Kategorie: Leseprobe 2018

Leseprobe: Sebastian Guhr – “Die langen Arme”

DIE LANGEN ARME
Roman

I

Ich ging, ohne mich zu verabschieden. Ich sprach sowieso wenig mit den anderen und war bloß mitgekommen, weil ich musste. Der Besuch der Patenbrigade galt zwar als freiwillig, aber wenn man nicht teilnahm, konnte man sich am nächsten Tag vom Lehrer was anhören. Ich hatte der erstbesten Arbeiterin meine Glückwunschkarte in die Hand gedrückt und dafür ein dickes Buch geschenkt bekommen, dessen Schutzumschlag die Erde und einen darum kreisenden Satelliten zeigte. Hinter der Frau ratterte das Fließband weiter, und ich machte mir Sorgen über den Rückstand, den sie aufholen musste. Die Arbeiterin sagte noch etwas, aber ich wollte schnell fort. Ich drückte das Buch gegen meine Brust, rannte blind davon und fand mich in einer anderen Halle wieder, durch die ich nicht gekommen war. An einer Wand hingen Schutzbrillen, die mir gefielen, obwohl es nur billige Dinger aus Plastik waren. Ich blickte mich um, schnappte mir eine der Brillen, die ich bei meinen Experimenten gut gebrauchen konnte, schob sie in den Ärmel meines Pullovers und bemerkte erst jetzt, dass ein Wachmann mich beobachtete. Der hat zum Glück bloß geglotzt und nichts begriffen, so dass ich genug Zeit hatte, mich unter eine andere Schulklasse zu mischen, die gerade dabei war, das Werk zu verlassen. Zu gehen, ohne mich von jemand zu verabschieden, war eine schlechte Angewohnheit von mir. Aber nicht aus Gleichgültigkeit, sondern weil ich es vor Aufregung oft einfach vergaß. Erst auf dem Feldweg zur Tongrube wurde ich ruhig genug, um das Geschehene zu überdenken. Hatte jedes Kind ein Buch bekommen? Oder war ich mit dem Klasseneigentum geflohen? Ich blickte zum Büromaschinenwerk zurück, dessen Flachbau nur noch als ein grauer Streifen am Horizont lag. Niemand war mir gefolgt. Ich wischte über den Buchumschlag und las erst jetzt den Titel: Die Welt von übermorgen. Das klang vielversprechend. Seit Yvette und ich das Teleskop gebaut hatten, interessierten wir uns für das Weltall, und damit auch für die Erde. Und im Gegensatz zu meiner kleinen Schwester interessierte ich mich auch für Menschen; sie waren so etwas wie schwarze Löcher für mich, sie machten mir Angst, aber sie zogen mich trotzdem an. Yvette saß mit geschlossenen Augen am Ufer der Tongrube, neben ihr miauten drei Katzen in einem Käfig. Da sie erst in die siebte Klasse ging, hatte sie noch keine Verpflichtungen gegenüber einer Patenbrigade. Ihre Füße steckten bis zu den Knöcheln im Wasser, und in ihren Händen hielt sie ein Stück Käse. Yvette war von der Idee besessen, Düfte nicht nur zu riechen, sondern auch zu hören, weshalb zwei Plastikschläuche den Käse mit ihren Ohren verbanden. Als die Katzen mich sahen, fauchten sie mich an, während Yvette die Schläuche aus den Ohren zog. »Wartest du schon lang?« »Nö.« »Guck mal!« Ich hockte mich neben sie ans Ufer und zeigte ihr die Schutzbrille und das Buch. Die Brille untersuchte sie nur kurz, aber das Buch hielt sie sich zunächst unter die Nase, dann an ihr Ohr. Sie schloss die Augen und konzentrierte sich ein paar Sekunden lang auf die Informationen, die im Papier steckten. Anfangs hatte ich mich darüber lustig gemacht, bis ich selbst diese Begabung in mir entdeckte. Ich blieb allerdings eine Dilettantin und nahm mein synästhetisches Talent hin wie einen Fuß, der von Geburt an nur vier Zehen besitzt, oder wie eine tiefe Stimme, für die man ja auch nichts kann. Yvette dagegen trainierte ihre Begabung und schuf später sogar Geruchsklangskulpturen, für die sie kurzzeitig zu einer lokalen Berühmtheit wurde, bevor alles schiefging und sie sich endgültig aus der Welt zurückzog. »Schade«, sagte sie endlich. »Das ist es nicht… nein nein nein.« Sie schüttelte enttäuscht den Kopf. »Kommt nicht an den Käse ran… weiß nicht.« Mit der Sprache, die ich oder Vater oder die Leute in der Stadt benutzten, hatte Yvette schon damals ihre Probleme. Sie formulierte selten einen vollständigen Satz, und außerdem sprach sie sehr schnell. »Es ist zum Lesen gemacht«, sagt ich, »nicht zum Riechen.« Ich nahm ihr das Buch aus der Hand und schlug es an einer beliebigen Stelle auf. »Weiß ich. Riechen ist wie lesen oder eigentlich noch besser… nichts hat keinen Geruch.« Ich blätterte durchs Buch, das uns die vom Kapitalismus befreite Welt von morgen vorstellte. Viele bunte Abbildungen zeigten Geräte, von denen wir nicht wussten, wie sie funktionieren sollten. Im Anhang entdeckten wir detaillierte Baupläne, aber wir hatten keine Zeit, sie uns genauer durchzulesen. »Wir müssen los«, sagte ich, nachdem ich aufgestanden war. Ich setzte mir die Schutzbrille auf, nahm das Buch unter den Arm und hob den Käfig mit den Katzen an. Der kürzeste Weg zum Katzenmann, mit dem wir verabredet waren, führte den Bach entlang durch ein Wäldchen. Ich ging voran, während Yvette mir – eine Melodie summend, die angeblich aus dem Käse kam – folgte. Sie achtete niemals auf den Weg und überließ es immer mir, die Entscheidungen zu treffen. Sie war zu sehr mit ihren Eindrücken beschäftigt. Auf die oft gestellte Frage nach unseren Berufswünschen antwortete ich meistens mit »Wissenschaftlerin« und sie mit »Nasenkünstlerin«. Sie hielt das tatsächlich für einen realistischen Beruf. Der Katzenmann lebte am Stadtrand wie wir, etwa vier Kilometer von unserem Haus entfernt, und er zog die Katzen an wie ein Magnet. Manche in der Stadt behaupteten, der Katzenmann wäre geistig zurückgeblieben und gehöre nach Mühlhausen, wo sich damals eine psychiatrische Klinik befand. In einem Vortrag an unserer Schule hatte unser Abschnittsbevollmächtigter Worgitzky ihn als asoziales Element bezeichnet und uns Kinder vor ihm gewarnt, was nur zur Folge hatte, dass ich mich noch mehr für ihn interessierte. Ich glaube, der Katzenmann war anders und irgendwie kauzig, aber nicht verrückt. An den durchs Gebüsch streunenden oder in der Sonne liegenden Katzen erkannten wir, dass wir uns seiner Bretterbude näherten. Er saß im Unterhemd auf einer Bank neben dem Eingang und briet einen auf einen Stock gespießten, gehäuteten Katzenkörper über einer brennenden Mülltonne. Seine Arme und Beine waren dünn, und seine zerzausten, schwarzen Haare hingen unterschiedlich lang von allen Seiten seines Kopfes herunter. Seine ausgeleierte Unterhose musste er mit einer Hand festhalten, als er aufstand. Er freute sich, uns zu sehen, sprang barfuß auf dem Waldboden hin und her wie auf glühenden Kohlen und rief: »Broilerplaste Traktorist!« Ich blickte fragend zu Yvette, die nur mit den Schultern zuckte. Meistens hatten wir keine Ahnung, wovon er sprach, aber er war zu einer nützlichen Bekanntschaft für uns geworden, seit wir herausgefunden hatten, dass organische Materialien, insbesondere Tierkörper, hervorragende geruchsleitende Eigenschaften besitzen. Wir benötigten Kadaver als Bauteile für einen Apparat, an dem wir seit ein paar Wochen bastelten, aber da wir es nicht übers Herz brachten, die Tiere zu töten, übernahm der Katzenmann es für uns. Ich sagte mir, dass er uns wahrscheinlich mochte, weil wir ebenfalls am Stadtrand wohnten. »Hier sind ein paar Katzen.« Ich stellte den Käfig auf den Boden und ging einen Schritt zurück. Der Katzenmann sollte mir keinesfalls zu nahe kommen. »Wir brauchen wieder nur die Köpfe. Den Rest kannst du behalten.« »Obmessböker?« Er hielt mir den Bratspieß entgegen. »Oh…« Ich hob abwehrend beide Hände. »Hab schon gegessen.« Er lehnte den Spieß gegen die Bank, nahm eine Katze aus dem Käfig und trug das strampelnde Tier zu einer Regentonne neben der Hütte. Er tauchte die Katze unter die Wasseroberfläche und sah lachend zu uns herüber. Ich hielt schnell meine Hand vor Yvettes Augen, doch sie stieß sie weg. »Lass mich, ich will das sehen!« Der Träger seines Unterhemds rutschte von seiner knochigen Schulter und offenbarte eine behaarte Brust. Außerdem hing eine Hode halb aus seiner Unterhose heraus. Am liebsten hätte ich Yvette nochmal die Augen zugehalten – was aber gar nicht nötig gewesen wäre, denn sie hatte die Augen von selbst geschlossen und hielt eines der Schlauchenden, das sie aus dem Käse gezogen hatte, in Richtung der Regentonne. Sie sah aus wie eine Dokumentarfilmerin, die mit einem Mikrofon seltene Tiergeräusche aufnahm. Den Katzenmann schien das alles nicht zu stören. Nach einer Weile zog er den schlaffen Katzenkörper aus dem Wasser und klatschte ihn neben die Regentonne. »Kannst du uns die Köpfe schon mal geben?« Ich wollte nicht dabei sein, wenn er die anderen Katzen ertränkt. »Unser Vater wartet auf uns.« Auf die Erwähnung unseres Vaters reagierte er mit einem ernsten Nicken. Er verschwand hinter seiner Hütte und kehrte kurz darauf mit einem gefüllten Kartoffelsack zurück. Ich legte das Buch auf dem Waldboden ab und öffnete den Sack, den das in den Stoff gesickerte und getrocknete Blut dunkelfleckig und steif gemacht hatte. Die zehn Katzenköpfe sahen aus wie nasse Knäuel aus grauer und schwarzer Wolle. »Sehr gut. Danke!« Yvette und ich griffen jeweils einen Zipfel des Sacks. Wir verabschiedeten uns und gingen eilig davon, denn ganz geheuer war uns dieses Geschäft nicht gewesen. Dass ich das Buch Die Welt von übermorgen auf dem Waldboden liegengelassen hatte, fiel mir erst später ein.

Am nächsten Tag war der 1. Mai. Als wir morgens in weißen Hemden und mit roten Halstüchern in die Küche kamen, blies Vater gerade Luftballons auf, die er an mit Krepppapier umwickelte Stöckchen band. »Bitteschön, eure Wink-Elemente!« Er selbst nahm nicht am Umzug teil, da er sich – wie jedes Jahr zur gleichen Zeit – eine Erkältung eingefangen hatte. Den ganzen Winter über war er nicht krank gewesen, als ob er sich seine Erkältungen für Zeitpunkte aufsparte, an denen sie ihm nützlich waren. Ich fragte mich, wie er das machte. Da wir spät dran waren, rannten wir dem Mai-Umzug hinterher. Gruppenratsvorsitzender Rico Kuhn hatte dafür gesorgt, dass meine Schulklasse an der Spitze des Umzugs lief, was es mir erschwerte, sie einzuholen. Ich vereinbarte mit Yvette, die zu ihrer Klasse musste, einen Treffpunkt draußen bei der Müllkippe und drängelte mich durch die Menge voran. Als ein Luftballon platzte, hob eine Frau neben mir erschrocken beide Hände wie bei einem Überfall, aber dann lachte sie. Eine Blasmusikkapelle spielte einen Marsch, und die örtliche Kampfgruppe fuhr in dachlosen Militär-Trabis vor, in denen Männer mit Maschinengewehren breitbeinig standen. Als ich an der großen Tribüne vorbeikam, winkte ich mit meinem Stöckchen kurz so, wie wir es im Unterricht geübt hatten. Dann drängelte ich mich weiter voran. Kurz vor dem Ende der Kundgebung erreichte ich meine Klasse. Weder der Lehrer noch Rico Kuhn, der damit beschäftigt war, eine blaue Pionierfahne von der Größe unsere Wohnzimmerteppichs zu schwenken, bemerkten mein Zuspätkommen. Als sich der Umzug auflöste, beteiligte ich mich noch ein wenig an den Spekulationen darüber, welche Politiker (vielleicht sogar Erich Honecker?) auf der Tribüne gesessen hatten, bevor ich mich zur Müllkippe aufmachte, wo Yvette bereits auf mich wartete. Es gab drei wilde Müllkippen im Umkreis von ein paar Kilometern, bei denen wir regelmäßig vorbeischauten, um in alten Waschmaschinen oder Radios nach Bauteilen zu suchen, die wir irgendwie gebrauchen konnten. Fast alle Bewohner von Gangolfsömmern brachten ihren Sperrmüll hierher, auch unser Abschnittsbevollmächtigter Worgitzky, dessen Aufgabe es eigentlich gewesen wäre, wilde Müllkippen zu verhindern. Wir hatten ihn einmal dabei beobachtet, wir er einen Fernseher aus dem Kofferraum seines Polizeiautos holte und den Abhang hinunterwarf. Yvette hatte ihr Wink-Element weggeworfen und sich die Schläuche des Käse-Stethoskops in ein Ohr und in ein Nasenloch gesteckt, aber ihre Augen waren offen und sie schien nicht ganz bei der Sache zu sein. Als ich mich neben sie an den Abhang setzte, sprach sie sofort über den Katzenmann, wobei ihre Stimme hoch war und ihre Stirn wie bei einem Fieberschub glühte. »Er hat niemanden, oder?« »Ich glaube, seine Eltern sind gestorben.« »Seine Haut ist ziemlich schmutzig, aber ich weiß nicht… Findest du ihn sehr hässlich?« »Er hat lange Haare.« »Du auch…« Damals war mein Haar noch lang, und manchmal trug ich sogar neonfarbene Spangen und ein Kleid. Ich fand, das war eine Art Kompromiss. Yvette dagegen hat in ihrem ganzen Leben noch kein Kleid getragen, und ihre Frisur sah damals pilzförmig aus wie die von den Beatles, obwohl sie lieber Orgelmusik hörte. »Stimmt«, sagte ich. »Aber seine sind fettig.« »Stört mich nicht.« »Ich hab das Buch gestern bei ihm vergessen.« »Ich kann es holen.« »Nein, du gehst nicht allein zu ihm.« »Warum nicht?« Ihre Stimme klang trotzig. Ich stieß mich vom Boden ab und rannte den Abhang zur Müllkippe hinunter, denn ich hatte einen ungewöhnlichen Gegenstand entdeckt, der sich von Nahem als ein Funkgerät herausstellte. »Wer wirft denn so etwas weg?« rief ich empört und winkte Yvette zu mir. Yvette knackte das Plastikgehäuse mit einem Fußtritt, den man ihr nicht zugetraut hätte, und holte aus dem Lautsprecher eine fingerhutgroße Membran. »Perfekte Größe«, sagte sie, nachdem sie die Membran in den Nasenschlauch und dessen Ende wieder in den Käse gesteckt hatte. Sie schloss ihre Augen. »Das ist anders…«, murmelte sie nach einer Weile. Da die Membran als Verstärker wirkte, konnte Yvette nun mehr als vorher riechen. »Hast du was zum Schreiben?« fragte sie und begann, den neuen Geruch zu summen. »Nein.« »Nicht so wichtig. Es ist nett… Aber ich spüre nichts Besonderes.«
Yvette sammelte Geruchsmelodien wie andere Menschen Briefmarken, und was den Philatelisten ihre Blaue Mauritius war, das war für Yvette eine Duftnote, die sie nur durch Beschreibungen aus Büchern kannte und die sie als Swing bezeichnete, weil sie die Körperzellen des Riechenden angeblich zum Schwingen bringen konnte. Für die meisten Menschen, die wir kannten, stellte der Sozialismus den einzigen Weg zum neuen Menschen dar. Für Yvette aber war der Swing eine weitere, vielleicht sogar mächtigere Möglichkeit zur grundlegenden Veränderung eines Individuums dar. Ich war mir bei beidem nicht sicher, aber natürlich half ich meiner Schwester bei der Suche. »Kein Glück?« fragte ich. »Nein… das hier geht in eine ganz andere Richtung. Eher ein Kinderlied.« Sie hatte viel über den Swing gelesen, besonders ein Buch mit dem Titel De consolatione olfacere hatte es ihr angetan. Eine für Kinder aufbereitete Übersetzung hatten wir in der Stadtbibliothek gefunden, zusammen mit einem Set zum Erzeugen eigener Düfte, das aber unbrauchbar war. »Aber jetzt müssen wir los«, sagte ich. Wir hatten wir es eilig nach Hause zu kommen, um in der Garage weiter an dem Apparat zu basteln, den wir die Fleischblume nannten und der uns schon seit Wochen beschäftigte.

Ich setzte mir meine Schutzbrille auf und kroch unter den auf eine Stehlampe geschraubten Leuchtglobus, von dem wie bei einer riesigen Pusteblume dreißig Metallstäbe in alle Richtungen weggingen. Auf jedem Stab steckte ein Katzenkopf, und jeder Katzenkopf wurde durch einen Schlauch mit einem Akkordeon verbunden, das Yvette, auf einem Hocher sitzend, in den Händen hielt. Ich stopfte den letzten von dreißig Schläuchen in den Katzenkopf über mir, wobei ich die graue Luftröhre ein wenig mit dem Zeigefinger weitete, damit das Schlauchende hineinpasste. Auf meine Schutzbrille tropfte Blut. »Fertig«, sagte ich und knipste den Leuchtglobus an, wodurch die Katzenköpfe mit Strom versorgt wurden. »Gib mal ein A!« Ich hörte Luft aus dem Akkordeon, aus dem wir die Metallzungen entfernt hatten, in die Schläuche strömen und kurz darauf einen Rülpser, der aus dem Katzenmund über mir kam. Ich atmete tief ein und konzentrierte mich auf meine Nase, genauer gesagt auf meine Scheidewände, wo die Schallwellen auf Flimmerhärchen trafen und sich in Geruch verwandelten. »Glasklar!« rief ich. Anfangs hatten wir mit einem die gewünschte Duftnote verfälschenden Schmorgeruch zu kämpfen – bis wir die Stromspannung reduziert hatten. Wir wussten nicht woran es lag, dass sich Düfte in einer solchen Reinheit nur elektrisch aufgeladenen Tierkörpern entlocken ließen. Pflanzen reagierten zu lasch, und unorganisches Material war gar nicht zu gebrauchen. Lag es am Rest Lebensenergie, der noch in den Katzen steckte? Wir hatten ihre kleinen Lider nach unten geschoben, weil wir ihre offenen Augen gruselig fanden. Aber da ihre Mäuler offenbleiben und die zur Tonerzeugung wichtigen Zungen herausstrecken mussten, wirkten sie trotzdem nicht wie sanft schlafende Kätzchen, sondern wie von Albträumen geplagte, schreiende Monster. Ich kroch unter der Fleischblume hervor, sammelte das auf dem Garagenboden liegende Werkzeug ein und warf es zurück in den Universalbaukasten, den ich von meinem Vater zum fünfzehnten Geburtstag geschenkt bekommen hatte. Ich wischte mir die Hände an einem Lappen ab und stellte mich hinter Yvette, die begonnen hatte, auf dem Akkordeon die Internationale zu spielen. Die einfache Melodie eignete sich gut zur Probe, wogegen bei komplizierteren Musikstücken oft nur Geruchsbrei herauskam. Aber auch so fand ich das Ergebnis ziemlich dissonant. Ich war unzufrieden, aber Yvette ließ keine Kritik zu und nannte es avantgardistisch. Sie besaß alle Schallplatten von Nova, dem einzigen Label für Neue Musik, und ich glaube, ihr schwebte nichts weniger als eine ästhetische Revolution auf diesem Gebiet vor. Ich war stolz auf die Fleischblume, aber meine eigenen Projekte hatten nichts mit Geruchskunst zu tun. Ich interessierte mich eher für Kommunikation. Für mich stand die Nützlichkeit einer Erfindung im Vordergrund – wahrscheinlich weil ich als ältere Schwester immer die Verantwortung übernahm. Mich faszinierten alle möglichen Verbindungswege zwischen Menschen, von den Fingerspitzen über das Rohrpostsystem in unserem Haus bis zu den Straßen und Telefonleitungen in unserer Stadt. Im Universalbaukasten gab es dafür ein eigenes Fach mit dem Titel ‚Fühlungnahme‘. Ich kletterte auf das Motorrad unseres Vaters, schloss meine Augen und roch die Kakophonie aus Katzenrülpsern, als ich ein Geräusch von draußen hörte. »Sei mal still«, flüsterte ich. Ich schaffte es gerade noch vom Motorrad zu springen, bevor unser Vater das Garagentor hochzog. Er war groß und musste seinen Kopf einziehen, um einzutreten. Mich und meine blutverschmierte Brille sah er zuerst. Es war aussichtslos, ihm die Situation zu erklären, sobald er die Katzenköpfe erblickt hatte. »Was ist das? Sind das tote Katzen?« »Nur die Köpfe. Und wir haben sie nicht getötet!«, sagte ich. »Steckt dieser verrückte Katzennarr dahinter?« Ich war überrascht, wie schnell er auf den Katzenmann als Bezugsquelle kam. Vater stützte sich auf die Knie und sah sich die Fleischblume genauer an. »Funktioniert es denn wenigstens?« »Es ist wirklich außergewöhnlich.« Ich blickte zu Yvette, die mich irgendwie unterstützen sollte, die aber wie immer in solchen Situationen stumm blieb. »Spiel mal was!«, sagte er zu Yvette, die daraufhin das Akkordeon zusammendrückte. Rülpsmusik war nicht gerade das, was Vater erwartet hatte, aber zumindest nickte er anerkennend. Er konnte streng sein, aber wenn er schimpfte, bekam er schnell ein schlechtes Gewissen. Unsere schöpferische Entwicklung war ihm sehr wichtig, denn unsere Erziehung stand ganz im Zeichen der Psychoanalyse. Er hatte darüber Bücher von C. G. Jung, Siegmund Freund und anderen gelesen; Bücher, die es in der Bibliothek oder im einzigen Buchladen der Stadt nicht gab und die er im obersten Fach seines Buchregals vor uns versteckte. Soweit ich es verstand, betrachtete Vater das menschliche Gehirn als eine Art Leitungssystem, das regelmäßig mit Ideen durchblasen werden muss, damit es gesund weiterwachsen kann. »Gut, ich weiß eure Leistung zu schätzen, aber die Kadaver können Krankheiten verbreiten. Eine Woche kann es hier noch stehen, danach müsst ihr es abbauen.« Wir stimmten zu. Danach fragte er, wie der 1. Mai-Umzug gelaufen war. »Bescheuert wie immer«, sagte ich. »Können wir am 1. Mai nicht auch erkältet sein?« »Wenn ihr alt genug seid, könnt ihr machen was ihr wollt, aber noch bin ich für euch verantwortlich. Und jetzt ab ins Bett!« In dieser Nacht dauerte es lang, bis wir einschliefen. Yvettes Bett stand anderthalb Meter entfernt von meinem, an der gegenüberliegenden Seite des Zimmers. Das ständige Quietschen der Bettfedern verriet ihre Unruhe. »Was hast du?« fragte ich. »Die ganze Arbeit war umsonst.« »Wir werden einen besseren Ort für die Fleischblume finden. Der Apparat funktioniert, das ist das Wichtigste. Wir haben den Bauplan in unseren Köpfen, den kann uns niemand nehmen.« Vorsichtig wurde die Tür geöffnet, Licht drang durch den Spalt. Vater konnte nicht einschlafen, bevor er uns noch einmal umarmt hatte. Er sagte, dass die Fleischblume unserer Mutter bestimmt gefallen hätte, denn Blumen hatte sie gemocht. Manchmal setzte er sich noch auf die Bettkante und erzählte von ihr, aber an diesem Abend war er zu müde. Ich war fünf Jahre alt gewesen, als Mutter uns verlassen hat. In der Küche hing ein Foto von ihr. Es konkurrierte mit einem Foto von Walentina Tereschkowa-Nikolajewa, der ersten Frau im Kosmos, das ich danebengehangen hatte.

Am Samstagnachmittag gingen Yvette und ich zur Gärtnerei, um Blumen für Yvettes Jugendweihe zu holen und um mit Goran, dem Gärtner, ein paar Runden Rommé zu spielen. Die Gärtnerei befand sich, wie unser Haus, am Stadtrand, allerdings genau auf der anderen Seite der Stadt. Goran war Papas Freund und der Grund für unseren Umzug nach Gangolfsömmern zwei Jahre vorher, denn Goran hatte das Haus in der Straße der Jugend geerbt und günstig an uns weiterverkauft. Da ich keine Freundinnen hatte (mir fiel es schwer, welche zu finden, ich weiß nicht wieso) war Gorans Bekanntschaft mir sehr wichtig. Um ehrlich zu sein war ich ein wenig in ihn verknallt. An diesem Tag wollte ich ihn mit meinem Wissen über die Psychoanalyse beeindrucken. Im Gegensatz zu meinem Vater, der ein interessierter Laie blieb, hatte Goran nämlich eine Ausbildung zum Psychotherapeuten angestrebt, was ihm aber verwehrt worden war. Im Gewächshaus, in dem wir Rommé spielten, fand einmal im Monat ein Psychoanalyse-Lesekreis statt, den auch Vater ab und zu besuchte. Im Gewächshaus war es so schwül, dass die Rommé-Karten weich und biegsam wurden. Um den Gartentisch, an dem wir saßen, wuchsen Palmen, und ich wedelte mir mit einem Fächer Luft ins Gesicht. Yvette und ich hatten unsere Badeanzüge mitgenommen und uns mit dem Wasserschlauch bespritzt. Ich fühlte mich wie im Urlaub, kicherte herum, schüttelte meinen Kopf und machte die Karten nass, die Yvette verteilte. Goran hatte eine große Schüssel mit Erdbeeren auf den Tisch gestellt und nahm seine Karten auf. Gorans Frau Ellen saß mit am Tisch, aber sie spielte nicht mit. Goran hatte sie ins Gewächshaus tragen müssen, da sie zu schwach war, um selbst zu gehen. Sie hatte irgendeine Krankheit. Einmal versuchte sie, die Karten zu halten, aber sie schaffte es nicht. Sie sagte nie etwas und blickte geistesabwesend vor sich hin. Da Yvette immer lang überlegte, bevor sie auslegte, konnte ich mich währenddessen mit Goran unterhalten. Ich hatte einen Satz aus einem von Vaters Büchern auswendig gelernt und trug ihn vor: »Stimmt es, dass sich die kindliche Psyche von der Realität abwendet und mittels Phantasie selbstberuhigende Gratifikationen produziert?« Das klang ziemlich lächerlich aus meinem Mund. »Frag dich das selbst«, antwortete Goran. »Warum erfindet ihr diese Apparate?« »Es macht einfach Spaß!« »Und hast du sie schon vor eurem Umzug, als du noch mit deinen alten Freundinnen zusammen warst, erfunden?« Ich war überrascht. Tatsächlich hing das eine mit dem anderen zusammen. »Nein. Damals war es mir nicht so wichtig.« Goran hatte in Berlin ein paar Semester Psychologie studiert, aber nachdem er kurz vor seinem Examen bei einem Kongress einen Vortrag nicht halten durfte, hatte er der offiziellen Psychologie den Rücken zugekehrt und war Gärtner geworden. Ich schob es auf seine fundierten Kenntnisse des menschlichen Geistes, dass er beim Rommé meistens gewann. »Vielleicht studiere ich auch Psychologie«, sagte ich, obwohl ich das keinesfalls vorhatte. »Ich erinnere mich noch an den verklemmten Ton, in dem sich die Dozenten über die Psychoanalyse lustig gemacht haben«, sagte Goran. »Ich hab einfach keinen Professor gefunden, der mich für eine Ausbildung zum Therapeuten empfehlen wollte.« »Dann hättest du ihr helfen können«, sagte ich und kippte meinen Kopf leicht in Richtung Ellen. Ich merkte sofort, dass es taktlos war, vor ihr so zu sprechen – auch wenn es kein Anzeichen gab, dass sie uns zuhörte. War ich eifersüchtig auf sie? Yvette blickte von ihren Karten auf und sah mich fragend an. »Kann ich auch so«, murmelte Goran und legte seine Hand auf Ellens Unterarm. Ich bereute mein flapsiges Gerede und streichelte Ellens anderen Unterarm. Ellen war krank, seitdem sie eine Nacht im roten Backsteinhaus der Staatssicherheit verbracht hatte. Zumindest hatte es mir Vater so erzählt; ich traute mich nicht, Goran danach zu fragen. Angeblich hatte ein Buchbinder, dem Ellen ein zerlesenes Buch von Carl Gustav Jung zum Binden gebracht hatte, sie angeschwärzt. Aber vielleicht wollte Papa mit dieser Gruselgeschichte auch nur bewirken, dass ich meine Finger von seinen Büchern ließ. Jedenfalls schienen ein paar Menschen wirklich Angst vor der Psychoanalyse zu haben, so als könnten sie von ihr wie von einer Lawine überrollt werden. Mir kam das übertrieben vor. Im Vergleich zu den handfesten Apparaten, die Yvette und ich entwickelten, ging es bei der Psychoanalyse bloß um Wörter, an denen bestimmte Gefühle hingen. Ich fand unsere Erfindungen viel mächtiger.

