließ sich berieseln, von der wunderbaren Mischung aus Wasser und Musik, so lange, bis der Ärger des Tages abgewaschen war.

2

Das Gewitter hielt sie wach. Eva starrte in die Dunkelheit. Vorsichtig, damit das Bett nicht quietschte und Matthias aufweckte, drehte sie sich auf die Seite. Es hatte keinen Sinn. Besser aufstehen. Ein Glas Wasser trinken. Oder ein Bier. Sie schlich zur Tür, schloss sie lautlos hinter sich. Auf Zehenspitzen tasteten sich ihre Füße durch den Flur, die Treppe runter, in die Küche.
Sie knipste die Lampe an und holte sich ein Bier aus dem Kühlschrank. Mit einem Schnapp sprang der Verschluss der Flasche auf.
Eva nahm einen gierigen Zug. Sie setzte sich an den Küchentisch, auf Charlys Platz, der seit sechs Wochen leer geblieben war. So lange hatte ihre Tochter sie nicht besucht. Sie legte die Hände auf das spröde Holz der Tischplatte. „Wenn du willst, kaufen wir einen Neuen“, hatte Matthias kürzlich angeboten.
Das kam nicht infrage. Der Tisch war das einzige Möbelstück, an dem sie hing. Er hatte schon in der Wohnung über Matthias’ Geschäft gestanden, in der sie anfangs zu dritt gelebt hatten.
Sie fuhr mit den Fingern über die raue Oberfläche, ertastete seine Narben: Kerben von Charlys Löffel, den sie von sich geworfen hatte, wenn sie ihren Brei nicht essen mochte, Buchstaben und Zahlen, die sich durch Papier ins Holz gedrückt hatten, Schnitte von abgerutschten Küchenmessern. Sie erinnerte sich an eine jener Nächte, in denen Charly als Baby stundenlang geschrien hatte, in denen Matthias aufgestanden war, damit sie ein paar Stunden Ruhe hatte. Die sie nicht fand. Sie hatte die beiden in der Küche gefunden, an diesem Tisch, sie schliefen, Vater und Tochter, Matthias hielt noch das Fläschchen in der Hand.
Er war ein guter Vater. Damals wie heute.
War sie eine gute Mutter?
Sie trank einen großen Schluck.
Es war auch eine schlaflose Nacht gewesen, in der sie an dem Tisch gesessen hatte, das weiße Plastikstäbchen in Händen, auf dessen Sichtfenster zwei rosa Streifen erschienen waren. Sie hatte sie angestarrt, und alles in ihr hatte „Nein!“ geschrien. Nicht jetzt. Nicht mit neunzehn. Matthias hingegen war überglücklich gewesen, er schien nicht den geringsten Zweifel gehabt zu haben, mit einundzwanzig der Vaterrolle gewachsen zu sein. Er hatte ihr einen Heiratsantrag gemacht. Ein paar Jahre später, nach dem Tod seiner Mutter, das Haus gebaut. Sie zahlten noch heute dafür. Und sie hatte alles geschehen lassen. Die Weichen waren gestellt, für dieses Leben. Und der Zug zuckelte dahin, durch die immer gleiche Landschaft, und sie wartete darauf, irgendwo anzukommen. Manchmal war sie nicht sicher, ob sie überhaupt eingestiegen war oder immer noch am Bahnsteig wartete. Aber ihre Tochter hatte Eva vom ersten Tag an geliebt wie niemanden sonst. Hatte die Zeit mit ihrem Kind genossen und versucht, tapfer zu sein, als Charly vor knapp zwei Jahren auszog. Und dennoch … Liebe und Schuld waren aus dem gleichen Stoff. Sie stand auf und blickte nach draußen. Ein paar Fenster waren erleuchtet, die Straßenlaternen glimmten. Der Donner grollte lauter, wütender. Das Gewitter tobte direkt über Kiesbach.
Unvermittelt trommelte Regen aufs Dach. Sollte das Kaff doch absaufen. Sie würde hier oben stehen und zusehen.
Ein weiterer Donnerschlag krachte. Und dann erloschen die Lichter. Draußen und drinnen. Eva blickte in die Schwärze. Sie fröstelte. Als wäre die Nacht ein Wesen, das ihre Haut streifte.
Ihre Finger umschlossen den Hals der Flasche. Vorsichtig setzte sie sie an die Lippen und trank sie bis auf den letzten Tropfen leer.
Vielleicht sollte sie wieder zurück ins Bett. Auch wenn sie nicht schlafen konnte.
Plötzlich hörte sie Schritte im Flur. Sie lauschte. Hatte sie sich getäuscht? Nein. Da kam jemand näher.
Ein Einbrecher? Unmöglich. Nicht bei diesem Wetter. Nicht mit Sicherheitsschlössern und Alarmanlage. Aber die brauchte doch Strom …
Sie hielt den Atem an. Die Tür öffnete sich mit einem Klicken. Stille. Zögerte er? Überlegte es sich anders?
Mach schon, dachte sie. Komm rein.
„Bist du da?“
Wie rau seine Stimme klang. Als wäre sie permanentem Widerstand ausgesetzt, an dem sie sich reiben musste.
„Ja, ich bin hier.“
„Wo genau? Wie du vielleicht bemerkt hast, haben wir Stromausfall.“ Ein heiseres Lachen.
„Ich stehe am Fenster.“
Sie horchte auf die Schritte, die sich ihr näherten. In ihrem Magen kribbelte es. Jetzt hörte sie ihn Luft holen. Ihre Nase erhaschte einen Hauch von Menthol.
„Da ist der Blitz irgendwo eingeschlagen.“
Sei still, dachte sie. Komm einfach her.
Er berührte ihren Oberarm. „Da bist du.“
„Und wer bist du?“, hörte sie sich sagen.
„Nur ein Mann.“
Obwohl es dunkel war, schloss sie die Augen. Nur ein Mann. Sie tastete hinter sich nach der Fensterbank, stellte die Flasche darauf. Dann zog sie ihn zu sich heran. Vergrub ihr Gesicht an seiner nackten Brust. Der Regen prasselte heftiger. Die Finger des Mannes wanderten ihren Arm hinauf, verharrten kurz auf der Schulter, strichen über ihren Hals. Seine andere Hand lag auf ihrem Rücken. Sie spürte die Wärme seiner Haut durch den dünnen Stoff des Nachthemdes. Sein Atem rauschte an ihrem Ohr, verlor sich in ihrem Haar. Seine Lippen waren warm und weich.
„Du schmeckst nach dem Bier, das ich heute Abend nicht hatte“, raunte er.
„Selber Schuld.“
Er lachte leise.
Wie einfach es war in diesem Moment. Ihn zu spüren, zu riechen und zu schmecken. Zu lieben.
Nicht denken.
Seine Hand fuhr unter den Saum des Nachthemdes.
Plötzlich hielt er inne. „Verdammt.“
Sie riss die Augen auf.
Im grellen Licht der Küchenlampe traten die Konturen des Raumes so scharf hervor, dass es wehtat.
Matthias blinzelte. Das Haar stand ihm in alle Richtungen ab.
Sein Gesicht war gerötet. Vor Scham?
Sie schob seine Hand weg, die noch auf ihrem Oberschenkel klebte.
Matthias trat einen Schritt zurück. Er räusperte sich. „Magst du noch ein Bier? Ich hol schnell zwei aus dem Keller …“
„Nee, lass mal. Ich hab das schon nicht vertragen.“
Sie wandte sich ab und schaute aus dem Fenster, wo ihr das Dorf höhnisch entgegenfunkelte.
Das Gewitter verzog sich mit einem resignierten Brummen, und der Regen hörte so hastig auf, wie er eingesetzt hatte. Sie öffnete das Fenster, atmete einen Schwall frisch gewaschene Luft.
„Gibst du mir die Flasche?“
„Was?“ Sie drehte sich um.
„Na ja, ich geh doch eh in den Keller.“
Sie reichte ihrem Mann die Flasche.
Er lächelte scheu. „Das eben …“
„Ich bin furchtbar müde“, log sie. „Gute Nacht.“
Auf wackligen Beinen ging sie an ihm vorbei. Sie stellte sich schlafend, als er eine halbe Stunde später ins Bett kam, und auch, als er am Morgen aufstand und ihr einen Kuss aufs Haar hauchte.

3

Nachdem Matthias endlich die Haustür zugezogen hatte, schlug Eva die Augen auf. Die Ritzen des Rollladens siebten das hereindrängende Sonnenlicht auf den Teppich. Sie stand auf, zog den Laden hoch und blickte in den blauen, gewitterfeuchten Morgen. Sie wollte hinaus, jetzt, sofort. Sie zog ihre Laufsachen an. In der Küche kippte sie eine halbe Flasche Wasser runter, stopfte einen Fünfeuroschein für den Bäcker in die Hosentasche und steckte ihren MP3-Player ein. Draußen war es warm, aber noch nicht zu heiß. Sie nahm den Pfad gleich neben dem Nachbarhaus, der fast zugewuchert war von Brombeergestrüpp. Charly hatte sich dort immer satt gegessen, war spätsommerlang mit verschmiertem Gesicht und schmutzigen Hosen nach Hause gekommen. Der Pfad stieg leicht an. Eva blieb stehen, blickte über das Dorf, das sich in der Sonne rekelte. Eigentlich sah es richtig malerisch aus, dieses Kiesbach, zumindest aus der Ferne.
Sie begann zu laufen. Matthias mahnte immer, dass sie sich zunächst aufwärmen müsse, er empfahl ihr Dehnübungen, glaubte wirklich, ihr Ratschläge geben zu können, obwohl er überhaupt keinen Sport trieb. Selbst die Sonntagsspaziergänge mit Charly früher waren ihm zu viel gewesen.
Sie schaltete den Player ein. Entschied sich für Smells Like Teen Spirit von Nirvana. Darauf folgte Thunderstruck von AC/DC. Die Musik durchdrang ihren Körper, dehnte sich aus, sie fühlte sich leicht und geerdet zugleich. Sie lief schnell, bis sie außer Atem war. Nach einer Biegung tauchte eine Bank auf, sie ließ sich darauf nieder, die große Runde würde sie heute nicht schaffen. Das Lied verklang und sie schaltete aus.
Wie so oft dachte sie an jene Tage in ihrer Jugend, an denen Matthias und sie nach einem Konzert in den frühen Morgenstunden nach Hause gefahren waren, trunken von Musik. An das Glücksgefühl, das längst verblasst war. Aber einen unauslöschlichen Abdruck in ihrem Inneren hinterlassen hatte. Wind fuhr durch die Zweige, Sonnenlicht hüpfte über die Blätter. Früher hatten sie manchmal zu dritt hier gesessen, hatten Brote gegessen, weil ihre Tochter Picknick liebte.
Da war sie auch glücklich gewesen. Manchmal. Sie stand auf, schaltete die Musik wieder ein. Dancing with myself von Billy Idol.
Der Pfad endete im Kiesbacher Neubaugebiet. Sie verlangsamte ihren Schritt. Vor einem Doppelhaus stieg ein Mann im Anzug in seinen SUV, während er telefonierte. Er starrte sie an, und jetzt erst wurde Eva bewusst, dass sie laut gesungen hatte.
Egal.
Sie grinste. Nickte dem Mann zu und bog in die Hauptstraße, dann in eine Nebenstraße und in noch eine, ein Umweg, aber sie wollte nicht an Matthias’ Laden vorbei. Der Morgen gehörte ihr, und dass sie ihren Mann jetzt nicht sehen wollte, das hatte nichts, gar nichts mit der letzten Nacht zu tun, und wenn doch, dann nur ein bisschen.
Keiner begegnete ihr, alle hatten schon die Rollläden heruntergelassen, sich verrammelt gegen die Hitze, als wäre sie ein Feind. Nur ein alter Mann im gerippten Unterhemd und Hosenträgern saß auf den Stufen seines Häuschens, eine Emailletasse schwankte in seinen Händen. Sie hob die Hand zum Gruß, und er zeigte ein fast zahnloses Lächeln.
Vor der Bäckerei schaltete sie die Musik aus. Sie kaufte zwei Müslistangen, und während die Verkäuferin mit dem Papier raschelte, fiel ihr Blick auf die Schokoladentafeln, die in einem Regal neben der Theke aufgereiht waren.
„Noch eine Nussnugat“, sagte sie, bezahlte, ließ sich eine Tüte und das Kompliment aufdrängen, wenn jemand sich Croissants und Schokolade erlauben könne, dann wohl Eva.
Draußen sah sie die Lauer, vermutlich auf dem Weg zu Matthias, um ihre dämlichen Geburtstagskarten auszusuchen. Es gab niemanden, der so oft etwas bei ihm kaufte wie sie, und Eva war klar, dass das nicht an dem immens hohen Bedarf der Lauer an Schreibwaren lag. Matthias lachte nur, wenn sie ihn darauf hinwies, dass die Lauer offenkundig auf ihn stand.
Sie bog in die nächste Straße, arbeitete sich durch das Labyrinth kleiner Gassen, bis sie ihr Haus erblickte.
Sie setzte an zum Endspurt. Oben auf dem Hügel war sie schweißgebadet. Sie zog die Stöpsel aus den Ohren und schloss die Tür auf.
Drinnen schrillte das Telefon. Eva hastete hinein, fand es auf dem Küchentisch und meldete sich.
„Wo warst du?“, fragte Matthias.
„Laufen.“
„Frau Lauer meinte, sie hätte dich im Dorf gesehen.“
„Da muss sie sich irren“, log Eva.
In ihr drin verhärtete sich etwas, gewann ein Gewicht, von dem sie dachte, es in der letzten halben Stunde verloren zu haben.
Matthias lachte. „Sie sieht halt viel und redet gerne.“
Vor allem mit dir, dachte sie. Ob Frau Lauers Heinz eigentlich davon wusste?
Eva ließ sich auf den Küchenstuhl sinken.
„Alles klar? Du sagst ja gar nichts.“
„Ich bin kaputt und brauche eine Dusche.“ Wie kratzbürstig sie klang.
„Verstehe.“ Er räusperte sich, sie wusste nicht, ob aus Verärgerung oder weil er sie nicht aufhalten wollte.
Vielleicht war es eine Mischung aus beidem.
„Ich komme nicht zum Mittagessen heim, ich will noch ein bisschen Buchhaltung machen. Könntest du mir aus der Stadt eine Pizza oder so mitbringen?“ Er machte eine Pause. „Nachdem du bei deinem Vater warst?“
Eva verrollte die Augen. Was sollte dieser Nachsatz?
„Ja. Mache ich. Nachdem ich bei meinem Vater war.“
„Super.“
„Ja.“ Leg endlich auf, dachte sie.
„Dann bis später.“
„Ciao.“
Jetzt Kaffee und Zucker, beschloss sie. Aber als sie die Tüte auspackte und ihr Blick auf Müslistangen und Schokolade fiel, verging ihr der Appetit. Sie würde die Tafel ihrem Vater mitbringen. Vielleicht würde er sich dann ausnahmsweise über ihren Besuch freuen.