Als am Montag-Vormittag zum Fahnenapell auf den Schulhof gerufen wurde, fürchtete ich, es könnte um mich gehen. Während wir uns in U14 Form aufstellten, erkundigte ich mich hastig bei den anderen Schülern und war erleichtert als ich erfuhr, dass beim Besuch der Patenbrigade viele Bücher verschenkt worden waren und ich also nicht mit dem Klasseneigentum fortgerannt war. Und auch um eine geklaute Schutzbrille ging es bei dem Apell nicht. Er wurde abgehalten, weil jemand eine Plastiktüte des imperialen Klassenfeinds mit in die Schule gebracht hatte. Das geschah manchmal einfach aus Gedankenlosigkeit, manchmal aber auch aus Angeberei. Der Schuldirektor hielt die Tüte mit der Aufschrift Woolworth in die Höhe und sprach von westlicher Propaganda. Er versuchte, die Tüte vor allen Augen zu zerreißen, aber das Material erwies sich als zäh und dehnte sich zwischen seinen Händen, bis er aufgab und den Morgenappell beendete. Dass sich niemand um eine fehlende Schutzbrille zu kümmern schien, machte mich übermütig. Auf dem Weg zum Klassenzimmer traute ich mich, sie mir zum ersten Mal in der Öffentlichkeit aufzusetzen. Es war mir wirklich wichtig.Während der vergangenen zwei Jahre hatte ich mich in einen Elitarismus geflüchtet, der mich wahrscheinlich unsympathisch und durchgeknallt wirken ließ, der mir aber half, meine seltsame Stellung unter den Menschen zu ertragen. Ich wurde von allen Seiten angestarrt, aber überraschenderweise sagte niemand etwas zu mir. Im Unterricht träumte ich vor mich hin. Ich stellte mir vor, wie imperialistische Söldner unsere Stadt besetzen und die Woolworth-Flagge auf der Spitze unseres Rathausdaches hissen. »Antje, hörst du überhaupt zu?« »Was? Ja, Herr Stolper.« Deutschlehrer Stolper trug eine gepunktete Fliege unter seinem Kinn, sein Haar war pomadisiert und zum Mittelscheitel gekämmt. An meinem ersten Tag in der neuen Schule hatte er mich der Klasse vorgestellt und meinen Nachnamen falsch ausgesprochen (Antje Günther, statt Antje Gruenter). Ich hatte mich nicht getraut, ihn zu korrigieren. Alle Blicke waren auf mich gerichtet gewesen und ich hatte gemerkt, wie ich rot wurde. In der Pause war dann ein Mädchen mit einer großen Brille zu mir gekommen, das sich als Karina Worgitzky (die Tochter unseres Abschnittsbevollmächtigten, wie ich später erfuhr) vorstellte. Sie hatte gefragt, von wo ich zugezogen war, und ich hatte ihr den Namen des Dorfs so leise gesagt, dass sie nur verwirrt genickt hatte und fortgegangen war. »Ich kann dich nicht hören«, sagte Herr Stolper. »Komm bitte zur Tafel vor.« Ich stand auf und ging mit hängendem Kopf nach vorn. Als ich mich zur Klasse umdrehte, wusste ich nicht wohin mit meinen Händen und steckte sie in meine Hosentaschen. »Hast du Löcher in den Taschen?« Wenn Lehrer Stolper mir eine Frage stellte, drängelten sich oft zwanzig Antworten gleichzeitig in meinem Kopf in Richtung Mund, sodass es einen Gedankenstau gab und ich meistens stumm blieb. »Nimm die Hände da raus«, sagte er, nicht einmal streng. Ein paar Mädchen in der letzten Reihe kicherten. Karina Worgitzky nickte mir mit ihren kleinen Augen hinter der großen Brille aufmunternd zu. Damals am ersten Tag hatte sie sich nach der Pause neben mich gesetzt und mir Lakritze angeboten. Leider wird mir von Lakritze oft übel, so dass ich hatte ablehnen müssen. Außerdem beneidete ich sie um ihre große Brille. In meiner Vorstellung mussten Wissenschaftlerinnen und Erfinderinnen dicke Brillen tragen – dummerweise konnte ich sehr gut sehen. Wie auch immer, es war uns nicht gelungen, Freundinnen zu werden. Ich hatte sie ein paar mal zu mir nach Hause eingeladen, was sie nicht zu mögen schien. Sie hat immer wieder Gründe gefunden, um nicht zu kommen. »Diese Schutzbrille, Antje. Ich fragte, was diese Schutzbrille soll.« »Ich brauche sie für meine Augen.« »Hast du eine Bescheinigung vom Augenarzt?« »Nein«, flüsterte ich. »Dann gib mir die Brille jetzt. Ich bewahre sie auf, bis es…« Zum Glück beendete das Klingeln den Unterricht in diesem Moment. »Wo hast du die Brille überhaupt her?« rief Herr Stolper, während ich schon die Treppe hinunterrannte. Karina folgte mir, aber ich wollte meine Ruhe haben. Vor der Essensausgabe der Mensa nahm mir ein FDJler die Schutzbrille einfach vom Gesicht und setzte sie sich auf. Ich streckte mich erfolglos, um sie mir zurückzuholen, und war den Tränen nahe. Karina wollte mir helfen, aber ich sagte ihr, dass ich keinen Wachhund brauche und dass sie schonmal vorgehen soll. Das war gemein, aber ich war wirklich gestresst. Ich sprang noch ein paarmal in die Luft, um nach der Schutzbrille zu greifen, bevor ich trotzige meine Arme verschränkte und mich in einen inneren Raum zurückzog, wie so oft, wenn ich Ärger mit Mitschülern hatte. Ich war dann gar nicht mehr in dieser Welt. Ich saß auf einem großen, goldenen Thron, und dieser Thron klemmte in der Astgabel eines Baums, der so hoch war, dass – wenn ich hinunterblickte – sein Stamm im Dunst verschwand.Weit entfernt am Horizont stand ein anderer Baum, aber ich konnte nicht erkennen, ob es dort einen Thron gab, auf dem jemand saß. Ich rief »Hallo?« und winkte mit den Armen, aber das war alles vergeblich. Ich wusste, dass ich bald in die Welt zurückkehren musste. Ich baumelte mit einem Bein über der Armlehne des Throns und dachte nach. Oft bildeten innere Probleme wie das des zu weit entfernten anderen Baums die Keime für neue Erfindungen. So erfand ich das Aquafon, das aus zwei Wasserbecken bestand, die über sechsundzwanzig Drähte miteinander verbunden waren. Mit diesem Gerät könnte man über große Distanzen hinweg Nachrichten austauschen. Ich versuchte, mir den Einfall zu merken und kehrte in die Welt zurück. »Ist das eine Brille oder ein Spielzeug?« fragte der FDJler. »Das Ding kann man ja vergessen!« »Kann ich sie bitte zurückhaben?« Er äffte mich nach, und tatsächlich erschreckte mich meine Unterwürfigkeit. Sie passte überhaupt nicht zum Bild, das ich von mir hatte. Ich nahm allen Mut zusammen und fragte ihn, ob er das Stockwerk der Möglichkeiten im Ministerium des Schmerzes kannte. »Hä?« Er setzte mir die Schutzbrille wieder auf die Nase. »Du gehörst ja nach Mühlhausen!« Sie sagten immer nur Mühlhausen. Anfangs hatte ich gerätselt, was sie damit meinten. Diese nicht weit entfernte Stadt war durch ihre Psychiatrie für die Bewohner der Region zu einem Mythos geworden. Ich vermutete allerdings, dass die Wenigsten sich eingehender mit der Klinik beschäftigten. Von Goran wusste ich, dass er einen der Ärzte zum Lesekreis eingeladen hatte und dass es im Gewächshaus zu einem fürchterlichen Streit gekommen war. In der Mensa winkte Karina zaghaft von einem der besetzten Tische, aber ich wollte allein sitzen, um über das Aquafon nachdenken zu können. Jeder der sechsundzwanzig Drähte würde einem Buchstaben des Alphabets entsprechen. Wenn durch einen der Drähte Strom floss, brauchte man nur zu schauen, über welchem Buchstaben Luftbläschen aufstiegen, um die Botschaft zu entschlüsseln. Aber wie ließ sich das praktisch umsetzen? Ich kehrte auf meinen Thron zurück und hielt das verkabelten Wasserbassin in den Händen, während ich in der anderen Welt hastig mein Mittagessen verschlang. Es war anstrengend, in beiden Welten gleichzeitig zu sein und keinen Fehler zu machen. Wie hatten das die anderen großen Wissenschaftlerinnen geschafft? Hatte Walentina Tereschkowa-Nikolajewa einen Ehemann, der für sie den Alltag regelte? Ich beeilte mich nach Hause zu kommen, um Papas altes Aquarium vom Dachboden zu holen und die Sache mit dem Aquafon auszuprobieren. Die Idee erwies sich als unausgereift, und ich beschloss, ein paar Nächte darüber zu träumen. Auf diese Weise fand ich oft gute Lösungen. Ich nannte die Methode Traumwandern, denn im Schlaf ging ich tatsächlich durch das Innere der Apparate, suchte nach Konstruktionsfehlern und probierte neue Möglichkeiten aus. Nach dem Aufwachen konnte ich mich dann immer klar an alles erinnern und die Erkenntnisse umsetzen. Meine Hausaufgaben erledigte ich nebenbei, sie kosteten mich keine besondere Anstrengung. Während die anderen Kinder nachmittags im Pionierhaus Tischtennis spielten oder ins Freibad gingen, bastelten Yvette und ich weiter an unseren Apparaten. Wir demontierten die Fleischblume, so wie Vater es verlangt hatte, und da wir noch keinen anderen, dauerhaften Ort für sie gefunden hatten, konservierten wir die Katzenköpfe mit Haarlack und verstauten sie heimlich in Kartons auf dem Dachboden.

Yvette und ich hatten einmal einen kleinen Streit, weil sie behauptete, nur von Lebewesen und niemals von Apparaten zu träumen. Irgendwie passte das nicht zu ihr und ich glaubte es ihr nicht. Sie blieb aber dabei und schwor, dass diese Lebewesen perfekt wären und nichts an ihnen verbessert werden müsste, weshalb Yvette im Gegensatz zu mir immer ruhig und fest schliefe. Ich glaube, sie war einfach neidisch auf mein Traumwandern und auf die Möglichkeiten, die es bot. In der Nacht nach dem Streit lenkte ich meine Phantasie auf ein möglichst perfektes Lebewesen, ich dachte dabei an einen Engel, dann an eine im Wasser schwebende Qualle, und dann an einen Kolibri. Letztlich kam etwas ganz anderes heraus: ein nackter, faltiger Klumpen mit einem Rüssel und zwei kleinen, verkümmerten Pfoten. Das Vieh schwebte über mir, und ich konnte ihm nichts Schönes abgewinnen. Im Gegenteil, es spuckte etwas Klebriges auf mich herab, das in meinen Mund hineintropfte und eklig schmeckte. Ich erwachte draußen auf der Wiese hinter unserem Haus, ohne zu wissen, wie ich dorthin gelangt war. Als ich etwas auf meinem Gesicht spürte, dachte ich an die Spucke vom Vieh aus meinem Traum, aber es waren bloß Regentropfen. Ich fröstelte und setzte mich auf einen Stein unter einer Hecke, um vor dem Regen geschützt zu sein. Ein süßer Geruch umgab mich. Wieder hatte ich das Gefühl, noch im Traum zu sein. Ich roch nach rechts und links, drehte mich um und erkannte, dass ich auf dem Rand eines leeren, flachen Beckens saß, in dem früher vielleicht Goldfische geschwommen sind. Das Becken hatte in seiner Mitte einen breiten Abfluss, aus dem der Geruch zu strömen schien. Ich stieg über den Beckenrand, beugte mich über die Öffnung und blickte hinein. Innen an der Wand waren Haken befestigt, und ganz unten, etwa fünf Meter tief, glomm ein Licht. Für einen Erwachsenen wäre die Öffnung zu klein gewesen, aber mein Körper passte gerade so hinein. Ich kletterte bis zum Licht hinab, das aus einer Röhre kam, in die ich kroch. Ich schob mich mit den Ellenbogen voran, dem Licht entgegen, und erreichte eine Art Waschraum, den ich nicht kannte. An den Wänden hingen Spiegel, Kleiderhaken und Waschbecken mit altmodischen Wasserhähnen. Alles wirkte sauber, und aus sämtlichen Ausgüssen strömte dieser süße Geruch. An diesen Raum schloss sich ein weiterer, ähnlich ausgestatteter an. Unser Garten war offenbar unterkellert. Da die Deckenlampen brannten, musste jemand hier sein oder sich vor kurzem hier aufgehalten haben. Ich ging an Toilettenkabinen vorbei und gelangte in einen Lagerraum mit hohen Regalen, in denen Schaufensterpuppen lagen. Manchen der Puppen fehlten Körperteile, hier ein Kopf, dort ein Arm oder ein Bein. In einer Ecke des Lagerraums war ein Container voller Puppenköpfe, daneben standen Tische, auf denen künstliche Körperteile lagen. Wahrscheinlich handelte es sich um Ersatzteile für die Puppen. Aus den Armen und Beinen ragten Metallstangen, die mir sofort bekannt vorkamen. Diese typischen, genormten Bauteile gab es nur im Universalbaukasten, was bedeutete, dass Yvette diese Körper gebaut hatte. Sie musste schon seit Wochen oder sogar Monaten hier unten am Werkeln gewesen sein. Ich nahm ein Ohr als Beweisstück mit. Warum hatte sie mir nichts von ihrer Entdeckung erzählt? Hätte sie mich früher oder später eingeweiht? Etwas gekränkt ging ich weiter und kam in einen langen Flur mit jeweils vier Türen auf beiden Seiten. Der Boden bestand aus dunklem Parkett, die Wände waren grün gestrichen. Die erste Tür, deren Klinke ich drückte, war nicht abgeschlossen. In einer hohen, holzvertäfelten Kammer lehnte eine Metallleiter an der Wand. Ich hörte ferne Stimmen, stieg die Leiter hinauf und entdeckte einen Spalt an der Kammerdecke, durch den ich in unsere Küche sehen konnte. Yvette steckte gerade ihre Brotbüchse in den Schulranzen und Vater war dabei, das Frühstück wegzuräumen. Mir fiel auf, dass das Foto meiner Mutter nicht mehr an der Küchenwand hing. »Wo bleibt Antje?« fragte mein Vater. »Schon losgegangen.« »Dieser Herr Stolper, der Deutschlehrer, ist der nett?« »Weiß nicht… Hab keinen Unterricht bei ihm.« Hatte Herr Stolper sich wegen meiner Schutzbrille bei meinem Vater beschwert? Yvette steckte meine Brotbüchse ebenfalls in ihren Ranzen, bevor mein Vater etwas merkte. Für einen Moment sah es so aus, als huschte ihr Blick zum Spalt im Fußboden. Ich stieg die Leiter hinab und setzte meine Erkundung der unterirdischen Räume fort. Es gab sogar einen Theatersaal mit einem Kronleuchter an der Decke und grünleuchtenden Notausgangsschildern über den Türen, was so tief unter der Erde wirklich komisch war. Ich stieg auf die Bühne und fand die Lücke im Vorhang, aber statt ins Bühnenhaus mit herabhängenden Seilen und Kulissen gelangte ich in eine kleine Werkstatt, in der Yvette anscheinend an einem Porträt unserer Mutter gearbeitet hatte. Auf einem Töpfertisch stand Mutters halbfertige Büste und auf einem Brett an der Wand lehnte das Foto aus der Küche. Ich ging vorsichtig durch die Werkstatt und berührte nichts. Auf einem Schemel lag das Buch Die Welt von übermorgen, es hatte tonfleckige Fingerabdrücke und war mit vielen Lesezeichen versehen. Yvette musste es vom Katzenmann geholt haben. Auch das hatte sie mir nicht erzählt. Ich begann immer mehr, sie mit anderen Augen zu sehen. Durch eine andere Tür im grünen Flur gelangte ich in einen Raum, der mit alten Möbeln vollgestellt war, die von einigem Wert gewesen wären, wenn nicht hunderte weiße Pilze ihre Furniere und Polster besiedelt hätten. Ein Hochbeet entpuppte sich als ein vollständig überwucherter Billardtisch. Als ich mit der Fingerspitze einen Pilz berührte, stäubte aus ihm ein weißes Pulver, in dem ich den Ursprung des süßen Geruchs erkannte. Ich war völlig eingenebelt, musste niesen und flüchtete in einen benachbarten Saal, in dem nicht weniger als dreißig Schaukelpferde standen. Kleine Lampen in der Form von Fliegenpilzen tauchten den Saal in ein rotes Glühen. Ich setzte mich auf eines der Schaukelpferde und dachte nach. Vielleicht hatten frühere Besitzer des Hauses diese Räume als Keller oder als Wohnräume für Angestellte verwendet? Soviel ich wusste hatte das Haus vor dem Krieg einer Fabrikantenfamilie gehört, die im Zuge der Bodenreform enteignet worden war. Gorans Eltern hatten es günstig erworben und darin gewohnt. Goran, der einen Teil seiner Kindheit hier verbracht hatte, kannte die Räume bestimmt. Ihn wollte ich fragen. Der Holzboden knarrte bei jedem Vor und Zurück des Schaukelpferds, und es war so gemütlich, dass ich jedes Zeitgefühl verlor. Keine Ahnung, wie lang ich dort vor mich hinschaukelte, bis mir auffiel, dass die Schaukelpferde alle in die gleiche Richtung zeigten, und zwar zu einem Loch in der Wand, zu dem der Lichtschein nicht ganz hingelangte. Das Loch war einfach in die Wand gehauen worden, als ob dort die eingerichtete Welt in etwas Wilderes überging. Ich stieg vom Schaukelpferd ab und näherte mich vorsichtig dem Loch, hinter dem ich einen schwach beleuchteten Gang ausmachte, der in die Erde gehauen worden war. Ich konnte deutlich die Spuren der Werkzeuge an der Tunnelwand erkennen. Ich duckte meinen Kopf und schob mich durch das Loch in der Wand. An der Tunneldecke glommen vergitterte Lampen, die durch herabhängende Kabel miteinander verbunden waren und deren Lichter sich in Pfützen aus durchgesickertem Grundwasser spiegelten. An den Lampen hingen Spinnweben, in denen Tropfen glitzerten. Die Luft war feuchtwarm und irgendwie klebrig. Ich folgte den Lichtern und ging tiefer in den Tunnel hinein. Anfangs bin ich noch über die Pfützen gesprungen, aber später wurden sie so groß, dass ich durchwaten musste und nasse Füße bekam. Als eine Ratte vor mir weglief, war ich erleichtert, nicht völlig allein zu sein. Ich hatte keine genaue Vorstellung, wie weit ich inzwischen von unserem Haus entfernt war. Ich war bestimmt fünf Minuten lang geradeaus gegangen, als ich auf ein Holztreppchen seitlich an der Tunnelwand stieß, dessen drei Stufen zu einer dunklen Nische hinaufführten. Die unterste Stufe war morsch und brach unter meinem Gewicht ein. Ich sprang über die anderen beiden Stufen in die Nische, tastete mich voran und fand mich nach ein paar Metern in einem ganz normalen Keller wieder, mit einem Kellerfenster, mit Kohlen in der Ecke und mit einer Kiste voll Kartoffeln. Ich stieg die Kellertreppe hinauf und hörte von oben das Geräusch eines Fernsehers. Es lief eine Sportübertragung, wahrscheinlich Olympia. Eine Männerstimme, die nicht aus dem Fernseher kam, rief: »Kristiiiin!« Ich war unerlaubt in ein fremdes Haus eingedrungen und konnte froh sein, wenn ich nicht erwischt wurde. Ich schlich in den Tunnel zurück, aber ich war zu neugierig, um schon nach Hause zurückzukehren. Ich ging weiter und fand nach etwa zwanzig Metern ein anderes Holztreppchen, und kurz darauf noch eines, und so immer weiter. Die Treppchen hatten immer drei Stufen, sie säumten den Tunnel auf beiden Seiten wie Gartentürchen an einer Vorstadtstraße. Es fehlten nur die Namensschilder und die Briefkästen. Im Gegensatz zu den oberirdischen Hauseingängen schienen die unterirdischen aber nur selten oder nie benutzt zu werden. Manche der Treppchen waren von Ratten angenagt und fielen fast von selbst auseinander. Mir kam das alles unglaublich vor. Ich wollte mich noch einmal überzeugen und wählte ein Treppchen, das zu einer Klappe führte, die ich von unten vorsichtig hochdrückte. Als ich mich an das Tageslicht gewöhnt hatte, sah ich die Rückseite einer grauen, über einer Stuhllehne hängenden Uniformjacke und darüber die beginnende Glatze unseres Abschnittsbevollmächtigten Worgitzky. Er beugte sich über den Schreibtisch, auf dem seine Schiebermütze neben einem gerahmten Foto von Karina lag. In dem Zimmer roch es nach Zigarettenqualm und nach Schweiß. In einer Ecke gab es eine kleine, durch Gitter abgetrennte Gefängniszelle, deren Tür offen stand. Ich war auf unterirdischem Weg bis zum Marktplatz gelangt! Bis zur Wellblechbaracke unseres Abschnittsbevollmächtigten Worgitzky! Ich fragte mich, ob jedes Haus in Gangolfsömmern einen Zugang zum Tunnelsystem besaß und wer davon wusste. Ich lies die Klappe leise sinken, sprang über das Treppchen in den Tunnel und rannte den Weg zurück, den ich gekommen war. Als ich nach einer halben Stunde das Ende des Tunnels erreichte, fand ich neben dem Loch zum Saal mit den Schaukelpferden ein weiteres Holztreppchen, das mir vorhin nicht aufgefallen war und das eigentlich nur zu unserem Haus gehören konnte. Und so war es. Ich öffnete eine Klappe über mir, stieg hinauf und spürte Kleidungsstücke über mein Gesicht streifen. Ich erkannte den Geruch meiner Blusen und Hemden, und ich sah die Kleiderbügel über mir. Ich war in meinem Kleiderschrank herausgekommen.

Inzwischen war es Nachmittag geworden und der Regen hatte aufgehört. Ich hatte Stunden unter der Erde verbracht. Ich stand vor dem Fenster in unserem Zimmer und blickte in den Garten hinaus, zu der Hecke, unter der ich vorhin gesessen hatte. Ich nahm mir vor, später einen genauen Plan des Tunnelsystems anzufertigen. Um mir zu beweisen, dass ich nicht träumte, holte ich das künstliche Ohr aus meiner Hosentasche und betrachtete es genau. Ein Lochblech aus dem Universalbaukasten war zu einer Muschel gebogen und mit einem wachsartigen Material überzogen worden. Hat das wirklich Yvette getan? Ich hörte Vater in der Küche mit dem Geschirr klappern, zog mir trockene Socken an, schnappte mir meine Schutzbrille und ging zu ihm. »Na?« fragte er. »Schon zu Hause?« »Hm, ja… Die letzte Stunde ist ausgefallen.« »Dann kannst du zum Konsum gehen, es gibt Melonen.« Mir war es recht, denn ich wollte Yvette sowieso von der Schule abholen, um von ihr ein paar Erklärungen zu bekommen. Ich nahm mir Geld sowie einen Nylonbeutel und ging hinaus. Draußen auf der Straße der Jugend malte ich mir die neuen Möglichkeiten aus. Auf jeden Fall hatten wir nun einen Ort für unsere Fleischblume und all die anderen Apparate, die wir würden bauen können, ohne von unserem Vater gestört zu werden. Ich sprang vor Freude in die Luft, wie es eigentlich nur kleine Kinder tun. Dann hüpfte ich nochmal und horchte, ob es irgendwie hohl unter mir klang. Das tat es nicht. Bevor ich den Bahnübergang überquerte und in die Stadt hineinging, setzte ich mir meine Schutzbrille auf. Wegen der im Plastik eingeschlossenen Luftbläschen stellte ich mir vor, unter Wasser zu spazieren. Vögel wurden zu Fischen und die Pappeln am Straßenrand zu lodernden Schlingpflanzen. Solche Verwandlungen waren mir schon immer leichtgefallen, aber jetzt kamen sie mir rechtmäßiger vor. Es lag bestimmt nicht nur an der Brille, dass ich die oberirdische Welt mit anderen Augen sah. Manche Häuser kamen mir nun wie baufällige Kulissen vor, als ob das, was ich hier oben sah, nur ein Teil der Wirklichkeit war. Und auch die Menschen, denen ich begegnete, wirkten wie eher lustlose Schauspieler in einem großen Freilufttheater. Im Konsum standen die Menschen – wie immer wenn es Melonen oder Bananen gab – Schlange bis zur Eingangstür. Die Melonen wurden an der Kasse ausgegeben, und jeder durfte nur eine kaufen. Ich legte eine Süßtafel für meinen Vater, eine Packung Hansa-Kekse für Yvette und ein Fettbrötchen für mich in den Einkaufskorb, bevor ich mich ans Ende der Schlange stellte. Die Wartezeit vertrieb ich mir mit einem Spiel, das Yvette mir beigebracht hatte, und zwar versuchte ich, die mich umgebenden Körpergerüche bestimmten Berufen zuzuordnen. Ich lokalisierte eine Kindergärtnerin, die den Geruch von mindestens sieben Menschen mit sich trug, was an Intensität aber vom Eau de Cologne Frau Kuhns übertroffen wurde, die mit ihrem Sohn Rico neben der Kasse stand und sich mit dem Verkäufer unterhielt. Sie lobte die von beiderseitigem Nutzen geprägten Beziehungen zu Kuba, woher die Melonen offenbar stammten, und behauptete, dass sich ihr Mann als Parteigruppenorganisator persönlich für die Lieferung eingesetzt habe. Da Frau Kuhns Stimme laut und anstrengend war, drehte ich mich von ihr weg, weshalb Rico später behauptete, ich hätte ihn gar nicht beachtet, aber das stimmte nicht. Wenn mir ein Junge gefiel, blickte ich ihn niemals direkt an. Rico war damals noch nicht der dunkle Prinz der Schule, der er später wurde, aber er kokettierte schon ziemlich mit seinen langen Wimpern und benahm sich wie ein kleiner, verwöhnter Lord. Ich wusste, dass er im Konsum schon zweimal Süßtafeln geklaut hatte, was ich zufrieden als heimliche Rebellion gegen seine Vorzeigeeltern interpretierte. Als ich an die Kasse kam, unterbrach Konsumverkäufer Jentzsch sein Gespräch mit Frau Kuhn und fragte mich nach Yvette. »Deine Schwester hat drei Liter Methanol bei mir bestellt und nicht abgeholt… Wozu braucht sie das?« »Ich sag ihr Bescheid.« »Was ist das für ein Ding auf deiner Nase?« »Eine Schutzbrille für Chemikerinnen, Herr Jentzsch. Filterstufe acht.« »Na dann kann ja nichts mehr schiefgehen.« Er zwinkerte Frau Kuhn zu, während er zu mir sagte: »Aber nicht das Puppenhaus in die Luft sprengen, ja?« Ich sackte wortlos die Melone ein, bezahlte und ging an Rico vorbei, dessen Geruch schwer zu beschreiben war. Irgendwie roch er kloakig wie ein Kranker, gleichzeitig aber frisch und makellos; ja, ich glaube er duftete wie ein Baby, das gerade in die Windeln gemacht hatte. Ich spürte seinen Blick auf mir und bewegte mich plötzlich ganz unnatürlich, während seine Mutter zu Herrn Jentzsch sagte: »Wie kann man sein Kind mit so einer Brille herumlaufen lassen? Armes Ding.« Ich kümmerte mich nicht darum, was Frau Kuhn über mich dachte, sie war bloß oberflächlich. Rico dagegen hatte etwas Schillerndes an sich, das es nicht so leicht machte, ihn zu fassen. Den Beutel in der einen Hand und mit der anderen das Brötchen essend ging ich zur Schule, aber Yvette war nicht da. Ein paar Kinder, die ich fragte, meinten, sie hätte im Unterricht gefehlt. Ich vermutete, dass sie die Schule geschwänzt hat weil ich es ja auch getan hatte. Aber wo und wie hatte sie den Tag verbracht? Im obersten Stockwerk des Schulgebäudes, wo sich das Lehrerzimmer befand, war zu dieser Stunde außer der Putzfrau niemand mehr. Ich wartete, bis sie verschwunden war, dann stieg ich aufs Dach hinauf. In der großen Pause rauchten hier oben die Lehrer und suchten Ruhe vor uns. Von hier oben konnte ich ganz Gangolfsömmern überblicken. Auf dem Sportplatz trainierte eine Fußballmannschaft, und ein paar Zentimeter weiter links fuhr gerade ein Zug in den Bahnhof ein. Meine Augen wanderten vom Bahnhofsplatz zum Markt, ich suchte Worgitzkys Baracke und schätzte die Entfernung zu unserem Haus in der Straße der Jugend. Unterirdisch war es ein schnurgerader Weg gewesen, aber oberirdisch bräuchte man wegen der verwinkelten Gassen viel länger. Ich malte mir einen geheimen Stadtplan aus und fand es immer noch eigenartig, dass ich keinem anderen Menschen in den Tunnels begegnet war. Vielleicht bedurfte es einer gewissen Neugier, um überhaupt einen Zugang zu finden? Ich nahm das künstliche Ohr und hielt es über die Stadt – da entdeckte ich Yvette. Sie ging in einer kleinen Seitenstraße, nicht weit weg von der Schule. Ich rannte das Treppenhaus hinunter, über den Schulhof und in die Straße hinein, wo Yvette vor einem Schaufenster stehengeblieben war und sich die Auslage ansah. »Hey«, rief ich, »ich kenne dein Geheimnis«, aber sie drehte sich nicht zu mir um. Ich hielt das künstliche Ohr in meiner Hand, um es ihr zu zeigen und jedes Abstreiten überflüssig zu machen. »Yvette?« Ich stellte den Einkaufsbeutel auf den Gehweg und legte meine Hand auf ihre Schulter, aber als sie sich umdrehte, zuckte ich zurück. Ihr Gesicht war auseinandergeflogen. Ihre Augen hatten einen anderen Abstand als früher und ihre Nase wirkte schief. »Was ist passiert?« Sie blickte mich an, aber sie sagte nichts. Auf ihrer Stirn und auf ihren Armen waren blutige Kratzer, wirklich heftig, als hätte sie mit einer Horde Katzen gekämpft. Als ich sie fragte, ob sie beim Katzenmann gewesen war, schüttelte sie den Kopf. Ich wusste ja, dass sie das Buch von ihm geholt hatte, aber es war zwecklos, sie in diesem Zustand weiter zu befragen. Ich holte die Kekse aus dem Beutel, Yvette riss die Packung auf, schob sich einen ganzen Keks in den Mund und begann gierig zu kauen. Das künstliche Ohr steckte ich wieder ein, ich wollte später mit ihr darüber reden. »Wir müssen nach Hause«, sagte ich. »Die Wunden müssen desinfiziert werden.« Ich wollte Yvette an die Hand nehmen und langsam losgehen, aber sie schüttelte mich ab. »Wie du willst«, sagte ich und ging allein los. Yvette trottete wie üblich hinter mir her. Nach ein paar Minuten begann sie eine Melodie zu summen. Es waren fünf Töne, ziemlich schief, die sie in einer Endlosschleife wiederholte. Je näher wir dem Stadtrand kamen, desto hektischer summte sie, und als wir den Bahndamm überquert hatten, blieb sie plötzlich stehen und sagte: »Es ist der Swing. Er besteht aus fünf Duftnoten, das weiß ich jetzt. Soll ich dir die Melone abnehmen?« »Schon gut… Wo hast du ihn gerochen?« Sie schüttelte mit dem Kopf und wollte es mir nicht verraten. Ihre Geheimnistuerei ärgerte mich. Früher hatten wir uns immer alles gesagt, aber ab diesem Tag, das kann ich heute sagen, entwickelte sich Yvette eindeutig in eine eigene Richtung. »Wenn wir die Fleischblume wieder aufgebaut haben, kannst du den Swing darauf spielen und sehen was passiert.« »Nein.« Jetzt war sie ganz wach, mit aufgerissenen Augen. »Das wäre viel zu gefährlich.«