4

„Setzen Sie sich doch“, flötete Frau Schmidt.
Wo sie nur diese Fröhlichkeit hernahm. Aber vermutlich war die genau so falsch wie die Zähne der meisten Patienten hier.
Nein, es hieß ja Bewohner. Darauf hinzuweisen, wurde Frau Schmidt nie müde, Bewohner hatte einen Ehrenplatz in ihrem Wortschatz.
Frau Schmidt schaute sie auffordernd an. Ihr rosiger Teint passte nicht zu dem hageren Gesicht. Sie hatte fast immer Dienst, wenn Eva ihren Vater besuchte, schob sich jedes Mal hinter ihr ins Zimmer, sprudelte ein paar Belanglosigkeiten heraus, die niemand hören wollte, und verließ den Raum erst, wenn sie sich ihrem Vater gegenüber gesetzt hatte.
Eva unterdrückte ein Seufzen und ließ sich auf dem Holzstuhl nieder, damit sie diese Frau endlich los wurde. Frau Schmidts Augen leuchteten kurz auf, als hätte sie Großes bewegt.
„Dann lass ich Sie mal allein.“
Mit vorgereckter Brust, an der sie ihr Namensschild trug, als wäre es das Bundesverdienstkreuz, verließ sie das Zimmer.
Die Tür klickte ins Schloss, und es wurde still. Als hätten sämtlich Geräusche die Gelegenheit genutzt, mit Frau Schmidt hinauszuschlüpfen. Eva schlug vorsichtig die Beine übereinander. Sie wusste nie, wie sie sich hinsetzen sollte auf diesen Stuhl. Die Sitzfläche war sehr schmal, Leute mit dicken Hintern mussten Mühe haben, ihn darauf unterzubringen, ohne dass er über beide Seiten quoll.
Sie legte die Hände auf die uringelbe Tischplatte und verschränkte die Finger. Ihr rechter Daumennagel war eingerissen. Mit dem Zeigefinger fuhr sie darüber.
Was sollte die Zeitschinderei.
Sie sah auf, direkt in die verschwommen blauen Augen ihres Vaters. Wie zwei zugefrorene Seen, mit einer dünnen Wasserschicht auf der Eisfläche. Er betrachtete ihre Finger. Seine Mundwinkel hingen herunter, die schrumplige Haut über den Wangenknochen erinnerte an geronnene Milch. Irgendjemand hatte sich die Zeit genommen, ihm ein sauberes Hemd anzuziehen, das struppige Haar zu waschen und zu kämmen, vielleicht Frau Schmidt, aber Eva empfand keine Dankbarkeit. Genau genommen empfand sie überhaupt nichts. Außer dem Wunsch, der Pflichtbesuch wäre schon vorbei.
„Na? Wie geht’s dir heute?“
Grässlich. Sie klang wie Frau Schmidt. Aber was sollte sie jemanden fragen, der zwar neunzehn Jahre im gleichen Haus gewohnt hatte, über den sie jedoch kaum mehr wusste als über den Briefträger.
Wie erwartet gab ihr Vater keine Antwort.
Ihr Po begann zu schmerzen, die vorderen Kanten der Sitzfläche drückten sich in die Unterseite ihrer Oberschenkel. Sie verlagerte das Gewicht, zog das rechte Bein vom linken Knie und rutschte so weit nach hinten, wie es der Stuhl zuließ. Die schmale Lehne begrü.te ihre Wirbelsäule mit der gewohnten Härte.
„Ich hab dir was mitgebracht.“
Sie fischte die Schokoladentafel aus ihrer Handtasche und schob sie auf die andere Seite des Tisches. Vaters Blick folgte misstrauisch ihrer Hand und verharrte auf der Tafel. Er kniff die Augen zusammen, als bemühte er sich, die weiße Aufschrift auf dem rosa Grund zu entziffern.
„Nussnugat. Deine Lieblingssorte.“
Und ihre auch. Der kleinste gemeinsame Nenner ihrer Vater-Tochter-Beziehung.
Sie blickte zum Fenster. Mochte das Wetter noch so schön sein, die Luft draußen frisch und klar, es war verriegelt. Sperrte die ranzige Raumluft ein, gegen die der Geruch nach Desinfektionsmitteln vergeblich ankämpfte. Draußen rotteten sich dunkle Wolken zu einer schwarzen Wand zusammen. Der blaue Himmel am Morgen hatte sein Versprechen nicht gehalten.
Wie lange saß sie schon hier? Sie schaute auf die Uhr.
Erst elf Minuten.
Diese kahlen Wände, schlohweiß, ohne Foto, Kunstdruck oder Poster. Ihr Vater duldete nichts davon. Nur ein Tisch und zwei Stühle, das Bett. Früher hatte sie Blumen aus dem Garten mitgebracht, um für ein bisschen Farbe zu sorgen, und sie in eine leuchtend rote Vase gestellt. Frau Schmidt hatte ihr jedoch beim dritten Mal gesagt, sie möge dies doch bitte lassen. Ihr Vater habe es nicht so mit Blumen. Was hieß, dass er die Vase jedes Mal mit Absicht umgestoßen hatte. „Das hat mit ihnen persönlich gar nichts zu tun“, hatte Frau Schmidt versichert, sich aber rasch abgewandt.
Wie gut, dass Eva das Heim wenigstens nicht bezahlen musste.
Ihre Mutter hatte alles geregelt. Sie sah sie vor sich, die handbeschriebenen Seiten, auf denen ihre Mutter alles aufgelistet hatte, die Versicherungen und Konten, und sie war erstaunt gewesen, über wie viel Geld ihre Eltern verfügt hatten. Oder besser gesagt, hätten verfügen können, wenn sie gewollt hätten. Aber bis auf drei Urlaube im Schwarzwald hatten sie sich nichts gegönnt. Als hätten sie darauf hingelebt, sich irgendwann einen Platz in diesem Heim erkaufen zu können. Erst sechs Wochen vor ihrem Tod, als hätte sie gewusst, dass ihre Zeit abgelaufen war, hatte ihre Mutter sie aufgeklärt, welches Vermögen sie und ihr Vater besaßen. Sie hatte verkündet, dass sie Eva das Haus – das sie selbst von ihren Eltern geerbt hatte – überschreiben wolle und Eva es nach ihrem Tod verkaufen möge, das Geld dürfe sie als Vorschuss auf ihr Erbe betrachten. Für ihren Vater sei gesorgt, der Verkauf der Eigentumswohnung würde die Kosten des Heimes langfristig decken. Außerdem wolle sie nach ihrem Tod verbrannt und ihre Asche solle in die Nordsee gestreut werden – damit Eva sich nicht um ein Grab kümmern müsse – und bei ihrem Vater solle alles genau so gehandhabt werden.
Eva hatte ihre Mutter ungläubig angeblickt. Sie hatte keine Ahnung gehabt, dass ihre Eltern eine Eigentumswohnung besessen hatten. Wie immer hatten sie sie von den wichtigen Dingen ausgeklammert, als ginge sie das nichts an. Und dann die Seebestattung: Ihr ganzes Leben lang hatten ihre Eltern keinen Strand gesehen, hatten Eva den Wunsch, wie alle anderen Klassenkameraden nach Spanien oder wenigstens an die Küste Deutschlands zu fahren, nie erfüllt. Und jetzt suchten sie sich das Meer als letzte Ruhestätte aus.
Natürlich waren die Pläne ihrer Mutter, vor allem ihre Voraussicht, vernünftig und bewundernswert – im Wissen um den eigenen baldigen Tod und den rapide fortschreitenden geistigen Verfall ihres Mannes so strukturiert und besonnen zu handeln.
Aber für Eva hatte dieses Regeln den Beigeschmack von Verrat. Sie hatten im elterlichen Wohnzimmer gesessen, und in Eva hatten Wut und Trauer miteinander gekämpft. Sie hatte auf die alberne Kuckucksuhr gestarrt, die ihre Mutter früher täglich abgestaubt hatte, und die Lippen zusammengepresst.
Warum hätte sie ihrer Mutter Vorwürfe machen sollen, am Ende ihres Lebens verhielt sie sich so, wie sie sich immer verhalten hatte, und stellte ihre Tochter vor vollendete Tatsachen, ebenso, wie ihr Vater es immer getan hatte.
Als Kind hatte Eva manchmal das Gefühl gehabt, ihre Eltern seien nicht Eheleute, sondern Zwillinge. Sie waren sich so ähnlich und schienen immer einer Meinung zu sein. Sie konnten stundenlang reden, ohne ein Wort an Eva zu richten, und wenn sie etwas sagte, schauten sie sie manchmal erstaunt an, als wäre ihnen gerade erst aufgefallen, dass sie eine Tochter hatten. Sie waren beide fast vierzig gewesen, als Eva geboren wurde, sie wusste nicht, ob sie lange ersehnt gewesen oder in Kauf genommen war: ein Störenfried, der nichts dafür konnte und dem man wohl oder übel hin und wieder Aufmerksamkeit schenken musste.
Wie gut es Matthias hingegen gehabt hatte. Zwar hatte er seine Eltern früh verloren, aber es waren herzliche Menschen gewesen, die ihrem Sohn ein liebevolles Zuhause geboten hatten. Eva hatte Matthias’ Vater nicht mehr kennen gelernt, aber seine Mutter hatte sie als ihre Tochter bezeichnet.

Ihr Rücken begann zu schmerzen. Dieser verdammte Stuhl. Sie rückte einen Zentimeter nach vorne, der Druck ließ nach, dafür schnitt ihr die Kante der Sitzfläche in die Haut.
Einmal hatte sie ein Kissen mitgenommen. Frau Schmidt hatte sie entsetzt angesehen. „Was wollen Sie denn damit?“ „Darauf sitzen“, hatte Eva geantwortet. „Was glauben Sie denn?“
Frau Schmidt war rot angelaufen und murmelte irgendetwas von
„Vorsichtsmaßnahme“ und ihr standardmäßiges „nicht persönlich“. Als Eva Matthias später beim Abendessen davon erzählte, lachte er und meinte: „Vielleicht hat sie gedacht, du wolltest deinen Vater ersticken“, und ihr blieb der Bissen im Hals stecken.
Daraufhin hatte sie sich bei der Heimleitung beschwert. Die Direktorin rutschte auf ihrem Stuhl herum, obwohl der gepolstert war und ergonomisch geformt. Frau Schmidt sei „speziell“, aber immer „besorgt um die Bewohner“ und „unersetzlich“.

Neunzehn Minuten. Immerhin. Eva schaute zu ihrem Vater, der sich nicht gerührt hatte. Wie hielt er das aus, die ganze Zeit auf diesem Stuhl zu verharren?
Plötzlich bewegte er den rechten Arm, dann den linken. Sein Blick klarte auf, als hätte er jetzt erst begriffen, was da vor ihm auf dem Tisch lag. Seine Finger, lang und gekrümmt, tasteten sich an die Schokoladentafel heran. Es sah aus, als starteten zwei Spinnen einen Angriff.
Seine Mundwinkel zuckten. Er grub die Fingernägel in das Papier. Zog daran, zerrte, zeriss. Aus seinem Mundwinkel tropfte Speichel. Eva schluckte aufsteigende Übelkeit hinunter.
„Soll ich dir helfen“, murmelte sie, aber er ignorierte sie.
Seine Finger bohrten sich in die Tafel, silberne und rosafarbene Papierstreifen flatterten über den Tisch. Er keuchte vor Anstrengung. Jetzt lag die Schokolade frei. Er umklammerte sie, hob sie an den Mund und biss hinein. Kaute mit offenem Mund. Seine Zähne färbten sich braun, Spucke tropfte herunter, kleckste auf das saubere Hemd.
Eva legte beide Hände auf die Ränder der Sitzfläche, schloss die Finger um das Holz, an dieser Stelle rissig wie ihr Daumennagel. Ein Splitter stach in ihre Haut.
Plötzlich erstarrte ihr Vater. In Zeitlupentempo streckte er den Arm aus, stierte auf die angebissene Schokolade, öffnete die Lippen. Ein Laut entfuhr seinem Mund, erst leise, bis er Fahrt aufnahm, an Höhe gewann, in einem schrillen Schrei gipfelte. Er schleuderte die Tafel von sich, sein Brüllen kondensierte zu einem Wort.
„Gift“, schrie er, „Gift“.
Eva sprang auf. Der Stuhl schrappte über das Laminat, kippte und knallte auf den Boden.
„Sei still“, rief sie. „Verdammt, das ist nur Schokolade.“
Sie eilte um den Tisch herum, fasste ihn an der Schulter. Er schrie und schlug nach ihr.
Die Tür wurde aufgerissen. Frau Schmidt stürmte herein, das Gesicht noch stärker gerötet als sonst. Besitzergreifend legte sie den Arm um Evas Vater, und er ließ es geschehen.
„Was haben Sie gemacht?“ Frau Schmidts Unterlippe zitterte drohend.
„Ich habe ihm Schokolade mitgebracht. Seine Lieblingssorte.“
Eva hob die angebissene Tafel auf und feuerte sie auf den Tisch.
Frau Schmidts Augen verengten sich. „Aber das ist eine andere Marke. Sie wissen, wie wichtig Gewohnheiten und Rituale für ihren Vater sind.“
„Und Sie gehen mir auf die Nerven.“
Der Satz war heraus, bevor sie nachgedacht hatte.
Frau Schmidt riss die Augen auf.
„Sie mögen Ihre Arbeit wunderbar machen, kein bisschen unter Zeitnot leiden und meinen Vater besonders ins Herz geschlossen haben. Schön.“ Eva trat einen Schritt nach vorne. „Aber hören Sie auf, mich wie eine Idiotin zu behandeln.“
Frau Schmidt schnappte nach Luft, aber sie schwieg. Evas Vater war ganz still. Reglos hing er in den Armen der Pflegerin.
Eva holte ihre Tasche und wandte sich zum Gehen. Bevor sie die Tür hinter sich zuzog, erhaschte sie noch seinen Blick. Er grinste verschlagen.
Sie knallte die Tür hinter sich zu.
Draußen holte sie tief Luft. Ihre Wut fiel in sich zusammen.
Leichter hatte sie es sich mit diesem Ausbruch nicht gemacht.
Ein Feuerwehrauto näherte sich mit Geheul, brauste an ihr vorbei. Warum konnte das Altersheim nicht abfackeln, dachte sie und schämte sich sofort.
Sie würde auch nächste Woche wieder hierherkommen, durch die langen Flure laufen bis zu Zimmer A19 und eine Stunde auf dem harten Holzstuhl absitzen, während ihr Vater die weißen Wände oder seine Finger oder was auch immer betrachtete, es kam selten vor, dass er mit ihr sprach. Sie war seine Tochter, und Töchter machten das. Brave Töchter sowieso.
Wieso ließen sie sich nicht übermalen, diese Muster, nach denen man sich verhielt, wieso fühlte man sich schlecht bei dem Wunsch, sie zu verändern. Sie war ihren Eltern gegenüber nie laut geworden. Aber manchmal hatte es in ihr gebrodelt, als Zwölfjährige, wenn ihre Mutter ihr noch immer das Haar zu Zöpfen flocht und sie sich furchtbar dafür schämte, als Vierzehnjährige, wenn ihr Vater ihr verbot, eine Geburtstagsfeier zu besuchen, die länger als zwanzig Uhr dauern würde, und manchmal, auf dem Schulweg, wenn niemand in der Nähe gewesen war, dann brüllte sie so laut sie konnte oder verzog sich in ihr Zimmer und hörte auf ihrem Walkman Fear of the dark von Iron Maiden, so laut bis knapp unter der Schmerzgrenze.
Gut, sie hatte gelernt, Widerworte zu geben.
Aber mehr auch nicht.
Die Uhr der nahe gelegenen Kirche schlug zweimal. Halb sechs.
Sie könnte den früheren Bus erwischen, wenn sie sich beeilte.
Der Wind stieß ihr in den Rücken und schob sie vorwärts. Sie ging die Straße hinab in die entgegengesetzte Richtung zur Bushaltestelle. Spülwassergraues Licht versickerte zwischen den Dächern. Eva bog in eine Seitenstraße und von der in eine Gasse, in der sie noch nie gewesen war. Mit jedem Schritt, den sie sich vom Altersheim entfernte, fühlte sie sich besser.
Die Gasse war so schmal, dass kaum ein Auto durchpasste. Gleich aussehende Häuschen reihten sich aneinander. Steingraue Fassaden, braune Türen, schmucklose Fensterbänke. Siamesische Mehrlinge. Nur eines trotzte dem Einheitsbild.
In die Vorderfront war ein Schaufenster eingelassen.
„Schallplatten und CD’s“, stand auf der Scheibe, darunter hingen Tourplakate diverser Metalbands.
Genau das, was sie jetzt brauchte.
Ein auf schwarzem Samt drapierter Totenkopf in der Auslage grinste sie an. Eva grinste zurück und drückte die Tür auf.

5

Sie hatte Zigarettendunst erwartet, gemischt mit dem Geruch nach Staub und einem herben Aftershave. Aber auf der niedrigen Verkaufstheke verglimmte ein Räucherstäbchen neben einer altmodischen Ladenkasse und verströmte zitrusartiges Aroma.
Daneben stand ein knallorangefarbenes Telefon. Mit Wählscheibe!
Der Raum glich einem überdimensionierten Wohnzimmer. An einer Schmalseite machte sich ein Sofa mit zerschlissenem moosfarbenen Cordbezug breit, daneben baute sich ein Ständer mit Musikzeitschriften auf. Tourplakate und Bandposter hingen an den Wänden. Außerdem gab es mehrere Regale, vollgestopft mit Büchern und DVDs sowie Kisten mit Schallplatten und CDs.
Sie griff wahllos hinein. Iron Maiden, Guns `n Roses, Queen.
Von irgendwoher ertönte Musik. Metallica.
Sie lächelte. Als hätte jemand ein Zimmer für sie eingerichtet, in der ihre Jungendzeit wieder auferstand.
„Bin gleich da“, rief eine männliche Stimme.
Sie kam aus einem Raum hinter der Theke, der durch einen roten Samtvorhang abgetrennt war. Kurz darauf erschien ein hochgewachsener, kräftiger Mann, Eva schätzte ihn auf Mitte vierzig. Er hatte das braune Haar zu einem Zopf gebunden. Aus dunklen, von buschigen Brauen überdachten Augen blickte er sie mit einer Mischung aus Neugier und Freundlichkeit an.
„Hi“, grüßte er. „Kann ich helfen?“
Er kam mit schweren Schritten hinter der Theke hervor, trotz der Hitze trug er Stiefel. Dazu eine abgewetzte helle Jeans und ein schwarzes T-Shirt.
„Berufskleidung“, kommentierte er ihren Blick. „Wenn ich hier im Anzug stehen würde, nähme mich doch keiner ernst.“
„Wohl kaum“, nickte Eva.
Er schaute an sich herab. „Könnte schlimmer sein, oder?“
„Allerdings. Leopardenleggings zum Beispiel.“
Sie lachten beide, und die Erinnerung an den hässlichen Vorfall mit ihrem Vater schrumpfte zu einem kleinen Punkt, der sich in ihrem Gedächtnis verlor.
„Aber ehrlich gesagt trage ich sowieso keine Anzüge. Es sei denn, zu einer Hochzeit oder einer Beerdigung.“ Er lächelte.
„Suchst du was Bestimmtes?“
Sie schüttelte den Kopf. „Ich bin zufällig vorbeigekommen und war neugierig“, gab sie zu.
„Okay“, meinte er. „Kommt leider nicht allzu häufig vor, dass sich jemand in das Gässchen hier verirrt, es sei denn, jemand hat mich empfohlen.“
„Das kann ich ja ab sofort tun.“
„Nur zu. Ich bin übrigens Kai.“
„Eva.“
Er streckte ihr die Hand hin. Seine Haut fühlte sich rau und kühl an. Für einen Moment war sie befangen.
„Machst du eigentlich auch Musik?“, fragte sie schnell, damit es nicht auffiel.
Er winkte ab. „Ich hab als Sechzehnjähriger mal mit E-Gitarre angefangen.“
„Und?“
„Naja, mein Gitarrenlehrer meinte, ich sollte es vielleicht besser mit Blockflöte probieren.“
Sie musste lachen.
„Und du? Irgendwie musikalisch unterwegs? Als Frontfrau einer Frauen-Rockband oder so?“
„Nein. Dort könnte ich höchstens als Triangel-Spielerin mitmachen.“
Ihr Handy klingelte. Einmal, zweimal.
Sie holte es hervor, schaute auf das Display, von dem ihr der Name ihres Mannes entgegen blinkte. Nicht jetzt. Sie drückte seinen Anruf weg.
„Die machen uns alle zu Sklaven“, meinte Kai.
Darauf wollte sie lieber nicht eingehen. „Ist ein toller Laden“, sagte sie stattdessen.
„Naja.“ Er seufzte. „Eher ein Hobby.“
„Hobby?“
„Seit ich vierzehn bin, steh ich auf Rock und Metal, querbeet, alte und neue Sachen. Das hier ist so was wie mein Wohnzimmer, und hin und wieder kommt jemand zu Besuch.“ Er lächelte.
„Ich könnte den Raum sogar noch größer machen.“
Kai deutete auf die Wand, die sich gegenüber des Sofas befand und in die eine schmale Tür eingelassen war.
„Die ist nur eingezogen. Dahinter stapeln sich noch jede Menge DVDs und anderer Kram. Ich komm einfach nicht nach. Aber was quatsch ich dich voll … Magst du einen Kaffee oder so?“
„Danke nein.“
Sie zögerte, unsicher, ob ihre nächste Frage nicht zu persönlich war – sie kannte den Mann ja überhaupt nicht -, aber dann dachte sie, dass sie sie eigentlich genau aus diesem Grund stellen konnte.
„Aber mit dem Hobby verdienst du genug …“
Er winkte ab. „Ich bin in der glücklichen Lage, dieses prächtige Anwesen mein Eigen zu nennen. Fast zumindest. Gehörte meinen Großeltern, aber meine Eltern haben es mir überlassen. Gegen eine Minimiete. Deswegen bin ich mit dem kleinen Zeh in der Gewinnzone.“
Er machte eine Pause, als wäre er nicht sicher, ob er den Satz aussprechen sollte, der bereits auf seiner Zunge wartete.
„Eigentlich bin ich Grundschullehrer.“
„Was?“ Sie prustete los. „Entschuldigung.“
„Doch wirklich. Im Laden bin ich deswegen nur am Dienstagnachmittag und an Samstagen.“
„Gut zu wissen. Danke für die Info.“
„Gerne. Die ganze Zeit habe ich schon überlegt, wie ich das so dezent wie möglich verpacke.“
Sie schmunzelte.
Hinter ihr öffnete sich die Tür. Sie drehte sich um, ein Pärchen um die fünfzig trat ein, grüßte Kai freundschaftlich.
„Ich muss jetzt gehen“, behauptete sie.
Kai schnitt eine Grimasse, die so viel bedeuten mochte wie: Da kann man nichts machen.
„Moment noch …“ Er drückte ihr einen dünnen Stapel knallrotes Papier Postkartenformat in die Hand. „Vielleicht kannst du die weitergeben.“
Eva betrachtete die selbst gedruckten Flyer mit aufgedrucktem Totenkopf und Kais Adresse.
„Mach ich gerne.“
„Danke.“
„Ja dann.“
„Man sieht sich?“
„Bestimmt“, antwortete sie und verließ den Laden.

Leseprobe: Kristin Lange – “Die Gefahr des Gelingens”

Leseprobe zu: Kristin Lange, die Gefahr des Gelingens

Anmerkung zur Leseprobe: Der Roman erzählt abwechselnd aus der Perspektive des Mannes und der Frau. Die Parts der Protagonistin sind anfangs noch sparsam eingestreut und kurz. Als zweite Leseprobe habe ich daher ein Stück aus der Mitte gewählt, das einen aussagekräftigen Eindruck von der Stimme der Frau vermittelt und gut zum Anfang passt.

Leseprobe 1, der Romananfang:

I

Mai 2000

„Möwe vier sieben, kommen.“
Erik drückt die Empfangstaste. „Möwe, kommen.“
„Schienenunglück mit Personenschaden zwischen Kiel und Preetz, Suizid vermutet, auf Höhe der Kleingartenkolonie am Kuckucksweg ‒ sorry, Erik, ihr seid am nächsten dran.“
Bitte nicht. Bitte endlich nach Hause. Kaffee, duschen.
Er angelt sich das Sprechteil. „Moin, Roland. Ist verstanden, sind unterwegs.“
Ulli neben ihm am Steuer stöhnt. Erik fummelt mit dem Sprechteil an der Halterung, rutscht ab, flucht, kriegt das Ding eingehängt und drückt eine Statustaste.

Der Waldboden federt unter seinen Schuhen, als sie aussteigen. Den Ablauf kennt Erik. Der Strom in der Oberleitung ist abgeklemmt, der Streckenabschnitt gesperrt. Zwischen Kiel und Plön geht in den nächsten Stunden gar nichts mehr.
Ein einsamer Sanitäter lehnt am Rettungswagen, auf dem Dach kreiselt das Blaulicht, nutzlos und wie vergessen. Auf den Gleisen steht ein Kurzzug. Hinter den Scheiben morgenmüde Schemen, sie alle mit einem unschönen Ruck in den Gliedern und einer Lautsprecherstimme in den Ohren: Personenschaden, Verzögerung, Schienenersatzverkehr, die Deutsche Bahn bedauert das.
Den Ablauf kennt Erik. Gewöhnen wird er sich nie daran.
Er setzt die Mütze auf und tritt auf den Sanitäter zu, der sich beim Versuch, ein Gähnen zu unterdrücken, fast den zartbeflaumten Unterkiefer verrenkt.
„Moin. Rieper. Was haben wir hier?“
„Moin. Mommsen. Mann gegen Regionalexpress.“ Der Junge zieht an seiner Zigarette, kneift die Augen gegen den Rauch zusammen und grinst. „Eins zu null für den RE. Keine Rückrunde.“
„Okay.“ Erik überlegt einen Moment. „Und Sie sind hier für die Späße zuständig?“
Der andere antwortet nicht.
„Ist der Leichnam geborgen?“
Der Junge nuschelt etwas von „Kollegen suchen“, und „Bestatter verständigt“, zieht ein letztes Mal an der Kippe, lässt sie dann fallen und drückt sie mit dem Absatz seiner Profilschuhe in den weichen Boden.
„Und der Zugführer?“, fragt Erik weiter. „Wo finde ich den?“
„Sie. Zugführerin.“ Der Junge weist mit dem Kopf Richtung Rettungswagen, ohne Erik anzusehen.
Erik geht um den Wagen herum zum Heck. Eine stämmige Mittfünfzigerin mit erdbeerroten Strähnchen im Aschblond hockt auf der Kante der Ladefläche und zittert trotz der Wärmedecke um ihre Schultern. Eine Notärztin steht bei ihr.
Nachdem er die Personalien der Frau aufgenommen hat, beginnt sie stockend zu berichten. Die letzte Fahrt vor Schichtende; auf einmal steht da einer. „Das kommt vor, hat normalerweise nichts zu sagen, trotzdem kriegt man jedes Mal Zustände.“ Ihre Rede gerät in Fluss. „Der hat noch einen Schluck aus seiner Flasche genommen. Die Flasche abgestellt, sich hingelegt. Auf den Bauch, ganz in Ruhe, Hals auf die Schienen, Gesicht zu mir. Ich hab sofort eine Schnellbremsung eingeleitet, natürlich hab ich das, aber wissen Sie, wie lange es dauert, bis …“ Sie bricht ab und blickt ihn an.
Ja. Weiß Erik.
„Der hat mich angeguckt, die ganze Zeit angeguckt.“ Ihre Stimme schwankt. „Der hatte einen Bart, oder?“
Das mit dem Bart scheint ihr wichtig, sie fragt ein paar Mal danach, dann bricht sie in Tränen aus. Die Ärztin legt ihr eine Hand auf die Schulter.
„Wir wissen es noch nicht“, sagt Erik. Er schaut einen Moment auf die weinende Frau hinunter. „Wie kommen Sie denn nach Hause?“
„Die Lebensgefährtin weiß Bescheid“, sagt die Ärztin. „Sie ist unterwegs.“
Oh, okay. Erik verabschiedet sich von den Frauen und macht sich auf den Weg entlang der Gleise zu Ulli, der sich dem kleinen Suchtrupp angeschlossen hat.

„Hier rüber, Erik, wir haben ihn.“
Erik beeilt sich, über die rutschenden Geröllbrocken zu dem Grüppchen zu gelangen und sieht zuerst eine Jacke neben den Gleisen liegen, die hat es dem Typen vom Leib gerissen. Er hebt den Fetzen auf und geht weiter zu Ulli, der neben einem Körper kauert, oder dem Großteil eines Körpers.
Die beiden Sanitäter nicken ihm zu und gehen dann in normalem Schritttempo Richtung Waldweg zurück.
In den Resten der Jacke findet Erik die Brieftasche und ein Tabakpäckchen. Aus Gewohnheit drückt er den Tabak, fühlt einen Knubbel Dope. Der Ausweis in der Brieftasche zeigt das Foto eines Mannes mit Oberlippenbart und schmalem, landläufig attraktivem Gesicht.
„Jürgen Möllner“, liest er vor. „Wohnort Kiel, Geburtsort Kiel, Geburtsdatum 11. November 1956.“ Sein Jahrgang. Er räuspert sich. „Besondere Kennzeichen: zwei fehlende Fingerglieder an der linken Hand.“
Ulli schaut an dem Leichnam hinunter, nickt, passt. „Brief?“
Ein Tütchen Fisherman’s Friend. Ein mitgewaschenes Papiertaschentuch. Ein Kassenzettel von Aldi.
Kein Brief.