Allmählich gewöhnte ich mich an Yvettes verändertes Gesicht, und nur als ich für ihre Jugendweihe ein Album mit alten Fotos zusammenstellte, wurde mir der Unterschied bewusst. Ihre Jugendweihe hat sie dann aber geschwänzt, was ich ihr im Gegensatz zu Vater nicht verübelte. Ich fand bloß, dass sie es uns vorher hätte sagen sollen, bevor wir die Feier vorbereitet und das ganze Essen bestellt haben. Yvette hatte die Unterkellerungen gefunden, als sie mir eines Nachts gefolgt war. Offenbar schlafwandelte ich durch die richtige Welt, wenn ich durch meine Träume traumwanderte. Genau genommen hatte ich die Unterkellerungen als erste entdeckte, ich hatte es nur noch nicht gewusst. Yvette war beleidigt gewesen und hatte geglaubt, ich würde ihr die Räume unter der Erde vorenthalten. Wir klärten dieses Missverständnis schnell auf und erkundeten fortan zusammen die weitverzweigten Katakomben. Yvette richtete sich in einem der kleineren Räume ein Olfaktorium ein, in dem sie mit Gerüchen experimentierte. Außerdem stattete sie eine der Schaufensterpuppen mit einem mechanischen Innenleben aus und schuf sich einen Assistenten, den sie Leonardo nannte. Er trug eine Küchenschürze und ein aufs Handgelenk geschraubtes Tablett, war aber ziemlich unbeholfen. Ich selbst hielt mich öfter in den Tunnels als in den Räumen unter unserem Garten auf. Ich hatte nun einen Zugang zu den Stadtbewohnern, die mich interessierten. Und da ich ihr Verhalten oft nicht verstand, nahm ich Papas Psychologiebücher mit auf meine Streifzüge, auf denen ich Informationen über die Menschen und ihre Umwelt sammelte. Hauptsächlich war ich aber einfach neugierig. Ich legte einen Karteikasten an, in dem ich meine Erkenntnisse sortierte. An die Wand in der Töpferwerkstatt heftete ich große Bögen Papier, auf denen ich eine Karte der geheimen Stadt skizziert hatte. Aber wie ich bald feststellte, war der Wegeplan niemals vollständig. Ich entdeckte immer neue Gänge.
Ich versuchte von Goran zu erfahren, was es mit den Unterkellerungen auf sich hatte, aber er wusste nicht wovon ich sprach. Da ich es für unwahrscheinlich hielt, in diesem Haus aufzuwachsen ohne früher oder später einen Zugang zur unterirdischen Welt zu finden, war meine Diagnose Verdrängung. Es wurde Herbst, und bald fiel der erste Schnee. Ich muss zugeben, dass ich zu einer richtigen Voyeurin wurde. Bisher hatte ich mich für eine Einzelgängerin gehalten, aber auf eine sehr einseitige Weise wurde ich nun richtig gesellig. Ich verschaffte mir über die Holztreppchen Zugang zu den Häusern, und manchmal genügte es schon, zu lauschen oder zu riechen. Lehrer Stolper etwa wohnte noch bei seiner Mutter, aber wenn die nicht zu Hause war, bespritzte er sich mit Westparfüm (das ich sogar noch im Keller roch), bevor er einen jungen Mann empfing. Es war ein Student, den er leidenschaftlich küsste. Sie bedauerten den Beginn der kalten Jahreszeit, die es ihnen schwerer machte, sich draußen im Wald zu treffen. In die Bude des Studenten zu gehen, wo er mit drei anderen jungen Männern wohnte, war zu riskant, denn schließlich durfte niemand von Stolpers heimlicher Neigung erfahren. Ich versuchte, Leonardo bei meiner Feldforschung einzusetzen. Ich stattete ihn mit einem Kassettenrekorder aus und hoffte, dass er als Datensammler ausdauernder war als ich. Aber er fiel leicht um, wenn er die Holztreppchen hinaufzusteigen versuchte. Ich fand ihn mehrmals in den Tunnels hilflos auf dem Rücken liegend und setzte ihn von da an nicht mehr ein. Meine Neugier machte auch vor Goran nicht Halt – was ich später bereute, da ich dadurch Dinge erfuhr, die ich nicht wissen wollte. Ich zögerte kurz vor dem Holztreppchen zur Gärtnerei, aber ich war nicht bereit, einen weißen Fleck auf meiner geheimen Landkarte zu akzeptieren. Ich sagte mir, dass es mir ja nicht um Verrat ging, sondern darum, die Menschen kennenzulernen. Und bei einem Freund wie Goran schwebte mir außerdem vor, ihn irgendwie zu beschützen. Ich schwärmte immer noch für ihn, obwohl ich mir nicht vorstellen konnte, dass da etwas Ernsthaftes zwischen uns passieren könnte. Zunächst erfuhr ich bloß viel über die Arbeit eines Gärtners. Goran hatte alle Hände voll zu tun, die Gewächshäuser winterfest zu machen, er musste kaputte Scheiben austauschen und die Heizungsrohre reparieren. Noch vor dem ersten Bodenfrost leerte er die Jauchefässer und bedeckte die Beete mit Reisig. Abends setzte er sich zu Ellen, die den ganzen Tag stumm und steif im Sessel gesessen hatte. Er erzählte ihr von seiner Arbeit, während ich in einen dicken Mantel gehüllt unten auf der Kellertreppe hockte, mit vor Kälte fast tauben Fingern. Manchmal, wenn Goran nicht da war, traute ich mich in den Hausflur vor und sogar noch weiter. Ich sagte mir, dass Goran bestimmt nicht verärgert wäre, wenn er mich entdecken würde. Im Gegenteil, ihn hätten meine individualpsychologischen Forschungsergebnisse bestimmt sehr interessiert. Ich machte mir Stichworte so gut ich konnte und versuchte herauszubekommen, was mit Ellen nicht stimmte. Sie sprach kein einziges Wort, nicht einmal mit sich selbst. Sie führte kein Tagebuch, sie traf keine anderen Menschen, sie lebte wie eine Pflanze am Straßenrand. Sie schien nur dann ein wenig aufzublühen, wenn Goran ihr Blumen aus den Gewächshäusern mitbrachte. Ich hörte sie dann seufzen und tief einatmen, als ob sie die Margeriten, Chrysanthemen und Rosen zu riechen versuchte. Sie rochen tatsächlich sehr stark. Ich fühlte mich mit ihr verbunden, vielleicht weil ich Goran ebenfalls attraktiv fand und es gut verstehen konnte, dass Ellen sich in ihn verliebt hat. Einmal, als Goran tagsüber in den Gewächshäusern war, schlich ich mich so weit ins Haus hinein wie vorher noch nie. Ich ging ins Wohnzimmer, wo Ellen von Blumen umgeben in ihrem Sessel saß. Ich war mir sicher, dass sie mich nicht verraten würde, falls sie mich überhaupt wahrnahm. Sie saß sehr aufrecht und wirkte streng. Ihre Augen waren geöffnet, schienen aber nichts Besonderes im Raum anzublicken. Ich hatte echte Schokolade aus dem Lager des Konsums mitgebracht, die ich auf ein Beistelltischchen neben Ellens Sessel legte. Solche kleinen Geschenke brachte ich den Menschen, die ich observierte, häufig mit, wahrscheinlich um mein schlechtes Gewissen zu beruhigen. Ich beugte mich ins vermutete Sichtfeld Ellens und winkte ihr zu. Dann roch ich an den Blumen, strich mit den Fingern über die Möbel im Wohnzimmer und öffnete ein paar Schubladen. In einer lag ein Bündel mit amtlichen Briefen, es waren Bescheide auf Ausreiseanträge, und im letzten stand ‚auf alle Zeiten abgelehnt‘. Ich ging in die anderen Räume, in denen ich nichts Außergewöhnliches fand, und fühlte mich während der ganzen Zeit wie unsichtbar. Wie ein guter Geist. Ich hätte Goran und Ellen nie verraten oder mein Wissen irgendwie gegen sie eingesetzt. Ich fühlte mich einfach – auf eine vielleicht naive Art – der Wissenschaft und der Wahrheit verpflichtet. Ich kehrte ins Wohnzimmer zurück und setzte mich neben Ellen. Sie trug ein schickes, geblümtes Kleid und war sogar geschminkt. Ich wusste, dass Goran das für sie machte, vielleicht weil es ihr früher, vor ihrer Krankheit, immer wichtig gewesen war. Inmitten der bunten Blütenpracht wirkte sie wie eine heilige Maria. Ich legte meine Hand auf ihre, um sie zu streicheln. Und da gab sie ein leises, schniefendes Geräusch von sich, das mich erschreckte. Ich zog mich schnell auf die Kellertreppe zurück. Goran versuchte selbst, seine Frau zu therapieren, wobei er zunächst auf die Psychoanalyse zurückgriff. Da diese Form der Behandlung auf Gesprächen beruht, kam er bei Ellen aber nicht weit. Spätere Versuche, mit Handpuppen soziale Situationen nachzuspielen, führten bei ihr ebenfalls zu keiner Reaktion. Ich begleitete diese Versuche sehr aufmerksam, machte viele Notizen in Ellens Dossier und versuchte, eigene Schlüsse zu ziehen. Als ich wieder einmal mit Ellen allein war, brachte ich ihr Buntstifte. Ich legte einen Block Papier auf die Armlehne des Sessels und schob einen Stift in Ellens halb geöffnete Hand. Ich sprach mit ihr und sagte, dass sie zu malen versuchen sollte. Meine Sprache musste zu ihr durchgedrungen sein, denn ihre Hand bewegte sich leicht. Ich unterstützte sie, indem ich selbst eine Figur aufs Papier brachte, und tatsächlich machte Ellen es mir nach. Auf den dabei entstandenen hauchzarten Zeichnungen waren ausschließlich auseinanderfallende Gesichter zu sehen. Gesichter, die ich nicht kannte, die am ehesten noch Ellens eigenem ähnelten. Ich musste an Yvettes seltsame Gesichtsveränderung denken und fragte mich, ob das ein Zufall war.

Leseprobe: Miku Sophie Kühmel – “Fellwechsel”

Fellwechsel (Auszug)

Der kleine Flachbau beherbergt ein Schnellrestaurant und einen Minimarkt, hinter dessen Tresen ein schlacksiger Teenager steht, der sehr blass und sehr müde ist, die Haare sehr kaputt und sehr schwarz gefärbt. Rina taucht aus Wolffs Jacke hervor und sieht sich kurz zwischen den drei Regalen um. Aus einem Lautsprecher in der Ecke surren die repetitiven drei Geigentöne von Bittersweet Symphony. Es gibt Coca Cola, Mars und Snicker’s und eine offenbar isländische Schokolade, die nach einem Stern benannt ist. Sonst gibt es nur Süßigkeiten, die auf die eine oder andere Art Lakritz enthalten. In den übrigen Regalfächern stapeln sich Konserven, Tütensuppen, ein paar runzlige Wurzelgemüse und eine kleine Pyramide perfekter, hellgrün schimmernder Äpfel. Die Tiefkühlkost ist wesentlich vielfältiger, eine Menge gefrorener Fisch, im ganzen Tier oder Stückchen und allen Farben kann durchwühlt werden. Sonst noch Quark, in verschiedenen Sorten. An der Kasse kann man keine Feuerzeuge, aber Schlüsselanhänger kaufen, kleine Muscheln oder kitschige Plüschtiere mit gelben Plastikaugen. Es ist nicht zu erkennen, um welche Tiere es sich dabei handeln soll. Und doch hat Rina das Gefühl, eines wieder zu erkennen… Refur, murmelt Wolff, der plötzlich wieder hinter ihr steht. Der Eisfuchs. Er hat die Zeit genutzt und im rechten Bistroteil der Raststätte zwei Tassen Kaffee besorgt, die er mit seinen großen, groben Händen auf einem Tablett balanciert, zusammen mit zwei Tellern voller dunkelbrauner Fladenbrote und ein paar kleiner Töpfchen – Marmelade, Erdnussbutter und Heringshappen. Weil es aussieht, als ob Wolff im Servieren nicht geübt ist, nimmt Rina ihm eilig alles ab und folgt ihm in den Sitzbereich. Der Boden ist auch hier hellbeige gekachelt und von Schneematsch überzogen, Spuren früherer Gäste. Trotzdem ist es warm, ein bisschen dampfig. Von dem 90er-Jahre-Radio ist nichts mehr zu hören, eine einzelne, gerupft aussehende ältere Frau in einem Eishockeytrikot starrt auf den Sportsender, der in einem Fernseher, der hoch über den Köpfen der Gäste angebracht ist, flimmert. Wolff und sie nicken sich kurz zu, obwohl Rina weiß, dass sie sich nicht kennen. Sie nickt auch schnell hinüber, dabei ist es längst Sekunden zu spät dafür, dann setzen sie sich auf zwei der weichen Kunstlederbänke, die, ferrarirot, vor den Fenstern stehen. Rina platziert sich so, dass sie das Auto im Auge hat – auch, wenn das in einer Gegend wie dieser vielleicht albern ist. Kaum haben sie die Straße verlassen, scheint das Wetter ein wenig besser zu werden. Vielleicht ist es morgens noch verschlafen, denkt Rina kurz. Jedenfalls zirkeln die Schneeflocken jetzt kleiner und vereinzelter durch die Luft, mit größerem Abstand, am Himmel gibt es ein paar Löcher in der Wolkendecke. Nur einige Meter weiter, gleich auf der anderen Straßenseite, liegt der schwarze Vulkanstrand. Rina erkennt jetzt in den Wellen, die in den Fjord hinein rollen und zwischen den groben schwarzen Felsen aufspritzen, das satte Türkis wieder, das sie manchmal aus den Konferenzsälen heraus als Streifen hinter der Stadtgrenze erahnt hat. Das weiß, das schwarz und das blau, alle drei sind rein und klar und in diesem Moment ganz unverwüstlich. Wolffs Augen sind aus denselben Farben gemacht. Nur schwerlich wendet Rina den Blick wieder ab und sich dem Frühstück zu. Ich hab früher gekellnert, erklärt sie, während sie mit ein paar Handgriffen Teller, Tassen und Besteck vor ihnen drapiert. Als wüsste er es, hat Wolff keinen Zucker mitgebracht. Sie schaut vorsichtig zu ihm hinüber, wie er mit skeptischem Blick die Papierserviette unter der Hand dreht, die Rina ihm zu einem Dreieckstuch gefaltet und hingeschoben hat – als würde er überlegen, ob er sie in seinem Schoß auffalten, in den Krage seines Pullovers stecken oder einfach ignorieren soll. Danke für das.. Sieht gut aus. Wolff schaut sie kurz an, schweigt, lächelt vielleicht. Während Rina sich mit der Tasse in den Händen und der Nase über dem Dampf zurück lehnt, schmiert er Erdnussbutter auf seinen Fladen und öffnet die winzige Dose Heringshappen. Er reiht die kleinen Stückchen Fisch behutsam auf das Brot, rollt es mit seinen großen, ein bisschen platten Fingern zusammen und schiebt es in das schwarze Loch, das sich lippenlos in der Fläche seines Bartes auftut. Wolff kaut, wie er geht. Langsam, ohne Bedacht, ohne Druck. Selbstverständlich. Er schnauft leise. Da, wo vorher Schnee in seinem Bart gehangen hat, rinnen nun hier und da Wassertropfen durch die krausen, silbernen Haare. Rina spürt, wie der Kaffee in langen Bahnen bis in ihren Bauch hinunter rinnt, wie ihr Magen ärgerlich knurrt, und versucht es mit Marmelade. Die riecht, obwohl in dieses winzige Gläschen verpackt und ein bisschen beschlagen, beeriger als alles, woran Rina sich spontan erinnern kann. So vergisst sie all ihre Fragen und isst schneller auf als Wolff selbst. Wenig fühlt sich so befriedigend an, wie einen solchen Kältehunger zu stillen. Schnell werden ihre Wangen und Lippen und Finger und Zehen ganz warm. Beide seufzen. Dann treffen sich ihre Blicke. Wir werden übernachten müssen, hab ich Recht? Wir schaffen es niemals, durchzufahren. Nicht bei dem Wetter. Nun lehnt auch Wolff sich zurück, wirft kurz einen Blick und einen isländischen Satz über die Schulter. Ohne ersichtlich zu reagieren, zieht die verlauste, dürre Frau irgendwo die Fernbedienung her und schaltet – auf den Teletext. Rina weiß nicht, wie lange sie keinen Teletext mehr gesehen hat. Neonbunte Zahlen und Buchstaben, denen sie nichts zuordnen kann, flackern über den schwarzen Bildschirm. Weil sie nichts versteht, versucht Rina, stattdessen Wolffs Profil zu lesen, der sich nun, ein wenig schnaubend, halb zum Fernseher umgedreht hat – doch das erscheint ebenso hoffnungslos. Seine Augen sind ruhig und fokussiert, so wie die ganze Zeit über schon und die untere Hälfte seines Gesichts ist ohnehin von Haaren verdeckt. Langsam dreht Wolf sich zurück und räumt, sich räuspernd, Teller und Besteck zusammen. Eis, Schnee, Regen, Hagel – am Ende fließt alles in die gleiche Mündung und wird zu Wellen im Meer. Rina ist sich nicht sicher, was das heißen soll. Doch sie muss Wolff vertrauen. Was bleibt ihr anderes übrig? Bevor sie geht kauft Rina eine Tafel Sirius mit Haselnüssen und einen kleinen Fuchs. Sie hat zuerst auch darauf bestehen wollen, ihren Anteil am Frühstück zu bezahlen, doch Wolffs bärige Hände mit den dicken Handschuhen produzieren regelrecht Windstöße, so heftig winkt er ab. Und so fühlt sich Rina wie ein Kind, kuschelt sich auf ihren Beifahrersitz, die Heizung des Autos ist inzwischen vernünftig angelaufen, und überlässt Wolff alles Weitere. Schließlich ist er Taxifahrer, auch wenn das hier in der Einöde vielleicht nicht viel bedeutet, und es gibt kaum Abzweige auf denen man sich verfahren könnte. Und von den wenigen Seitenstraßen ist wiederum die Hälfte gesperrt, wegen Vereisungen, Räumungsbedarf. Wieder trommeln die Steinchen von unten gegen den Wagen, mit einem sanften Schlag auf das Armaturenbrett hat Wolff das Radio in den Griff bekommen und nun summt leiser R’n’B – für Folklore schein er wenig übrig zu haben – durch die Fahrkabine. Rina dreht bedächtig den kleinen, kitschigen Schlüsselanhänger in ihren Händen und starrt in die gelben Plastikknöpfe, die das Tier als Augen ins Gesicht gesteckt bekommen hat. Als sie den letzten Fjord schon fast hinter sich lassen – sie überqueren eine niedrige, aber sehr lange Brücke, die zur anderen Seite führt – wedelt Rina klimpernd mit dem Tier in ihrer Hand. Wie hast du dazu gesagt? Wolff blickt kurz zur Seite. Refur, brummt er, Polarfüchse. Einzige natürliche Säugetiere in Island. – Achja. Rina kommt das seltsam vor, denn das Ding in ihren Händen hat keine Ähnlichkeit mit einem Fuchs. Sicher, es hat vier Beine und einen Schwanz. Doch die Ohren sind winzig kleine Dreiecke, die Schnauze fast nagetierhaft spitz und das Fell… sie streicht durch die dünnen Haare. Es ist zweifelsohne echtes Haar, Schaf wahrscheinlich, oder Pony. Das Fell ist Weiß, nur, wenn man mit den Daumen gegen den Strich über Rücken und Bauch der kleinen Figur wühlt, kann man die pechschwarzen Ansätze erkennen. Schon kleben einige der feinen Haare an Rinas schwitzigen Fingern und sie zwirbelt sie hin und her. Seltsame Tiere, diese Füchse. Rina horcht auf, weil Wolffs Tonfall sich merklich verändert hat. Sein Gesicht sieht auf einmal sehr finster aus. Wieder so unheimlich wie am Anfang. Als spreche er nicht gern über die Füchse. Rina ist sich bewusst, dass sie in der letzten Stunde mehr geredet haben, als in allen Tagen davor. Deshalb schweigt sie jetzt und auch, weil die Fladenbrote, der übrige beerige Geschmack auf der Zunge und die warmen, von der Heizung beblasenen Füße sie entsetzlich müde machen. Es ist hell. Doch noch immer sieht man keine Sonne am Himmel.

Rina erwacht von heftigem Gerumpel. Das Knistern der Kieselsteine ist verschwunden und gerade noch erspäht sie im Hochschrecken, dass das schwarze Meer und der Geröllstrand nach Links ins Nichts verschwinden. Sie fahren bergauf. Und rings um sie herum ist binnen Sekunden alles nur noch weiß. Die Straße vor ihnen ist nur durch die kleinen gelben Pfeiler zu erkennen, die im Sekundentakt aus den Schneewirbeln auf und wieder in sie abtauchen. Ungläubig starrt Rina geradeaus. Zwischenzeitlich kann man nicht weiter als bis ans Ende der Kühlerhaube sehen. Was.. – Blizzard, brummt Wolff. Er hat eine Matrix-Sonnenbrille mit schmalen, eckigen Gläsern aufgesetzt. Durch die, sagt er, kann er gleich doppelt so viel sehen. Es blendet, Rinas Augen tränen, das Schlagen in ihrer Brust wird schneller. Um sie herum ist es wie unendlich dicker Nebel, doch dabei faucht auch noch wild der Sturm. Das Doppelte von Null bleibt Null! stößt sie durch die Zähne und stiert ungläubig ins Nichts. Wolff lacht nur leise und Rina zieht hektisch die Landkarte hervor. Sie fahren nun immer weiter südwärts, überqueren eine Art Gebirgskamm, um dann die westliche Küstenseite entlang bis ins Inselinnere, auf die Ringstraße zu fahren. Eigentlich ist die Strecke kaum länger als einmal ihr Daumen. Doch sekündlich scheint der Schnee vor ihnen dichter zu werden und die Sonne sich immer weiter zu entfernen. Rina weiß nicht, was sie tun soll. Sie kann nicht helfen. Trotzdem starrt sie konzentriert und Minuten lang ohne zu blinzeln die Bergstraße hinauf, die immer steiler ansteigt. Nur ab und an gibt es zwischen den Verwehungen überhaupt Lücken, Augenblicke, in denen man die Umgebung erahnen kann, die irgendwie aus rissigen Linien von Fels und vor allem Eis besteht. Es fühlt sich an, wie auf einem anderen Planeten. Rina bemüht sich, nicht hochzuschrecken, auch, wenn die gelben Pfeiler manchmal furchterregend nah an der Beifahrertür vorbei gleiten. Die Sekunden von Pfeiler zu Pfeiler fühlen sich zerrend lang an und ihre Augen schmerzen vom angestrengten Starren, immer wieder fleht sie, dass der nächste Pfeiler auftauchen möge. Sie weiß, ohne dass Wolff ihr das sagen muss: eine falsche Bewegung des Lenkrads, ein zu langes Zögern oder zu schnelles Gasgeben kann sie jetzt völlig von der schmalen Straße abbringen. Und nach dem Schneefall der letzten Stunden würde das für das mickrige Taxi ein verfrühtes Ende der Tour bedeuten. Deshalb lehnt sie sich nach vorne, legt die Ellbogen auf den Knien ab und berührt mit der Stirn beinahe die Windschutzscheibe, starrt den Sturm kämpferisch an wie bei einem Schachturnier. Pass auf deine Augen auf, bemerkt Wolff, der Schnee hat die Leute schon blind gemacht. Dabei klingt seine Stimme so ruhig, dass Rina ihm am Liebsten an den Hals springen will – mit einem kleinen Ruck ist dann auch der steile Anstieg vorbei und vor ihnen liegt, wie aus dem Nichts, ein großes Plateau. Um sie herum zirkeln immer noch die Schneewolken, Rina kann nicht bemessen, wie weit sie fahren und wann der Abstieg wieder beginnen wird. Bis hierhin hätte sie bestritten, dass es so viele Weißtöne geben könnte. Manches Mal faucht das kleine Auto, und Rina ist sich auch nicht ganz sicher, ob es von Anfang an so schlingernd gefahren ist. Der Wind heult wild über das Feld und trifft den Wagen mit voller Breitseite. Am liebsten würde sie sich im Fußraum zusammen kauern und warten, bis alles vorüber ist. Doch sie ist erwachsen und etwas anderes soll auch Wolff nicht denken. Sie fahren im Schritttempo. Wenn die Sicht völlig unmöglich ist und noch die nahesten gelben Pfeiler nicht mehr zu erkennen sind, bleiben sie einfach stehen. Dann schaltet Wolff den Warnblinker ein, der mit seinem Takt das Fauchen des Sturms untermalt. Mehrmals geht dabei der Wagen aus und immer wieder kneift Rina kurz die Augen fest zusammen und wünscht sich das wiederanspringende Geräusch des Motors mehr als alles andere auf der Welt. Noch nie war sie so sehr im Nirgendwo, völlig verloren. Hier oben könnten sie einfach verschwinden und nie wieder auftauchen und tagelang würde sie noch nicht einmal irgendwer suchen können. Und dann, plötzlich, sind da wieder leuchtend gelbe Augen, die näher kommen, die Mauer des Schneesturms durchbrechen: mit ihren massigen Karosserien reißen zwei ziegelrote Landrover einen Tunnel in die Tundra, die sich vor ihnen ausbreitet. Unter der Schneedecke ist die Straße vor ihnen sehr schmal. Und diese beiden Geländewagen fahren nicht Schritttempo, im Gegenteil, sie rasen auf sie zu und nur noch in letzter Sekunde fahren sie an ihnen vorbei, die Fahrer erkennt Rina nicht, da pulvert schon der von ihnen aufgewirbelte Schnee über die gesamte linke Seite ihres Wagens. Ungläubig sieht Rina im Rückspiegel zu, wie die beiden Autos mitten in eine besonders dichte Schneewehe jagen. Wolff muss gerade wieder stehen bleiben. Manche fahren an solchen Tagen extra raus, lassen sich einschneien…, sagt er, als er ihren Blick bemerkt. Macht sie süchtig, der Kick, die Gefahr. Da sind sie allein mit ihrem Spaten und graben sich selbst raus und fahren zurück nach Hause und erzählen’s da ganz stolz rum. Er lehnt sich zurück und nimmt kurz seine Sonnenbrille ab. Fassungslos zeigt sie erst auf den Rückspiegel, dann in die Richtung, in die die beiden Autos verschwunden sind. Aber wieso?? Haben die nichts anderes zu tun?, durch Wolffs Bart blitzt kurz sein erstaunlich weißes Grinsen. Sind natürlich alles nur Männer, die sowas machen. Natürlich, schnaubt Rina und schüttelt sich ein bisschen, und was denken ihre Frauen? Jetzt lacht Wolff sogar kurz auf. Es ist leise, nicht so tief wie erwartet, aber rau, ein bisschen angeschlagen: Weißt doch, wie Männer sind. Müssen sich immer beweisen. Glaub, die Frauen sind froh, wenn sie die nächsten Wochen dann ihre Ruhe vor denen haben. Rina muss sich nicht fragen, ob Wolff selbst sich schon einmal mit Absicht festgefahren hat. Er ist zu ruhig, zu klug um so etwas zu tun. Sie denkt an Henning. Der ist hinterm Steuer noch schneller nervös als sowieso und steigt, wenn möglich, niemals selbst auf den Fahrersitz. Das Wetter wird nicht besser und sie sehen auch kein einziges anderes Auto mehr – bis auf einen blauen Fiat Panda, der auf der Seite am Straßenrand liegt und schon bis an die Rückspiegel eingeschneit ist. Wolff setzt kurz den Warnblinker und lässt das Fenster an Rinas Seite hinunter. Wie um unter Wasser zu gehen, hält sie die Luft an und streckt den Kopf nach draußen. Der andere Wagen ist leer – das kann sie gerade noch sehen, dann trifft sie ein eisiger, fester Windstoß wie eine Kanonenkugel gegen die linke Seite ihres Gesichts und sie wird wieder in den Innenraum des Wagens zurückgeschleudert. Das Fenster fährt wieder hoch. Um sie herum – im Inneren des Wagens – rieselt feiner Schnee. Vielleicht sind es auch nur die Sterne, die Rina vom Schlag ins Gesicht vor den Augen tanzen. Wo sind die Leute, die gefahren sind? Die aus dem Panda? fragt sie benommen, auch wenn sie gerade bemerkt, dass der kalte Wind ihr auf sonderbare Weise gut getan hat. Sie fühlt sich plötzlich sehr wach und klar. Hat der Winterdienst schon geholt. Rina sieht kurz zwischen Wolff und der verschneiten Straße vor ihnen hin und her und will ihm nicht recht glauben – nach allem, was sie hier gerade sieht, ist eine Räumung schlicht unmöglich. Da, siehst du, kommen sie schon wieder! Und in einigen hundert Metern Entfernung vor ihnen, scheinbar am Ende des Plateaus, flimmert zwischen zwei Schneewehen ein oranges Monster auf. Ein riesiges Mammut von einem Räumfahrzeug wälzt sich durch das Unwetter und lässt, das kann Rina im Näherkommen erkennen, eine dicke Riesenschlange aus Schnee rechts der Straße hinter sich zurück. Sie holen es ein und fahren dicht hinter ihm her, Stück für Stück, zu überholen ist ohnehin ein Risiko und eigentlich erscheint es Rina ziemlich bequem, sich so den Weg direkt vor den Füßen freischaufeln zu lassen. Auf dem Kopf des Wagens kreiselt grell-orange eine Warnleuchte und plötzlich glimmen auch rote Bremslichter auf. Rina hat das Gefühl, dass der Tag schon wieder vorbei ist und es bereits dunkel wird. Was das jetzt wieder soll, fragt Rina verärgert über den Fahrer vor ihnen, doch da kommt schon ein Männlein in fast knielanger Warnweste ans Fenster des Autos gesprungen, Wolff stößt plötzlich ein raues Lachen aus, einen kehligen, seltsamen Laut. Er nimmt seine Sonnenbrille ab und kurbelt die Scheibe nach unten, der andere beugt sich hinab, hält sich ein bisschen am Wagen fest, als könnte der Wind ihn jederzeit bei Seite blasen. Wie alle Isländer hat auch dieser ein sehr eckiges Gesicht, sehr kleine Ohren und sehr helle, in diesem Fall graue Augen. Er wirkt gut gelaunt und ruhig, fast ein wenig beschwingt, der Schneesturm ist sein Element. Die beiden Männer unterhalten sich, offenbar über das Wetter, die Straße. Rina versteht nichts bis auf den Namen des Fremden, Axel, Wolff scheint sie zwar auf isländisch vorzustellen, doch der Fremde nickt nur äußerst knapp und richtet direkt danach seine Aufmerksamkeit wieder auf Wolff, schlägt manchmal sanft auf die Tür, um sein Lachen zu untermalen. Rina lehnt sich zurück, beobachtet die beiden und die vereinzelten Schneeflocken, die ins Innere des Wagens geweht werden und sich sachte auf Lenkrad, Armatur, und Wolffs riesige Arme ablegen. Und sie hört. Das Pfeifen des Windes und den singenden, rollenden Klang dieser seltsamen Sprache. Egal, wie schroff die Stimmen der beiden Männer sind, klingen sie doch zerbrechlich, sachte, fließend. Wie Rehe im Wald und streunende Hunde an toter Küste, denkt Rina kurz. Dann muss sie niesen, Wolff kurbelt das Fenster wieder hoch und fährt an. Sie folgen Axel durch eine enge Passage, hinter der das Räumfahrzeug sehr langsam wendet, und mit winkendem Fahrer wieder zurück in den Sturm rollt. Das Tal vor ihnen empfängt sie mit dämmerndem Himmel.