Jürgen Möllners Kopf finden sie dreißig Schritte weiter. Er ist ins Geröll zwischen zwei Bahnschwellen geraten und hat zu Eriks Erleichterung nur noch wenig Ähnlichkeit mit etwas, was einmal gesprochen oder gelacht hat.
Erik nimmt die Mütze ab und betrachtet das Nichts, das von dem Gesicht übrig ist. Dabei versucht er, alle anderen Gedanken auszuschalten. Das macht er immer, bei jedem Toten. Eine halbe Minute nur für den, der da liegt, in der sonst nichts passiert.
Auf dem Rückweg zum Funkstreifenwagen finden sie eine leere Bierflasche, aufrecht im Schotter neben den Gleisen. Am Brombeergestrüpp lehnt ein schwarzes Herrenrad, Marke Asbach, halb zur Seite gerutscht.
Angeführt von einem Zugbegleiter macht sich ein versprengtes Trüppchen Fahrgäste auf den Weg Richtung Straße. Zwei oder drei der Leute haben Handys gezückt und telefonieren.
Die Sonne ist höhergestiegen, die Strahlen werfen Streifen und Schattenmuster auf die Stämme der Buchen und auf den von Samenhülsen übersäten Weg. Ein roter Mazda ist eingetroffen. Eine Frau hält der Zugführerin die Beifahrertür auf und hilft ihr hinein. Dann geht sie um den Wagen herum und steigt ein, und der Mazda schleicht über den Waldweg davon.
Bis zum Eintreffen der Kollegen von der Kripo gibt es hier nicht mehr viel zu tun. Erik lehnt sich an den Passat, schließt die Augen und saugt den Geruch nach Sonne und Holz und zerfallendem Laub ein. Ein waldiger Geruch, er muss grinsen, weil ihm kein besseres Wort einfällt.
Aus dem offenen Wagenfenster dringen abwechselnd Ullis Murmeln und das Krächzen des Funkgeräts. Darüber zwitschert hell und durchdringend ein Vogel, setzt ab, beginnt von Neuem.
An Eriks linkem Ohr surrt eine Mücke vorbei. Er verscheucht sie und öffnet die Augen. Die Bäume bilden ein Dach hoch über seinem Kopf. Durch die Lücken schimmert ein Stück blasser Himmel, von fedrigem Dunst überzogen.
Maigrün, denkt er. Waldmeistergrün, Ahoj-Brausetütchengrün. Bestimmt gibt’s hier Waldmeister. Wenn man den erkennen würde.
„Meta oder Henrike?“, fragt Ulli. Er hat die Beifahrertür geöffnet und streckt den Kopf heraus.
„Hm?“
„Es gibt eine Meta Möllner in Kiel-Dietrichsdorf und eine Henrike Möllner draußen in Kitzeberg“, erklärt Ulli geduldig.
Ein dezentes Stechen an Eriks linker Halsseite. Er schlägt mit der flachen Hand zu und besieht den schwärzlichen Brei an seinen Fingern.
Meta klingt mehr nach Mutter. Ist auch näher dran.
Er bückt sich und wischt die Hand am Gras ab. „Meta.“

Der Passat holpert über ein Schlagloch. Ulli und ihn hebt es von den Sitzen, und Ulli stößt sich den Kopf am Wagendach. Erik bremst ab, schaltet vom dritten in den zweiten Gang.
Wieso müssen wir das jetzt auch noch machen?, meldet sich der blöde Bulle in Eriks Kopf.
Weil es sonst jemand anders machen muss, antwortet der gute Bulle.
Na toll. Es war gerade Schichtende, als Roland uns angepiept hat. Das heißt, wir haben seit ziemlich genau …
… einer Stunde Feierabend, ja.
Also warum?, fragt der blöde. Wir sind beide scheißmüde, ich brauche einen Kaffee und eine Dusche und …
Hab ich doch gerade gesagt. Weil es sonst zwei andere arme Schw…
Ja. Und?
Das wäre auch nicht besser, global und universell gesehen. Wir haben ihn gefunden. Sie wird Fragen haben, die Mutter. Wenn sie es ist. Und außerdem ‒
Was?
Nichts. Schon gut. Tatsache ist, wir können das.
Du Guter. Ach, übrigens: heute ist Muttertag.
Idioten, alle beide. Erik biegt vom Waldweg auf die Landstraße und klappt die Sonnenblende herunter. „Ulli?“
„Hm?“
„Heute ist Muttertag.“
„Kacke.“ Ulli versetzt seiner Sonnenblende einen Schlag nach unten.
„Ulli, wieso müssen wir das machen? Wir haben seit einer Stunde Feierabend, und …“
„Darum.“ Ulli nimmt die Brille ab und reibt sich mit beiden Händen die Augen. Er setzt die Brille wieder auf. „Guck nach vorn.“
Darum. Darum ist Ulli sein Freund, seit mehr als dreiundzwanzig Jahren.
Die verwahrloste Ladenzeile da vorne kennt Erik von einem Einsatz im letzten Herbst, als ein paar Kids es für eine gute Idee hielten, in dem verwinkelten Komplex ein Lagerfeuer anzuzünden. Die gekachelten Wände sehen aus, als würden sie von den Graffiti oder ihrem eigenen Echo zusammengehalten.
Gockelgrill, Schnellreinigung, alles tot und verrammelt. Eine leerstehende Bierkneipe, deren gesprungenes Leuchtschild weniger an die lustigen Samstagabende erinnert, die hier vielleicht vor hundert Jahren stattgefunden haben, als an die Sonntagvormittage danach.
Überhaupt macht die Gegend einen verkaterten Eindruck. Eine öde Kreuzung, drumherum Sechziger- und Siebziger-Jahre-Wohnblocks, die vermutlich als Wohnverbesserung galten, wenn man aus den miefigen Löchern in Gaarden und Alt-Dietrichsdorf hierher zog. Ein paar Alibi-Grünflächen und ‒ einziger optischer Lichtblick ‒ der Wasserturm, dessen Rumpf immerhin nette Schiffsmosaike schmücken.
Ulli späht durch die Windschutzscheibe und dirigiert ihn auf einen kleinen Parkplatz. Erik stellt den Motor ab, Ulli löst seinen Gurt. Einen Moment lang starren sie beide auf das Hochhaus, dann seufzt Ulli und öffnet die Tür.
Zehn Meter Plattenweg bis zum Eingang. Die Haustür geht auf, als sie sich nähern, und eine junge Frau mit schwarzgefärbten Haaren und welpenhaft klobigen Turnschuhen bugsiert einen Zwillingsbuggy mit zwei Einjährigen hinaus. Ulli beschleunigt seinen Schritt und hält der Frau die Tür auf. Sie schlüpft unter seinem Arm vorbei und streift ihre Uniformen mit einem Blick.
Eine Klingelleiste. Namen bis in den Himmel hinein. Hansen, Yildiz, Bräuer, Teschner.
Und Möllner, zwölfte Etage links.
Erik klingelt. Wartet, den Blick auf die Placken Moos gerichtet, die das Plexiglas des Vordachs zieren.
Ein Knacken, ein Krächzen aus der Sprechanlage.
Sie nehmen die Mützen ab. Erik senkt den Mund zum Lautsprecher.
Er hasst es. Scheiße, wie er es hasst.

„Tja. Was soll ich dazu sagen.“
Die Küche, in der Meta Möllner, Ulli und er beisammen sitzen, ist tadellos aufgeräumt. Läppchen überm Wasserhahn, Wischspuren auf der Wachstuchdecke. Der einzige Zeichen von Liederlichkeit ist eine benutzte Tasse auf dem Tisch. Glas Nescafé daneben, eine Zeitung, die bei einem angefangenen Kreuzworträtsel aufgeschlagen ist, Bleistiftstummel in der Mittelfalz.
Frau Möllner ‒ wohlgenährte plusminus siebzig Jahre, fein gelegtes Grauhaar mit kräftigem Gelbstich und um den Mund ein paar Kerben, die nicht wirken, als stammten sie von übermäßigem Lachen ‒ Frau Möllner also fingert ein Papiertaschentuch aus dem Ärmelaufschlag ihres Morgenmantels, tupft sich damit über die Mundwinkel und lässt die Hand mit dem Tuch wieder in den Schoß sinken.
Aus einem Nebenzimmer dringt Fernsehgebrabbel, nicht recht zu orten, aber eindeutig innerhalb der Wohnung. An der Wand über dem Küchentisch tickt eine Uhr, eine altmodische Messingsonne, die ihre Strahlen in alle Richtungen stößt.
Meta Möllner knetet ihr Tüchlein in der Hand.
Tick.
Tack.
Tja. Was soll sie dazu sagen?
Wenngleich Erik durchaus mit ein paar Sätzen aus dem Fundus aushelfen könnte. Das kann nicht sein. Wo ist er, ich will zu ihm. Warum hat er das getan?
Die Gründe aber, warum Frau Möllner aus allen denkbaren Sätzen gerade diesen gewählt hat, gehen ihn nichts an, und schon gar nicht ist es seine Aufgabe, darüber zu urteilen. Vielleicht war Jürgen Möllner einer, der seiner Mutter die Rente herausgeprügelt hat. Und Erik, der gern etwas tut, auch wenn es nichts mehr zu tun gibt, überlegt, ob es für die  Hängeschränke, mit denen Frau Möllner in den Sechzigern hier eingezogen sein muss, eine Farbbezeichnung gibt. Erbsgrau. Staubgrün.
„Frau Möllner.“ Ulli auf der Eckbank räuspert sich. „Gibt es jemanden, den Sie anrufen möchten? Der herkommen kann oder Bescheid wissen sollte?“
Sie blinzelt ihn aus wässrigblauen, leicht geröteten Augen an. „Die Henrike vielleicht? Meine Tochter?“, schlägt sie in einem Tonfall vor, als böte sie Gebäck an.
Ulli nickt bedächtig. Frau Möllner seufzt, stemmt sich vom Stuhl hoch und geht in den Flur, wo sie sie telefonieren hören. Nach ein oder zwei Minuten wird ihre Stimme lauter und scharf. „Ja“, sagt sie. „Ja.“ Und wieder: „Ja.“
Dann Stille, eine Tür klappt und die Wohnung scheint Frau Möllner verschluckt zu haben.
Erik steht auf, dehnt die Glieder und geht ein paar Schritte zu einer schmalen Balkontür. Der Blick geht über die benachbarten Wohnblocks und die Kreuzung. Hinterm Wasserturm verläuft in schnurgerader Linie die Kaistraße bis hinunter zum Ostufer, wo die Portalkräne der Werft sich erheben, beinahe farblos im sonnigen Glast.
Die Hälfte der Balkonbreite nimmt ein Wäscheständer ein, dicht an die niedrige Brüstung gerückt. Kurzärmlige XXL-Karohemden hängen schlaff zwischen geräumigen Büstenhaltern. Daneben, in der Ecke, ein Kübel mit etwas Ersticktem oder Vertrocknetem darin.
„Hat Roland noch wen erwähnt?“ Er dreht sich zu Ulli um. „Der hier gemeldet ist? Sie wohnt nicht allein.“ Er nickt Richtung Balkon: „Wäscheständer. Männerkleidung.“
„Hey.“ Ulli stülpt anerkennend die Unterlippe vor. „Sherlock.“
Erik bewegt die Schultern, um die Nackenmuskeln zu lockern und kehrt auf seinen Platz zurück. Der Fernseher ist jetzt deutlicher zu hören. Ein Kindersender, KiKa oder was. Plötzlich findet er das Geplärr unerträglich laut, und er möchte nur noch raus hier. Raus aus dieser Wohnung und fort von der Alten, die nichts mit dem Tod ihres Sohns anzufangen weiß. Raus auch aus der Uniform, die ihm an manchen Tagen wie verseucht  vorkommt. Er will duschen, sich in seiner gemütlichen Küche einen Kaffee kochen, sich mit Kopfhörern aufs Bett legen und diesen Mist hier vergessen.
Er wechselt einen Blick mit Ulli. Er kennt ihn gut genug, um zu wissen, dass es ihm ähnlich geht. Dass er genau wie Erik weiß, dass sie noch bleiben müssen, wenigstens so lange, bis sie einigermaßen sicher sein können, dass Frau Möllner ihnen kein Theater vorspielt und fröhlich kollabiert, sobald sie zur Tür hinaus sind.
Ein Geräusch in seinem Rücken, ein Luftzug. Ulli fixiert einen Punkt hinter ihm, und Erik dreht sich um.
In der Küchentür steht oder besser sitzt ein Mann, sitzt reglos und starrt Ulli und Erik an. Sein Alter ist schwer zu schätzen, vielleicht Mitte Dreißig oder knapp darunter, sein Gesicht wie von fehlender Mimik unverbraucht. Er ist fett, hundertzwanzig Kilo Minimum. Er trägt ein Karohemd, das in den Gummibund seiner Jogginghose gestopft ist, und seine Hände umfassen die Räder eines Rollstuhls.
Erik probiert ein Lächeln. Der Mann lächelt nicht zurück, sondern wendet den Kopf und blickt hoch zu Frau Möllner, die hinter ihm aufgetaucht ist, angetan mit einer Stoffhose und etwas, das Eriks Mutter früher Waschbluse nannte.
„Ach, Michael, was machst du denn hier“, sagt sie tadelnd aber nicht direkt unfreundlich.
„Polizisten“, sagt der Mann.
„Ja.“ Sie tritt einen Schritt beiseite. „Geh mal wieder ins Wohnzimmer.“
„Gleich kommen die Seelöwen“, sagt der Mann. Seine Sprache ist verwaschen.
„Geh mal wieder ins Wohnzimmer“, wiederholt sie. Sie macht eine Bewegung auf ihn zu. „Ich komme gleich.“
Der Mann setzt gehorsam zurück und rollt in den Flur.
Frau Möllner geht zur Tür und schließt sie. „Der Michael, mein Sohn.“
Mein Sohn. Nicht mein anderer Sohn

Sie setzt sich. Die Messingsonne tickt.
„Kommt Ihre Tochter her?“, fragt Ulli.
„Die.“ Frau Möllner macht eine wegwerfende Handbewegung. Wieder fummelt sie ihr Taschentuch hervor, wischt sich über die Lippen und lässt das Tuch im Blusenärmel verschwinden. „Mit der Henrike ist nicht viel los.“
Ulli gibt einen Laut zwischen Räuspern und Seufzen von sich.
„Ich müsste mich dann auch wieder um den Michael kümmern“, sagt Frau Möllner.
Die Seelöwen, richtig. Erik legt die Hände auf die Tischplatte, nickt Ulli zu und erhebt sich.
Wie vorhin führt Frau Möllner sie durch den nach Staubsaugerluft und Hausschuhen riechenden Flur. An der Wohnungstür gibt Ulli ihr seine Karte, sie nimmt sie und schließt die Tür sacht, aber mit Nachdruck hinter ihnen.

Hast du Lust zu vögeln?, will er Ulli fragen, als der Fahrstuhl mit ihnen nach unten ruckelt. Er lässt die Pointe aus, studiert weiter stumm die mit Edding hingeschmierten Sprüche und Kritzeleien auf der Aluverkleidung der Kabine.
Im Foyer hat jemand zwei kalkgeränderter Übertöpfe und ein paar weihnachtliche Keramikfiguren zu einem Stillleben drapiert. Daneben liegt ein handgeschriebenes Pappschild, zu verschenken.
„Brauchst du noch Deko für zu Hause?“ Ulli weist mit dem Kinn auf das Ensemble, und Erik grinst, dankbar für den dünnen Witz.
Das Sonnenlicht blendet ihn, als er aus der Betonkühle des Hochhauses ins Freie tritt. Dass die Frau, die über den Parkplatz aufs Haus zueilt, zu Ulli und ihm will, bemerkt er erst, als sie fast vor ihm steht.

True blue before sunrise …
Worte eines halbvergessenen Liedes. Bläue, ans Fenster geschmiegt.
Schwalben rufen silberne Bögen in die Luft. I’m so happy here.
Auf Rikes Bauch schnurrt ein Traum. Weißt du noch, als ich gestiefelt war und sprechen konnte?
Sweet dreams, baby. Später Glocken. Und Rehe, äsend.
Und da hinein ein Lärm. Durch die Landschaft geht ein Riss. Mumin springt vom Bett, und Rike stolpert die Treppe hinunter zum Telefon.
„Hallo?“
„Jürgen ist tot“, lautet der erste Satz, den Mutter nach über fünfundzwanzig Jahren an sie richtet.
Überm Stuhl die Kleider von gestern. Shorts, das verschwitzte Top. Die Gartenflipflops vor der Tür. Mit den Füßen hinein und zum Auto.
Sieben Minuten von Haustür zu Haustür. Auf ihrer Hirnhaut Rehe, am Rand eines Traums zurückgelassen.

Leseprobe 2, ca. Romanmitte. Nach einer verpatzten Urlaubswoche hat Rike sich zu Hause eingeigelt und reagiert nicht auf Eriks Anrufe.

Tag Zwei. Sie niest und hat Halsschmerzen, es passt ihr in den Kram. Sie spielt krankes Kind, bestreicht Zwiebäcke mit Butter und Erdnussmus, krümelt das Sofa voll.
Liest ihre Lieblingsmärchen. Die Gänsehirtin am Brunnen, Von einem, der auszog, das Gruseln zu lernen. Und das Märchen vom Waldhaus: Schön Hühnchen, schön Hähnchen, und du, schöne bunte Kuh? Was sagst du dazu?
Duks, sagen die Tiere.
Dass sie immerzu duks sagen, denkt Rike. Das hat doch damals schon kein Kind begriffen. Duks, was bedeutet das denn?
Es klopft an der Tür. „Ich fahre ins Dorf“, ruft Mimi von draußen. „Brauchst du was?“
„Gott, Mimi, komm rein“, ruft Rike zurück.
„Bist du krank?“, fragt Mimi, als sie in der Stube steht.
„Duks“, sagt Rike. Sieht Mimi ins Gesicht, lacht. „Entschuldigung.“
Sie steht auf und gibt Mimi zehn Mark. „Bihunsuppe und Butterkekse, bitte. Und Wick Vaporub.“
Mimi nimmt den Schein und steckt ihn ein. Bleibt stehen, die Hand auf der Klinke. „Und, du und Erik?“
„Was, ich und Erik?“
Mimi sieht sie an.
„Nichts“, sagt Rike. „Beziehungsweise alles.“ Atmet durch. „Also, alles nichts.“
Mimi nickt weise.
Mittags Suppe und Kekse. Unsere kleine Farm im Fernsehen und sowas wie Glück.
Einmal das Telefon. Erik. Dass man reden muss, wenigstens reden und über die Gründe und fair.
Die ersten kommen gegen sechs. Sie hat sie total vergessen. Im letzten Jahr haben sie in Gruppen zu viert und zu fünft vor Rikes Tür gestanden: „Wir sind die bösen Geister und mögen gerne Kleister.“
„Ja, aber Kleister ist aus“, hat sie gesagt. Hat ratlos getan und in die niedlichen, geschminkten Gesichter geschaut. „Ich hab bloß das hier.“ Sie hat die Geschenkbeutel mit dem Naschzeug genommen, die sie vorbereitet und auf dem Balken aufgereiht hatte, und allen einen davon überreicht.
Jetzt wandeln sie am Fenster vorbei und zuerst zu Mimis Haus. In Gedanken geht Rike ihre Vorräte durch, stellt sich vor, wie sie jedem Geist eine keimende Kartoffel oder eine Handvoll rohe Nudeln in die Hand drückt.
Sie löscht das Licht und ignoriert das Klopfen, hält sich die Geister vom Leib. Auf dem Weg zurück zur Straße ziehen sie mit ihren Laternen und Taschenlampen die Einfahrt hinunter, eine schwankende Karawane, ein betrunkener Hexensabbat.

Tag Drei. Ihr Spiegelbild fasziniert sie: bleich und wie hingerotzt, die Haare wirr, auf die ungute Art. Sie drückt Zahnpasta auf die Bürste und steckt die Bürste in den Mund.
Dass er dort war. Erik. Dass er mit Ulli in dieser Scheißküche von damals gesessen und mit Mutter gesprochen und die Uhr getickt hat. Ob es diese Uhr war? Plötzlich hat sie Lust, ihn anzurufen und zu fragen.
„Hör bloß auf“, würde er sagen. „Diese gruselige Sonne, die hat getickt wie blöd.“
Was, wenn die Jahrzehnte verschmelzen würden? Wenn alle Menschen, die je in einem Raum waren, gleichzeitig dort wären? Dann käme Rike an einem x-beliebigen Sonntagmorgen in die Küche, wo sie alle um den Tisch sitzen: Familie Möllner, winzig und wie durch ein Weitwinkelobjektiv, auf den alten Stühlen mit den Stahlrohrbeinen und den Plastikbezügen.
Gesichtslos. Vielleicht, wenn es Fotos gäbe? Manchmal, wenn man Gesichter nicht mehr vor Augen hat und an bestimmte Fotos denkt, dann sieht man die Menschen wieder vor sich.
Aber so: nur Skizzen. Mutti nichts als heruntergezogene Mundwinkel. Jürgen in Trainingshosen, später Armeehosen, die dunklen Haare ein eigenartiger Kontrast zu der blassen Haut. Der Micha ein Pinselstrich aus blond und Lachen. Eigentlich eher ein Geruch. Sein warmer, leicht pupsiger Kleinkindergeruch.
Und der Vater. Eine Kasperpuppe, die Züge wie geschnitzt, die schmalen Lippen ins Gesicht gekerbt. Der ganze Mann in den viel zu nüchternen Sonntagmorgen gezwängt wie in einen schlecht sitzenden Anzug. Klopapierfetzen am Kinn, eine Mischung aus Rasierwasser, Restausgeh-Pomade und Restpromille ausdünstend.
Eine arme, dumme Sau. Und so mächtig damals, Rike spuckt den Schaum aus und spült nach.
An diesem speziellen Morgen aber wäre etwas anders als sonst. Zwei Polizisten säßen am Tisch, unrasiert, die Augen hohl vor Erschöpfung nach einer viel zu langen Nachtschicht. Sie hätten die Mützen abgenommen und vor sich auf den Tisch gelegt. Den Grund ihres Besuchs hätten sie noch nicht genannt.
Es gäbe noch keinen Grund. Jürgen ist ja da und matscht mit seinem Marmeladenbrot herum. Der Alte beobachtet ihn gereizt. Gleich nach dem Frühstück wird Jürgen verduften, zum Fußball, als er das noch durfte, später irgendwelche Dinger drehen mit seinen Kumpels ‒ und da, auf einmal doch sein Gesicht, eine Sekunde lang sein Jungsgesicht, deutlich wie auf einem Foto: So sah er, so sah Jürgen aus!
Der dunklere der beiden Polizisten hebt den Kopf und sieht Rike an der Tür stehen. Er lächelt ihr zu, wie man eben einem fremden Kind zulächelt, das dasteht und einen unverwandt anstarrt. Und es fühlt sich an, als könnte sein dreißig Jahre späteres Lächeln dem Mädchen, das sie war, etwas nützen.
Als könnte Rike schon mal die Hand durch die Jahrzehnte strecken.

Tag Vier. Die Kolleginnen haben einem Gabentisch an Rikes Platz aufgebaut. Schokoladenkäfer krabbeln auf bunten Blättern herum oder lugen unter ihnen hervor. Etwas Großformatiges in buntem Papier, von dem Rike ahnt, was es ist, weil sie es neulich bewundert hat.
Richtig, die Bibliotheken der Welt, ein irre teurer Band. Rike drückt das Buch an ihre Brust. „Ihr seid komplett verrückt, wisst ihr das?“
Ja, wissen sie. Sie strahlen. Aber jetzt sie. Endlich erzählen soll sie. Von Schweden. Und mit dem Magen, das ging dann? Geregnet, igitt, richtig nasskalt? Na, dann macht man sich das miteinander warm, was? Haha. Hier ging das eigentlich, mal einen Tag geschüttet, aber sonst und nee und ja und doch …
Das ist das Gute an Frauen. Das Gute an Gesprächen.
Der erste Leseransturm rauscht vorüber. Rike öffnet die Datei „Vorlesewettbewerb“ und überträgt die Anmeldelisten in eine Excel-Tabelle. Nach der Frühstückspause versieht sie einen Schwung Neuzugänge mit Kennnummern, speichert sie im Rechner ab, Autor, Titel, Code, schöne blöde Routinearbeit, genau richtig, um die Gedanken schweifen zu lassen.
Wie er sie zum ersten Mal hier abgeholt hat. Wie er zur Tür hereinkam und Maja leise: „Hui!“ sagte, noch bevor sie begriff, dass dieser Mann zu Rike wollte.
Sie schaut zum Ausleihtresen. Maja wirft ihr einen heimlichen Blick zu und verdreht die Augen. Dr. Pauli hat sie am Wickel, er hat seine literarischen Altherrenfantasien ausgelesen und möchte jetzt gern mit jemandem darüber reden. Rike tut, als prüfte sie den Nagel ihres Mittelfingers, pustet sacht darüber, und Maja blickt rasch fort und beißt sich auf die Unterlippe.
Rike stapelt die Neuerscheinungen auf dem Rollwagen, damit der Praktikant sie nachher einsortieren kann. Dann geht sie zum Klo, schließt sich ein und setzt sich auf den Deckel.
Wie Erik bei ihr den Rasen mähen wollte. Ganz am Anfang, als er noch meinte, er müsste sich bei Mimi und ihr beliebt machen. Wie sie ihm im Schuppen den Mäher zeigte und er lange dastand, das Ungetüm betrachtete und dann sagte: „Wusstest du, dass es keine erotischere Geruchsmischung gibt als die von Benzin und Waschpulver?“
Sich zu ihr umdrehte. Wie er sie gestreichelt, ihr Haar gestreichelt hat. Und dann sie auf der Waschmaschine, und ihr Kleid und seine Hände und Mimi beim Augenarzt.
Oder wie er Mimi und ihr den Witz von der Birne erzählt hat, die um den Apfelbaum fliegt, in Kreisen herum und immer herum. „Haha“, rufen die Äpfel. „du kannst ja gar nicht fliegen, du bist doch eine Birne.“
An der Kabinentür, genau in Sitz-Augenhöhe, klebt seit Anbeginn der Zeiten ein Bildchen. Die Person, die es ausgeschnitten und dorthin geklebt hat, muss gemeint haben, dass es nett ist, wenn einem beim Pinkeln der junge Gerard Depardieu zusieht, mit milden Augen, ein Lamm im Arm.
Es ist nett.
Der Klorollenhalter hängt an zu losen Schrauben an der Wand. Unter dem Waschbecken steht ein WC–Reiniger, sanfte Power für Ihr Bad, und Rike kann nicht aufhören, an den dummen Kalauer zu denken. An die Birne, die den Apfelbaum umkreist. „Natürlich kann ich fliegen“, ruft sie. „Ich bin doch die Birne Maja.“
Rike muss lachen. Und endlich, endlich beginnt es ihr zu gruseln.
„Du Schöne“, flüstert sie. Schließt die Augen und legt die Arme um sich. Streichelt ihre Schultern und wiegt sich vor und zurück. „Du Schöne.“

Der fünfte Tag. Immer wieder hört sie das Band ab. „Ey, Rike, dieses kleine Zögern, bevor du sagst: Tschüs, Erik.“ Seine heisere, betrunkene Lache. „Wahnsinn.“
Zum Schluss: „Tschüserik.“ Dreimal, fünfmal. Nochmal.
Die vierzig Geschenke, in der Küche verteilt. Rike hat sie seit dem Geburtstag nicht angerührt. Das Pixibuch, der Stein, die Radieschensamen.
Die Bodylotion. Rike schraubt die Tube auf und drückt sich einen perlmuttfarbenen Wurm auf die Hand. Reibt die Handrücken gegeneinander und saugt den Geruch ein. Ein sanfter Duft, wie Nebel, der sich an die Scheibe schmiegt. Weil Erik keiner ist, der hingeht und irgendetwas kauft, damit er was zum Geburtstag hat. Weil er einer ist, der sich durch tausend Tester schnuppert, bevor er sagt: Das ist sie, das ist meine Rike.
Das macht den Unterschied, denkt Rike. Ob einer an den Testern schnuppert ‒ und wie seltsam manche Sätze sind.
Der Bilderrahmen lehnt am Tischbein. Sie hebt ihn auf und legt ihn vor sich hin. Mit dem Zeigefinger fährt sie über eine winzige Stelle, wo das Holz abgesplittert ist. Ein kaum sichtbarer Makel, das Glas selbst ist sauber und heil.
Sie sucht Cutter und Lineal heraus, legt eine Zeitung als Unterlage zurecht. Nimmt das Bild mit dem fliegenden Gänseschwarm von der Wand neben dem Ofen, trägt es zum Küchentisch und löst es aus dem Halter.
Das Passepartout ist nur wenige Millimeter zu groß für den Rahmen, Erik hat Augenmaß bewiesen. Sie passt das Bild neu ein, hängt es an seinen Platz zurück und tritt einen Schritt zurück.
Und alles in ihr wird ruhig und gut. Es ist Herbst auf dem Bild, richtig Herbst. Perfekt eingefasst vom mahagoniroten und mit Gold überhauchten Holz erfüllt der Schwarm den Abendhimmel, und Rike glaubt, das Rauschen der Flügelschläge zu hören, das heisere Trompeten, mit dem die Gänse sich verständigen.
Duks, sagen die Tiere aus dem Märchen. Der Sommer war. Wer jetzt alleine ist, ist selber schuld. Du hast ihn ausgesperrt wie einen Hund.
Was soll ich jetzt tun?, fragt Rike.
Ihn wieder einlassen.
So einfach? Und du, schöne bunte Kuh, was sagst du dazu?
Viel zu verlieren hast du nicht, Rike. Und Erik, der kann verzeihen. Der kann Dinge verzeihen, noch bevor sie geschehen sind. Hast ihn doch danach ausgewählt.
Das wusste ich nicht, sagt Rike.
Jetzt weißt du es, sagen die Tiere.

Leseprobe: Sylvia Wage – “Grund”

GRUND

1 – Der Brunnen

Mein Vater lag tot auf dem Grund des Brunnens.

Das ist ein guter Anfang. Für ein Märchen. Denn anständige Märchen beginnen stets grausam. Der Held, natürlich reinen Herzens und gut bis in die Fußknöchel, sieht sich der Vernichtung gegenüber. Mordanschläge, eskalierende Väter, dämonische Stiefmütter, Vertreibung und Hass, Verlust der liebenden Mutter/Eltern, Abwertung, Degradierung, Abscheu.

Eine hoffnungslose Ausgangslage scheint ein guter Anfang für eine Geschichte, was mir recht ist, denn wenn ich mit einem dienen kann, dann mit Hoffnungslosigkeit.

Mein Vater lag tot auf dem Grund des Brunnens.
Es war sechs Uhr morgens und ich starrte auf seinen abgemagerten Körper. Er lag auf der Seite, in Feinrippunterhemd und Jogginghose. Beides fleckig, beides zu groß. Er lag da, den Daumen im Mund, wie es kleine Kinder tun, genau so, wie er jeden Morgen dalag, wenn ich hereinkam und nach ihm sah. Nur, dass er heute tot war. Ich wusste es, noch bevor mein Blick auf ihn fiel, noch bevor ich die wenigen Schritte zum Brunnen ging, noch bevor ich das Licht anschaltete. Der Tod begrüßte mich, als ich die Hand auf die Klinke der Kellertür legte, er nickte mir freundlich zu und ich nickte zurück.