In Holmavík ist der Schnee dick und fluffig wie Watte, die Häuser sehen aus wie von Playmobil. Klein, bunt, quadratisch, mit roten Giebeldächern sind sie in den Felshang am Rand des Steingrimfjords gesteckt. Der sieht schon anders aus als die nördlicheren Fjorde, bauchiger, flacher, fühlt sich im Dunkeln fast mehr wie ein See als wie das Meer an. Am Hafen, dem ausgedehnten Uferbogen entlang der ersten Häuserreihe des Ortes, schweben nur zwei Fischerboote im Tintenwasser. Sie sehen alt und rostig aus, doch Rina hat bereits gelernt, dass das hier nicht viel zu sagen hat. Die Straßen heißen Hafnarbraut, Vitabraut, Borgabraut. Kein Mensch ist draußen zu sehen, obwohl es hier nicht einmal schneit. Der Tag scheint bereits beendet zu sein. Rinas Lippen fühlen sich rissig an, in den Mundwinkeln hängt ein bitterer Geschmack. Wolff sagt, er wisse schon ein Hotel, dass immer ein Zimmer habe. Daran zweifelt sie nicht. Und nach den Stunden, die sie gerade im Schneesturm durchlebt haben, lehnt sie sich auch dann einfach tief in den Sitz zurück, als das Auto ein wenig schlingert in der Kurve und schließlich an der wie aus dem Nichts in die Höhe wachsenden Straße Brattabrekka keuchend und hustend der Motor versagt. Immer wieder schliddern sie Stückweise zurück in Richtung Meer, nur zwei, der Meter, dann werden sie kippen, rückwärts den Abhang hinunter. Rina sieht die Uferkante im Rückspiegel näher kommen. Wolff knurrt tief, nun krallt sie ihre Finger doch wieder in den Sitz unter sich, und mit einem Schwung, als hätte ein Riese sie von hinten einmal ordentlich angestoßen, rutschen sie schließlich den Berg hinauf bis in die letzte Reihe der Häuser am Hang. Der Vorteil der Höhe erschließt sich erst im besten Zimmer des kleinen Hotels, das (natürlich) bis auf sie keine weiteren Gäste beherbergt: Sowohl vom verschneiten Balkon als auch aus den großen Südfenstern kann man den ganzen Fjord überblicken. Vielleicht gibt’s Nordlichter, hat Wolff gesagt und dabei fast verschmitzt ausgesehen. Seitdem steht Rina hier und starrt in den Himmel. Ihr ist ohnehin nicht danach, sich für diese eine überteuerte Übernachtung häuslich einzurichten. Die Wiederkehr der 70er-Jahre-Möbel macht ihr schlechte Laune und das Internetsignal reicht nicht bis in dieses sogenannte beste Zimmer. Doch der Portier, ein untersetzter mittelalter Mann in Jogginghose, ist bereits wieder nach Hause gegangen, nachdem er ihnen schlaftrunken, als sei es schon nach Mitternacht, das Kartenlesegerät hingehalten und die Schlüssel über den Tresen geschoben hat. Deshalb kann es auch nur Wolff sein, der jetzt an der Tür klopft. Seit sie das Gebirge hinter sich gebracht haben, scheint er äußerst entspannt, offensichtlich ist das der schlimmste Teil der Strecke gewesen, und seine Stimme ist fast euphorisch, als er den haarigen Kopf ins Zimmer steckt und ihr eine Überraschung ankündigt: Es gibt eine Badewanne. Tooll, rutscht es Rina etwas zu lang gezogen heraus, doch weil sie nichts Besseres zu tun findet, steigt sie schon einige Minuten später seufzend in das heiße Wasser, dass dank eines bereitstehenden Badezusatzes kaum nach Schwefel reicht. Schweiß und Gänsehaut werden langsam aufgeweicht und die Haare werden angenehm schwerelos im Wasser. Die Wanne ist so lang und so tief, dass Rina zum ersten Mal seit Langem vom Scheitel bis zur Ferse unter Wasser sinken kann. Sie öffnet die Augen einen Spalt breit, sodass ihre Wimpern sie noch schützen können und sie trotzdem verschwommen durch das milchige Grün die orange Kugel erkennt, die als Deckenleuchte angebracht ist. Das Wasser legt sich angenehm dicht und warm in ihre Ohren und dämpft die kalte Stille in etwas ab, das Rina ein Gefühl von zu Hause gibt. Das Land hat ein ganz vereinnahmendes, grollendes Geräusch, einen Rhythmus, der immer fort, stetig, ständig, ruhig besteht. Er ist da, egal ob Winde und Stürme über die Oberfläche der Insel zirkeln, kreiseln, blasen. Es ist der Pulsschlag, dessen Schallwellen Island wie eine Kuppel, ein Schutzzauber umgeben. Niemand darf die Insel verlassen, und einfach so wiederkommen. Nicht einmal die Pferde. Als ob der Isländer von irgendetwas rein sei, und als ob alle Außenwelt diese Reinheit verderbte. In manchen Minuten spürt Rina eine Sehnsucht nach solcher Sauberkeit, diesen kühlen, klaren Zug, der jede von Wolffs Bewegungen umweht, und der am deutlichsten und stärksten in seinem Blick liegt. Seinen Augen. Das ist seine Ähnlichkeit mit den Vulkanen, Geysiren, den Wellen und den Steinstränden. Und obwohl die Häuser modern sind, sehen sie alle aus, als stünden sie schon seit Äonen am gleichen Fleck, trotzten den Gezeiten in einer widerständigen Nachgiebigkeit, wie Rina sie kaum begreifen kann. Ihr Bauch fühlt sich weich und entspannt an. Dann dringt durch die Wasserwand etwas, ein Quaken, Piepsen. Sofort schreckt sie auf und klettert, Wellen schlagend, aus der Wanne. Unter dem kleinen Haufen Kleidung, den sie auf dem Klodeckel hinterlassen hat, fischt sie das Telefon hervor. Erst rutscht es ihr aus den glitschigen Händen, sie hebt es hastig auf und hockt sich nackt auf den gräulichen Badteppich. Ihr ist ein bisschen schwindelig. Denkst du an mich? Ein Zittern durchfährt Rina, ein kleiner Stich in der Mitte ihres Körpers, dann das Grinsen auf ihrem Gesicht, hinter ihrer Stirn fängt es an zu rasen. Henning Henning Henning.

Als Henning Rina nach der vorletzten Zivilrecht-Vorlesung anspricht, haben ihre Mobiltelefone noch eine Tastatur, die größer ist als das eigentliche Display. Das Grundstudium hat Rina in ihrer Heimat in gewohnter Gebirgsnähe und vornehmlich von ihrem Bett aus hinter sich gebracht. So ist Hamburg ganz neu für Rina, ihr WG-Zimmer nur kalter Linoleumboden, ein Bett und das obligatorische Bücherregal. Henning lebt noch bei seinen Eltern. Die besitzen ein Haus in einem der schöneren Bezirke am Alsterufer mit einem ulkigen Namen. Sie sind jung und modern und ganz anders als Ida, Rinas eigene Mutter. Mit ihnen kann man sprechen, als wäre gar kein Altersunterschied da, sie scheinen immer ausgeschlafene, kluge, kultivierte und entspannte Leute zu sein. Im Esszimmer hängen große abstrakte Malereien, die Fenster sind bodentief und sauber und es gibt keinerlei Haustiere. Hennings Zimmer nimmt fast den gesamten Dachstuhl ein und schon zu dieser Zeit hat er einen bestechenden Geschmack. Schnell verbringt Rina mehr Zeit hier als in ihrer eigenen Wohnung. Hennings Schreibtisch ist groß genug für zwei, und so sitzen sie über die letzten Semester immer Seite an Seite. Und wenn sie nicht lernen, dann erzählt Henning ihr von seinen Träumen, erfolgreich um die Welt zu reisen, die Nächte mit dem Laptop auf den Knien im Flugzeug und zum auftanken immer wieder zurück in den Heimathafen. Er ist ein großer Geschichtenerzähler, er strahlt, er macht und Rina hakt sich bald ein in seine Fantasie, wird Teil von ihr. Sie beginnen, gemeinsam zu planen, wen man wie für sich gewinnen müsse, wo Leerstellen sind, wer sich vielleicht in der Zukunft häufiger verteidigen können muss. Und da das Meer nun einmal vor ihrer Nase liegt und auch die Kontakte von Hennings Vater in diese Richtung weisen, entscheiden sie sich für die Fischereiindustrie. Ihre Kanzlei soll zunächst weiterhin Hennings Kinderzimmer bleiben, und kaum haben sie ihre Examensarbeiten abgegeben, lassen sie sich akkreditieren für diese Fachmesse am Ende der Welt. Das soll der Absprung sein auf ein Floß der Selbstständigkeit, ausgerüstet mit einem kleinen Portmonee voller Visitenkarten, die Fred Henning vor dem Abflug in die Hand gedrückt hat. Rina steht daneben und hält so lange seinen Regenschirm mit dem speckigen Knubbelgriff fest. Von ihrer Fischallergie hat sie Henning nichts erzählt.

Während der zwanzig Meter Weg vom Hotel bis zum Auto wächst Rinas nassen Haaren eine zarte Eiskruste. Das merkt sie daran, dass ihr Kopf sich plötzlich starr anfühlt. Sie schüttelt ihn, kleine Splitter fliegen von ihren Ohren weg. Es schneit nicht und es geht kaum Wind. Auf der kleinen Anhöhe, nur wenige Schritte vom Hotel entfernt, sieht sie die Kirche des Ortes weiß angeleuchtet in der Schwärze der Nacht stehen und über dem Dach des Kirchturms schlängelt sich etwas in den Himmel. Dicke, breite Flüsse aus grünem und blauem Dunst. Sie sehen ein wenig aus, wie kleine Straßen, auf denen man gut und gern ein kurvenreiches Wettrennen fahren könnte. Es ist ganz still, und die Nordlichter zirkeln völlig selbstverständlich und friedlich vor sich hin. Denkst du an mich? Und Rina lächelt und fragt sich, an wen sie denn sonst denken sollte. Mit roten Händen fasst sie nach dem vereisten Griff an der Kofferraumtür. Natürlich ist der Akku leer gewesen, bevor Rina Henning hat antworten können. Und jetzt gerade gibt es nichts Wichtigeres. Seit Stunden hat sie keinen konstanten Empfang mehr gehabt. Am liebsten würde Rina jetzt gleich weiter fahren nach Reykjavík, doch sie weiß, dass das nicht geht. So weit entfernt vom Äquator gelten noch andere Regeln und die Menschen leben noch in diesem Vertrag mit der Natur, sie ist ihr Arbeitgeber und bestimmt die Geschäftszeiten. Und wer versucht, nachts zu fahren, landet im Straßengraben oder schlimmeres. Als sei es in dieser Einöde, dieser Winzstadt, deren Einwohner sie bis jetzt kaum zu Gesicht bekommen hat, notwendig, hat Wolff ihren großen silbernen Koffer noch mit Decken verhüllt und oben drauf allen möglichen Plunder platziert, den obligatorischen Spaten, den jeder Isländer sicherheitshalber mit sich führt, einen kleinen Eimer, eine alte Thermoskanne, und eine sehr drollige, blau gemusterte Norwegermütze, über die Rina kurz auflachen muss. Denn sie kann sich den grimmigen wilden Mann nicht damit vorstellen. Umsichtig räumt sie alle Habseligkeiten bei Seite und zieht ihren Koffer mit einem Ruck zu sich heran. Schnell will sie das Ladegerät heraus suchen, doch da kommt in der Ecke hinter ihrem Gepäck etwas zum Vorschein, das ihre Aufmerksamkeit erregt. Ein längliches Ding, in raues Leinen eingewickelt. Sie ist sich nicht einmal ganz klar, wieso, doch einen Augenblick später zieht Rina mit spitzen Fingern an dem fleckigen Tuch, das sich langsam aufzurollen beginnt, bis ein glänzender Gegenstand aus Metall auf ihren Koffer fällt und sie erschreckt. Was vor ihr liegt und zuvor in blutgetränkten Stoff gewickelt war, ist, dass weiß sie aus dem Kurs zum Strafrecht, eine doppelläufige Schrotflinte.

Glöggt er gests augath. Ein Grinsen im Bart, unheimlich sieht das plötzlich wieder aus. Der Aufenthaltsraum des Hotels ist totenstill. Die holzgetäfelten Dachschrägen sind orangebraun und hängen so tief, dass man in der kleinen Küchenzeile etwas gebückt stehen muss. Im Wohnbereich geht es. Sie hätte etwas Anderes machen sollen, einen dramatischen Auftritt wählen, einfach direkt auf ihn zielen. Findest Du das vielleicht witzig? Ihre Stimme zittert, wie von selbst hat sie das Duzen begonnen, steht sehr aufrecht, wedelt mit der Waffe in der Hand, die sich dafür eigentlich viel zu schwer anfühlt. Ihr Handgelenk tut schon weh. Der Kloß im Hals auch. Wolff sitzt mit überkreuzten Beinen tief in einem muffigen alten Stoffsessel und sieht sie ruhig an. Was ihre Mutter dazu sagen würde, dass sie hier allein mit einem wildfremden alten Grobian in der Eiswüste steckt? Dass sie kaum gezögert hat, zu einem Fremden ins Auto zu steigen? Dumm dumm dumm schalt sie sich selbst innerlich. Wolffs Augen blitzen, dann schüttelt er langsam den Kopf und streckt die Hand aus. Das sei nichts. Nur zur Verteidigung? Wieder ein Kopfschütteln und ein Lachen, rau, kehlig, aber kurz. Verteidigung? Wogegen? Sie zuckt die Schultern. Mehr eine eigene Hoffnung als eine realistische Idee. Island gilt als eines der sichersten Länder der Welt. Unfälle mit Schusswaffen sind hier in der Statistik jedenfalls Meilen weit hinter Schneestürmen, Gletscherspalten und der Übetrampelung durch Ponys zurück. Man verbündet sich, um zu überleben. Ich wette es gibt eine Menge Kriminalromane, in denen sich Leute von Klippen und Fjorden schubsen oder versuchen, sich gegenseitig im Schneesturm aus dem Auto zu werfen! Wolff lacht noch mehr, löst die Verschränkung seiner Beine und stellt die bestiefelten Füße locker nebeneinander auf. Auch seine Arme liegen weit und offen auf den Lehnen links und rechts. Möglich. Seine Augen blitzen. Fürchtest Dich jetzt vor mir? Etwas Unbeschreibliches liegt in seinem Blick, auf einmal kommt er Rina verrückt vor, wartet sie auf das Augenzucken, das Lippenlecken, irgendeine dieser Gesten, die man eben so kennt. Dann fällt der Strom aus und es wird stockfinster im ganzen Haus. Weiter zitternd ist Rina auf das Sofa gesunken, presst sich die Waffe an den schmerzenden Bauch, während Wolff seine bärige Gestalt knurrend durch das dunkle Haus manövriert, sich hier den Fuß, da die Stirn stößt und auf Isländisch flucht, mit einer Menge dunkler Vokale, gerollter R- und scharfer S-Laute. Wie er so zum Sicherungskasten poltert, scheint es Rina, dass er fast verärgert über das verfrühte Ende ihrer Auseinandersetzung ist und die Szene sich in Seltsamkeit und peinlichen, zu langen Pausen verliert. Doch nach wenigen Minuten ist das Licht wieder an und sie besieht sich, wenn auch noch immer mit dem Pochen in den Ohren, das Leinentuch, das jetzt ausgebreitet auf dem Couchtisch vor ihr liegt. Es ist bräunlich und Blutflecken überziehen es großflächig, inselartig, wie eine Landkarte. Vorsichtig pickt sie ein paar der feinen weiß-braunen Haare vom Stoff und zwirbelt sie nachdenklich zwischen den Fingerspitzen. Sie haben keinen Geruch. Ihr fröstelt, auch wenn ihr mehr und mehr klar wird, dass es sich bei der Waffe eher um Werkzeug handelt, mit dem man Tiere erschießt. Da betritt Wolff den Raum. Er hält sich leicht die Schläfe, die Dachschräge scheint ihm zum Verhängnis geworden zu sein und er sieht auch sonst weniger konzentriert und weniger gefährlich aus. Er hat die Schuhe unten im Flur aus- und den Wollpullover aus der Hose gezogen. Nun hängt ihm der Saum locker um die Hüfte und man erkennt, dass er darunter schmaler ist als gedacht. Er setzt sich zurück auf den Sessel gegenüber, ihre Knie berühren sich fast. Er streckt eine seiner Pranken aus und Rina schreckt zurück, bemüht sich, ihn wieder skeptisch und drohend anzusehen, will etwas sagen, vielleicht ein Gesetz zitieren, kommt sich dann aber doch zu albern vor und Wolff packt das Tuch und fängt an, es nachdenklich in den Händen zu wiegen, es ein und wieder auszuklappen. Als er fest über den Stoff reibt, bleibt ein bräunlicher Blutrest an seinen Daumen sichtbar zurück und Rina wird doch noch übel. Hab das Ding seit Ewigkeiten nicht mehr ausgepackt. Ist eigentlich ganz schön privat. Sturmaugen durchleuchten Rina prüfend. Jetzt bin ich auf einmal die Schuldige?! Empört zerrt sie die Waffe noch näher an sich. Sollte mir wohl Angst machen, wie?? Jetzt sieht Wolff verärgert aus, zieht seine buschigen Augenbrauen zusammen: Ihr jungen Leute denkt auch immer, es dreht sich alles um euch, was? Dann Kopfschütteln. Was du da hast ist ein Fuchsgewehr.

Lange, bevor Menschen und Ponys die Insel betraten, wanderte über das gefrorene Eis barfuß ein Geist ein. Eine Kreatur mit winzigen Ohren und stechend gelben Augen. Sie war klein und biegsam und fand in den Felsspalten, die sich in der erkalteten Lava auftaten, Unterschlupf und in toten Resten, die das Meer auf die Strände spülte, Nahrung. Und egal, wie viele Menschen und Pferde kamen, der Fuchs blieb. Dabei gab es niemals auch nur ein einziges leichtes Jahr. Das Wetter war meistens schlecht und die Beute rar und die Konkurrenz groß und mancher wurde zum Kannibalen. Der Fuchs zeugte möglichst viele Junge, damit eines von ihnen überleben würde. Und er blieb flexibel. In rauen, mageren Wintern macht er sich klein und unscheinbar und verbraucht kaum Energie. Und treiben die Menschen Schafherden durch das Revier, dann wächst er in Sekunden auf das Doppelte seiner Größe an, erkennt mit einem Blick das schwächste Lamm oder den ältesten Bock und raubt ihn. Doch je mehr Schafe es gab, desto mehr Menschen gab es und sein schneeweißes Haarkleid, dass den Fuchs einst im ewigen Eis unsichtbar gemacht hatte, enttarnte ihn im Frühling für die Augen der Feinde. Und weil die Menschen ihre Schafe nicht teilen wollten und weil ihnen zudem die gelben Augen unheimlich waren, begannen sie bald, den Fuchs zur Plage zu erklären. Sie versuchten sogar eine Verschwörung mit anderen Tieren, im Rahmen derer bald bärtige, mit Pelzen behangene Männer und Frauen mit silbernen Waffen die Nester der brütenden Eiderenten bewachten. Die Eiderenten wussten nicht, dass die Menschen aus diesem Einverständnis doppelten Profit schlugen, weil sie nicht nur bessere Chancen hatten, die hungrigen Füchse zu erlegen, sondern das ausgediente Federkleid der Enten auflesen und es in ihre eigenen Betten stopfen konnten. Und natürlich machten sie sich auch Kleidung aus dem weißen Skalp des Eisfuchses, den sie zeitweise sogar als eine Art Währung benutzten. Und so begann der Fuchs von Neuem, sich anzupassen. Und für den Sommer warf er sein Brautkleid ab und nahm die Farben des Mooses an, in das Vögel ihre Eier legten, der Vulkanerde, in die er seine Höhlen grub und der schwarzbraunen Steinstrände, die er nach totem Fisch durchwühlte. Manchmal adaptierte er sogar die Farbe des Rostes, der den Häusern und Fahrzeugen der Menschen selbst ständig anhaftete. Und so wurde er in den Sommermonaten von dem flinken, bauschigen Schneetier zu einem dürren, schwarzen Geisterhund, der sich, gelenkig wie ein Wurm, ungesehen auch in Hühnerställe schleichen und zwischen den Buden auf Fischmärkten herumtreiben konnte. Die Menschen begannen nun, Belohnungen auszuloben für jeden geschossenen Fuchs und viele beschützten nicht nur ihre Heime und Herden, sondern verschrieben ihr Leben fortan einzig der Fuchsjagd. Bis heute kann man damit Geld verdienen und mancher Jäger wandert über Jahre auf der Spur eines einzigen Tieres, gibt ihm Namen und – ja, wirklich – schreibt Gedichte über es.

Rinas Traum in der Nacht ist lang. Quälend lang, weil in ihm nicht viel passiert. Quälend lang, weil sie sehr klein ist, die Hand ihrer Mutter zu groß, zu schlaff, zu schwer, wie sie durch den winzigen Zoo streifen, der auf einer Schuttinsel im Parkteich angelegt ist. Rina ist schon neun Jahre alt und interessiert sich eigentlich nicht mehr für Tiere. Es ekelt sie, wie fett die Ziegen sind und wie reglos die meisten anderen Viecher. Wie die Kühe an den lackierten Gittern lecken und kauen und ihr Speichel herunter tropft. Doch der Zoo hilft Ida, die Resusaffen und der große Pelikan ringen ihr ein müdes Lächeln ab. Rina macht der Pelikan Angst. Vögel sind ihr überhaupt unheimlich, weil sie keine Mimik haben, oder zumindest keine, die Rina erkennen kann. Ganz unberechenbar sehen sie aus. Sie lässt den Pelikan mit Ida stehen und sucht in zügigen, zu kurzen Schritten das Weite. Sie ist sehr ungeduldig mit dem wachsen und immer unzufrieden mit ihrer Größe. Durch den Inselzoo zieht sich ein kleiner, immer kalter Bach. Und wie ein Burggraben verläuft der um einen Block aus vier Käfigen herum, damit man nicht zu nah herantritt und versucht, Pommes oder Finger durch den Zaun zu strecken. In den Käfigen sitzen ein Leopard, ein Panther (den Rina für einen missglückten Leoparden hält), ein Puma und – ein Polarfuchs. Schon seit sie sich erinnern kann, stört Rina dieses Arrangement. Es ist, als wäre der Fuchs der Fehler, den einfach niemand findet. Er passt nicht in die Reihe, möglicherweise hat ein Idiot ihn mit einem Luchs verwechselt, weil es so ähnlich klingt undsoweiter. Haha. Sehr witzig. Rina sitzt auf dem Handlauf, der nicht anders aussieht als der Gitterzaun auf der anderen Seite des Baches. Die Raubkatzen um ihn herum liegen ausgestreckt da, schleppen sich ab und zu von einer in die andere Ecke. Der Fuchs ist jetzt, im März, noch weiß wie Schnee. Obwohl sein kleiner Auslauf im Matsch steht, ist sein Haarkleid ganz sauber. Er sitzt aufrecht im Schatten, dreht wachsam seine viel zu kleinen Ohren, schaut Rina mit durchdringend gelbem Blick an. Warum brachte man ihn nicht wenigstens zu den Rot- und Wüstenfüchsen? Sicher, auch sie würden sich fremd sein. Und er schien hier nicht unglücklich. Was um ihn herum geschah, dass er Fehl am Platz wirkte, scherte ihn nicht. Er passte sich an.

Als sie Holmavík nach Westen wieder von der Küste weg und hinein in eine Hügellandschaft verlassen, der Schlüsselanhänger baumelt mit Knopfaugen vom Rückspiegel, ist es noch kalt und etwas neblig. Die Nacht zieht sich nur widerwillig zurück. Sie frühstücken abgepackte Sandwiches von einer Tankstelle, die sich ohne Kauen in ihren Mündern in nichts auflösen und nur eine wässrige Ahnung von Gurken zurücklassen. Der Tag ist klar, nicht zu kalt, aber windig. Rina hat Hennings SMS beantwortet, bevor sie gefahren sind. Aber ob die Antwort angekommen ist, weiß sie nicht. Nun jedenfalls ist der Empfang wieder weg. Nach der Uhr auf dem Display sind es noch 8 Stunden bis zum Abflug von Keflavík. Aber das Wetter ist gut und auf der Karte sind es nur noch zwei bis drei Brotmesserklingen und dann sieht Rina zum ersten Mal etwas von diesen Farben der Insel, die Wolff erwähnt hat. Die Landschaft sieht aus wie eine Patchworkdecke aus rot und braun, grau und grün und schmutzigem weiß und in einer Talsenke, in die sie unter lauter werdendem Gepolter der gegen das Auto springenden Steinchen und Steine hinab rollen, wird das Muster plötzlich besonders bunt und übertritt fleckig in der Ferne selbst die schwarze Naht, die als Straße die Landschaft säumt: Eine Traube Pferde steht mitten auf der Fahrbahn und dampft unberührt vor sich hin. Wolff stöhnt und Rina muss fast lachen, weil er das noch nie vorher getan hat. Das Radio spielt einen flirrenden Jingle, die Nachrichten beginnen und allein wegen der Durchsage der Straßensperrungen ist klar, dass Wolff sie hören muss. Schon gut, sagt Rina deshalb und springt aus dem Wagen, wenige Meter vor sich die wiehernde Menge. Einige trippeln aufgeregt, als vermuteten sie eine Fütterung, alle glubschen sie mit aufgerissenen Augen an. Sie sehen aufgebauscht aus, ihre groben, langen Mähnen wachsen vielen wie auf toupiert quer über das Gesicht. Ihre Schulterhöhe ist niedrig, sie alle sind kleiner als Rina. Die konnte mit Pferden noch nie viel anfangen und fühlt sich plötzlich sehr Fehl am Platz. Ihre Arme sind bleischwer, als sie sie erhebt und ihre Stimme ist kratzig und viel zu leise, als sie HOHO gegen den Wind schreit, der ihr die Haare mit kalten Fingern zerwühlt. Natürlich bewegt sich nichts. Die Tiere bleiben unbeeindruckt vor ihr stehen, nicht gefährlich, aber äußerst entschlossen, einige schütteln frech das Haupt, Wassertropfen fliegen durch die Dampfwolke, die von den Tieren aufsteigt. ACH JETZT KOMMT SCHON. Sie geht immer näher heran, doch die Pferde lassen sich nicht abschrecken. Ein brauner Schecke reibt seine flache Stirn zutraulich an Rinas Brust und hinterlässt schmierige Flecken auf dem Schurwollmantel. Als sie ihn energisch wegschiebt, sieht er ein bisschen verletzt aus. Schnell steht sie inmitten der Pferde, sie schnauben ihr ins Ohr und zwicken ihr in die Arme, sie haben Hunger. Was von außen aussieht wie das Poster aus einer Mädchenzeitschrift, ist für Rina nichts weiter als ein Ärgernis und doch kann sie sich ein kurzes Auflachen über ihre absurde Situation nicht verkneifen, wie sie da steht, mitten im Nichts, hin und her gedrängt von warmen, nassen Pferdeärschen. Die Luft ist nicht mehr schneidend kalt genug in der Nase, um den Geruch zu ignorieren. Die Farce. Sie denkt an Henning und fragt sich, was der tun würde, aber er hat eine Tierhaarallergie und wäre mittlerweile vermutlich erstickt. Vielleicht gibt es einen Anführer, den müsste man finden. Ein besonders starkes, großes oder schönes Pferd, das, nach dem sich alle richten. Vielleicht ein schneeweißes oder rabenschwarzes. Sie dreht den Kopf hin unter her, wühlt sich durch die Gruppe. Einige Male trampelt ihr ein Huf auf die Zehen, doch ihre Stiefel, in der Großstadt hochmodern, sind aus dickem Leder und absolut tauglich für Umstände wie diese. Schnell hat sie die knapp fünfzig Tiere mit einem Blick erfasst, alle ihre wilden Muster, die Brauntöne und Grauschattierungen. Aber keiner von ihnen tut sich in der Art hervor, wie Rina es erwartet hätte. Da ist kein eindeutiger Anführer in Sicht. Und als sie am Ende der Gruppe angekommen ist, und ein wenig Abstand genommen hat, sieht sie plötzlich, wie Wolff aufblendet und mit einem Arm die Flinte aus dem Fenster der Fahrertür in die Luft hält. Der Knall gellt durch das ganze Tal, einige der Ponys steigen, was bei ihren kurzen Beinen eher albern als wild aussieht, alle wiehern, und gemeinsam, wie abgesprochen, marschieren sie alle in einem seltsam hektisch und verspannt aussehenden Gang von der Straße und in die Tundra hinein, durch die Reste harschen Schnees, so entschlossen wie ziellos. Im Schritttempo rollt Wolff mit dem Auto zu ihr hinüber, die Flinte liegt auf dem Beifahrersitz und Rina fühlt, obwohl sie heiß ist und verschwitzt, ein bisschen Gänsehaut im Nacken. Mit der Waffe im Anschlag sieht Wolff gefährlich aus, wie ein Cowboy, nur echter. Die Waffe riecht ein bisschen nach Rauch und fühlt sich weniger schwer und irgendwie warm in ihren Händen an. Nicht schlecht, sagt sie bewundernd und wirft noch einen Blick auf die gefleckte Herde, die in der Ferne schon wieder mit der Landschaft verschmilzt. Wieder grinst sie leicht, ihre Wangen hören nicht auf, zu glühen. Sie legt sich die Hand auf den Bauch. Hunger. Da bemerkt sie, dass sie nicht an Tempo zulegen. Dass Wolffs durchdringender Blick auf ihr liegt. Dass das Radio ausgeschaltet ist. Wolffs grobe Finger liegen fest um das Lenkrad, schon ganz weiß. Was – Er öffnet schon den Mund, holt leise pfeifend Luft, als ob er ihr etwas Schwieriges sagen müsse, obwohl sein Deutsch bis hierhin fast perfekt war. Er beginnt drei oder vier Sätze, flugvélar .. fluglysid .. eine stechende Vorahnung. Da fängt das Telefon in Rinas Manteltasche plötzlich an, verrückt zu spielen. Sie hat wieder Empfang. Fünf oder sechs Nachrichten treffen hintereinander ein und fast alle sind von Rinas Mutter:

RINA GEH RAN WO BIST DU RUF ZURÜCK SAG WAS GEH RAN RINA

Der Tag, an dem ihre Mutter Ida begonnen hatte, täglich nach ihrem Wohlbefinden zu fragen, egal wo auf der Welt sie sich befand, ist Rina ganz klar im Gedächtnis. Es war der Tag, an dem Hanno verschwand. Dabei war Rina noch klein gewesen, konnte gerade ihren Namen schreiben und den ihres zukünftigen Bruders, der viele Tage zu früh auf die Welt gekommen war. Ein winziges Würmchen mit Ohren wie rosa Knöpfen und Augen wie dunkelblauen Stecknadeln. Weil er eine so peinlich dünne Frisur hatte, hatte die Schwester ihm eine alberne Strickmütze über den Winzkopf gezogen. Er war leichter als Rinas Mathebuch. Trotzdem hatte Ida lange gezögert, sie ihn halten zu lassen. Warum sie ihr nicht vertraute, hatte sie damals empört gedacht. Rina war kein Tollpatsch. Und dabei wurde er ganz ruhig in ihren Armen, machte nur noch kleine Bewegungen mit dem Mund wie ein Fisch. Schloss die Augen. Er roch süßlich und ein bisschen wie frische Bettwäsche. Ida lies den Blick nicht von ihm. Rina wollte ihm eigentlich gern irgendwas sagen, aber wenn er gerade einmal schlief.. leider wachte er nicht wieder auf. Er war einen Monat alt. Obwohl Hanno nur so kurz da gewesen war, riss er ihnen beiden ein Loch ins Herz, als er wieder verschwand. Rinas aber tat nicht so weh wie das ihrer Mutter. Sie konnte Hanno nicht vergessen, konnte das Bettchen lange nicht weggeben, denn manches Mal sah sie ihn dort drinnen liegen. Später saß er mit am Frühstückstisch oder auf dem Sofa. Am Anfang erzählte sie dann immer davon, was er gerade machte. Doch niemand schien diese Dinge so recht hören zu wollen und so fing sie später jedes Mal, wenn sie ihn sah, bloß zu lächeln an. Das waren die einzigen Momente, in denen sie lächelte. Dann strich sie Rina über den Kopf und fragte, wie es ihr ginge. Und Rina sagte nur kurz g-u-t und versuchte, Hanno auch zu sehen. Doch er zeigte sich ihr nie. Irgendwann wurde sie wütend auf ihn, dass er ihr niemals verzieh und versuchte, ihn zu vergessen. Und sie antwortete nicht mehr auf die Frage. Sie hatte ohnehin nie Anlass zu echter Sorge gegeben. Bis heute.

GEH RAN WO BIST DU WIE GEHT ES RUF ZURÜCK SAG WAS GEH RAN

Statistisch gesehen wird die Wahrscheinlichkeit, bei einem Flugzeugabsturz zu sterben, geringer, je gefährlicher die meteorologischen Voraussetzungen sind. Logisch, denn je heftiger der Sturm, desto erfahrener und vorsichtiger in der Regel die ausgewählten Piloten. Besonders in Island sind es in Luft, an Land und zu Wasser fast immer die übermütigen Touristen, die sich, selbst hinterm Steuer sitzend, zu Tode bringen. Manchmal aber, gibt es eben eine Ausnahme. Es war schnell gegangen. In der Nachtschwärze war die Maschine voller Fischereigeschäftsleute durch den Sturm gesegelt, alle ganz selbstverständlich, ihre größte Sorge, dass man den Anschlussflug vielleicht verpassen könnte. Alle waren sie Vielflieger, keiner von ihnen beachtete mehr die Sicherheitshinweise der Flugbegleiter, man hörte höchstens hin, um sich über den absonderlichen Klang der isländischen Sprache zu amüsieren. Keiner schaltete mehr sein Mobiltelefon aus. Doch der Pilot, den Wolff gekannt hatte, weil er, natürlich, ein Nachbar in Isafjördur war, hatte nicht Recht behalten. Zwar war es bereits März, auch in Island, der Winter war lang gewesen und üblicher Weise um diese Zeit vorbei. Die Leute denken, in Island bleibt immer alles gleich. Doch sie denken das nur. Eigentlich verändert sich alles. Die ganze Zeit. Und nur wer sich auch anpasst, überlebt. Sonst vereisen die Tragflächen, schneiden wie ein altes Brotmesser quer und mehr schlecht als recht durch die Böen, und das Flugzeug stürzt ab, prallt erst gegen die Felsen und wird dann vom Meer geschluckt und obwohl sich alle noch so sicher gefühlt haben und niemand damit gerechnet hat, überlebt kein Einziger. Jetzt sitzen Rina und Wolff immer noch im Wagen, die Straße vor ihnen ist frei und nichts stünde ihnen mehr im Weg. Rina wartet auf etwas, einen Donner, Blitz, ein losbrechendes Unwetter. BBC, Spiegel Online, N-TV. Alle zeigen das gleiche Foto. Schwammig, wegen der übermäßigen Körnung und des anhaltenden Schneegestöbers, im grauen Tageslicht schwimmt, kurz unter der wogenden Wasseroberfläche, das Flugzeug, wie eine übergroße, tote Möwe. Der linke Flügel abgeknickt. Man erkennt im weißen Metallmantel auch durch das Wasser den schwarzen, klaffenden Bruch bei Reihe 19. Es gibt keinen Grund zur Hoffnung. Rina fühlt sich betäubt und unendlich gefangen im eigenen Körper.

Irgendwann setzt sich das Auto wieder in Bewegung, die Straße geht nur gerade aus auf die Spitze eines letzten, die Ebene abschließenden Hügels. Danach liegt, das weiß Rina, die Ringstraße und von dort ist es nur noch ein Katzensprung. Natürlich glaubt sie nichts von dem, was sie da hört und liest. Vier Mal fängt sie an, eine Nachricht an Henning zu schreiben. Doch sie schickt keine ab. Auch ihrer Mutter antworten kann sie nicht. Dann, sie sind in der Nähe eines Ortes namens Burdadalur, der aus nicht mehr als vier Häusern und einer Tankstelle besteht, wird der Empfang plötzlich besser und das Telefon kommt zu neuem Leben. Bildschirmbenachrichtungen in allen Farben. Und es geht los mit den Anrufen. Rina war nicht einmal klar, dass so viele Leute von ihrem Aufenthalt in Island gewusst hatten. Sicher, sie hatte es ein paar Kommilitonen erzählt. Vielleicht auch ein paar mehr. Aber in der Regel vergisst man solche Informationen sofort, sobald man annähernd adäquat auf sie reagiert hat. Was interessierten einen die Termine anderer Leute. Der Klingelton ist ganz laut eingestellt. Das imitierte RINGRINGRING eines alten Wählscheibentelefons. Doch Rina schaltet jetzt alles ab, presst den einzigen verbliebenen Knopf am unteren Bildschirmrand so fest, dass die obere Hälfte ihres Daumens sich weiß verfärbt, bis das Display-Licht verlischt und das unangenehm warme kleine Gerät ausgeschaltet zwischen ihre Oberschenkel rutscht. Alle denken, sie hätte in diesem Flugzeug gesessen. Wenn es heißt, niemand hat überlebt, dann glauben sie das. Schließlich hatte sie sogar schon einen festen Sitzplatz. Dass darauf Henning gesessen hat, dass sie vorerst zurückgeblieben ist, hat sie niemandem erzählt. Und sie will momentanen auch nicht, dass es irgendwer erfährt. In diesem Moment weiß Rina selbst nicht ganz sicher, wie lebendig sie ist. Sie würde auf die Fragen nicht antworten können. Sie will nicht, kann nicht, wird nicht. Deswegen ist es ihr auch nur recht, dass das Telefon beim Überqueren der Hügelspitze zwischen ihre Füße auf den Boden der Fahrkabine fällt. Vor ihnen tut sich eine Abfahrt auf. Wie eine lange, schwarze Sichel liegt die perfekt geräumte Ringstraße da, wie eine Fahne im Wind steht das große gelbe Schild mit den fünfzehn kleinen und großen Orten, die man auf ihr, einmal um die ganze Insel herum, erreichen kann, ganz oben an R E Y K J A V Í K. Als kleine, restvereiste Zuflüsse schlängeln sich zwei Straßen von ihr ab: die 61 nach Norden und eine zweite, 55, die nach Westen wieder auf eine Art Gebirge ausbricht, eine Zickzacklinie im Horizont jedenfalls, gehüllt in blauweißen Dunst, davor kilometerweit rostrote, stellenweise von Eis glasierte Hügellandschaft. Die Uhr im Armaturenbrett versichert ihnen, dass der Flug in vier Stunden geht. Wohin soll ich fahren? Rina klemmt ihr Telefon zwischen ihren Fersen ein und etwas wie eine dicke, feste Blase schiebt sich von der Brust ihren Hals hinauf, ihr Bauch ist dabei ganz taub und sie würgt nur hervor: Irgendwoh. Einen Umweg. So viel Nirgendwo wie möglich. Weil sie gerade gar kein Gesicht sehen will, schaut sie auch Wolffs nicht an. Der sitzt recht unbewegt hinter dem Lenkrad, setzt dann ein paar Meter zurück und biegt ab auf die 55, auf dem Schild liest Rina noch etwas von Schneefelsenirgendwas. Hier endet die Strecke, die sie sich eingeprägt hatte, alles hinter der Kreuzung ist in ihrem Kopf ganz unbezifferte Fläche. Doch es ist ganz egal. Nur nicht nach Reykjavík, keinen Schritt weiter Richtung Heimat, für den Moment. Rina weiß, dass sie jetzt keinen Flieger mehr zu kriegen hat und Wolff scheint nach wie vor, ganz egal auf welcher Straße, sehr genau zu wissen, wohin er fährt. Er ist nicht nervös, er hat die Kontrolle und keine wildgewordenen Kastanienaugen, die er zusammenkneifen muss, um Schilder zu lesen, weil er zu arrogant für eine Brille ist. Der Gedanke an Henning wirbelt nur eine Sekunde durch ihren Kopf. Bloßnichtaufgarkeinenfall. Alle paar Minuten schaut Wolff kurz aus dem Augenwinkel hinüber, vor allem auf ihre Hände. Sie hat nicht bemerkt, wie eng sie die Finger ineinander gewrungen hat, kalt und klebrig fühlen sie sich jetzt an. Doch ihr linker Handrücken brennt heiß wie Lava. Mit ihren scharfen, ordentlich manikürten Fingernägeln hat sie vier kurze, aber tiefe Gräben in ihre Haut gezogen. Sie blutet ein bisschen. Das Brennen in der Hand lenkt nur wenig von ihrem Bauch ab, der sich anfühlt, als ob jemand darin um ihre Organe eine Faust schließen und sie langsam hin und her drehen würde. Bemüht lehnt sie sich weit zurück in den Autositz. Sie lässt ihre Hände in den Ärmeln ihres Mantels verschwinden, damit Wolff nichts vom Blut sieht. Alles fühlt sich dumpf an, redet sie sich ein, es verschwimmt schon, ich merke es. Gleich wach ich auf. Doch sie wacht nicht auf. Sie schläft ein.

Leseprobe: Anna Neder v. d. Goltz – “Martha schweigt”

1955

Ich hätte das Dorf niemals verlassen dürfen, dachte sie,
ich hätte niemals fortgehen sollen.

Noch immer hielt sie den Brief fest in ihren Händen. Sie trat ans Fenster und schaute in Richtung Westen, dort wo ihr Dorf in fünfzig Kilometer Entfernung lag.
Ihr Blick schweifte über die Dächer der Stadt. Der Kirchturm von Sankt Josef, der sie an ihren Heimatort erinnerte und dessen Glockentöne stündlich in cis-e-fis-gis-h ertönten, hatte ihr sooft Trost gespendet, vor allem dann, wenn ihr Heimweh sie überwältigte.

Anstelle der Dächer stellte sie sich manchmal weite Felder und Wiesen mit blühenden Bäumen vor, im Mai weiß, im Sommer rot, voll mit Kirschen und im Herbst voller gelber Äpfel. Wie gerne wäre sie hinausgerannt, barfuss über die Wiesen gelaufen, so wie sie es oft als Kind getan hatte – doch es lag das vierstöckige Treppenhaus dazwischen und unten angekommen, bot sich die Natur, wenn sie die Tür ins Freie öffnete, nur als kümmerlicher, von Hecken begrenzter Stadtpark an. Und der Wald, viel zu weit weg, um ihn zu Fuß zu erreichen und ihm die Sorgen hinaustragen zu können.

Sie starrte erneut auf das Dokument. Ihr Name war auf der Besitzurkunde eingetragen. Das Haus gehörte ihr. Das schönste Haus im Dorf, aus Buntsandstein, mit Garten und Obstbäumen darin, umgeben von einer alten Steinmauer.
Er hatte es ihr vermacht.

I IM DORF

1 Martha

1945

In den Fenstern der Bergstraße Nummer acht brannte noch Licht bis tief in die Nacht. Man musste siebenundfünfzig Stufen zum Haus hochsteigen. Martha zählte jedes Mal die Treppenstufen und nahm immer zwei gleichzeitig. Ihre Mutter klagte über das wackelige Holzgeländer und befürchtete, dass ihre porösen Knie und das Geländer irgendwann gleichzeitig einbrechen könnten. Die Haustür hing schräg in den Angeln, so dass der Wind an den Ecken hindurch wehen konnte. Die Holzfarbe an den Fensterläden blätterte ab und der Lehmputz bröckelte von den Wänden und legte die Stützbalken frei, so dass sie schutzlos Sturm und Regen ausgeliefert waren.
Das kleine baufällige Haus wartete vergeblich auf den Mann, der dies alles reparieren, wieder herrichten würde, denn der Krieg hatte ihn vor langer Zeit verschluckt. Edwin, einer der beiden Nachbarjungen, trug das Brennholz hinauf. Sein Vater hatte sich beim letzten Fronturlaub in der Scheune erhängt und nun verdienten sich die beiden Jungen beim Holzmachen etwas dazu. Marthas Mutter nähte für Edwins Mutter und die Söhne und bekam Milch, Kartoffeln und manchmal auch Kohl dafür.
„Meinst du, der Vater kommt wieder heim?“, fragte Mutter jeden Abend, während sie den Lampenschirm bis zur Tischplatte hinunterzog, um beim Stopfen besser sehen zu können. Martha blieb ihr die Antwort jedes Mal schuldig. Bis spät in die Nacht saßen die beiden Frauen am Küchentisch. Sie hatten zuvor einen Topf Milch auf dem Herd erhitzt, in den die Mutter Honig hineinrührte, bevor sie ihre Stopfsachen aus der Tischschublade holte und anfing, mit dicker Wolle und Stopfnadel die Löcher zu schließen. Martha war über Papierbögen gebeugt, die sie für ein Schnittmuster auf dem Tisch ausgebreitet hatte. Sie wollte das Fräulein in der Schule beeindrucken und musste die ganze Zeit daran denken, welche Augen es machen würde, wenn sie ihr die Plisseefalten, die sie gelegt und geheftet hatte, zeigen würde. Aus den alten Mänteln und Jacken ihres Vaters hatte sie schon Flanellröcke genäht und aus dem restlichen Vorhangstoff Sommerkleider für sich und die Mutter.
Die Mutter strickte, meist aus aufgetrennter Wolle, für die Leute im Dorf. Und im Rhythmus der Stricknadeln, mit denen sie den Faden führte, fing sie an, Geschichten von früher zu erzählen: Vom Schorsch, der so jung verunglückt war, vom Ferdinand mit dem Klumpfuß, von der Erna, die auf die höhere Schule geschickt
worden war, von der Antonia, …

„Mama, ich will auch auf die höhere Schule gehen“, unterbrach Martha den Erzählstrom ihrer Mutter
„Was du dir net einbildest“, sagte die Mutter, als sie von ihrer Handarbeit hoch schaute, „da muss man doch g`scheit sein.“
„Ich bin g`scheit“, antwortete Martha trotzig, „das Fräulein lässt mich oft mit den jüngeren Kindern rechnen und lesen und fragt, ob ich den großen Mädchen an der Nähmaschine helfen kann.“
Die Augen der Mutter wirkten müde, als sie zu ihrer Tochter aufsah.
„Martha, treib dir die Flausen aus dem Kopf, wer will denn die Arbeit daheim machen?“
Sie bauten Gemüse im Garten an und jeden Herbst legten sie gestampftes Sauerkraut und Soleier in große Tontöpfe ein, kochten aus Fallobst Apfelmus und aus Himbeeren und Walderdbeeren Marmelade. Die Kräuterkunde für die Dorfschulklasse fand oft in ihrem Garten und im nahegelegenen Wald statt, wo Martha die Exkursion für die Schulkinder leiten durfte.
„Mutter, ich bin die Beste in der Schule, ich kann alles aus dem Heimatkundeheft auswendig aufsagen:
Der rote und der weiße Main
fließen westlich von Kulmbach zusammen.

Bald ist Lichtenfels erreicht,
rechts auf steiler Höhe steht Schloss Banz, …“

„Still, Martha, sei still“, unterbrach die Mutter sie. „Bete lieber ein
Gegrüßet seist du Maria oder ein Vater unser, damit der Herrgott seine Hand über unser Haus hält.“
„Das ist doch kein Haus, Mutter, das ist eine Bruchbude!“, entgegnete Martha ihr zornig.
„Versündige dich nicht Kind“, ermahnte die Mutter sie.
„Wenn ich Lehrerin wäre, könnten wir im Schulhaus wohnen, Mama – wär` das nicht schön?“
Doch die Mutter hatte den Kopf schon wieder über ihre Handarbeit gebeugt.
….

2 Paul
Auf dem Feldweg unterhalb der Weinberge lief ein Mann auf das Dorf zu. Die Stiefel an seinen Fü.en schienen zu schwer für seinen schmalen Körper zu sein und doch setzte er entschlossen jeden Schritt vor den anderen, so als ob er sein Ziel kannte. Nichts als heim, dachte Paul, heim zur Mutter, heim ins Dorf. Mutter hatte ihm über die Feldpost geschrieben, dass sein Bruder Karl gefallen war und sein Vater als vermisst galt, doch er wollte nur nach Hause, einfach nach Hause. Er wischte sich mit der staubigen Hand über die Stirn und hoffte, dass niemand fragen würde. Das Gewehr drückte schwer auf seinen Schultern, ebenso das Gewicht seines leeren Rucksackes, an dessen Riemen ein Kaffeebecher baumelte. Das Gewehr hatte ihm auf der langen Strecke durch Wald und Wiesen geholfen zu überleben, jetzt würde er es nicht mehr brauchen.
An den Weinstöcken am Wegesrand konnte er schon die ersten Triebe an den Reben erkennen und musste an all die Jahre denken, wie sie als Kinder bei der Weinlese am Abend mit nackten Füßen die Trauben in der Kelter festgestampft hatten und danach den ersten Most kosteten, der über eine äußere Rinne in einen Eimer gelaufen war. Die Arbeit dauerte oft bis spät in die Nacht, doch jedes Mal war es ein Freudenfest.
In seinem Innern erklang die Musik von damals und beschwor Bilder von lachenden Mädchengesichtern herauf. Er versuchte sich vorzustellen, wie Annegret und Liesl wohl jetzt aussehen mochten und musste dabei schmunzeln, als plötzlich zwei Gestalten auf dem Feldweg vor ihm auftauchten und seine Erinnerungen vertrieben.

Er warf sich ins nächste Gebüsch und hielt den Atem an. Er wollte nicht gefunden werden, noch nicht. Einer der beiden Gestalten hielt eine Fahne in den Händen, die im Wind wehte. Als sie näher kamen, spürte Paul, wie er zu keuchen anfing. Er hatte so viele Male im Krieg den Atem anhalten müssen, dass sich seit einiger Zeit sein Mund wie von selbst öffnete, wenn er Luft holte. Hoffentlich hören oder sehen sie mich nicht, dachte Paul noch, als sie abrupt vor ihm stehen blieben.
„Komm raus!“, rief der Ältere mit der Fahne in der Hand.
Paul duckte sich noch tiefer, in der Hoffung, unerkannt zu bleiben, als er erneut die Stimme vernahm.
„Komm raus! Wir tun dir nichts.“
Er befand sich im Nachbarort und er hätte nur noch den Waldhügel überqueren müssen, um zu Hause zu sein. Was sollte er tun? Doch dann sah er durch die Äste hindurch die Holzkrücke des Jüngeren und das missgebildete Bein und beruhigte sich. Mit erhobenen Händen trat er aus seiner Deckung hinaus.
Der Ältere streckte ihm die Hand entgegen und sagte:
„Ich bin der Bürgermeister, Grü. Gott, mein Sohn.“
Jetzt erst sah Paul, dass es keine Fahne war, sondern ein weißes Betttuch, das an einer Apfelpflückstange gebunden war.
„Wir gehen den Amis entgegen“, sagte der Bürgermeister, als er Pauls fragenden Blick sah, „damit sie unser Dorf verschonen.“
„… und den Leut` nichts tun“, fügte der Jüngere hinzu.
„Wem g`hörst du denn?“, fragte der Ältere weiter.
„I..ch bin au…s Wiemersdorf, d…em Luber sein Jüngster“, stotterte Paul.
„Ludwig Kassierer aus Wiemersdorf, stimmt`s?“, wiederholte der Bürgermeister zackig und Paul nickte verlegen.
„Wenn du aus Wiemersdorf bist, dann kennst du meinen Sohn, den Friedrich, Friedrich Täufert, der is` doch Lehrer bei euch im Dorf.“
Paul nickte erneut und spürte, wie sein Herz zu klopfen begann.
Seine Knie zitterten, das Blut sackte ihm in die Beine und er spürte, wie ihm schwindelig wurde.
„Bist ja ganz blass“, hörte er den Bürgermeister noch sagen, während er sein Gewehr von der Schulter rutschen ließ, um sich darauf stützen zu können.
„Gehst bei unserm Hof vorbei, wenn du vorne die Gasse runter kommst, meine Frau macht dir ´ne Brotzeit, dass d` wieder zu Kräften kommst. Trink `nen Schluck Most, damit d` wieder Farb` im G`sicht kriegst“, sagte er noch und klopfte Paul dabei auf die Schulter.
„Sagst dem Friedrich Grüß Gott von uns, bin auch froh, dass er wieder g´sund vom Krieg daheim ist.“
„Vergelt `s Gott“, grüßte Paul mit erhobener Hand und lief zügig, wenn auch noch schwankend, so schnell wie möglich den beiden Männern davon.

Er nahm sich fest vor, nicht beim Hof des Bürgermeisters einzukehren. Nichts, aber auch gar nichts mehr wollte er mit diesem Lehrer zu tun haben. Doch als er die Gasse hinunter kam und er die Bürgermeisterin durch das offene Tor mit dem Eierkorb in der Hand über den Hof laufen sah, trieb ihn der Hunger hinein. …..

3 Der Lehrer
Er war nicht wirklich froh darüber, wieder vom Krieg heimgekehrt zu sein. Sie hatten monatelang gehungert, gefroren und jeden Tag um ihr Leben gekämpft. Aber was ihn hier erwartete, welches Leben sollte das sein?, dachte Friedrich, während sein Blick vom Schreibtisch aus durchs Fenster in den Garten fiel. Die Schulhefte stapelten sich an beiden Seiten. Er werde den Fehlern der bildungsunwilligen Dorfkinder nie Herr werden, dachte er und fragte sich, wie lange er noch das Stöhnen und Jammern seiner kranken Frau, das durch die geöffnete Tür des angrenzenden Schlafzimmers zu hören war, ertragen werde können. Und der Hof, ein Gutshof, von dem er so geträumt und den man ihm nach dem Endsieg versprochen hatte, war für alle Zeit, für immer verloren. So einen Hof, wie ihn Vater hatte, im Nachbarort mit Pferdeställen,
Vieh auf der Weide, Scheunen und Weinkeller, und den sein jüngerer Bruder, sein behindert Bruder geerbt hatte – der ein Krüppel war.

Schorsch, sein älterer Bruder, wäre der rechtmäßige Hoferbe gewesen. Friedrich nahm das gerahmte Foto von ihm, das seit vielen Jahren auf seinem Schreibtisch stand, verblichen vom einfallenden Licht der Sonne, in beide Hände. Sechzehn Jahre war Schorsch damals alt, mit seinen blonden Locken, den strahlend blauen Augen und dem verschmitzten Lächeln in seinem Gesicht, den Kopf leicht abgewandt, immer im Gehen begriffen, immer unterwegs.
„Kommst du mit?“, rief er fröhlich, schnappte sich das Moped vom Vater, fuhr die Feldwege entlang und quer die Wiesenhänge hinab. Friedrich musste sich beeilen, wenn er mit dem dunkelroten Damenfahrrad seiner Mutter hinterherkommen wollte. …….

7 Antonia, nachts im Wirtshaus
Es ist besser, wenn du `s nicht weißt, Martha. Glaub mir, es ist besser, wenn du es nicht weißt. Jedes Mal um Mitternacht, wenn die letzten Gäste gegangen, die Tische abgewischt und die Stühle hochgestellt waren, da plauderten
wir immer ein wenig, du und ich. Ich schaue dir gern dabei zu, wie du mit deinen kräftigen Armen die Stühle hochstemmst oder dich flink über die Tische beugst. Die weißen Baumwollstrümpfe sind dann meist schon runter bis auf die
Schuh gerutscht und unter deinem Dirndlrock kann man deine stämmigen Waden sehen. Du bist eine Tüchtige, denke ich mir jedes Mal, und wenn du mit deinen leuchtend blauen Augen und deinem schönen Mädchengesicht die Gäste anstrahlst, da bin ich mir sicher, dass ich die Richtige vom Dorf ausgewählt hab`. Und außerdem, Martha, erinnerst du mich so an meine kleine Schwester Erna.

Wenn du nur nicht mit deiner Fragerei angefangen hättest. Wie die Erna denn auf die höhere Schul zu den Englischen Fräuleins gekommen ist, obwohl der Lehrer es doch sonst keinem Kind im Dorf erlaubt?
Glaub mir, Martha, es ist besser wenn du es nicht weißt.
Ich steh` lieber hinterm Tresen, meine Fü.e tun mir weh. Außerdem hab` ich von hier aus die bessere Sicht über das Dorf und die Leut. Du bist jung und mit deinem blonden Zopf, den du wie einen Kranz um den Kopf gewickelt hast, und deinen roten frischen Wangen bist du ein Lichtblick in unserer Gaststube. Am Sonntag, wenn die Leut` von der Kirche kommen, der Bürgermeister und der Amtsrat, der Lehrer und der Pfarrer oder der Erwin mit dem Glasauge vom Stammtisch, ob gebildet oder ungebildet, das spielt keine Rolle. Mit jedem kannst du `s gut, Martha. Und wenn nachmittags die Fußballer zum Bier eintrudeln, sieht man, wie sie dich alle mögen. Immer das gleiche Dirndl trägst du, aber du hast ja nur dieses eine.
„Antonia, bringst mir Seidenstrümpf´ mit, wenn du wieder in die Stadt fährst?“, hast du mich neulich gefragt.
Das mach` ich doch gern. Ich kann dir doch nichts abschlagen, Martha. Ich bin so froh, dass ich dich habe.

Aber lieber wäre es mir, wenn du dich nicht so herrichten würdest wie ich. Irgendwann hab ich mein Dirndl ausgezogen, die Zöpfe abgeschnitten, mein Haar toupiert und die Lippen rot gemalt. In meinem engen schwarzen Rock und Seidenstrümpfen in Stöckelschuhen wackle ich seitdem durch die Wirtsstube und wenn ich mich mit meinem großen Busen an die Rücken der Mannsbilder drück`, um einen Strich auf die Bierdeckel zu machen, da merk` ich, dass die des mögen. Die Oma hat sich immer gewundert, dass mir mehr Zulauf ham als das Wirtshaus im oberen Dorf. Doch von nichts kommt nichts, hab` ich mir dann gedacht und weit hab ich´s bracht. Aber bei dir, Martha, nein, da möchte ich das nicht – du könntest meine Tochter sein.

Wenn du nur net immer wieder nach der Erna und der höheren Schul` fragen würdest. Seit du mit der Fragerei angefangen hast, hör ich sie wieder, die schweren Schritte – nachts.
„Antonia“, hast du neulich wieder gefragt, „deine Schwester, die Erna, die hat der Lehrer doch auf die höhere Schule gelassen. Du weißt doch, dass ich Hauswirtschaftslehrerin werden möchte. Hat dein Vater mit ihm g`redt?“ Nein, der scho` gar net, wollte ich sagen, aber dann hab` ich mir auf die Zunge gebissen. Ich möcht` so gern, dass du bei mir bleibst, hab ich mir gedacht.

Nachts, wenn die du die Abrechnung machst, da is` es immer so ruhig in der Gaststube, nur das Klirren der Gläser, die ich noch spüle und abtrockne, ist zu hören.

Aber seit du mit deiner ewigen Fragerei angefangen hast, da hör ich sie wieder, die Schritte des Vaters, wie ich sie sie so viele Male gehört hab, in den Nächten, wenn er die Treppe hochgekommen ist, als ich so alt war wie du.
Der Gang bis zu meinem Zimmer war lang, Gott sei dank, so konnte ich das andere Nachthemd anzuziehen, das Hemd, das ich ganz unten im Wäschekorb versteckt hatte, bevor sich die Zimmertür öffnete. – Das Nachthemd dort, das war nicht ich.
Wenn es vorbei war, hab ich jedes Mal ein frisches angezogen, hab meine Stoffpuppe in den Arm genommen und mich in den Schlaf geweint. Die Mutter hatte mir die Puppe genäht, bevor sie gestorben war, mit echtem Hanfhaar und nach Rosenwasser und Lavendel hat sie gerochen, so wie die Mutter.
Ich wollte nicht, dass Erna das Nachthemd unten im Wäschekorb anziehen musste, nur deshalb hab ich dem Pfarrer in der Beichte erzählt:
„Herr Pfarrer, bei uns im Haus, seit dem Tod der Mutter, geht die Unkeuschheit um, und die Erna, die muss weg, wenigstens in der Nacht muss sie schlafen können.“

Dann ging `s schnell. Der Pfarrer muss mit dem Lehrer geredet ham, hab ich mir oft danach gedacht und noch bevor die Erntezeit rum war, kam die Erna weg, mitten im Schuljahr. Wütend war sie, geschimpft hat sie und verwünscht hat sie mich. Und als sie die ersten Sommerferien nicht heimfahren durfte, weil sie soviel geweint hatte, da hat sie gsacht, ich hätt` sie bloß los haben wollen, damit mir des Wirtshaus irgendwann alleine gehört.
Seitdem, Martha, bin ich der einsamste Mensch auf der Welt.

„Antonia“, rufst du mich jedes Mal und reißt mich aus meinen Gedanken. Schnell wische ich mein Gesicht, das sich jede Nacht im Edelstahl der Theke spiegelt, mit dem Serviertuch weg.
„Bin fertig, hab alles Geld gezählt und den Beutel für die Raiffeisenkasse fertig gemacht.“
„Dankeschön, Martha, du bist eine Tüchtige“, lobe ich dich jedes Mal.
Als ich dir neulich den Lohn auszahlte, fragtest du mich schüchtern, ob ich dir net auch `nen Büstenhalter aus der Stadt mitbringen könnt. Da musst` ich lachen.
„Martha, was willst du denn da rein tun, du bist doch noch ganz flach?“ Du wurdest rot und meintest: „Da kommt scho´ noch was.“
Und da fragte ich dich, ob du net mitfahren willst in die Stadt und selber gucken willst.
„Würdest du mich denn mitnehmen?“, strahltest du mich an.
„Ja, freilich! Vielleicht finden wir ja auch ein schönes Kleid für dich.“
„Aber ich näh doch meine Kleider selber“, protestiertest du.
„Na ja, dann finden wir halt einen schönen Sommerstoff für dich.“

Bevor ich dann die Wirtshaustür zumachen und hinter dir abschließen wollte, da drehtest du dich zu mir um und fragtest, ob ich nicht doch mal mit dem Lehrer reden könnt. Da hab` ich ´s dir versprochen und da kam mir die Idee – wie ich dich bei mir, im Dorf, halten könnte.
…………..

14 Auf dem Friedhof

Wieder hatte jemand weiße Margaritenblumen an die Seite der Gartenabfälle gelegt, dort, wo an der mit Moos und Efeu bewachsenen Friedhofsmauer die Reihe der Kindergräber begann. War es Zufall, sollte es so aussehen, als ob sie vom Kompost heruntergefallen waren? Doch sie waren jedes Mal frisch, kein einzig welkes Blatt. Sie stand schon wieder viel zu lange an der Stelle, wo sie vor Monaten nachts ein Loch ausgehoben und das kleine Bündel neben die anderen toten Kindern hineingelegt hatte. Johann, so nannte sie ihren kleinen Jungen, durfte kein eigenes Grab haben, niemand im Dorf durfte wissen, dass es diesen Jungen, wenn auch nur für kurze Zeit, gegeben hatte.

Dort zwischen Wasserpumpe und Komposthaufen fiel es am wenigstens auf, wenn sie mit ihrer Gießkanne oder ihrem Unkrautkorb länger verweilte. Sie warf auch Blumen auf sein Grab, alles was sie finden konnte und noch blühte. Im Sommer zog sie ihre Schuhe aus und steckte ihre nackten Fü.e abwechselnd in die Humuserde an dieser Stelle und meinte so den kleinen Körper, den Herzschlag von Johann unter ihren Fußsohlen spüren zu können. Und im Herbst bedeckte sie das Grab mit Laub, um ihn vor der Kälte zu schützen, bis der Schnee kam, um ihn weiterhin zu wärmen. Vielleicht konnte Johann das Rascheln hören und ihr Summen der unzähligen Kinderlieder, die sie jedes Mal anstimmte, wenn sie wieder eine Gießkanne füllte.

„Martha, wo bleibst du denn?“, rief ihre Mutter im schroffen Ton über den Friedhof hinweg, wodurch sie aus ihren Träumen gerissen wurde. Zur Frau neben ihrem Familiengrab, die erschreckt aus ihrem stillen Gebet hochblickte, sagte sie:
„Ich weiß nicht, meine Tochter träumt und spricht die ganze Zeit vor sich hin, als ob sie nicht ganz richtig im Kopf ist.“
Die Frau am Nachbargrab schüttelte besänftigend den Kopf und sagte nur:
„Nein, das ist das Alter. Als wir jung waren – waren wir da nicht auch ständig mit unseren Gedanken woanders?“

Am liebsten ging Martha montags zum Friedhof, weil dann dort kaum jemand zu finden war und sie dann mit Johann sprechen konnte. Sie erzählte ihm von den Schafen, Kaninchen und Hühnern, von den Schmetterlingen, Igeln und Pferden auf der Weide, vom Wald mit seinen Moos bewachsenen Bäumen und den Farnen, die glitzerten, wenn helles Sonnenlicht durch die Baumkronen fiel, und vom Bach, der mitten durchs Dorf floss und an dem die Kinder den ganzen Sommer über spielten. Wie gerne hätte sie ihren kleinen Jungen zu den anderen Kindern hinaus zum Spielen geschickt, wie gerne hätte sie seine aufgeschürften Knie verarztet, wie gerne hätte sie ihm die Tränen von den Wangen geküsst und den Fieberschweiß von der Stirn – wenn nicht alles anderes gekommen wäre.

……………………

II IM GEFÄNGNIS

17 Frauengefängnis

Winter 1949

Lieber kleiner Johann,
die einzige Möglichkeit, mit dir in Gedanken allein zu sein, ist Sonntagabend, wenn die anderen Frauen aus meiner Zelle im Aufenthaltsraum Karten spielen, Strümpfe stopfen, ihre Wäsche flicken und dabei Radio hören dürfen.
Ich sitze mit angezogenen Beinen auf meinem Bett mit dem Rücken zur feuchten Wand und schaue den letzten eisigen Sonnenstrahlen zu, die diesen kleinen düsteren Raum durchfluten. Sie werden durchschnitten von den Gitterstäben des Zellenfensters und die eisige Kälte, die heraufzieht, durchströmt meinen Körper wie ein stechender Schmerz.
Doch Schmerzen, kleiner Johann, ist das einzige, was ich noch spüre, seit du nicht mehr da bist. Ich fühle mich eingepackt, wie in einer bleiernen Hülle und die Schwere beim Gehen und Atmen lässt mich nur schleppend meinen Alltag ertragen. Meine Augen sehen, wie durch eine Luke hindurch, gerade soviel, um nicht zu stürzen oder andere zu stoßen und meine Ohren nehmen die Geräusche des Lebens von draußen nur von weiter Ferne wahr.

Dieses dumpfe K.rpergefühl verschwindet, wenn für einen Moment Schmerz durch meinen Körper dringt. Mein Kreuz spüre ich nachts vom Bücken und schweren Heben in der Wäscherei. Meine Hände sind durch das Soda der Waschmittel und dem heißem Wasser aufgeweicht. Die blutigen und grindigen Risse reibe ich nicht mit Mutters Salbe ein. Manchmal breite ich meine Hände vor mir auf meinen Schoß aus und betrachte sie. Die, mit denen ich dich von mir gestoßen habe. Nur durch das Brennen und Beißen des Schmerzes öffnet sich dann, für einen Augenblick, ein Spalt nach draußen in die Welt der Lebenden.