Mein Vater lag tot auf dem Grund des Brunnens.
Und ich zögerte. Nur einen Lidschlag lang, aber später werde ich sagen, dass es ein sehr tiefes Zögern war und ich in diesem Moment wirklich alles hätte anders entscheiden können und – wenn ich ein guter Mensch wäre – es auch anders entschieden hätte. Doch da mir nie die Gelegenheit gegeben wurde, ein guter Mensch zu werden, griff ich in meine Jackentasche, holte das Telefon heraus und rief meine Schwestern an.

2 – Die Schwestern

Gut. Ich habe gelogen.
Es war gar kein Brunnen.
Aber das Loch im Keller sah nun mal genau so aus, wie man sich einen Brunnen im Märchen vorstellt, in welchen die Helden hinabsteigen, um in eine andere Welt zu gelangen. Ganz genau so.
Rund dreieinhalb Meter tief und mit einer hübschen hüfthohen Umrandung aus Natursteinen. Der Flaschenzug darüber war vielleicht ein bisschen zu modern für einen märchenhaften Brunnen, aber auf den ersten Blick fiel das kaum auf.
Das Loch hatte alles, was ein Brunnen braucht, mal abgesehen vom Wasser. Es war nicht einmal sonderlich feucht oder klamm auf dem Grund. Das Stroh, auf dem die Matratze meines Vaters lag; eine recht gute Matratze, wie ich hinzufügen möchte, zwar schon ein wenig in die Jahre gekommen, aber anständigem Federkern mache das nichts aus, hatte mir Tante Bärbel versichert, als sie eines Morgens mit eben dieser Matratze vor dem Haus stand – jedenfalls, das Stroh musste nur alle halbe Jahre getauscht werden, so trocken war es da unten. Aber trotz des fehlenden Wassers gefällt mir die Idee eines Brunnens besser. Loch. Loch kann alles sein. Eine Höhle. Oder etwas, das Holzwürmer in Tische fressen. Loch an Loch und hält doch, was ist das? Ins Loch wird man gesteckt und kommt wieder raus. Doch niemand kehrt als der zurück, der er einst war, wenn er in einen Brunnen hinabgestiegen ist.

Ich dachte also über Löcher nach und meine Schwestern standen neben mir und schauten über die Brunnenumrandung hinab zu Papa. Ich konnte noch nie sehr lang bei einer Sache bleiben, stets huschten meine Gedanken hin und her, als wären sie Glühwürmchen auf Koks. Wuschwusch – flitzten sie, vom Kleinen zum Großen, von hier nach da, doch irgendwann fiel mir das Schweigen meiner Schwestern auf.
Beide starrten mit nahezu identischem Gesichtsausdruck auf den dürren, ausgemergelten Körper am Grund des Brunnens. Kein Entsetzen, keine Überraschung lag in ihren Gesichtern, nur Leere. Und kein Laut kam von ihnen. Es war still wie an einem kühlen Morgen, einem, der gerade noch Nacht ist, kurz bevor die Dämmerung die Vögel wecken wird.
Obwohl der Ausdruck meiner Schwestern äußerlich so völlig gleich schien, war ihre Energie doch grundverschieden. Während Elli, ich wusste es genau, schon erste Überlegungen zur Lösung des Problems anstellte, versuchte Thea, Schmerz zu empfinden. Trauer. Über den Verlust des Vaters.

Vielleicht hätte ich Thea nicht anrufen sollen.
Aber eine gutes Märchen brauchte nun mal völlige Hoffnungslosigkeit – und niemand konnte mir so zielgenau jede Hoffnung nehmen wie Thea.
„Woher zum Teufel kommt dieser Brunnen?“, fragte Elli irgendwann in die Stille und das Wuschen meiner Gedankenglühwürmchen hinein.
„Ich habe ihn gegraben“, sagte ich.
„Wann? Verfickte Scheiße! Wann?“
„Als ich elf war.“

3 – Lügen

Und das war natürlich wieder eine Lüge. Ich lüge andauernd, aber das brauchen gute Geschichten: Lügen und Hoffnungslosigkeit.
Aber diese Lüge war zu offensichtlich: nicht einmal der Held eines wirklich guten Märchens kann mit elf Jahren einen dreieinhalb Meter tiefen Brunnen im Keller eines Einfamilienhauses auf einem Hügel am Rande einer nichtssagenden Kleinstadt graben. Schon gar nicht unbemerkt von seinen großen Schwestern.
Korrekt war also: Ich begann mit dem Graben, als ich elf war. Genau wie mit dem Lügen.
Natürlich werde ich vorher schon gelogen haben, geflunkert. Geschummelt. Wie Kinder das eben so tun. Nein, Mami, ich habe den Kuchen nicht gegessen, nicht den Fernseher eingeschaltet und keinesfalls die Gummibärchen vom Dirk mit der dicken Brille geklaut usw.

Jedoch: in dem Augenblick, in dem ich mit der frisch gestohlenen Pflanzschaufel in den Keller unseres Hauses ging, durch die Waschküche, an dem Eingeweckten in Gläsern und den übriggebliebenen Kohlen vorbei, ganz nach hinten, da, wo meine Großmutter Zeug sammelte, bis mein Vater in seinem Ordnungssinn das Gerümpel verbot, und ganz hinten nun nur noch ein recht ansehnlicher großer, leerer Raum war, der Boden gestampfte Erde, hart und trocken; in dem Augenblick, in dem ich begann, mit der Pflanzschaufel den Boden abzukratzen, an ein Graben war nicht zu denken, vorerst, und mir mit dem Dreck die Hosentaschen füllte, um dann ebenso leise und unbemerkt wieder aus dem Keller hinauszuschleichen, und dann draußen meine Taschen zu leeren: in diesem Augenblick begann die erste echte Lüge. Und außerdem begann mein Leben.

„Scheiße nochmal“, sagte Elli, „was soll das heißen? Mit elf? Wieso gräbst du mit elf Löcher in den Keller?“
„Einen Brunnen“, sagte ich, „kein Loch.“
„Hat das Ding Wasser?“
„Nein …“
„Dann ist es ein Loch.“
Über meine große Schwester muss man wissen, dass sie schon früh Verantwortung übernehmen musste und sich diese dann nie wieder nehmen ließ. Elli hatte das Sagen, Elli traf die Entscheidungen und Elli verlangte Antworten.
„Wen interessiert der Brunnen?“ Thea kreischte. Und fing an zu weinen. Beides gleichzeitig. Auch etwas, das nur Thea konnte. Direkt aus dem Nichts in ein Kreischheulen verfallen. „Papa …“, keifte Thea. „Papa!“

Während Thea also heulte, stellte ich mir vor, ich würde meiner Therapeutin davon erzählen. Ich hatte eine sehr nette Therapeutin, sie war mütterlich-rundlich mit hübschen blonden Locken und einer Brille, die es schwer machte, ihr in die Augen zu sehen. Ich stellte mir vor, auf der Couch zu liegen und ihr zu erzählen, wie mein Papa mausetot am Grund des Brunnens lag und meine eine Schwester mich anfauchte, warum ich hier einen Brunnen gegraben hätte und die andere dramatisch, wie eine Dreijährige, die kein Eis bekommt, kreischte – und meine Therapeutin würde lächeln und sagen: „Sie immer mit Ihren Geschichten.“
Und ich würde fragen: „Warum glauben Sie mir nicht? So war es, ganz genau so.“
Dann würde sie für einen Moment die Brille abnehmen und sich die Augen wischen, aber so abgewandt, dass ich keinen Blick hineinwerfen könnte, und mir dann voller Ernst erklären, dass Menschen so nicht reagieren. „Schock“, würde sie sagen, „Ihre Schwestern wären geschockt. Sie könnten die Situation weder erfassen noch glauben, und in dem Versuch, die Lage zu beherrschen, würden sie sich zuallererst um Ihren Vater bemühen, also unter anderem … doch viel wichtiger ist die Frage: Warum erzählen Sie solche Geschichten? Was macht das mit Ihnen?“
Ja, ich habe eine sehr nette Therapeutin. Leider hat sie keine Ahnung von Menschen.

Thea heulte noch immer, Elli war davon genervt, traute sich aber nicht, Thea anzufahren oder gar sie zum Schweigen zu bringen. Deswegen lehnte sie mit verkniffenem Mund an der Brunnenumrandung und sah mich böse an.
„Ich hasse dich“, sagte sie zu mir. „Ich habe dich schon immer gehasst.“

Dass meine Therapeutin keine Ahnung von Menschen hat, zeigte sich zum Beispiel darin, dass sie eben bemängeln würde, in meiner Geschichte würden die Schwestern sich nicht – nach einer angemessenen Zeit für das Überwinden des Schocks, versteht sich – um meinen Vater bemühen. Sagen wir: Elli, die Große, sich nicht in den Brunnen hinab lassen, um nach dem Puls des Vaters zu tasten, und Thea, die Kleine, zum Telefon greifen, um den Notarzt und die Polizei zu verständigen, oder mindestens: dass nicht beide auf mich einbrüllten, warum ich dies getan hätte bzw. nicht getan hätte – und bei all dem, was meine Therapeutin sich da zusammendenken würde, fiele ihr für keinen Moment ein, dass meine beiden Schwestern gar nicht im Keller sein dürften.

Nehmen wir an, Sie – Sie wären Ende dreißig/Anfang vierzig, hätten eine Karriere und eine Familie. Ein Haus und einen Mann oder keinen Mann, dafür aber einen wichtigen Termin, und Kinder haben Sie auch noch. Und einen Hund. Dann ruft eines Morgens um sechs Uhr, Sie schlafen noch oder vielleicht sind Sie gerade dabei Kaffee aufzusetzen, jedenfalls, es ist noch früh, der Schlaf sitzt Ihnen in den Augen, den Knochen, dem ganzen Körper und dann ruft Sie das Geschwisterchen an und sagt: „Hey du, komm mal rum, Papa ist tot.“

Ein Papa, der, und das ist jetzt wichtig, vor über zwanzig Jahren verschwand. Dessen Fallakte längst verstaubt in irgendeinem Archiv liegt, ein Papa, den Sie sehr vermisst haben oder zumindest sich verpflichtet fühlten, ihn zu vermissen, jedenfalls ein Papa, von dem man nicht wissen kann, ob er tot ist, und auch wenn er es wäre, kein Grund bestünde ‚mal eben rumzukommen‘ und es letztlich einfach nur dieses Geschwisterchen ist, das immer mit seinen seltsamen Geschichten und Lügen daherkommt und nichts hat – keine Familie, keine Karriere, kein Haus. Keinen Hund. Natürlich würden Sie nicht lachend den Hörer auflegen und egal wäre es auch nicht, aber Sie würden zuerst ein paar Fragen stellen. Ungläubig. Und zwischen Besorgnis und Verärgerung schwanken, Sie würden zusehen, dass Sie recht bald rausfahren könnten, in das Elternhaus auf dem Hügel am Rande der nichtssagenden Kleinstadt, natürlich würden Sie nachsehen, was da nun wieder los ist, allein schon, weil die Mutter ja auch da ist und wenn das Geschwisterchen mal wieder durchdreht …
Sie würden Termine verschieben, Babysitter besorgen, vielleicht jemand anderen vorschicken, sie würden die Schwester anrufen, ob sie das auch schon gehört hat, was da wieder los ist. Sie würden vieles. Vielleicht. Je nach Temperament und Charakter.
Aber Sie würden nicht: Meine Worte hören, ohne eine weitere Frage zu stellen ein klares, direktes ‚Komme‘ aussprechen, auflegen, sich krank melden/die Kinder dem völlig überforderten und verärgerten Partner übergeben (heute musst du, mir ist egal wie, krieg‘s hin, Notfall), den aufmerksamen Blicken des Hundes keine Beachtung schenken, in die erstbesten Jeans schlüpfen, in das Auto springen und hierher fahren.
Niemand würde.

Meine Schwestern taten aber genau das.
Und auch das hatte wie alles seinen Grund.

4 – (Un)Sichtbarkeit

Wer graben will, muss unsichtbar sein.
Nicht dass ich vorher sichtbar gewesen wäre. Ich bin das mittlere Kind. Und meine Schwestern sind die mit den strahlenden Persönlichkeiten, meine Mutter hatte mit anderen Dingen zu tun und – nun ja – ich will nicht schlecht über meine Familie sprechen. Es hat sich ja keiner so ausgesucht. Meine Familie war wie etwas, das das Meer angespült hat. Sicherlich gab es für alles einen Grund, eine Erklärung, aber letztlich waren es die Strömungen und Winde des Schicksals, die uns zusammen an den Strand warfen, und da waren wir nun und mussten irgendwie zusammen leben. Meine Persönlichkeit war von je her farblos. Ich spreche nicht viel, ich kann nicht viel, aber immerhin genug, um nicht weiter aufzufallen. Das Netteste, was man über mich sagte, war, was für ein unkompliziertes Kind ich doch sei. Und ein solches war ich tatsächlich und deswegen beachtete mich niemand. Was aber eben nicht heißt, dass mich niemand beobachtete. Da war Papa, dessen Blick wir stets im Nacken spürten, Mama, die uns, wenn es sich fand, plötzlich und aus dem Nichts heraus mit Liebe überschüttete, und meine Schwestern, die neidvoll und hungrig nicht allein jede Zuwendung mitzählten, sondern auch jede Ablehnung. Es ist ein gravierender Unterschied zwischen Beachtung und Beobachtung.
Deswegen ist unsichtbar auch das falsche Wort. Unsichtbar hieße ja, ich wäre verschwunden, und wenn ich verschwunden wäre, hätten meine Schwestern mich im gleichen Augenblick gesucht. Mich aufgespürt und ausgequetscht, was ich mir traue, was ich mir erlaube, dieses Haus, dieses Leben zu verlassen.
Auch durchsichtig wäre falsch, denn durchsichtig ist viel zu merkwürdig, als dass man es übersehen könnte – im Prinzip musste ich genau das Gegenteil von unsichtbar werden. Undurchschaubar. Den Menschen eine feste Fassade bieten, über die ihre Augen hinweghuschen konnten und sich versichern, dass absolut alles in Ordnung ist. Aber zu glatt und perfekt durfte die Fassade nicht sein, nichts verabscheuen Menschen mehr, als jemanden, der ein feiner Kerl ist und gut klarkommt, nein, man muss die anderen etwas finden lassen, was sie bemängeln und kritisieren können, was sie ändern wollen.
Dann übersehen sie das Offensichtliche.

Wie ein Zauberer muss man das Verborgene ganz offen vor aller Augen tun – und nur dafür sorgen, dass die Blicke auf etwas anderes gerichtet sind. Und ich sage es ebenso offen: Unsichtbar zu sein ist eine Kunst, und ich beherrsche sie wie kein Zweiter. Fragen sie meine Therapeutin, möchte ich hinzufügen – aber dafür müsste sie mich ja sehen können.
So begann ich mein Leben als Grabender.
Das klingt ganz wunderbar, möchte ich meinen: mein Leben als Grabender. Es klingt nach Bedeutung, einem Ziel, einer Aufgabe. Die Wahrheit war jedoch, wie alles in dieser Welt, ernüchternd. Denn es war schlicht so, dass ich, wann immer sich die Gelegenheit bot, in den Keller ging und meine Hosentaschen mit Dreck füllte, und sie dann später, irgendwo draußen, stets an einer anderen Stelle, wieder ausleerte. Ansonsten blieb es wie gehabt – ich ging zur Schule, ich brachte den Müll raus, ich stritt mich mit meinen Schwestern und versuchte, meinen Eltern aus dem Weg zu gehen, so gut das möglich war und ohne dass es ihnen auffiel.