Doch wenn ich wieder an dich denke, wie in so vielen Stunden, Tagen, Minuten, dann vergrabe ich mich wieder in meiner dichten Hülle und wandle wie ein Geist durch die steinernen Flure und den Innenhof des Gefängnisses. An diesen Tagen ist die Gefahr groß, mich in einen der dampfenden Kessel zu stürzen, wenn die heiße Sodabrühe darüber gegossen wird.
Dann möchte ich mich auflösen, so wie die Kernseife in den Becken und in dem Wasserdampf verschwinden für immer, mich auflösen – erlösen. Doch ich will nicht noch eine Todsünde begehen.
Verzeih mir, kleiner Johann, dass ich mich mit so schweren Gedanken am dich wende, aber manchmal, weiß ich einfach nicht wohin.
Gestern war der Herr Pfarrer da, da durfte ich sogar meine Arbeit am Waschtrog unterbrechen. Er saß klein und grauhaarig auf der Bank im Warteraum und als ich mich ihm gegenübersetzte, schob er mir mit einem „Grüß Gott, Martha“ ein in Zeitungspapier gewickeltes Päckchen über die Tischplatte zu.
„Herr Pfarrer, Sie?“, begrüßte ich ihn und fragte, ob er mich denn überhaupt noch von Gott grüßen dürfe. Er setzte sein freundliches, wenn jetzt auch schon etwas müdes Lächeln auf und gab mir zur Antwort: „Martha, wir sind alle Kinder Gottes.“
In dem Zeitungspapier war ein Brot mit Handkäse eingepackt.
„Du musst viel essen, damit du das durchhältst, Martha.“
„Wozu durchhalten, Herr Pfarrer?“, entgegnete ich ihm. Da sah er mich mit strengem und mahnendem Blick an: „Wir alle finden Gnade vor unserem Herrn, Martha.“ …………….

Frühjahr 1950

Lieber Johann,
am schlimmsten war der Besuch von Lene für mich. Sie brachte mir Hagebuttenmarmelade, Äpfel und Ringelblumensalbe von Mutter und einen Kissenüberzug mit, den sie selbst genäht und mit meinen Namen bestickt hatte.
„Damit du etwas hast, das nur dir gehört“, sagte sie.
Wenn ich an die dicken geschwollenen Finger von Mutter denke, die immer nach dem ersten Frost das Mark aus den Hagebutten drückten, um Marmelade daraus zu kochen, wird mir ganz weh ums Herz. Viele Frauen schnitten die Hagebutten auf und kratzten mühsam die juckenden Kerne heraus. Mutter war eine kluge Frau. Mit ihrer Ringelblumensalbe aus geschmolzenem Schweinefett und Blütensud heilte sie manch offene Wunde der Bettlägerigen im Dorf.

Ich schäme mich so, wenn ich die beiden Geschenke in meinen Händen halte und falle jedes Mal meiner Schwester schluchzend um den Hals. Sie streicht mir dann mit ihrer rauen Hand über den Kopf, drückt mich fest an ihre Brust und fängt an ein Schlaflied aus unseren Kindertagen zu summen.
Guten Abend, gut’ Nacht, mit Rosen bedacht,
mit Näglein besteckt, … morgen früh, wenn Gott will,
wirst du wieder geweckt.
Erkennst du es wieder? Wie viele Male habe ich es für dich schon gesungen? Ich beruhige mich dann immer wieder, doch abends, wenn Lene gegangen ist, weine ich das Kissen nass und habe das Gefühl, dass alle Kraft aus mir herausgezogen ist, dass sie alles mitgenommen hat, was noch von mir übrig war. Deshalb habe ich sie gebeten, nicht wieder zu kommen.
…….

III IN DER STADT

26 Nach Allerheiligen, zurück in der Stadt

I’m dreaming of a white Christmas
Just like the ones I used to know …

Noch am gleichen Abend, zurück in ihrem Dachzimmer, schrieb Martha einen Brief an Antonia:
… Ich würde dich so gerne wieder sehen, wir könnten ins Kino, am Main spazieren und ins Café Nikolaus einkehren, es gibt so viel zu erzählen. Ich nehm` mir den Montag frei, wenn du kommst. …
Doch ihr Brief blieb unbeantwortet. Auch an ihre Schwester schrieb sie wenige Tage später.
Meine allerliebste Schwester,
ich hoffe, Du bist gesund und Dir geht es gut? Am Bahnhof gibt es öffentliche Telefonapparate, ich könnte Dich Samstagabend oder am Sonntag anrufen, in der Wirtschaft bei Frau Zoll. Sie hat bestimmt nichts dagegen, sie hat unsere Mutter ja noch gekannt. Schreib mir bitte wann. Bin schon ganz aufgeregt. Vielleicht könnt` ich Weihnachten zu Euch kommen? Spricht man noch über meine Geschichte? Ich hoffe nicht. Ich sehne mich so sehr nach Euch, Dir und Deinen Kindern. Ihr seid doch meine Familie.
Gott beschütze Dich.
In Liebe, Martha.
Lene schrieb zurück und nannte zehn Uhr vormittags als Termin, wenn ihr Mann in der Sonntagsmesse war. Sie weinten ins Telefon, trösteten sich zugleich und versicherten sich, dass sie schon irgendwie zurechtkommen, so dass die andere sich keine Sorgen zu machen brauche. Aber an Weihnachten könne Martha nicht zu ihnen kommen, sagte Lene, das müsse sie verstehen, ihr Mann will das nicht haben. Aber sie könne ja gerne ein anderes Mal kommen, schlug sie vor, wobei sie offen ließ, wann das sein sollte.
Martha lief nach dem Telefongespräch wie eine Schlafwandlerin durch die Straßen von Würzburg und musste sich immer wieder daran erinnern, dass sie zur Domstraße wollte, wo sie Edwin treffen würde. Den ganzen Weg überlegte sie, Lene nach Würzburg einzuladen, auf den Weihnachtsmarkt oder zu Kiliani oder … , bis ihr klar wurde, dass man als Dorfkind nur einmal im Leben nach Würzburg kommt, zur Firmung, wenn der Bischof einem die Hand auflegt und ein Kreuzzeichen mit Salböl auf die Stirn zeichnet.

Edwin wartete an der Domruine auf sie. Sie gingen wie jeden Sonntag über die alte Mainbrücke zum Mainufer hinunter, entlang des Flusses bis zur Ludwigsbrücke, um am Schluss im Café Nikolaus einzukehren. Auf der Mauerbrüstung der alten Brücke standen Heiligenfiguren und blickten auf das junge Paar hinab. Edwin blieb vor dem Heiligen Kilian stehen und zeigte mit der Hand auf die steinerne Statue und fing an zu rezitieren:
Kilian, Kolonat und Totnan brachten das Christentum nach Franken. Als Kilian jedoch die Schwagerehe des fränkischen Herzogs mit Geilana missbilligte, ließ dieser 689 Kilian und seine Begleiter ermorden und die Leichen in einem Pferdestall verscharren. Da die Pferde immer wieder von dieser Stelle zurückwichen, ließ man dort, die Erde aufgraben. Geilana war inzwischen dem Wahnsinn verfallen und als die Gebeine entdeckt wurden, begriff man, dass diese frommen Männer Heilige waren.“
Martha, die stehengeblieben und den Worten Edwins gelauscht hatte, musste lächeln:
„Heimatkundeheft, dritte Klasse“, sagte sie.
„Jawohl, Fräulein Martha“, sagte Edwin und zeigte mit der Hand auf den Heiligen Johannes von Nepomuk, „aber den, den kennst du sicher noch nicht.“
„Johannes Nepomuk, der Brückenheilige, hatte Streit mit dem König Wenzel, weil er sich weigerte das Beichtgeheimnis zu brechen. Er wollte ihm nicht preisgeben, was dessen Frau, die er der Untreue bezichtigte, anvertraut hatte. Deshalb ließ der König ihn foltern und anschließend von der Prager Karlsbrücke ins Wasser werfen, wo der Fluss für kurze Zeit austrocknete, damit man seine Leiche bergen konnte. Fünf Feuerzungen zeigten zugleich an, wo Johannes Körper zu finden war.“
Während Martha Edwin so beobachtete, wie er in seinem Wollmantel und Hut vor den Steinfiguren, im Hintergrund der graue Novemberhimmel, rezitierte, kam ihr der Gedanke:
Ja, Edwin passt in diese Stadt, passt zu Würzburg.

Sie liefen weiter und unten am Mainufer bat Edwin sie, einen Moment unter der Brücke stehen zu bleiben. Er packte eine kleine Schachtel mit einem Ring aus und sagte: „Erschreck` bitte nicht Martha, aber ich möchte dich um einen Gefallen bitten. Würdest du mit mir zur Weihnachtsfeier unserer Kanzlei gehen, damit die anderen nicht dauernd neugierige Fragen stellen? Ich leih dir ihn nur.“
Martha sah ihn verwirrt an.
„Naja, du weißt doch noch, dass mein Chef uns zusammen in der Heckenwirtschaft gesehen hat.“
Martha schwieg.
„Könnten wir nicht mündlich einen Kontrakt schließen? Du gehst mit mir zur Weihnachtsfeier und ich gebe dir Geld für ein Paar neue Schuhe oder einen Mantel, jetzt wo der Winter kommt.“

Martha schwieg noch immer.
Sie musste Edwin Recht geben, sie brauchte tatsächlich einen neuen Wintermantel, ihr alter war zerschlissen und abgetragen und sie schämte sich manchmal dafür. Und der Wollponcho, den sie sich die ganze Zeit übergeworfen hatte, reichte nicht mehr gegen die Kälte aus.
„Einen Mantel“, sagte sie leise, so dass es kaum zu hören war,
„einen Mantel brauch` ich, Edwin.“
Edwin nickte und schlug vor am Mantelsonntag gemeinsam zum Severin in der Sanderstraße zu gehen. Martha nickte stumm.

Zuhause holte sie ihr dunkelblaues Plisseekleid heraus, das ihr immer noch passte. Sie trennte den weißen Kragen ab und machte aus dem Rundhals einen V-Ausschnitt, den sie an beiden Rändern mit einem dunkelblauen Samtband einfasste. Sie würde die Perlenohrringe ihrer Mutter und das goldene Kettchen mit dem Kreuz, das sie von ihrer Firmpatin geschenkt bekommen hatte, dazu tragen. Und vielleicht hatte der neue Mantel ja einen weichen Pelzkragen, so dass alles etwas feiner und edler wirkte. Martha spürte plötzlich, wie sie sich auf die neuen Kleider freute und auf die Weihnachtsfeier, wo sie wieder einmal unter anderen Menschen als den Fabriknäherinnen war. Und dennoch wurde ihre Freude getrübt von dem Gedanken, ob sie käuflich war. Sie schüttelte den Kopf, um diesen Gedanken zu vertreiben, doch an der Nähmaschine ratterte ihr dieser Gedanke weiter hinterher: du bist käuflich, du bist käuflich, … bis sie sich beruhigte und dem Gedanken Einhalt gebot: Edwin hätte ja auch eine andere fragen können.

In der Adventszeit stellte sie vier Kerzen ans Fenster und legte Tannenzweige dazwischen. Sie zündete die Kerzen an, löschte das Licht im Zimmer und schaute auf die verschneiten Dächer der Stadt und in den Sternenhimmel hinauf. Manchmal summte sie ein Lied dazu und war ganz versunken in die Dorfwelt ihrer Kindheit, als es noch Lene, Vater und Mutter gab und sie noch ein Kind war. „Es ist so einsam“, hauchte sie zum Fenster hin und zeichnete mit dem Finger einen Stern auf die beschlagene Scheibe. Nicht mal Edwin konnte zu ihr in die warme Stube hochkommen. Es gab keine selbstgebackenen Plätzchen, keinen Tee und keinen Christstollen. Nur Lebkuchen auf dem Weihnachtsmarkt und Glühwein, an dem sie sich die Finger wärmten. Und wenn das Lied I’m dreaming of a white Christmas aus den Lautsprechern erklang, musste sie weinen, auch wenn sie gar kein Englisch verstand.
Nur in der Kirche hatte sie das Gefühl, dass Weihnachten so wie immer war. Mit dem riesengroßen Adventskranz, der über dem Altarraum der Neumünsterkirche neben dem Dom schwebte, den beiden hohen mit Strohsternen geschmückten Tannenbäumen rechts und links vom Altar und den Weihnachtsliedern, bei denen sie laut mitsang, bis ihr vor Heimweh die Stimme versagte.
„Tauet, Himmel, den Gerechten, Wolken, regnet ihn herab!“ rief das Volk in bangen Nächten, dem Gott die Verheißung gab: Einst den Mittler selbst zu sehen und zum Himmel einzugehen; //: denn verschlossen war das Tor, bis ein Heiland trat hervor://

Edwin nahm sie mit zum Weihnachtsmarkt und immer wieder mit ins Bavaria-Kino in der Juliuspromenade. Martha war beeindruckt. Zwei elegante Marmortreppen, die von der Eingangshalle zu den Parkett- und Rangfoyers hinauf führten, zwangen sie geradezu aufrecht zu gehen, mehr zu schreiten als zu gehen. Vorbei an den Wänden mit Palisander-Holztäfelung, weiter mit staunendem Blick auf die Stuck-Kanneluren, der Decken- und Wandkonstruktion bis hin zu den mit lindgrün gepolsterten Sitzplätzen des Filmtheaters. In diesem Glanz konnten nicht nur die Würzburger Kinobesucher ihre vielerorts noch in Trümmern liegende Stadt vergessen, sondern auch Martha für kurze Zeit ihre Einsamkeit, auch wenn sie oft den ganzen Film hindurch weinte.
Den ersten Film, den Martha sah, war Rosen-Resli mit der 9-jährigen Hauptdarstellerin Christine Kaufmann. Kaufmann war persönlich zur Verbeugungspremiere ins Bavaria-Kino gekommen. 1,20 Mark kostete die Karte, Edwin hatte sie eingeladen. „Rosen-Resli Schauspielerin in Würzburg“ betitelte die Main Post ihr Foto auf der Titelseite. Sie bat Edwin es ausschneiden zu dürfen und zeigte es am nächsten Tag in der Textilfabrik den anderen Näherinnen in der Mittagspause. Die Köpfe neigten sich voller Bewunderung über den Zeitungsausschnitt und Martha zeigte stolz ihre Kinokarte. Marie, die ihr am nähesten stand, nahm sie zur Seite und fragte, ob sie nicht mal zusammen ins Kino gehen könnten. Martha war glücklich. Dann
kam Weihnachten.
Am Heiligen Abend war es am schlimmsten. Edwin und sie liefen nach der Christmette noch stundenlang in der kalten und sternenklaren Nacht durch die verschneiten Straßen von Würzburg.
Überall sah man Lichter in den Fenstern und glaubte dahinter fröhliche Stimmen zu vernehmen. Die Beleuchtung der Straßenlaternen ließ die Schneeflocken in der Nachtluft glitzern und unter ihren Schuhen knarzte der eisig gefrorene Boden, das einzige Geräusch, das weit und breit zu hören war und ihnen das Gefühl gab, in Würzburg allein und verloren zu sein.
Sie gingen in die Bahnhofswirtschaft, die einzige Gaststube, die geöffnet hatte, aßen Bratwurst mit Kraut, tranken ein Bier und schwiegen. Dann legte Martha Edwin ein in braunes Packpapier eingewickeltes Paket auf den Tisch.
„Frohe Weihnachten, Edwin!“, sagte sie.
Edwin sah sie verwundert an, schob den Teller zur Seite, wischte sich die Hände an der Papierserviette ab und öffnete es. Martha hatte ihm ein Hemd aus Batiststoff genäht. An den Manschetten hatte sie zwei Löcher eingesäumt und mit einen Doppelknopf zusammen geschoben:
„Manschettenknöpfe musst du dir selbst kaufen“, lächelte sie ihn verlegen an.
„Vielen Dank, Martha“, strahlte er, „ich weiß ja gar nicht, was ich sagen soll.“
„Sag nichts, Edwin, es ist alles gut so.“
„Wie kann ich mich denn dafür revanchieren?“
„Lad` mich mal wieder zum Kino oder ins Konzert ein“, sagte sie und blinzelte mit den Augen um ihre Tränen zurückzuhalten.

Die Einladung ließ nicht lange auf sich warten. Dieses Mal hatte Edwin Karten fürs Neujahrskonzert des Philharmonischen Orchesters im Theatersaal am Wittelsbacherplatz ergattern können.
Martha genoss die Musik. Sie schloss die Augen, gab sich den Klängen hin und dieses Mal musste sie nicht weinen, wie in der Kirche, wenn die Orgeltöne erklangen und sie an die heimatliche Dorfkirche erinnerten.
Im Februar kam eine Einladung zum Chrysanthemenball mit Weinzwang und Abendkleid. Martha hatte in der Zeitung ein Foto von den Meisterschaften in den Lateinamerikanischen Tänzen gesehen und beschlossen, sich das gleiche Knie umspielende Kleid zu nähen, wie diese Frauen es trugen. Sie kaufte bei Severin weißen Seidenstoff für das Unterkleid und weißen Spitzenstoff für das Oberkleid. Die Träger und die Schleife am Rücken nähte sie aus weißem Satinband. Wie im Fieber ratterte ihre Nähmaschine an vielen Abenden bei schwachem Licht in ihrer Dachkammer.
Stunden, in denen sie alles vergessen konnte. Der Ball kam und Edwin stellte sie seinen Anwaltskollegen und deren Frauen vor. Sie wurde immer wieder zum Tanzen aufgefordert, wobei jedes Mal die Tanzpartner Edwin zuzwinkerten. Martha genoss es. In einer kurzen Tanzpause lehnte sie sich mit dem Rücken an eine Steinsäule am Rande der Tanzfläche um zu verschnaufen. Sophie, die Tochter des Kanzleichefs, auf der anderen Seite der Säule konnte sie nicht sehen, als diese zu ihrem Bruder sagte:
„Diese Martha ist und bleibt eine Landpomeranze, auch im Abendkleid.“
Martha schluckte und lief zu den Toiletten. Sie besprengte ihr Gesicht mit kaltem Wasser, ging in die Toilette, schloss die Tür und versuchte tief durchzuatmen und sich zu beruhigen. Sie zählte bis Hundert, dann ist es vorbei, dachte sie, es hatte ihr schon im Gefängnis geholfen. Da hörte sie, wie junge Frauen lachend und kichernd in den Toilettenvorraum gepoltert kamen. Martha hörte, wie sie in ihren Etui Täschchen nach Lippenstift und Puder kramten.
„Hast du sie gesehen, unsere Landpomeranze?“, hörte sie Sophies Stimme erneut.
„Ja, sie hat gesagt, dass sie das Kleid selber genäht hat“, meinte eine andere.
“Wer `s glaubt wird selig“, lachte eine dritte.
„Die glaubt wohl, das ist genug, um in unseren Kreisen Einlass zu finden“
„Naja, das wird ´se schon noch merken.“ Puderdosen wurden zugeklappt, Lippenstifte eingedreht und die Meute verließ mit vergnügtem Lachen den Toilettenraum und ließ die Tür laut hinter sich zufallen.
Martha hielt sich die Hand vor dem Mund, weil sie befürchtete gleich in lautes Schluchzen auszubrechen zu müssen. Dann atmete sie tief durch, stand auf, strich ihr Kleid glatt und ging hinaus. Sie öffnete den Wasserhahn und ließ kaltes Wasser über ihre Pulsadern laufen. Dabei schaute sie in den Spiegel, doch sie konnte sich nicht sehen. Es war so, als ob sie durch sich hindurch schaute und sich nicht finden konnte. Wo war sie? Sie musste raus. Sie verspürte den Drang schnell von hier weg zu kommen. Draußen im Tanzsaal zog sie Edwin zur Seite und bat ihn mit flehendem Gesichtausdruck gleich aufzubrechen.
Erst die eisige Februarluft draußen, die ihren Gesichtern mit beißender Kälte entgegen blies, ließ Martha aufwachen, zu sich kommen und plötzlich wusste sie wieder, wer sie war.
Edwin, an dessen Arm sie sich festgeklammert hatte, sah sie erschrocken an und sagte.
„Um Gottes Willen Martha, was ist denn los, du zitterst so?“ Martha fing an zu schluchzen:
„Edwin, ich gehör einfach nicht hierher.“
„Martha, du warst die Schönste heute Abend, du kannst es mit jeder hier mithalten.“
„Nein, Edwin“, kam noch ein letzter Seufzer, „ich will wieder zurück ins Dorf.“
Lange schwiegen sie, liefen bibbernd und frierend durch die matt beleuchteten Straßen, bis Edwin fragte:
„Aber warum denn, Martha?“
„Ich werde hier nie dazu gehören, die leben anders, die denken anders, die …“ Sie holte tief Luft und sprach weiter: „Ich will meinen Garten, ich will die Wiesen, Felder und Wald um mich haben. Und ich will mit Menschen zusammen sein, die mich kennen.“
„Aber Martha, die wollen im Dorf doch nichts mit dir zu tun haben, wer interessiert sich denn noch für dich?“
„Die Antonia, ich arbeite wieder in der Metzgerei und …“ Martha geriet ins Stocken. „Und die Frauen aus der Metzgerei, der Bäckerei und aus dem Krämerladen, die Nachbarn und ….“
„Aber Martha, die reden doch nur schlecht über dich!“
„Meinetwegen sollen sie schlecht über mich reden. Ich bin die Böse, aber wenigstens gehör ich dazu.“
Edwin schüttelte den Kopf. „Aber Martha, was tust du dir denn an?“
„Edwin, hier werd` ich behandelt, als ob ich nicht existiere, hier bin ich ein Nichts, ein Niemand auf der Welt.“
Edwin schüttelte erneut den Kopf. Sie verstummten beide und Edwin brachte sie nach Hause. Er hoffte, wenn sie die Nacht darüber geschlafen hatte, dass es ihr besser ging und sie von ihrem Vorhaben Abstand nehmen würde. Doch am nächsten Tag, an einem Sonntag nach dem Gottesdienst, als sie wie immer am Mainufer entlang spazierten, bat sie ihn, ihr bei ihrem Umzug ins Dorf zu helfen.
Edwin blickte auf den Boden und nickte schwerfällig.
„Ich dank dir, Edwin, du bist ein guter Mensch“, sagte sie und hielt ihn dabei an beiden Unterarmen fest. Edwin schaute nicht zu ihr hoch. Sie liefen noch lange schweigend am Ludwigskai entlang. Sie redeten nicht mehr darüber, nicht mehr an diesem Tag und auch nicht mehr in den kommenden Wochen.

Im Mai kam der Brief. Sie erzählte Edwin nichts davon. Sie packte ihre Sachen in Kisten, Körbe und Säcke, doch diese wollte sie erst später nachholen. Zuerst wollte sie zum Notar und dann ins Dorf, um alles vorzubereiten.

27 Edwin Geschichte
Sie wird nicht wieder kommen, dachte er, sie wird nicht wieder zurückkommen. Er hatte beobachtet, wie sie heimlich ihren Koffer gepackt und unter das Bett geschoben hatte, als er sie zum Kino abholen kam. Hatte sie auch schon gekündigt?
„Soll ich dir Krakauer aus der Dorfmetzgerei und Weckbrötchen vom Kerner mitbringen?“, bot sie ihm an, während er unter dem Türrahmen stand, „die magst du doch so gern.“ Am Klang ihrer Stimme erkannte er, dass irgendetwas anders war. Auch, dass sie darauf bestanden hatte, allein zu fahren, war
ungewöhnlich.

Er schaute sich in seinem Zimmer um, es war möbliert, ein Bett, Tisch, Stuhl und eine Kleiderkommode in der Ecke. Ein Waschbecken im Zimmer hinter einem Paravent aus durchbrochenem Holz war sein Luxus. Er mochte die hohen Räume hier im Haus, die großen Fenster mit Gardinen davor, auch wenn mit dem Kanonenofen schwer zu heizen war. Er hatte sich von seinem ersten Gehalt einen abgetretenen Teppichläufer mit orientalischen Mustern gekauft, einen verschlissenen Lesesessel und eine wackelige Stehlampe, welch ein Luxus, dachte er. Doch es gefiel ihm. Auf der Kommode stapelten Bücher, er würde sich ein Regal vom Schreiner anfertigen lassen müssen. Die Stube erinnerte ihn an die Bibliotheken im Kilianeum und Julianum. Dort wurde er stets ruhig, konnte sich von der Geschäftigkeit des Alltags zurückziehen, war nicht dem sozialen Gerangel ausgesetzt und fühlte sich trotzdem nicht allein. Die Bücher gaben ihm Zugang zum Weltwissen, eröffneten ihm eine Weite zu höheren Ebenen, auf denen universelle Fragen diskutiert wurden und wenn er auch nicht immer Antwort finden konnte, so hinterließen sie bei ihm doch das Gefühl, mit den Menschen verbunden zu sein.

Er hatte drei Bilderrahmen auf der Kommode stehen. Eines mit seinen Eltern und seinem Bruder zusammen, als sie noch klein waren. Rechts davon ein gerahmtes Bild von Mutter, so wie sie später auch auf ihrem Sterbebildchen zu sehen war, und links davon sein Kommunionbild. In der rechten Hand hielt er eine große weiße Kerze, verziert mit goldenem Kreuz, und in der linken Hand sein Gesangbuch mit Rosenkranz umwickelt. Schon damals war er lang, schmal und blass. Wenn der Pfarrer in der Messe Weihrauch schwenkte, wurde ihm oft schlecht und einmal als er nicht gefrühstückt hatte, ist er umgekippt. Man sollte nüchtern die Kommunion empfangen. Welch ein Unsinn, dachte er jetzt, sich gegen die Gesundheit seines Körpers zu wenden. Er legte das gerahmte Bild von Vater, Mutter, ihm und seinem Bruder in die obere Schublade. Er wollte nicht, dass sie ihn sehen, sehen, wie er jetzt lebte. Und er wollte Vater und Bruder nicht sehen. Er konnte es nicht ertragen, zu wissen, dass sein Vater sich das Leben genommen hatte, auch wenn Mutter immer wieder versucht hatte, ihm die Gründe dafür zu erläutern und er fragte sich immer wieder, ob sein Bruder, der in der Saale ertrunken war, nicht auch insgeheim Vaters Spuren gefolgt war. Die Angst, dass es in der Familie liegen könnte, quälte ihn. Für ihn war Freitod weniger eine Todsünde, vielmehr eine Schwäche. Aufgeben, sein Leben wegwerfen, das kam ihm nicht in den Sinn, das verbot er sich. Er schüttelte sich, stand auf, nahm seine Hose vom Kleiderbügel, bürstete noch einmal darüber und zog sie an. Er war zum Skatabend verabredet und wollte nicht zu spät kommen. Er hatte Zigarillos besorgt.. …….

Leseprobe: Jürgen Buchinger – “Ohne Titel”

erster teil

People are afraid to merge.
(Bret Easton Ellis)