5 – Stellst du dich absichtlich blöd?

„Thea, hör auf zu heulen.“ Elli reichte es jetzt.
Thea hörte schlagartig auf – verschränkte aber die Arme vor der Brust und sagte: „Es ist doch aber Papa!“
„Eben“, sagte ich und jetzt sahen mich beide erst an und dann sehr schnell irgendwo anders hin.
„Wir haben ein Problem“, sagte Elli und an sich war es vollkommen überflüssig dies auszusprechen, aber sie sagte es auch nur, damit meine Stimme nicht mehr im Raum hing. „Irgendjemand eine Idee zur Lösung?“
Thea verdrehte die Augen. „Am Ende zählt doch eh nur, was du willst.“

Wir ließen ihr Schmollen ein paar Minuten so stehen, dann wurde Thea unsicher und sagte: „Wir müssen die Polizei rufen.“
„Wozu?“, sagte Elli.
„Na, weil man das so macht: die Polizei rufen.“

Machte man das so? Wahrscheinlich schon. Wenn man ein rechtschaffener Mensch ist und entdeckt, dass das Geschwisterchen einen Brunnen gegraben hat und auf dem Grund dieses Brunnen der eigene Vater liegt – dann ruft man die Polizei. Und sagt Sätze wie: „Ich verstehe nicht, wie das geschehen konnte. Wir waren doch eine ganz normale Familie!“

Wenn ich auch nur für einen Moment geglaubt hätte, dass meine Schwestern rechtschaffene Menschen seien, dann hätte ich die Polizei auch gleich selbst rufen können. Oder meine Sachen packen und mich davonstehlen. Oder die Leiche entsorgen. Jedenfalls hätte ich mir die Anrufe sparen können und all das Menschliche, was jetzt hier unten stattfand, gleich mit.
„Wieso hast du uns eigentlich angerufen?“, fragte Elli, der wohl Ähnliches wie mir durch den Kopf ging.
„Weil ich die Leiche nicht allein entsorgen kann.“
Auch das wieder eine Lüge – mir wäre schon etwas eingefallen, es drängte ja nicht. Ich hätte Papa in kleine Häppchen zerlegen können und Stück für Stück verteilen, ich hätte seinen inzwischen so leichten Körper vielleicht sogar im Ganzen aus dem Haus bringen können oder – die einfachste Lösung – den Brunnen über ihm zuschütten. Und die Sache vergessen.

Der Grund, aus dem ich meine Schwestern angerufen hatte, war, dass ich es ihnen schuldete. Sie hatten das Recht auf ein Ende. Oder zumindest das Recht auf die Chance zu einem Ende – denn nicht einmal ich, obwohl ich seit über zwanzig Jahren darüber nachdenke, kann auch nur ansatzweise erahnen, ob das, was mit uns ist, was uns hierher gebracht hat, je endet. Ob es einen Grund gibt, auf den man die Vergangenheit betten und zur Ruhe kommen lassen kann.
Wie dem auch sei – ich schuldete meinen Schwestern den Versuch. Und auch das ist etwas, was meine Therapeutin nicht verstehen würde, weshalb ich es ihr bei Gelegenheit erzählen sollte.

Sie denken jetzt bestimmt, dass wir wohl keine sehr schöne Kindheit hatten, meine Schwestern und ich. Aber das stimmt nicht, es war schon ganz in Ordnung. Es gab sie für uns, die guten Zeiten, nur waren sie recht kurz. Es waren jene Stunden des Tages, in denen wir mit Mama allein waren – und Mama nicht mehr nüchtern, aber auch noch nicht betrunken. Dann spielten wir im Garten. Und das Lachen meiner Mutter war hell. Wir spielten Verstecken und Fangen. Oder Mama tanzte mit uns. Sie zeigte uns Walzer und Polka, Foxtrott und Discofox. Das alte Radio plärrte seine Melodien in den Garten und Mama wirbelte uns herum, das Glas Sekt in der einen Hand und die andere in fester Führung um uns gelegt. Nicht dass ich je zum Tanzen taugte, meine Schwestern waren weit begabter darin, die Füße an die richtigen Stellen zu setzen und sich in den Hüften zu wiegen. Vielleicht lag es daran, dass mein Blick stets auf die Flasche gerichtet war und ich wusste, mit jedem Schluck würde die Laune meiner Mutter schlechter werden, und wenn sie die zweite Flasche öffnete, würden ihre Schritte unsicher und ihr Griff uns nicht mehr halten. Meine Schwestern aber tanzten ausgelassen, als könnte der Augenblick ewig dauern, als gäbe es das Danach nicht. Das Danach, das von Tag zu Tag, von Monat zu Monat schneller kam und irgendwann trank Mutter keinen Sekt mehr, sondern gleich Korn und Wodka. Und dann wurde nicht mehr getanzt.

„Die Steine“, sagte Elli.
„Was für Steine“, fragte Thea, aber Elli beachtete sie gar nicht. Wandte sich ganz mir zu.
„Wo hast du die Steine her?“
Sie meinte die wunderschöne Umrandung des Brunnens. Es waren prächtige Natursteine, Granit und Gneis, nur gehalten vom eigenen Gewicht und der geschickten Schichtung, die mich Monate gekostet hatte.
„Wie hast du bitte diese Steine herbekommen? Mit elf?“
„Ich sagte, ich habe angefangen zu graben, als ich elf war – nicht, dass ich mit elf damit fertig wurde.“ Mein Augenrollen brachte sie in Rage, ich wusste es und ich wusste auch, dass das mies von mir war – aber ich kann es nicht leiden, wenn Menschen nicht mitdenken.
„Vergiss die Steine“, sagte Thea. „Wir müssen die Polizei rufen.“
„Spinnst du?“ Elli war wieder ganz und gar die große Schwester. Zwei Worte und es war klar, wer hier das Sagen hatte – egal, wie viel Thea noch reden würde. Oder kreischen.
„Wir können nicht … das hier … man muss doch … wir …“ Thea rang um Worte. Aber es war kein verzweifeltes Ringen.
Verzweiflung ist etwas, das hinter uns liegt. Jeder Mensch bekommt ein gewisses Maß für sein Leben mitgegeben. Irgendwann ist es aufgebraucht, bei dem einen früher, dem anderen später. Dann bleibt nur die Wut, die endlos ist, und der mühsame Kampf, sie zu kontrollieren. Und genau das war es, was wir drei noch gemeinsam hatten, was uns fest, unauflösbar verband: Die Wut. Und die Fähigkeit, sie zu kontrollieren.

„Also keine Polizei?“, fragte Thea.
„Stellst du dich absichtlich blöd?“, fragte Elli.
Der gesunde, der normale Mensch wird sich jetzt fragen, was in aller Welt daran blöd sein soll, die Polizei zu holen, wenn man sein Geschwisterchen dabei ertappt (na gut, das Geschwisterchen offenbart), dass es den Vater umgelegt hat.
Zwar nicht direkt, immerhin hatte ich ihn ja nicht erschlagen, sein Tod konnte durchaus als ein natürlicher bezeichnet werden, aber dennoch würde der Umstand, dass ich ihn Jahrzehnte in einem selbst gegrabenen Brunnen gehalten hatte, bei seinem Tod wohl eine Rolle gespielt haben. Kurzum: ich hatte mich schuldig gemacht. Meine Schwestern dagegen waren unschuldig. Und nun war es eigentlich an der Zeit, dem Recht und Gesetz auf die Sprünge zu helfen.
„Ich werde mich in diese Scheiße nicht reinziehen lassen!“, kreischte Thea.
„Du bist in der Scheiße geboren“, sagte Elli.
Und dann stritten sie, so, als wäre ich gar nicht da. Ich setzte mich neben den Brunnen, lehnte mich an die kühle Natursteinumrandung und dachte mir: „Hey, ganz wie früher“. Und dann huschten meine Gedankenglühwürmchen ins Irgendwo. Wut und Kontrolle. Je wütender meine Schwestern waren, um so mehr konnte ich mich darauf verlassen, dass sie die Kontrolle nicht verlieren würden.

6 – Wozu der Brunnen?

Man könnte meinen, ich hätte beim ersten Stich der Pflanzschaufel schon gewusst, was daraus werden sollte, ich einen Plan, mindestens aber eine Vision meines Tun gehabt hätte – und vielleicht stimmt das. Vielleicht aber auch nicht. Das mit dem Wissen ist so eine Sache.
Wahrscheinlich wird der Forensiker, der mich im Gefängnis befragt, davon ausgehen, dass ich zu graben begann mit dem festen Vorsatz, meinen Vater auf den Grund des Brunnen zu stoßen und ihn dort jämmerlich verrecken zu lassen. Was mit Sicherheit falsch ist. Denn dafür war ich bei weitem nicht mutig genug. Wütend genug vielleicht, aber nicht mutig genug. Und es fehlte mir an Kontrolle. Mein ursprünglicher Plan war, mir ein Grab zu schaufeln. Mich hineinzulegen und darin zu streben.

„Denken Sie manchmal über Suizid nach?“, fragte mich einmal meine Therapeutin.
„Oh ja“, sagte ich.
„Seit wann?“
„Nun, etwa seit der zweiten Klasse.“

Das war die Zeit, in der meine Mutter von Sekt auf Korn umstieg. Aber das war nicht der Grund. Auch nicht ihr Schweigen, wenn wir von der Schule kamen, ihr leerer Blick, mit dem sie auf dem weinroten Sofa im Wohnzimmer unseres unbedeutenden Hauses auf dem Hügel am Rande der unbedeutenden Stadt saß. Auch nicht der mehr und mehr anwachsende Ärger des Vaters, welcher wahrscheinlich völlig berechtigt war, wenn man ehrlich ist. Wer will schon nach harter Arbeit in ein Zuhause kommen, in dem drei Kinder streiten und die Frau sich stöhnend erhebt, um das Abendessen zu kochen. So wenig meine Mutter tat, mal abgesehen vom Trinken, wenn mein Vater nicht daheim war, so fleißig war sie, sobald er durch die Tür trat. Als wäre sie schlagartig nüchtern. Sie kochte, putzte, werkelte im Garten. Aber sie lachte und tanzte nicht. Und sie stöhnte. Immerzu. Leise. Der Vater kam heim, brachte den geschwisterlichen Streit zum Verstummen und prüfte die Hausaufgaben. Er berief sich gern darauf, dass unser aller vorzeigbare Leistungen in der Schule nur darauf zurückzuführen seien, dass er uns prüfte. Härter und strenger als jeder Lehrer. Ja, nun, sicher – auch nach seinem Verschwinden wirkte der uns indoktrinierte Anspruch fort und aus meinen Schwestern ist ja auch etwas geworden.

Mit dem Korn endete das Tanzen. Aber das war auch die einzige offensichtliche Veränderung, wenn man davon absah, dass meine Schwestern heranwuchsen und Elli, die damals die Dreizehn erreichte, so schön war, dass die Sonne selbst sich verwunderte, wenn sie ihr ins Gesicht schien. Aber anders als in Märchen, in welchen schönen Mädchen nach mehr oder weniger Prüfung ein Prinz beschieden ist, also auf die Hoffnungslosigkeit ein Wunder folgt, so blieb uns nur die Scheiße, in die wir hineingeboren waren. Also konnte ich auch sterben. So meine feste Überzeugung, bis mir beim Graben – etwa da, als das Loch groß genug war, ein richtiges schönes Grab, rechteckig und six feet under – aufging, dass vielleicht ich, ich ganz allein, für dieses eine märchenhafte Wunder sorgen konnte. Dafür müsste ich aber in einen Brunnen hinabsteigen. Von da an dachte ich noch immer jeden Tag an Selbstmord, aber auf eine andere Weise. Nicht mehr gleich und sofort, sondern als einen Abschluss. Als das gute Ende eines Märchens. Wie es sich gehört. Denn wenn die Prinzessinnen erlöst sind, ist keine Rede mehr von den Gnomen und Feen, die das Ihre dazu beigetragen haben.

„Warum zum Teufel sollten wir dir helfen, die Leiche zu entsorgen?“, kreischte Thea.
Theas Kreischen. Wie gesagt, eine merkwürdige Sache. Seit sie geboren wurde, erfüllte sie meine Welt mit aus dem Kehlkopf gepressten Lauten. Dem Baby Thea kann man solches sicher nachsehen, aber die restlichen sechsunddreißig Jahre voller Lärm hätten nicht sein müssen. Auch hier und heute musste es nicht sein.
„Was glaubst du eigentlich, was du hier machst? Spinnst du …“ Thea keifte mit einer Art Kopfstimme, ich kann das kaum wiedergeben, es war wirklich eine besondere Form des Schrei-Sprechens, das nervig-penetrant-eindringlich war, aber eben nicht laut. Ganz und gar nicht laut. Theas Kreischen war der manifestierte Wutanfall eines Kindes, das genau wusste, dass ihm Übles blühte, wenn die Eltern es hörten.
„Wie macht man das eigentlich?“, fragte Thea, plötzlich mit ganz normaler Stimme. „Rollt man so ne Leiche wie bei der Mafia in einen Teppich? Und kaufen wir den Teppich neu oder hat jemand einen alten?“
„Hier rollt überhaupt niemand irgendwas“, sagte Elli. „Du machst Kaffee und wir frühstücken mit Mama. Falls was zu essen im Haus ist.“
Der letzte Satz fiel zusammen mit einem verächtlichen Blick auf mich, in dem ganz und gar herrliche neununddreißig Jahre geschwisterlicher Feindschaft lagen. Ich quittierte ihn mit einem Lächeln und dem Vorschlag, eine Frittata zuzubereiten.