eins
Er holte Ohrhörer aus der rechten Aussentasche seines olivgrünen Parkas und stöpselte das eine Ende in sein iPhone und die anderen in seine Ohren. Lover Lover Lover. Die Liveversion auf Field Commander Cohen: Tour of 1979. Die mit dem langem Oud-Intro. Wahnsinn. Das 2000 erschienene Live-Album mit Aufnahmen der beiden Auftritte im Hammersmith Odeon in London und im Dome Theatre in Brighton im Jahr 1979, das er sich erst vor kurzem runter geladen hatte, wurde nicht nur jetzt von ihm, sondern schon bei seinem Erscheinen von der Kritik begeistert aufgenommen. Es zeigt Leonard Cohens Qualitäten als Lyriker und seinen ganzheitlichen Ansatz im Songwriting, die in der Band Passenger, die ihn auf der Tour begleitete, einen kongenialen musikalischen Widerpart fand. Selbst neben den beiden Ausnahmesängerinnen Jennifer Warnes und Sharon Robinson, die ihn genau wie die Band für längere Zeit begleiten sollten, sticht Cohens gesangliches Talent heraus. Seine Stimme ist durchgehend warm und stark, und unverkennbar idiosynkratisch. Sein einziger Top-Ten-Hit in den Deutschen Single-Charts, drängt sich Lover, Lover, Lover auch auf dem Album in den Vordergrund. Die beiden Oud-Solos von John Bilezikijan, die den Song auf 6:31 Min. ausdehnen, spielen perfekt in diese ironische Parabel auf das Leben hinein, die Cohen mit seiner geschichtsträchtigen Stimme ausbreitet.
Die Aufzugkabine stoppte mit einem Ruck im Erdgeschoss und er trat aus dem Aufzug, durch die kleine Lobby des Ateliergebäudes, in dessen oberem Stockwerk sich verschiedene Kreative den über das ganze Stockwerk gehenden Raum teilten. Die Lobby, wenn man es so nennen will, war mehr eine Art nicht-Ort, den jeder passieren musste, der in das Gebäude wollte, wie um zu testen, ob man wirklich willens war, dahin zu gelangen, wohin man wollte, oder um die Leute zu verwirren, wenn sie eintraten, sodass man immer schon einen Vorteil gegenüber ihnen hatte, weil man selbst nicht verwirrt war. Die Tür fiel hinter ihm zu, gerade als Leonhard Cohens Stimme seinen Vater anrief: Father, change my name! Er bewegte die Lippen zum Text als er die Strasse entlang Richtung Bushaltestelle ging.
Weil Freitag war, verflog der übliche Stress, das Gefühl jetzt schnell raus zu müssen aus dem Büro, hinein ins Leben, nach Hause oder irgendwohin, irgendetwas zu machen, bevor man wieder sich schlafen legen muss um am Morgen wieder aufzustehen, viel schneller, weil man das Gefühl hatte, man habe unendlich viel Zeit, diese Freitag Nacht überhaupt erst zu beginnen, dachte er. Er bog an der Hausecke ab und überquerte wie gewohnt die Strasse obwohl er ein Auto von links kommen sah, schnell, aber es bremste, ebenso schnell, abrupt ab, er gab vor es nicht zu beachten, kam aber nicht umhin das französische Kennzeichen zu bemerken. Ah, ein Franzose, dachte er und gleich darauf, ob Franzosen rücksichtsloser fahren würden; seine persönlichen empirischen Erfahrungen zeigen (aufgrund der Stichprobengrösse ohne statistische Relevanz): eigentlich nichts.
Sein Blick fiel beim Überqueren der Strasse auf seine braunen Chelsea-Boots und er erinnerte sich, dass er sie in Mantua gekauft hatte, in einem random Schuhladen, weil er zweimal daran vorbei gelaufen war und sie auch beim zweiten Mal noch geil fand. Er hatte seiner Begleitung nach dem ersten Mal noch erläutert, dass er Chelsea-Boots eigentlich ja nicht so gut fand, irgendwie, aber dass diese da, diese besonderen hier, gut wären. Als sie zwei Tage danach nochmals vorbei liefen hatte er sie probiert, in schwarz
und braun, und die braunen genommen. Ziemlich nice, dachte er, die Schuhe, immer noch. Dann fiel sein Blick daran vorbei auf den Zebrastreifen unter ihnen … Lover, lover, lover, lover, lover come back to me … er bewunderte die schaumige Dicke der auf den Asphalt aufgebrachten Farbe, die aussah wie Zahnpasta, oder vielleicht eher wie Baiser, kleine Baiser-Spuren auf dem Asphalt, aber sie waren hart und unverwüstlich. Eigenartig, wie die banalen Dinge ihre alltägliche Schönheit entfalten können, wenn man sie nur aktiv betrachtet, dachte er, wie der schwarze neue Asphalt, der wie zur
Gestaltung des freien Raumes auf dem Boden ausgelegt wirkte. Wie Sichtbeton in neuen Wohnblöcken oder Holzdecken in besonders urig wirken wollenden Bars, diese krude Wärme und Echtheit, die Ehrlichkeit des Materials. Materialgerechtigkeit. Das Wort spukte kurz durch seinen Kopf, dann trat er auf den Bürgersteig und drehte nach rechts ab. Er überlegte, ob er noch etwas zu trinken kaufen sollte und was, bejahte die erste Frage und betrat zur Entscheidungsfindung den Supermarkt neben der Bushaltestelle. Er kaufte einen Sechserpack ungefiltertes Bio-Bier, bernsteinfarben, etwas herb und einen
Prosecco Conegliano Valdobbiadene DOCG, Hand Cooked Sea Salt & Cider Vinegar
Chips von Tyrells, Mozzarella di Bufala Campana, Rucola und Eisbergsalat, Datteltomaten und ein Rustico-Baguette. Dann stieg er in den Bus nach Hause. Die Anzeigetafel der nächsten Haltestellen war ausgefallen, das heisst, nicht unbedingt, aber sie zeigte nur ein offensichtlich fehldesigntes Signet mit irgendeiner URL. Gehackt, dachte er und versuchte diese Lustigkeit des Alltags mit seinem Smartphone einzufangen und zu twittern, aber es funktionierte mangels besserer Lichtverhältnisse nicht. Das Signet war nicht zu erkennen, lediglich leuchtende Bildschirme und triste Personen.
Für einen Moment fragte er sich warum nicht alle Menschen im Bus glücklich waren und dieselbe Vorfreude auf das Wochenende zeigten wie er. Ob sie alle arbeiten mussten? Beispielsweise der ältere Mann mit dem schwarzen Parka, den schwarzen Anzughosen und Budapester Lederschuhen. Er sah nicht so aus, also würde er jetzt zwei Tage entspannter Freizeit verbringen können, aber auch nicht so als würde er am Wochenende arbeiten. Wobei, wie sollte man das auch erkennen? Vielleicht arbeitete er selbst als Busfahrer und hatte Wochenend-Dienst. Vielleicht so gar noch nachts. Kein Grund zur Freude. Vielleicht auch nicht. Der Mann blickte finster aus dem hohen, mit Kunstpelz besetztem Kragen seines Parkas – es war so ein Kunstpelz, der nicht wirklich versuchte, wie ein Pelz auszusehen, vielmehr war er von der Art Baumwolle, die die Wärmehaltende Qualität von Lammfell zu imitieren sucht. Er verzog keine Miene, schien ins Leere zu sehen, vielleicht dachte er an seine Nachtfahrschicht. Wenigstens las er keine dieser abscheulichen Gratiszeitungen. Genauso gut könnte er aber auch nicht arbeiten müssen. Würde er dann zuhause eine andere Zeitung lesen, Sonntagmorgen, beim Frühstück? Oder heute Abend ein Buch. Welches wohl? Er sah, wenn überhaupt Leser, eher nach dem Typ Robert-Ludlum-Leser aus. Oder Dan Brown. Vielleicht auch Ken Follett, oder was auch immer nach einem der ersten beiden beim nächsten Besuch von amazon.de vorgeschlagen wurde. Kunden, die „Die Säulen der Erde“ gekauft haben, kauften auch „Die Pfeiler der Macht“ und „Die Brücken der Freiheit“.
Es kam ihm plötzlich unglaublich vor, dass all diese Menschen um ihn herum, die ganze Stadt, dass sie alle ein eigenes Leben führen sollten. Ein Leben, so wie seines, mit Beruf, Freunden, Freundinnen, Familie, Vorlieben, Geschmäckern und Angewohnheiten; dass auch sie Krisen durchleben und sich verlieben und abgewiesen werden oder nicht und erkennen müssen, dass— Gibt es überhaupt Platz für so viele Leben auf der Welt? Wo sollten sie alle hin mit ihren Geschichten? Wie könnten sie alle nicht nur ein Zuhause haben – dies schien vorstellbar, mit all diesen identitätslosen Vororten, diesen Wohnstädten, in denen das Bauensemble mit erschreckender Regelmässigkeit von unmöglichen 70er-Jahre Plattenbauten und „modernen“ Gebäuden aus einer Zeit, wo Modernität Missachtung jeglicher ästhetischer Grundsätze hiess, durchbrochen wurde – sondern auch noch einkaufen gehen, Kaffee trinken, sich treffen, Essen gehen, arbeiten und einkaufen? (Obwohl, das wiederum schon, dachte er, und dachte an das Warten im Supermarkt, weil immer gerade dann, wenn er einkaufen ging, auch alle die gingen, die eigentlich den ganzen Tag Zeit hätten, das zu tun: Eltern in Karenz, Pensionisten und Senioren, und das deswegen eigentlich dann machen sollten, wenn sonst keiner, also
keiner der arbeitenden Gesellschaft, einkaufen geht, also nicht vor zehn am Morgen und nicht nach fünf am Nachmittag.) Aber sie schienen ja ohnehin alle nur Statisten zu sein, ausser die beiden Teenager, die eben eingestiegen waren und offenbar übermütig dem Abend entgegen fieberten und mit je einem Alkopop in der Hand sich lautstark über Nichtigkeiten unterhielten, ihre Smartphones dabei bedienend. Wenigstens jemand lebt noch. Eine klamme Vorstellung, in einer Welt aus Statisten zu leben, so als ob alle die, die er nicht kannte, oder die nicht ihr offensichtliches Leben zur Schau stellten, nur hier wären, damit der Bus nicht zu leer ist. Damit der Schein einer für sich selbst und aus sich selbst funktionierenden und weiter existierenden Welt erhalten bleibt.
Das Wort „Bauensemble“ war in seinem Kopf hängen geblieben. Interessantes Wort: Nicht nur zeugte ein Kommentar über das Bauensemble von Achtsamkeit und konnte die Blicke jener, die mit dessen Erwähnung beglückt wurden, auf das bisher unbeachtete Bauensemble lenken. Es betonte auch das eigene Verständnis von dem, worüber man sprach. Wer „Bauensemble“ sagte, der würde auch bald „unmögliche 70er-Jahre Plattenbauten“ sagen. Plattenbauten alleine geht nämlich leicht verloren, sticht nicht heraus, wobei jener, der auf sie hinweist immerhin beweist, dass er welche erkennt, wenn er sie sieht, „unmögliche“ zeugt von ästhetischer Urteilskraft, aber das Hinzufügen einer zeitlichen Eingrenzung (was immer sie dann wirklich aussagen mag – wer kann schon Plattenbauten der 70er von jenen der 80er unterscheiden?) verleiht der Aussage den Anschein einer gewissen Kennerschaft, man kann eben doch unterscheiden zwischen diesen oder jenen Plattenbauten und man weiss, welche unmöglich sind und welche nicht.
Ausserdem erinnerte ihn das Wort „Bauensemble“ an jemanden. Sie hatte es ebenfalls gerne benutzt, wobei er in ihren Bemerkungen zum Bauensemble beim ersten Mal durchaus noch so etwas wie Kennerschaft zu erblicken dachte, später aber bemerken musste dass auch ihr wohl einfach das Wort gefiel. Er dachte an ihren Körper. Die nicht unbedingt grossen, aber etwas grösser als kleinen Brüste, ihre etwas breiter als schlanken Hüften. Wenn er an ihren Körper dachte, dachte er natürlich an ihren nackten Körper. Und an die letzte Nacht, die sie zusammen verbrachten und die, nach einigen Jahren und vielen Malen gedanklich Revue passieren lassen in seiner Erinnerung immer deutlicher, immer besser und wohl auch immer weiter entfernt von der Realität erschien. Er verbuchte den Sex, an den er dachte, wenn er an diese Nacht dachte, unter welchen ihrer beider besten, wenn nicht als den besten. Zurückdenkend fand er vielleicht ein anderes Mal Sex haben mit ihr, dass gleich gut gewesen sein könnte, aber weiter zurück lag und weniger oft in seinem Gedächtnis wieder erlebt wurde. Er spürte, wie er erregt wurde und sah plötzlich, dass der Bus schon eine Haltestelle nach der seinen war. Er sprang von seinem Sitz hoch und stürmte aus der Tür des Busses. Wäre er nicht in der Euphorie des Feierabends, seine Laune würde sich, zumindest kurzfristig, merklich verschlechtern, da er das – überhaupt nicht den Tatsachen entsprechende, die Fahrtzeit von seiner Haltestelle zur nächsten beträgt circa eine Minute und seine Wohnung liegt ohnehin zwischen beiden – Gefühl hätte, schon wieder viel von seiner kostbaren Zeit vergeudet zu haben. Nun aber, mit soviel Zeit, wie er wollte, kein Problem. Easy. Er kaufte kurzfristig noch ein Samosa an dem Späti neben der Haltestelle, unaufgewärmt, bevor er nach Hause ging.

zwei
Er sass an seinem Schreibtisch, streamte einen Mix von Klangkarussell über Soundcloud auf seine voll aufgedrehte Stereoanlage und googlete „Plattenbau“. Der Wikipedia-Artikel gab nicht viel her, was auf einen speziellen stilistischen Unterschied zwischen 70er und 80er-Jahre Plattenbauten schliessen liess und so schloss er das Browsertab mit dem vagen Plan das nächste Mal wenn er in Berlin sei, das Corbusier-Haus zu besuchen.
Er stand vom Schreibtisch auf, trank einen Schluck Bier und drehte die Stereoanlage etwas leiser. Dann tanzte er langsam zurück zum Schreibtisch, nahm einen Bissen von seinem Sandwich und überlegte was er anziehen sollte. Er hatte sich geduscht, ein Sandwich gemacht und ein Bier auf. Sein Mitbewohner war nach ihm Heim gekommen und stand gerade unter der Dusche. Er überlegte kurz, sah sich um und konstatierte, dass sein Mitbewohner sein Bier mit in die Dusche genommen haben musste, dann glitten seine Gedanken wieder zu seinem Kleiderschrank zurück. Oder besser zu dem weissen Expedit, in das er seine Kleider gelegt oder geworfen hatte. Whatever, dachte er, nahm eine schwarze Riot Pants und wollte sie anziehen, hielt jedoch inne, legte sie über seinen Schreibtischstuhl, zog eine der Kisten aus dem Regal und nahm ein paar schwarze Socken heraus. Wichtiges Gebot: Die Socken immer vor der Hose anziehen, sonst kann man sie nicht ordentlich hochziehen, weil die Hose ja so eng ist. Slim fit und so.
In diesem Moment legen Klangkarussell den Remix von Wir werden sehen auf, er läuft zur Stereoanlage und dreht wieder voll auf, sein Mitbewohner kommt, sein Bier in der Hand, aus der Dusche und in sein Zimmer, lässt einen Jubelschrei fahren und hebt die zweite Hand zum High Five, er schlägt ein, erwidert das Jubelgeschrei und sie beide tanzen, sich im Kreis drehend, hüpfend und ihre Hände schwingend in Boxershorts (er auch mit Socken) durch das Zimmer.
Das Lied hatte aufgehört, sein Mitbewohner war in sein Zimmer gegangen und er hatte sich die Hose angezogen, dazu ein einfaches, weisses T-Shirt mit einem dezenten Label rechts über dem unterem Saum auf seinem Rücken, und sein Sandwich aufgegessen. Während er überlegte, ob er noch ein Sandwich essen sollte, kam sein Mitbewohner wieder, mit der Prosecco-Flasche in der Hand, die er offenbar im Tiefkühler entdeckt hatte und fragte, ob sie die Korken knallen lassen sollten. Klar sollten sie.
Er hörte den Korken knallen und als er in die Küche kam lehnte sein Mitbewohner am Fensterbrett vor dem geöffneten Fenster. Er hatte das rechte Bein angewinkelt und seine Sektflöte darauf abgestellt, die nun so schräg stand, dass gerade nichts herauslief, seine Hand lag auf seinem Oberschenkel und er hielt mit zwei Fingern das Glas auf seiner Position. In der anderen Hand hielt er eine Zigarette, an der er gerade gezogen hatte und während er den Rauch ausatmete bedeutete er ihm mit der Zigarettenhand wo das andere Glas stand. Seine nassen Haare hingen wirr in Strähnen herab und von Zeit zu Zeit schüttelte er sie so gekonnt aus dem Gesicht, dass sie mit Sicherheit wieder zurück fielen. Er war noch barfuss, hatte eine weinrote, enge Chinohose an, die er unten zweimal umgeschlagen hatte. Dazu ein graues T-Shirt mit weitem Ausschnitt und ein dunkelgraues, offenes Cardigan. Obwohl er selbst so ein Cardigan nicht anziehen würde, dachte er, sah es an seinem Mitbewohner doch ganz gut aus. Es passte zu dem T-Shirt darunter, das aus dünner, leicht strukturierter Baumwolle bestand und ohne eine wirkliche eigene Form an ihm herunter hing. Es war das prototypische 5-Euro-H&M-TShirt, das er aber bewusst als solches trug, anstatt seine Herkunft zu verschleiern, und damit beitrug zu dem im Ganzen etwas nachlässigen Kleidungsstil. Bewusst nachlässig aber, Nachlässigkeit als Statement. Das Cardigan nicht zugeknöpft, einfach herunter hängend. Das T-Shirt gerade angezogen, einfach übergestreift, nicht mal Anstalten gemacht, es zu glätten oder in Position zu zupfen. Aber die Hose unten zweimal umgeschlagen um sie dann – antizipierte er – gerade soweit über den Schuhen zu halten, dass man die nackte Haut noch hervor scheinen sehen würde. Oder die Socken. Wahrscheinlich aber die nackte Haut, denn, so folgerte er, sein Mitbewohner würde, wenn, dann Söcklinge anziehen, so kurz, dass sie in den Schuhen verschwinden würden.
Als er fertig geraucht hatte, stiessen sie an und sein Mitbewohner sagte: „Mann, ich muss mir was anderes anziehen, diese beschissenen H&M-Cardigans haben genau überhaupt keine Form.“

drei
Der Club war noch relativ leer als sie ankamen. Auf dem dancefloor standen verteilt die wenigen Leute, die bereits da waren, nippten an ihren Getränken und wippten im Takt zur Musik. Der DJ stand noch etwas unmotiviert hinter den Turntables, vielleicht, dachte er, fand er es aber auch gut, vielleicht konnte er so mal was Neues ausprobieren, ein paar neue Übergänge, Tricks und Tracks. Er freute sich über die Alliteration; die Musik war wie immer laut und die Anlage wie erwartet gut. Generell war gute Stimmung, obwohl noch nichts los war. Der Club war schwach beleuchtet, hauptsächlich schienen es die zahlreichen moving heads zu sein, die mit einem klaren Schwerpunkt auf blau bunte Lichtkegel durch den Club schweifen liessen. Lichtpunkte eigentlich, da der Club noch nicht total verraucht war. Man durfte ja auf dem dancefloor „nicht rauchen“. Er dachte die Anführungszeichen mit, denn er wusste, dass spätestens sobald sich der Club wenigstens halbwegs gefüllt hätte, die ersten Leute auch hier zu rauchen beginnen würden und spätestens wenn es richtig los ging auch die ohnehin nicht auf Raucherfang erpichten Türsteher auf das Rauchverbot scheissen würden. Er liess seinen Blick nochmals umherschweifen und stellte fest, dass es tatsächlich nur die moving heads waren, die den Raum erhellten. Zumindest konnte er keine andere Lichtquelle erkennen, liess es dann aber auch dabei bewenden. Sie gingen an die Bar und bestellten Drinks. Der Weg war erstaunlich leicht, durch die lose stehenden Leute hindurch, kurz warten an der Bar, bestellen. Gin Tonic. Sie blieben kurz in dem anderen Raum, wo die Bar war und man rauchen durfte und redeten über die crowd. Besser als beim letzten Mal. Aber auch noch nicht so viele Leute. Sein Mitbewohner schlug vor, noch was Kiffen zu gehen. Alle waren einverstanden.

vier
Als sie zum Club zurückkamen hatte sich bereits eine Schlange vor dem Eingang
gebildet, die sie aber mit ihren bereits erhaltenen Stempeln easy passieren durften. Drinnen war es rappelvoll. Sie mussten länger weg gewesen sein als gedacht und drängten sich zur Garderobe durch, denn es würde heiss werden im Club. Vor der Garderobe war einen unendlich lange Schlange. Mit entnervtem Blick stellten sie sich an. Eigentlich war es eher eine Traube, die sich vor dem Eingang zur Garderobe gebildet hatte. Der Garderobier war offensichtlich unfähig, denn es ging gefühlt überhaupt nicht voran. Was machte der Typ? Neben dem Garderobeneingang lehnte ein anderer Typ, gestikulierte ungestüm mit den Händen und spreizte dabei die Finger wie auf einem Schiele-Selbstportrait und rollte mit den Augen so als ob er in nächster Zeit das Bewusstsein verlieren würde. Völlig verstrahlt, dachte er. Er sah sich um. Der Club war relativ abgefuckt aber es waren die unterschiedlichsten Leute hier. Endlich mal ein Club, stellte er fest, wo nicht drei Viertel Männer sind und sagte es seinem Mitbewohner. „Schade“, sagte der grinsend. Er lachte. „Saw something you like?“ Er liess den Blick noch einmal schweifen und sagte: „What the fuck macht der Typ? Das dauert ja unendlich lange!“ Der gestikulierende Mensch neben dem Garderobeneingang zog wieder seinen Blick auf sich. Er hatte einen schwarzen engen Pullover an, mit so vertikalen Strickreihen und einem grauen Aufdruck, der vielleicht schon teilweise abgegangen, vielleicht aber auch von vorne herein als misslungener Ausdruck erscheinen sollte. Er hatte einen Stehkragen! Dazu trug er eine Bluejeans im used-look; das heisst eine Jeans, die furchtbar langweilig gerade geschnitten war und noch dazu irgendwelche Risse oder Löcher hatte und Turnschuhe. Er versuchte sich vorzustellen, was sich dieser Mensch wohl gedacht hatte, als er sich heute Abend ankleidete und ihm wollte partout kein Grund für das Styling einfallen. Wahrscheinlich, schloss er, hatte er sich gar nichts gedacht. Wahrscheinlich zog er Kleider an, damit ihm nicht kalt würde oder einfach, damit es nicht so komisch aussah, wenn er nackt im Club war. Er wurde aus seinen Überlegungen gerissen, weil ihm Sarah auf die Schulter klopfte. „Mann, er hat keine Kleiderbügel mehr!“ Er verstand nicht, „Wer? – Der Garderobentyp, er hat keine Kleiderbügel mehr. Deshalb geht es so langsam. Er wartet immer, bis jemand seine Jacke holt, dann hängt er erst wieder eine auf. – Nein!? – Doch, ich hab’s ja grade gesehen. – Shit!“ Er zog das i mindestens auf die dreifache Länge des normalen hinaus, sodass es eher ein „Shiiit!“ war. Eine sprachliche Idiosynkrasie, die er ganz bewusst verwendete. Er hatte allerdings nicht ganz verstanden, was sie gesagt hatte, sondern lediglich erkannt, dass das, was sie ihm mitteilte, eine signifikante Verzögerung der Garderoben-Abgabe bedeuten wurde und fand daher seine Reaktion in jedem Falle angemessen. Die Nachricht schien mittlerweile die Runde gemacht zu haben und dem Garderobier wurden von der wartenden Menge wohlwollende Lösungsvorschläge zugetragen. Sarah fragte ihn, ob er noch Garderobenmarken habe und als er bejahte, dass er doch die Jacken auf den Boden schmeissen sollte, ihnen wäre das „eh wurscht“. Der Garderobier aber, von Pflichtbewusstsein getrieben, meinte, das wolle er nicht. „Was? Er wartet immer bis wer seine Jacke abholt, bis er wieder eine aufhängt? Das dauert ja noch ewig!“ Sarah lachte lauthals und legte ihm die Hand auf die Schulter. „Das habe ich doch gerade gesagt!“ Sie lachte weiter. „Ach so, nein, das habe ich nicht gecheckt.“ Sie fuhr ihm durch die Haare. „Es ist aber auf jeden Fall schlimm!“, sagte er. Nach einer gefühlten Ewigkeit waren sie endlich an der Garderobentheke angekommen und warteten, dass irgendjemand seine Jacke würde abholen kommen, damit sie die ihren abgeben konnten. Die Stimmung war etwas gedämpft und sie hatten nicht einmal mehr Lust, mit dem Garderobier zu diskutieren, damit er doch ihre Jacke nehme und auf den Boden werfe, da sie schon von anderen gesehen hatten, dass es sinnlos wäre.
Nachdem sie ihre Jacken endlich abgegeben hatten waren sie sich einig, dass sie einen Drink brauchen würden. Er sah die Zeit gekommen, auf Bier umzusteigen und bestellte ein grosses. Dann gingen sie dancen. Die Stimmung stieg. Es war auch auf dem Dancefloor rappelvoll und man konnte sich kaum bewegen, aber der DJ hatte gewechselt und die Musik war jetzt geil. Er gab Sarah sein Bier und versuchte sich eine Zigarette zu drehen. Er fischte Papers, Tabak und Filter aus seiner hinteren Hosentasche, klemmte den Tabak mit den Papers unter seinen Arm, entnahm eine Filterstange aus der Box, knickte sie, sodass die Filter an den Enden der Plastikumhüllung heraus standen und steckte einen in den Mund und die restliche Stange wieder in die Box zurück. Filter erledigt, dachte er und verstaute die Box indem er sie in seine Hosentasche steckte. Papers. Er wickelte den Gummizug der Paperbox, den er um die Tabakpackung gewickelt und so nicht nur diese zusammengehalten, sondern auch die Papers am Tabak festgemacht hatte, vom Tabak ab, hielt die Tabakpackung mit der rechten Hand und entnahm mit der Linken ein Paper aus der blauen OCB doppel-Paper-Packung, die er am Späti um die Ecke, wo es auch die Samosa gab, gekauft hatte; dann wickelte er den Gummi um die Box und steckte sie zurück in die Hosentasche. Das Paper war merkwürdig gefaltet und er betrachtete es genauer um festzustellen, wo der Klebestreifen war, was in dem spärlichen Licht des Clubs nicht unbedingt einfach war. Er klemmte die geöffnete Tabakpackung mit dem überstehenden Ende der Verschlusslasche zwischen den kleinen und den Ringfinder der rechten Hand und faltete das Paper in die Gegenrichtung, da er erkannte, dass der Klebestreifen aussen war, dann legte er seinen linken Zeigefinger in den Falz und hielt es mit Daumen und Mittelfinger der linken Hand so fest, dass es eine schöne Kuhle für den Tabak bildete. Dann nahm er die Tabakpackung in die andere Hand – wieder zwischen kleinen und Ringfinger, mit den ersten drei Fingern hielt er noch das Paper – und entnahm mit der rechten Hand eine Prise Tabak. Der Tabak war noch relativ frisch, was zur Folge hatte, dass noch ein ganzer Klumpen Tabak daran hing, den er nun versuchte mit dem Mittel- und Ringfinger der
rechten Hand von der Prise zu trennen, die er zwischen Daumen und Zeigefinger
derselben Hand fasste, während seine andere Hand weiterhin das Paper bereithielt. Nach einigem herumfisteln schaffte er es eine – wenngleich nicht ideale, so doch zumindest drehbare – Menge Tabak aus der Packung zu sondieren und legte den Tabak in das Paper. In diesem Moment kam ein etwas heftigerer Stoss von hinten als die üblichen. Durch den Stoss verfehlte der beinahe fallengelassene Tabak das Paper, das heisst, er touchierte es am seinem Körper abgewandten Ende, war aber für die Stabilität des Papers zu schwer, es knickte und der Tabak drohte auf den Boden zu fallen. Der Tabak glitt über die Finger der linken Hand und er versuchte mit Schrecken den Tabak mit der Rechten noch zu fassen zu bekommen, gleichzeitig darauf bedacht, keine zu ruckartige Bewegung damit zu machen, um keinen Tabak aus der Packung zu verlieren; doch vergeblich. Der Tabak fiel in das Gewühl der Beine und Füsse und verschwand unter tausenden von tanzenden Schuhen. Once again. Er nahm wiederum die Tabakpackung in die linke Hand und fistelte mit der rechten eine Portion Tabak heraus, die sich diesmal merklich leichter lösen liess, aber auch etwas mehr war als die vorherige. Er wechselte die Tabak-halte-Hand, legte den Tabak schnell in das Paper und verteilte ihn gleichmässig mit den Zeigefingern beider Hände. Dann zupfte er noch etwas Tabak aus dem präparierten Haufen im Paper und legte ihn in die Packung zurück; er nahm den Filter aus dem Mund und legte ihn in das rechte Ende des Falzes im Paper. Er liess den Filter immer etwas überstehen, damit er ihn dann, nachdem er den Tabak schon etwas eingerollt hatte, hineinschieben konnte und so den Tabak vor dem Filter – eine besonders kritische Stelle, hatte doch zu leichtes Eindrehen des Filters dessen herausfallen oder hineinrutschen oder gar das Abbrechen der Zigarette vor dem Filter zur Folge – noch etwas zu verdichten, bevor er die Zigarette fertig machte. Anschliessend legte er die beiden Längskanten des Papers zusammen und rollte den Tabak darin zwischen seinen Daumen und Zeigefingern zu einer leicht verdichteten Tabakrolle. Fast fertig. Er wollte die Zigarette abschliessen, musste jedoch beim Eindrehen des Papers erkennen, dass er einen fatalen Fehler begangen hatte, als er das Paper gegen die vorgefaltete Richtung gefaltet hatte, da der Klebestreifen nun aussen war und er die Zigarette nicht zusammen kleben konnte. Warum zur Hölle habe ich das Paper umgefaltet?, dachte er, da es doch keinen Grund gab anzunehmen, es wäre falsch gefaltet aus der Packung gekommen. Er beschloss ein gewagtes Rettungsmanöver und drehte die not-so-soon-to-be-Zigarette um hundertachtzig Grad, sodass der Filter nun nach links zeigte. Er versuchte die Seite des Papers mit dem Klebestreifen einzurollen und das Paper zu verkleben indem er das darüber zu liegen gekommene andere Ende des Papers von aussen ableckte, sodass die Nässe bis auf den darunter liegenden Klebestreifen käme und nach dem Trocknen die Zigarette verkleben sollte. inside-out. Das Vorhaben war von vorne herein zum Scheitern verurteilt, da er es nicht einmal schaffte, den Klebestreifen ordentlich in die Zigarette zu drehen, trotzdem versuchte er noch irgendetwas rauchbares zu fabrizieren und lecke das Paper ab, aber vergeblich. Er musste einsehen, dass es noch einen Versuch brauchen würde um endlich die ersehnte Zigarette zu erhalten.
Er hatte in seiner Konzentration mittlerweile die Umgebung komplett ausgeblendet, sein Körper wippte nur noch leicht und wie automatisch im Takt der Musik, die er schon gar nicht mehr bewusst wahrnahm. Sein Blick war auf die im Entstehen begriffene Zigarette gerichtet die wie in einem Schacht von vibrierenden Körpern umgeben war, der sein Sichtfeld mehr oder weniger auf seine Anstrengungen beschränkte. Es war eine merkwürdige Art der Konzentrationsfähigkeit, schoss es ihm in einer selbstreflektiven Gedankenwelle durch den Kopf, die sich durch das Gras einstellte und die es einem erlaubte, sich voll der Durchführung einer Tätigkeit zu widmen, wenngleich deren Ausführung dabei trotzdem – clumsy, ihm fiel kein anderes Wort dafür ein als clumsy, vor allem aber fiel ihm kein deutsches Wort für clumsy ein; obwohl er doch genau wusste, was es bedeutete, schien ihm jede Übersetzung um eine Nuance daneben, schien eine andere Konnotation zu haben und irgendwie zu viel oder zu wenig zu sein für was er eben sagen wollte. Eine Erfahrung die wieder einmal sehr deutlich zeigte, dachte er, dass der grosse Benefit des Erlernens von Sprachen nicht bloss der ist, die Zahl seiner potentiellen Gesprächspartner in der Welt zu vermehren, sondern vielmehr seinen begrifflichen Horizont zu erweitern und damit auch – schenkt man der von Benjamin Lee Whorf unter Bezugnahme auf Eduard Sapir entworfenen Sapir-Whorf-Hypothese Glauben – seine Wahrnehmung der Welt zu verfeinern; das heisst, mit Wittgenstein, die Grenzen seiner Welt zu erweitern. Wenngleich er also nicht müde wurde, die von dem Ethnologen und Sprachwissenschaftler Franz Boas in die Welt gesetzte Mär, die Eskimos (welche überhaupt?) hätten hundert (oder wie viele auch immer) Wörter für Schnee, in populären Küchenphilosophien als eine solche Mär zu entlarven, so ist es doch klar, dass es diesen Eskimos, die in ihrer Sprache, wenngleich auch nicht kraft multipler Lexeme, sondern via multipler Affigierung – sodass, aufgrund der polysynthetischen Natur der Eskimosprachen, das, was im Deutschen beispielsweise durch phrasale Konstruktionen ausgedrückt wird, in Eskimosprachen als ein Wort erscheint – zwischen sehr vielen Arten von Schnee differenzieren, dadurch auch erst möglich ist, diese verschiedenen Arten von Schnee zu erkennen, was in ihrer Lebenswelt offenbar von erhöhter Wichtigkeit sein musste. Nach dieser Erkenntnis davon auszugehen, die Wörter – oder synthetischen Wortkombinationen – hätten vor dem Erkennen des Schnees bereits bestanden hiesse allerdings, erkannte er aufgeregt, derselben irrtümlichen Vorstellung zu erliegen, die Platon glauben liess alle Dinge in der Welt würden immer schon als ihre Prototypen – Ideen – in einer übergeordneten Ideenwelt bestehen, bevor sie überhaupt als je individuelle Manifestationen auf unserer, der Welt der Dinge, entstehen konnten. Eine gleichsam wahnsinnige Vorstellung. Er wollte den überaus interessanten Platonischen
Gedankengang gerade weiter ausbauen, da wurde er von der immer noch vor seinen
Augen liegenden Katastrophe einer Zigarette in die Realität zurückgerufen. Irgendein unausgeführter Gedankengang baumelte wie das lose Ende eines Seils in seinem Kopf aber es gelang ihm nicht, ihn zu fassen. Er fragte sich, was das gewesen war, versuchte seine Gedankengänge noch einmal aufzurufen, die Assoziationskette noch einmal zu durchlaufen, musste aber erkennen, dass es aussichtslos war und widmete sich wieder der
Fabrikation seiner Zigarette.
Die kläglichen Trümmer derselben lagen auf der Handfläche seiner linken Hand und er
versuchte nun mit der rechten in die linke hintere Hosentasche zu langen um die Papers herauszuziehen. Die sehr ungelenk aussehende Bewegung wurde im Club zwar durch die Menge verdeckt, trotzdem musste sein Versuch für die hinter ihm Stehenden einen recht komischen Eindruck machen, dachte er, aber versuchte sich darauf zu konzentrieren, mit Zeige- und Ringfinger die Papers-Packung einzuklemmen und sie aus der Hosentasche zu ziehen. Mit aller Anstrengung schaffte er es und begann nun mit einer Hand die Packung zu öffnen. Während er mit Daumen- und Ringfinger die Packung hielt versuchte er mit dem Zeigefinder das Gummiband abzustreifen, aber es schnellte immer wieder zurück, da er es nicht schaffte, mit seinem Zeigefinger unter das Band zu schlüpfen, damit er es über die Kanten der Packung heben könnte. Nach mehrmaligen Versuchen gab er auf und half mit der linken Hand mit, auf deren Handfläche immer noch die Reste des ersten Versuches lagen, den er nun leicht mit der Hand umschloss um ihn vor dem Hinunterfallen zu bewahren. Er löste das Gummiband mit der rechten, während er die Packung in die linke Hand klemmte und entnahm so auch gleich ein weiteres Paper, stülpte das Gummiband wieder über und steckte die Packung in die vordere rechte Hosentasche um sich weitere Verrenkungen zu ersparen und das Paper, das er noch immer in derselben Hand hielt, vor dem verknittern zu bewahren. Dann faltete er das Paper in der Linken auseinander, sodass der Tabak offen da lag und betrachtete das neue Paper in der Rechten. Er versuchte sich dreidimensional vorzustellen, wie er die Konstruktion rotieren musste und wo also der Klebestreifen landen sollte um diesmal nichts falsch zu machen. Er legte das Paper mit dem Klebestreifen auf der von ihm entfernte Seite nach unten auf das andere Paper mitsamt Tabak und Filter und dann seine rechte, flache Hand auf die linke und versuchte nun, seine Hände um hundertachtzig Grad zu drehen. Er konnte es nicht. Seine Hände schienen sich dagegen zu wehren, er konnte sie nur etwa hundertfünfunddreissig Grad drehen, dann hatte er seinen linken Ellenbogen hoch in die Luft gestreckt und sein linkes Handgelenk bis zum Anschlag verdreht und stand an. Das Problem war, dass er seine Hände im rechten Winkel aufeinander gelegt hatte und nun entweder seine rechte Hand zur rechten Schulter wanderte, mit der Handfläche nach oben, aber etwas überdehnt, sodass beim Loslassen der Tabak samt Paper wohl ungewollt von seiner Hand fortgeschleudert würde. Er versuchte die Drehung mit dem linken Schultergelenk auszugleichen indem er den Ellenbogen hob und rechte Hand vor seinem Körper in die Waagrechte zu bringen und stand dann aber nach etwa hundertfünfunddreissig Grad an und konnte nicht mehr weiter. Nun wurde ihm trotz des Fokus auf seine Dreherei bewusst, dass diese grobmotorisch-zuckenden Bewegungen nun wirklich ziemlich strange aussehen mussten und drehte deshalb seine Hände zurück und sah sich kurz paranoid um aber es schien keiner bemerkt zu haben, dachte er und blickte wieder auf seine noch immer wie aneinander klebenden Hände. Er hatte das Problem erkannt und hob seine rechte Hand um sie genau deckungsgleich auf die andere zu legen doch das Paper blieb an seiner Hand haften und er musste es mit den Zeigefingern der linken Hand abnehmen und mit der rechten wieder auf den Tabak legen. Er legte nun seine Hand auf die andere und drehte sie ohne Probleme um hundertachtzig Grad. Er nahm die linke Hand ab, das Paper blieb kleben und er zerknitterte es und warf es auf den Boden, drehte das andere Paper mit beiden Händen um den schon geformten Tabak, befeuchtete den Klebestreifen mit der Zunge und klebte die Zigarette zusammen. Puh! Er atmete tief aus und verharrte einen Moment um die Anstrengung abklingen zu lassen, dann steckte er die Zigarette an.
[…]

zweiter teil

Krumm ist der Pfad der Ewigkeit.
(Friedrich Nietzsche)