7 – Frühstück im Oktober

Habe ich erwähnt, dass es ein Mittwoch war? Einer im Oktober? Herrlicher Goldsonnenschein und reichlich raschelndes Laub auf den Wegen, es hatte seit Tagen nicht geregnet – ich musste sogar noch einmal gießen im Garten. Viel war nicht mehr an Zucchini und Landgurken, aber dennoch wäre es schade gewesen, dieses letzte Gemüse des Jahres vertrocknen zu lassen. Es war Oktober und noch einer dieser Tage, an denen man auf der windgeschützten Terrasse sitzen und frühstücken konnte. Mit einer Decke über den Beinen. Mama hatte ich zusätzlich noch in einen Schal eingeschlagen, so, wie man es mit kleinen Kindern macht, und nun saß sie da, sah auf das goldene Licht des Vormittags im Oktober und schmatzte zufrieden an eingeweichter Brezel und Zucchiniomelett. Elli aß nichts, Thea dafür um so mehr. Auf Ellis Blick hin sagte Thea: „Wenn ich mal bedient und bekocht werde, dann esse ich auch. Kommt selten genug vor.“ Ich goss Elli Kaffee nach, schob Mama zwei Tabletten in ein Stück Leberwurst, welches ich ihr dann unauffällig auf den Teller legte.
Täuschung und Lüge. Und Unsichtbarkeit. Gäbe ich Mama das Stück Leberwurst offen, dann wäre sie sofort misstrauisch. Viel war von ihrer Persönlichkeit nicht mehr übrig, aber das tiefe Misstrauen der Familie gegenüber hielt sich wacker durch die gesamte Demenz. Sie würde die Wurst nehmen, mich mustern und sie dann lächelnd in den Mund schieben, ein „Hmhm“ intonieren, die Tabletten herauslutschen und so unauffällig es ihr möglich war in die nächste Pflanze spucken.
Auch wenn sie nach und nach alles vergaß, die Zeit, die Menschen, die Lieder ihrer Kindheit: dass die verdammte Leberwurst seltsam war, würde sie sich merken. Wobei merken das falsche Wort ist – es würde sich ihr einprägen, Kerben hinterlassen auf dem Rest, der von ihr geblieben ist. Mit der Leberwurst ist es wie mit allen Lügen, man muss da sehr genau aufpassen. Mit der Wahrheit ist es einfacher, die will niemand hören. Die wird weggewischt wie Vogelscheiße am Fenster. Restlos weggeputzt, bis nichts mehr davon bleibt.
Ebenso verhält es sich mit dieser Geschichte. Nehmen wir an, meine Schwestern hätten während dieses Frühstücks auf der windgeschützten Terrasse an jenem Oktobermorgen erkannt, dass es das einzig Richtige wäre, die Polizei zu rufen, und dann bestürzt ihre Aussagen gemacht: Thea, wortreich nach Gründen für „all das“ suchend und Elli, stiller und klarer, betonend, wie wichtig es sei, dem Papa ein würdiges Begräbnis auszurichten, wo er doch nun schon kein würdiges Leben gehabt hatte.
Da wäre die Last, die mit einer solchen Tat, mit einem solchen Geschwisterchen einhergeht, eine Last, die einen ganzen Roman füllen könnte. Es war schließlich der Vater! Der eigene Vater! Usw. Sie wissen schon. Und dann vielleicht eine fulminante Flucht und ein cleverer Kommissar, eine Jagd durch halb Europa. Roadmovies sind ja etwas sehr Schönes, weil der Held zugleich in Bewegung und auf sich selbst zurückgeworfen ist. Deswegen gibt es in Märchen so viele Reisende.
Ich habe es mir durchaus überlegt, wirklich, an jenem Oktobermorgen, als ich Mama dabei zusah, wie sie heimlich, also zumindest glaubte sie, sie tue es heimlich, die Leberwurst im Ganzen, so ohne jedes Brot darunter, vom Tellerrand naschte. Ich habe es mir ganz ernsthaft überlegt. Ob es nicht besser wäre, die Geschichte so enden zu lassen und dem forensischen Psychiater, der mich im Gefängnis befragt, nachdem der clevere Kommissar mich geschnappt hat, zu erzählen, es sei halt nie ganz einfach zu Hause gewesen …
Ja. Ich habe es mir überlegt. Es wäre ein Ende gewesen und nur darum geht es ja: ein Ende zu finden. Die Dinge zu Grunde zu legen.
Aber dann sagte Mama in den Oktobersonnenschein hinein, ganz ruhig und nebensächlich, aber so, dass wir alle es hören konnten: „Der war nicht gut. Ich hab euch das nie gesagt. Das gehört sich nicht, dass man so was sagt. Merkt euch das, man sagt das nicht den Kindern. Aber er war nicht gut.“ Und sie trank ihren Kaffee und summte eine Melodie, ich denke, es war ein Walzer.

8 – Steine und Katzen

„Wo hast du die Steine her?“, fragte Elli beim Abwasch. Wir hatten keinen Geschirrspüler in unserem Elternhaus. Mein Vater demonstrierte stets seine Abneigung gegen jede Art von Haushaltsmaschinen. Damals, vor seinem Verschwinden, waren Geschirrspüler noch weit davon entfernt, selbstverständlich zu sein, aber dafür gab es einen legendären Streit, ob ein neuer Staubsauger notwendig sei oder ob wir Kinder nicht ‚die paar Teppiche‘ mit dem Klopfer bearbeiten könnten, so, wie er es auch als Kind getan hatte. Die Einführung der Waschmaschine hatte ich verpasst, das war vor meiner Geburt, aber ich kann mir gut vorstellen, wie Papa dastand, groß und gutaussehend, und die Vorzüge des Waschbretts pries. Jedenfalls wirkte der Glaube an den Fleiß der Hände fort, war nicht mit dem Vater verschwunden, und so gab es keinen Geschirrspüler, weil solcherlei Faulheit noch immer nicht denkbar war.
Selbst einem verschwundenen Vater konnte man sich nur schwer widersetzen.

„Wo hast du die Steine her?“, fragte Elli beim Abwasch.
„Ausgegraben.“
„Ach? So schöne Steine hat es hier?“
„Ja. Wusste ich auch nicht. Haben sich nach und nach angesammelt.“
„Das war dann nicht dumm, die für die Umrandung zu nehmen.“
„Danke.“
Jeder zweite Satz von Elli an mich, geschätzt natürlich und im Rückblick der Jahre, lautete und lautet: „Gott, bist du blöd“. Von daher war ‚nicht dumm‘ ganz weit oben auf der Liste der Komplimente. Und das freute mich.

Aber wie konnte es denn möglich sein, dass ich einen Brunnen gegraben hatte. Im Keller eines kleinen Hauses auf dem Hügel am Rande der unbedeutenden Kleinstadt. Das voller Menschen war und kein einziger dieser Menschen bekam etwas davon mit. Und meine Schwester, meine kluge, erfolgreiche, wunderschöne ältere Schwester lobte angeblich nur wenige Stunden, nachdem sie den Vater tot auf dem Grunde des Brunnens gesehen hatte, meine Steinsetzerkunst. Meine Therapeutin würde lachend den Kopf schütteln, damit ich ihren Blick ganz sicher nicht sehen konnte, und sagen: „Sie und Ihre Geschichten. Wofür steht der Brunnen?“

Nun. Der Brunnen steht für einen Brunnen. Und zu sagen, dass keiner von dem Brunnen wusste, ist nur eine weitere Lüge. Was aber nicht heißt, dass jemand davon wusste. Denn mit dem Wissen ist es so eine Sache.

Es gab in unserem Hause immer eine Katze. Ich bin mir nicht sicher, ob es all die Jahre dieselbe war, sie sah aber immer gleich aus und hieß immer Miez. Eine dreifarbige Katze, weil dreifarbige Katzen Glück bringen. Meine Mutter konnte mit den ‚Viechern‘, wie sie alle Tiere zusammenfassend zu bezeichnen pflegte, wenig anfangen, meine Schwestern liebten die Katze, mir war sie weitgehend egal – aber mein Vater war ganz und gar vernarrt in sie. Jeden Tag, wenn er von der Arbeit kam, begrüßte er die Katze. Er strich ihr über den Kopf, kontrollierte, ob Wasser in ihrem Napf war und öffnete unter großem Zeremoniell und Worten wie „Ja, hast du Hunger? Hm? Magst du was fressen? Fressi? Ja? Fressi?“, welche allesamt von der Katze lauthals bemaunzt wurden, eine Dose eines recht teuren Katzenfutters und servierte ihr die Mahlzeit. Später dann lag sie auf seinem Schoß, wenn er die Nachrichten sah. Man kann durchaus sagen, mein Vater liebte die Katze. Kurz bevor ich mit dem Graben begann, verschwand sie. Mein Vater suchte sie, rief ihren Namen in den Abend, in die Nacht und den nächsten Morgen hinaus, ließ Mama das ganze Haus absuchen und uns Kinder jeden in der Nachbarschaft fragen, ob sie denn die Katze gesehen hätten und ob sie nicht in ihren Garagen und Schuppen und Kellern nachsehen könnten, vielleicht wäre die Katze darin. Doch alles blieb erfolglos.
Am dritten Tag tauchte ein Erpresserbrief auf, wie in einem alten Krimi war das Schreiben mit aus der Zeitung ausgeschnittenen Buchstaben verfasst und darin wurde ein Lösegeld von eintausend Mark gefordert, sonst würde es der Katze übel ergehen. Der Brief enthielt eine ausführliche Beschreibung, was mit der Katze genau geschehen würde, wenn die gewünschte Summe nicht binnen drei Tagen unter einem Baum im nahen Wäldchen abgelegt würde – und es waren Dinge, die ich hier nicht aufführen möchte. Drohungen, die einem sehr dunklen Geist entstiegen sein müssen, schlichte Taten allesamt, aber von klarer, unaufhaltsamer Brutalität.

Ich schauderte, als Vater uns den Brief vorlas. Warum er das tat, habe ich nie verstanden, aber ich verstehe eh wenig, was ich jedoch begriff, war seine Aufforderung an Mama – sie erfolgte sofort nach dem Vorlesen des Briefes. Den er einfach nur las ohne ein weiteres Wort dazu zu sagen, ja, nicht einmal eine Regung zeigte sich in seinem Gesicht, er las ihn vor, als wäre es ein Brief von Oma, geschwätzig über ihren Garten und das Dorf erzählend; und seine einzige Reaktion war die Aufforderung an Mama, umgehend eine neue Katze zu besorgen. Bei Himmelweihers hätte es gerade einen Wurf und da sei sicher eine dreifarbige dabei. Ich verstand, dass ich mich geirrt hatte – mein Vater liebte diese Katze nicht. Nicht genug, als dass er es zugelassen hätte, über sie verwundbar zu sein. Mein Vater, begriff ich, war unantastbar. Also beschloss ich, mir mein Grab zu schaufeln. Die Katze tauchte am nächsten Tag wohlbehalten und hungrig auf, mein Vater begrüßte und fütterte sie. Und alles war wie immer.

Manches ist ganz eindeutig – das weiß man oder man weiß es nicht. Ich zum Beispiel weiß, warum der Himmel blau ist, wie man Pudding kocht, und kann den Zinseszins berechnen. Keine Ahnung habe ich, wie die Hauptstadt von Estland heißt. Aber das könnte ich nachschlagen.
Völlig anders verhält es sich mit dem, was zwischen uns geschieht.
Nehmen wir Elli, die neben mir steht und abwäscht. Weiß ich, wovon sie spricht? Von den Steinen, natürlich, und doch weiß ich es nicht. Selbst wenn sie jede Emotion dieses Augenblicks in Worte fassen würde, jeden Gedanken und Hintergedanken aussprechen, wüsste ich es nicht. Und mehr noch: selbst das, was ich wissen könnte, den Worten und Wörtern entnehmen und dem dazwischen herauslesen – wenn ich alles wissen könnte: Würde ich es wissen wollen?
Ich nehme nicht an, dass sich Elli ernsthaft für die Steine interessierte. Wie gesagt, ich weiß es nicht, aber ich nehme es an, immerhin hatte sie noch nie Interesse an Steinen gezeigt. Es war nur ein Versuch, mit mir über das Unaussprechliche zur reden.

9 – Aus Gründen

„Ihre Mutter trinkt?“, fragte meine Therapeutin in einer unserer ersten Sitzungen, als das Grundbiografische erzählt und abgeklärt war. Sie formulierte dies als Frage, aber natürlich war es eine reine Feststellung. Eine Eigenheit meiner Therapeutin ist, auch noch das Offensichtlichste als Frage zu formulieren, es mir förmlich wie einen Ball zuzurollen und mich somit jede, absolut jede Aussage selbst treffen zu lassen. Sie war wie eine überdimensionale Qualle und alles, was man auf sie warf, verschwand in ihr und ploppte irgendwann als Frage wieder heraus.
„Ihre Mutter trinkt?“, frag-feststellte meine Therapeutin und beugte sich dabei nach vorn.
„Na, nee, nu nicht mehr“, murmelte ich und begann an einem der Couchkissen herumzuzupfen. Eigentlich sollte ich liegen während der Sitzungen, aber ich sah immer zu, dass ich möglichst und mindestens zur Hälfte saß. Die Füße auf der Couch, den Oberkörper schräg, so dass es durchaus wie ein Liegen war, aber eben nicht ganz.
„Ihre Mutter ist trocken?“
„Zumindest trinkt sie nicht mehr.“
„Ähm? Bitte?“
„Danke?“
„Also gut – fragen wir anders: Seit wann trinkt ihre Mutter nicht mehr.“
„24. Dezember 1993.“
„Ihr Mutter hörte an Weihnachten mit dem Trinken auf? Wieso das?“
„Weil sie keinen Grund mehr hatte, um zu trinken?“
„Was?“
„Was?“
„Wie bitte?“
„Äh?“
Das ging noch ein wenig weiter so hin und her, sie wurde ärgerlich, sie wird immer ärgerlich, wenn sie glaubt, ich würde mich ‚dumm stellen‘. Was ich ihr nie vermitteln konnte, war, wie dumm ich wirklich war und wie wenig ich mich so stellte. Seien wir ehrlich, ein kluger Mensch, nicht einmal ein einigermaßen schlauer oder genauer noch: ein jeder, der nicht ganz blöd war, hätte niemals, in gar keinem Fall getan, was ich getan habe.

Aber meine Therapeutin hatte irgendwann beschlossen, ich sei einigermaßen klug und wisse, was ich tue und sage, und deswegen maß sie meinen Worten Bedeutung bei, versuchte sie zu verstehen und heraus kam dann eine ihrer Fragfeststellungen: „Ihre Mutter hatte also keinen Grund mehr zu trinken?“
„Sehen Sie“, sagte ich und setzte mich nun endgültig von der Couch auf, beugte mich nach von, verschlang die Finger ineinander und fuhr mit den Daumen wechselseitig die Handflächen entlang, „alle fragen immer nach dem Grund, warum Mama aufhörte zu trinken. Also – ‚alle‘ soll heißen, ‚alle‘, die je darüber reden oder reden würden, dass Mama mal getrunken hat. Deswegen sind ‚alle‘ nicht so sonderlich viele, wenn man es genau nimmt, denn die meisten, die es wissen oder wissen müssten, tun ja so, als hätte Mama nie getrunken. Also nicht mehr, als man eben so trinkt. Ein Gläschen Wein bei einem guten Anlass.“
Meine Therapeutin nickte, und ich dachte mir, ich kann jetzt auch so tun, als wäre ich der Überzeugung, sie hätte verstanden, was ich sagte, was ja durchaus auch möglich sein konnte, man weiß es ja eben nie, was zwischen den Menschen ist.
„Jedenfalls, die wenigen, die über das Trinken je sprachen, das wären dann Tante Bärbel, Elli und Sie – also sie alle fragen: ‚Warum trinkt sie nicht mehr? Was ist der Grund?‘ Vielleicht ist das ja auch wirklich so, dass Menschen einen Grund brauchen, damit sie aufhören – aber Mama. Nein, Mama brauchte immer einen Grund, um zu trinken. Und wenn es keinen Grund gab, so trank sie nicht. Deswegen stimmt es auch nicht, wenn man sagt, sie hätte aufgehört.“
„Verschwand nicht Ihr Vater an Weihnachten?“, fragte meine Therapeutin und begann in ihren Notizen nach meinen genauen Angaben zu Papas Verschwinden zu kramen. Dieses Mal war es eine echte Frage, sie wusste es nicht.
„Ja.“
„An jenem Weihnachten?“
„Ja.“
„Also war Ihr Vater der Grund für das Trinken Ihrer Mutter? Wollen Sie mir das sagen?“
Will ich das?
Was musste mein Vater getan haben, was musste er für ein Mensch gewesen sein, um als ein eindeutiger, legitimer Grund für das Trinken meiner Mutter zu gelten?
Und was musste er getan haben, was muss er für ein Mensch gewesen sein, damit es einen Grund gab, ihn auf dem Grund eines Brunnens zu versenken?