Um zum Eingang des von Rem Kolhaas entworfenen Gebäudes zu gelangen, muss man
einen hölzernen Steg entlanglaufen, der über die feuchte Wiese führt. Der Pavillon mit sechseckigem Grundriss ist ein Komplex aus sechs kleinen Häusern, die um einen
Innenhof derselben Form gruppiert sind. Die einzelnen Häuser haben ein spitzes Dach
und gestalten sich wie Zelte. Man kommt nicht umhin, die 450-Euro-Heinzlüfter von
Dyson zu bemerken, die das Zelt auf angenehmer Temperatur halten. Die kleinen
Häuser sind je ein einziger Raum und sind durch Tür.ffnungen miteinander verbunden
und durch Vorhänge voneinander getrennt. Der letzte und der erste Raum haben einen
Zugang zum Hof, sodass eine Tour durch den ganzen Komplex zuerst durch alle Räume
und dann durch den Hof wieder zum Eingangsraum führt. Es wird alles getan, den
BesucherInnen den Eintritt in eine andere Sphäre zu vermitteln. Durch den Steg und
dadurch, dass das Gebäude selbst ebenso etwa 50 cm über dem Boden schwebt, wirkt es
der irdischen Welt enthoben. In Vierergruppen darf man nach vorheriger Anmeldung
eintreten und wird zunächst angewiesen, auf einem Hocker Platz zu nehmen. In weisse
Kittel mit dem Signet des Instituts auf der Brust gehüllte MitarbeiterInnen mit
futuristisch aussehenden, silbernen Stiefeln aus Filz erklären einem nun mit freundlicher Stimme, dass man zunächst seinen Willen zur Absolvierung des gesamten Rundgangs und damit zum Verbleib von mindestens zwei Stunden im Institut vertraglich bekunden muss. Ein Abbruch der Prozedur sei nur in Ausnahmefällen möglich. Ebenso würden sämtliche Räume gefilmt, womit man sich ebenso einverstanden erklären müsste, wie mit der eventuellen Veröffentlichung der Aufnahmen durch das Institut. Nachdem man den ominösen Vertrag unterzeichnet hat, muss man seine Taschen leeren und den Inhalt in einer Box verstauen, die in einen der schmalen weissen Kästen, die den Raum säumen, gelegt wird, aus dem jeder nun auch einen Kittel und Schuhe bekommt: Der Übergang aus der Sphäre des Alltäglichen in das Besondere. Von jeglichen Banalitäten des Alltags befreit, begeben sich die TeilnehmerInnen nun in den ersten Raum. Sie finden sich dort vor einem grossen Flachbildschirm an der Wand, vor dem vier Gymnastikmatten wie eine Aufforderung liegen. Der Bildschirm ist schwarz. Der Raum ist so weiss wie der erste, in der Ecke steht auch hier ein Dyson-Heizlüfter der ihn angenehm warm hält. Fast automatisch und ohne ein Wort sucht sich jeder seinen Platz vor einer der Gymnastikmatten, keiner wagt jedoch, sich hin zu legen oder zu setzen.
Der Bildschirm geht an und es erscheint die Gründerin selbst in der Nahe-Einstellung (shoulder close-up). Ihre Haare sind streng zu einem Zopf gebunden und sie trägt ein rotes Kleid. Ihre Augen sehen direkt in die Kamera, als sie zu reden beginnt. Mit eindringlicher Stimme (die im Kontrast zu denen ihrer MitarbeiterInnen noch bestimmter wirkt) erklärt sie kurz den Zweck des Instituts und die Ziele, die es verfolgt. Das Brustbild im Bildschirm erscheint vor weissem Hintergrund und ist in keinem wie auch immer gearteten Raum verortbar. Es ist ortlos und damit wiederum dem Irdischen enthoben: Unweigerlich fühlt man sich an George Orwells Big Brother erinnert und die ganze Ausrichtung auf die Person der Gründerin zusammen mit dem spiritualistischesoterischem Umfeld erscheint etwas befremdlich. (Fußnote 1) Trotzdem blicken alle Anwesenden weiter auf den Bildschirm und nehmen wortlos auf, was geboten wird. Die Enthobenheit des ganzen Komplexes lässt eine seltsame Raumwirkung entstehen, die, ähnlich einer gotischen Kathedrale, die Besucher gleichsam andächtig verstummen lässt und in eine ungewöhnliche Ernsthaftigkeit verfallen, die dem Dargebotenen sonst vielleicht nicht entgegengebracht würde. Auf dem Bildschirm erscheint nun eine andere Frau, diesmal in der Halbtotale, und leitet zu einigen Entspannungs- und Konzentrationsübungen an, die auf die weiteren Erlebnisse vorbereiten sollen. Vor dem Eintritt in den nächsten Raum bekommen die TeilnehmerInnen Ohrhörer und ein Abspielgerät und werden angewiesen, die Ohrhörer einzusetzen und das Abspielgerät in die Brusttasche ihrer Kittel zu stecken und nicht mehr anzufassen. Damit ist die vollendete Einkapselung der Protagonisten erreicht. Kontakt mit den anderen ist nur noch durch Blicke möglich, man ist in seine eigene persönliche Sphäre eingetreten, die beherrscht wird von der theatralischen Stimme der Gründerin.

The Water Chamber
Auf der einen Seite des Raumes steht eine unprätentiöse Bank so ausgerichtet, dass man auf ihr sitzend den Blick auf die auf der anderen Seite des Raumes stehenden vier Wasserspender richten kann. Die Wasserständer sind aus Holz gezimmert, etwa auf Hüfth.he gibt es einen Regalboden auf dem je vier leere Gläser stehen. Darüber befindet sich eine Holzplatte auf der ein grosses Glasgefäss steht, das etwa fünfundzwanzig Liter fasst und vorne einen kleinen Hahn hat, der über die Tischplatte hinausreicht, so dass sich bequem Wasser zapfen lässt. In jedem der vier Gefässe befindet sich ein Stein, der, wie man wenig später von der körperlosen Stimme in den Ohren erfährt, dem Wasser bestimmte Kräfte übertragen soll. Dann bittet die Stimme der Gründerin die vier Personen im Raum über ihre Ohrhörer, Platz zu nehmen und erklärt, welche der Steine welche Wirkung hätten. Danach solle die dem Ausgang nächste Person aufstehen, sagt die Stimme weiter, sich einen Stein aussuchen und ein Glas Wasser aus dem dazugehörigen Behälter zapfen und sich wieder setzen.
Als der Typ, der am Eingang sass das gezapfte Glas Wasser sogleich in grossen Schlucken trank, konnte er eine gewisse Genugtuung nicht unterdrücken. Er kannte die Übung aus einem Vortrag der Gründerin, den er mal auf youtube gesehen hatte, und wusste, dass es eben genau darum ging, langsam zu trinken und die Qualität und den Geschmack des Wassers, ja sogar seine versteckten Wirkungen, wahrzunehmen. Der Typ hatte nicht zugehört, von trinken war nicht die Rede gewesen, aufstehen, einfüllen, hinsetzen. Er war ihm gleich am Anfang aufgefallen, er war offenbar mit seiner Freundin hier und ihm von Anfang an unsympathisch. Er war etwas dicklich, hatte eine Mischung aus Dreitageund Vollbart, eine gerade geschnittene Jeans, ein T-Shirt mit Aufdruck und darüber einen schwarzen Pullover mit einem Reissverschluss vorne, der nur etwa bis zum Brustbein ging. So ein Pullover mit merkwürdig andersfarbigen Rändern entlang des Reissverschlusses und Kragens. Der Reissverschluss solcher Pullover wurde freilich immer leicht geöffnet getragen und hatte in diesem Fall auch noch ein längliches viereckiges Teil mit Kugel am Schluss um den Reissverschlussschlitten zu zu ziehen. Gab es ein Wort für so ein Teil, fragte er sich unwillkürlich, konnte dem Gedanken aber nicht folgen, da ihn seine Abneigung gegen den Typ weiter in Bann zog. Dem Satz folgte eine Pause, wohl um die anderen auch Wasser holen zu lassen und seine Freundin tat es ihm gleich. Als er sie trinken sah, fühlte er einen leichten Stress in sich aufsteigen, da er hoffte, er käme noch an die Reihe, bevor die Stimme weiter Anweisungen geben würde, die ihren Irrtum aufzeigten, sodass er ihnen zeigen konnte, dass er mehr wusste als sie, dass er wusste, wie die Übung ablaufen müsste und dass er somit würdiger wäre als sie, hier zu sein. Es war dieselbe Art Aufregung, die ihn immer erfasste, wenn er beispielsweise eine Überraschung fertig machen wollte bevor sein Mitbewohner nach Hause kam, oder wenn er sich noch bei jemandem melden wollte, bevor sie sich meldet, aber eben erst dann um dies und jenes zu schreiben. Je näher der Moment kommt, in dem die die Situation lösende Aktion von ihm statt finden konnte, je aufgeregter wurde er, denn je mehr, so schien es, konnte schiefgehen. Er hatte Pech, denn die Stimme setzte wieder ein, als sich die Freundin des Typs neben ihn setzte und erklärte, man müsse das Wasser nun langsam und bedächtig in kleinen zahlreichen Schlucken trinken und schmecken, wie das Wasser schmeckt und fühlen, wie die Flüssigkeit in den Körper dringt. Er musste aufstehen und sein Glas füllen, weshalb ihm der Anblick des enttäuschten, gleichsam beschämten Gesichts der beiden entging, aber er liess sie nun trotzdem auch gedanklich beiseite, zapfte sein Wasser und kehrte zu seinem Platz zurück. Das Wasser schmeckte etwas schal und ganz leicht bitter. „Leitungswasser“, dachte er beim zweiten Schluck enttäuscht, probierte aber weiter. Es war angenehm kühl, keinesfalls zu kalt, wie man es hätte erwarten können, dachte er. Die Gläser waren schlicht und beim fünften Schluck viel ihm das IKEA Logo am Boden auf, eine weitere Enttäuschung. Eine unerwartete gleichwohl – nach den Dyson-Heizstrahlern und den offenbar extra gezimmerten Gestellen für die ebenfalls schönen Glasbottiche hätte er mehr erwartet. Das Wasser war nicht schlecht, wenngleich es nicht so flüssig schmeckte, wie zum Beispiel Vittel, seine Messlatte für stilles Mineralwasser. Während andere Leute ihm gegenüber bereits geäussert hatten, sie würden überhaupt keine stillen Quellen mögen, dachte er, dass sich gerade hier die wahre Qualität des Wassers offenbarte. Ein prickelndes Tafelwasser wie zum Beispiel San Pellegrino, seine erste Wahl als Begleiter zum Essen, kann für diesen Zweck auch ruhig etwas härter sein, mineralreicher und intensiver. Zum einfach so trinken, oder vor allem nach dem Sport – Königsdisziplin der Wasser – reicht das jedoch nicht. Während er schluckweise weiter trank dachte er zurück an sein Mineralwasser-Erweckungserlebnis: Einmal nach dem Joggen kaufte er sich wie öfters bei dem Späti um die Ecke ein Wasser, diesmal aber kein Evian, sondern ein Vittel, da der Verkäufer plötzlich solches in der Kühlvitrine hatte, was er sonst noch nie und auch niemals wieder hatte. Dass er sich überhaupt nach dem Joggen stilles Wasser kaufte, was er früher nie getan hatte, da er es als Verschwendung und vollkommen sinnlos ansah, war wohl seiner kurz davor abgeschlossenen Lektüre von Bret Easton Ellis’ American Psycho geschuldet, dessen kurzer Diskussion über Mineralwasser er die Wichtigkeit nicht nur eines Mineralwassers, sondern des richtigen, nach dem Sport für die Gesundheit entnahm. Er kaufte also dieses Vittel und nahm sogleich einige Schlucke aus der kalten Flasche und – er mag überdurchschnittlichen Durst gehabt haben, doch trotzdem – jeder Schluck war ein Genuss. Es war als konnte er das Wasser langsam in die Poren seines Körpers einsickern spüren, als würde sein ganzer Körper Wasser aufsaugen wie ein trockener Schwamm. Mit jedem Schluck war es besser, versuchte er nun auch, das Wasser zu schmecken, schmeckte die leichte Süsse, versuchte mit jedem Schluck mehr zu schmecken, mehr zu spüren, spürte, wie sich das Wasser wie eine Springflut im Mund ausbreitete und schmeckte die fast cremige Weiche des Wassers, die Frische und die Reinheit. Dieses Wasser schmeckte wirklich so rein, so weich und so flüssig, als wäre es flüssiger als andere Wasser, hyperfluide, er trank die halbe Flasche in kleinen Schlucken (ohne dabei von jener späteren Übung zu wissen!, dachte er) und erklärte es zu seinem Lieblingswasser. Nun wusste er sich zurückzuhalten und es war nicht so, dass er keine Möglichkeit auslassen konnte, über sein Wasser zu schwärmen, aber er verstand es doch seiner Wahl, wenn das Thema aufkam, auch die nötige Begründung wortreich nachzureichen. Vor kurzem führte das bei einem Abendessen mit Freunden zu einem Blindtest, Leitungswasser gegen Vittel. Er bestand. Zwar weniger wegen dem Geschmack, als weil er von den wenigen Wassertropfen, die an dem einen Glas noch innen hingen schloss, es müsse von der Leitung sein, da diese beim Einfüllen mehr spritzte als die Flasche und das andere Glas keine solche Tropfen aufwies, aber er nahm es trotzdem als einen Beweis dafür hin, dass die Wasser nicht nur unterschiedlich seien, sondern er es auch schmecken würde. Nicht nötig also, jemandem über seine kleine Hilfe bei der Wahl aufzuklären. Es war allerdings schwierig zu sagen, wie es sich mit seinem Schmecken nun wirklich verhielt, denn schon beim Trinken aus dem ersten Glase dachte er, das sei Vittel, da hatte er aber auch schon die Spritzer gesehen, wollte sich freilich nicht auf diese verlassen, sie hatten dann aber im weitern Entscheidungsprozess in seinem Inneren vielleicht den entscheidenden Ausschlag
gegeben. Er hatte das Wasser fertig getrunken, da riss die Stimme in seinen Ohren ihn auch schon aus seinen Gedanken.
Im Management-Seminar-Neusprech würde diese Übung wohl eine Entschleunigungsübung genannt. Das Ziel ist, jede einzelne Aktion einer alltäglichen Tätigkeit konzentriert und bewusst auszuführen. Die Kälte des Wassers zu spüren, bevor man das Glas an die Lippen setzt, dann das Glas an den Lippen, die Kälte, den Geruch des Wassers um dann, in kleinen, langsamen Schlucken, das Wasser zu trinken, nicht, weil man Durst hat oder um Flüssigkeit aufzunehmen, sondern um den Vorgang bewusst nachzuvollziehen, das Wasser bewusst zu schmecken und zu fühlen. Die Übung nimmt durchaus Anleihen an der Zen-Meditation, wo das meditative Arbeiten, Samu (jap. 作務), eine ergänzende Funktion zur sitzenden Meditation einnimmt. Die Übenden führen einfache Tätigkeiten mit grosser Sorgfalt und in konzentrierter Anwesenheit durch und können so zur eigenen Wesensschau finden. Ähnlich ist die Übung des Wassertrinkens hier zu sehen, weit entfernt davon, Wissen über Wasser vermitteln zu wollen, oder die eigene Verbindung zu Wasser zu intensivieren, will die Übung die Verbindung zum eigenen Tun öffnen, eine grosse Dimension des täglichen Lebens in den Fokus der Aufmerksamkeit rücken und so die Funktion der Kunst, das im normalen Leben unsichtbare zu zeigen, ausüben, indem sie nicht neue extraordinäre Situationen schafft, sondern indem sie die unsichtbaren Tätigkeiten unseres täglichen Lebens sichtbar macht. Die Übung könnte mit allen anderen banalen Tätigkeiten unseres Daseins ausgeführt werden und es wäre nicht verwunderlich, würde dies später von der Gründerin nahe gelegt.
Gerade wenn man das Wasser getrunken hat und noch in den Nachwehen des Erlebnisses schwelgt, meldet sich schon wieder die Stimme und fordert auf, in den nächsten Raum weiter zu gehen. Hier drängt sich wieder ein leicht autoritärer Touch der ganzen Veranstaltung auf: die Besuchszeit ist durch die abgespielte Aufnahme genau festgelegt und den Teilnehmern damit die Möglichkeit genommen, über ihre Zeit selbst zu verfügen oder zumindest in das Durchleben der Räume zu intervenieren.

The Looking Chamber
In dem Raum mit der nun schon bekannten Sechseckform stehen vier übergrosse Stühle.
Ihre Sitzfläche ist in etwa so hoch, dass die Füsse eines darauf sitzenden durchschnittlich grossen Menschen dreissig Zentimeter über dem Boden hängen. Zwischen den vorderen beiden Stuhlbeinen ist eine kleine Platte angebracht, auf die man die Füsse stellen kann und die gleichzeitig als eine Art Stufe dient, um die Sitzfläche zu erklimmen. Je zwei Stühle stehen einander mit einem Abstand von etwa achtzig Zentimetern gegenüber. Links hinter jedem Stuhl befindet sich eine etwa zwei Meter fünfzig hohe, hölzerne Säule, die einen grossen Kristall trägt – Stühle für die Seele, wie die Stimme erklärt. Die beiden Stuhlpaare (für Menschen) stehen normal zueinander und formen ein T mitten im Raum, sodass die Person des zweiten Paares, die mit dem Rücken zur Wand sitzt, das andere Stuhlpaar hinter ihrem Gegenüber sehen kann. Die Stimme erklärt weiter, dass man sich im folgenden aufrecht auf diese Stühle setzen und einander möglichst ohne jede Bewegung und ohne jede Regung in die Augen sehen solle, mit so wenig blinzeln als möglich und den Kontakt zum Inneren des Anderen suchen. Jeder der Teilnehmer muss sich also einen Stuhl aussuchen und seinem gegenüber in die Augen blicken. Es ist bei der gegebenen Anordnung vermutlich von Vorteil, wenn man sich alleine für den Besuch des Instituts entschieden hat, da man so zwangsläufig einer einem selbst unbekannten Person gegenüber sitzt. Diese Unkenntnis des anderen lässt die forcierte Intimität eines dauernden Augenkontaktes noch schwieriger und damit noch eindrücklicher werden.
Die folgende konzentrierte Stille, in der sich jeder nur auf den Blickkontakt konzentriert, offenbart zuallererst die Schwierigkeit, für etwa eine halbe Stunde regungslos zu verharren und die Anstrengung einfachen Sitzens ohne Bewegung. Dabei verliert man auch jedes präzise Zeitgefühl, da sich im Raum an sich nichts ändert, man aber verschiede Phasen der Verbindung zum jeweils anderen durchlebt. Die erste hat etwas von dem kindlichen „Wer lacht zuerst?“-Spiel, unwillkürliches sich Heben der Mundwinkel und das Wieder-abstellen-Versuchen desselben bevor man schliesslich zu einer gewissen Ruhe und Ernsthaftigkeit findet. Es zeigt sich, das es einen grossen Unterschied gibt, zwischen sich-in-die-Augen-sehen und Blickkontakt halten. Denn um den Blick zu sehen und nicht bloss die Augen muss man über das blosse Licht der Augen hinausgehen. Die Augen müssen, um mit Jacques Derrida zu sprechen, Sehendes sehen anstatt Sichtbares. Aber „wenn sie eher einen Blick zu sehen glauben als Augen, […], sehen sie nichts, folglich, nichts, das sich sieht/zu sehen ist [se voie], nichts Sichtbares.“ (Fußnote 2) In seinem Buch „Berühren: Jean-Luc Nancy“ erarbeitet Derrida genau diese Differenz zwischen dem Sehen des Dinges und dem Sich-ereignen des Blickes. Es ist genau diese Differenz, auf die die Gründerin mit ihrer Übung verweist, eine Differenz, die, lange bevor sie theoretisiert und analysiert wird, greifbar wird: Erblickt man nun ein physisches Ding, wenn man in die Augen blickt, oder erblickt man den Blick, das aktuelle Sehen, und schafft es damit, „an das Unberührbare [zu] rühren?“ (Fußnote 3) Wenn man den Blick des Gegenübers berührt [toucher], anstatt nur seine Augen zu sehen, wenn sich die Blicke treffen [se touchent], dann wird der Blick unseres Gegenübers nicht nur sehend, sondern sichtbar und damit auch die Normativität des Blickes, das heisst, unsere Vorstellung des Blickes als ein Blick durchbrochen indem er sich als dieser Blick ereignet.
Es ist ein Moment, indem wir den stereotypen Blick verlieren und er zu diesem einen
Blick wird, an den wir uns ewig erinnern, weil er gleichsam monotyp wird. Es ist ein Blick, der sich ereignet, der blickt, aber im selben Augenblick als Blick erblickt wird. Es entsteht eine Doppelung des Blicks als unmittelbar sich ereignende Performanz und gleichzeitig als mittelbar rhetorische Lesung des Blicks. In der Erfahrung des Durchbrechens des Sehens des Sichtbaren auf das Sehen des Sehens hin entdecken wir die „Seele des Auges“ (Fußnote 4) unseres Gegenübers. Es ist eine wahrhaft intime Erfahrung, die sich hier mit einer bislang fremden Person einstellt, ein Berühren des Anderen über den Blick. The Looking Chamber offenbart das aufrecht erhalten dieser Berührung als besonders schwierig: immer wieder bricht das Sehen des Blickes ab und wird zum Indie-Augen-Schauen, oder bei grösserer Unkonzentriertheit zum Abschweifen in eine Beobachtung des Gesichtes unseres Gegenübers, des Raumes, et cetera.
Nachdem die Stimme in ihren Ohren den nächsten Raum erklärt hatte, wollte er sich eigentlich schnell der Freundin des Typs gegenübersetzen, um zu verhindern, dass sich die beiden in die Augen schauen müssen, aber sie waren schneller. Er setzte sich also Marie gegenüber auf den Stuhl und sie sahen sich in die Augen. Sie musste lächeln. Ihr Lächeln war wie immer keck und ihr Blick schien tief in ihn einzudringen, gerade so als wollte sie in ihm drinnen die Wirkung ihres Lächelns lesen. Immer wenn sie lächelte, schien es als würde sie gleichzeitig über ihr eigenes Lächeln reflektieren. Ihr Lächeln war wie ein Lächeln zweiter Ordnung, so als würde sie zuerst innerlich lächeln und dann bewusst versuchen ihr inneres Gefühl möglichst eindrücklich zum Ausdruck zu bringen und als würde sie dann in den Augen ihres Gegenübers zu sehen trachten, ob ihr Gefühl richtig aufgenommen wurde. Ihre Mundwinkel zogen sich dann langsam nach oben, gerade nicht zu weit, und ihre Wangen bildeten kleine Grübchen aus. Ihre Augen blieben dabei merkwürdig unverändert, zogen sich nicht zusammen, sondern blieben geöffnet, um ihr Gegenüber, den Angelächelten, anzublicken. Nur wenn sie lachte betraf es ihr ganzes Gesicht, ihr Augen wurden kleiner und es bildeten sich kleine Fältchen an den Seiten, dann schrie sie meist laut heraus, ein zwei gellende Lacher, ganz egal, wo man war oder wie unpassend es schien, immer gefolgt von der Schüchternheit vorschützenden Geste der vor den Mund gehaltenen Hand. Sie hatte zu lächeln aufgehört. Er suchte in seinem Gedächtnis nach einem Bild von ihr, auf dem sie lachte, aber er konnte merkwürdigerweise keines finden. Das einzige, was ihm von ihrem Lachen in Erinnerung bleib, war dieses laute Herausschreien, das wie eine Eruption aus ihr herauszubrechen schien. Aber er konnte sich partout an keinen Gesichtsausdruck erinnern. Er betrachtete ihr Gesicht. Es war ausserordentlich jugendlich, ihre Haut war so rein und glatt und fehlerlos wie die Gesichter in Make-up Werbungen in
Hochglanzmagazinen. Er hatte das starke Bedürfnis, seine Hand über ihre Wange streichen zu lassen, über ihren Hals, ihre Schulter. Trotz ihres jugendlichen Gesichtes schien sie, wohl auch wegen ihrer Frisur, älter. Nicht unbedingt älter als er – sie sah älter als er aus, aber das meinte er nicht –, sondern einfach älter. Auch nicht alt, oder auf ein bestimmtes Alter festgelegt, aber schlicht immer etwas älter als … ohne als. Ihr Gesicht allerdings, dachte er jetzt, sah eben wieder jünger aus, jugendlich. Das war vielleicht das Schöne an ihrem Gesicht, dass es so rätselhaft war. Und ihr Gesicht war das Schöne an ihr. Das Besondere. Sie hatte auch einen tollen Körper. Er dachte an die vergangene Nacht, dachte an die Berührungen und fühlte dieses Gefühl in ihm hochsteigen, das so etwas war wie Liebe, aber auch Lust, Geborgenheit und Ungewissheit. Er ertappte sich dabei, wie er abgedriftet war, seine Augen mussten leer erschienen sein, sein Blick verloren gegangen. Er kam wieder zurück ins Hier und Jetzt, richtete sich innerlich auf und und konzentrierte sich darauf, Maries Blick zu erkennen.
Ihr Blick war konzentriert auf ihn gerichtet, durchdringend, als würde sie in ihn hinein sehen. So ein Blick konnte unangenehm sein, beunruhigend, aber ihm war es seltsamerweise egal, dass gerade sie gerade ihn durchschauen sollte. Zwischen ihnen war eine solche Nähe entstanden, dass er es zulassen konnte, dass er es sogar wollte, dass sie ihn durchschaute, weil er fühlte, dass er sich ihr offenbaren konnte, ohne Worte. Sie hatten nie soviel geredet über ihre Beziehung und wie da alles ablaufen sollte. Beziehung. Ein seltsames Wort. Eine Beziehung haben zueinander sagt ja über die Art der Beziehung noch nichts aus. Obwohl es gemeinhin für alle sofort klar war, wie das dann alles ablaufen soll, dachte er. Für alle die ignorant genug waren, zu glauben es gäbe nur ein allgemein anerkanntes Beziehungsmodell und dieses würde im stillen Einverständnis von allen Seiten her als das einer Beziehung angenommen und sollte in der eigenen Vorstellung etwas von diesem normativen Konstrukt abweichendes vorhanden sein, so wäre es an einem selbst, das doch dem Anderen mitzuteilen, früh genug, denn sonst würde der Andere ja nicht wissen, dass es doch nicht so ist, wie er dachte und es wäre ja sein oder ihr Recht anzunehmen, alle würden sich der Norm unterordnen, alle würden so denken, wie man selbst, oder wenn nicht, das dann doch zumindest sagen, da sie ja wüssten, dass das, also die eigene Meinung, auch die allgemein anerkannte und damit richtige, moralisch richtige, war, die andere also die falsche, oder zumindest die nicht-richtige, die abweichende, die, die man zur Sprache bringen muss, diskutieren muss, bevor man sich nach ihr verhalten konnte. Leider waren diese Ignoranten sehr weit verbreitet auch unter den Menschen, mit denen er sich abgab, diese Beziehungsnormativität nervte ihn unendlich und dass dann alle immer so pseudotolerant waren, ja, kann ja eh jeder machen, wie er will und so, aber man muss es halt trotzdem … und es ist ja schon anders … und eigentlich kann man ja schon annehmen, dass eigentlich schon irgendwie alle so denken, wie es halt der Norm entspricht und sonst muss man dass halt dann schon sagen … noch mehr nervte ihn die kategorische Ablehnung von Vorstellungen, die der scheinbar normalen zuwiderliefen; die Unmöglichkeit auch nur zu diskutieren, besonders bei denen, mit denen man eigentlich, genau darüber reden müsste, weil es sie betrifft, mit Menschen, mit denen man eine Beziehung hat. Aber die schaffen es dann nicht nur nicht einmal über ihren bornierten Tellerrand hinauszusehen, sie schaffen es nicht mal objektiv und sachlich über das Thema zu diskutieren, sich mal zu fragen warum sie eigentlich so denken, warum es denn jetzt eigentlich so schlimm war, wenn der Andere mit jemand anderem Sex hatte und ob sie überhaupt auch so fühlen und woher das alles kommt. Diese emotionale Blockierung nur weil man plötzlich mit jemandem redet, der einem nahe steht, weil es einen selbst betrifft. Eigentlich, fiel ihm in diesem Moment ein, offenbart sich hier die ganze pseudoliberale Heuchelei der Leute, bei denen alles immer in Ordnung und interessant ist, solange es nicht sie selbst betrifft und die in ihren eigenen Vorstellungen von Beziehungen und allem was dazugehört die letzten Konservativen sind, nicht bereit von ihren Vorstellungen von Normalität auch nur einen Millimeter abzurücken, die so tief in diesem reaktionären Dogmatismus stecken, dass sie es nicht einmal schaffen, über seine Gründe nachzudenken
und—
Er verscheuchte seine Gedanken und versuchte sich wieder auf das Blicken zu
konzentrieren. Man müsse nicht einfach blicken, sondern der Blick geradezu sein. Gleich darauf kam ihm das etwas komisch vor, aber er dachte, es wäre wohl in etwa das, was die Gründerin des Instituts dazu sagen würde. Ausserdem ist eigentlich genau Zen-Philosophie. Also kein esoterisches Zeugs … eigentlich … aber blicken, nicht denken, dachte er.

? ?

Er konnte nicht anders als noch einmal zurückzudenken, seine innerliche Schimpftirade hatte ihn zu sehr aufgewühlt. Marie war anders – vielleicht als erste Frau, die er kannte? Sie hatte keine festen Vorstellungen, oder sie hatte natürlich auch Vorstellungen, aber eben keine zementierten, dogmatischen. Sie konnte darüber reden und nachdenken, ohne sich selbst emotional zu blockieren. Obgleich er nicht glaubte, dass sie davon überzeugt war, oder es gut fand, beispielsweise eine offene Beziehung zu haben, so konnte sie zumindest darüber reden und war bereit ihre alten Vorstellungen zu überdenken, oder etwa Neues zu versuchen. Sie hatten ein paarmal darüber geredet, aber nie wirkliche eine eindeutige Regelung für ihre Beziehung getroffen. Er hatte das Gefühl, sie wollte das auch nicht, sah es auch irgendwie als stillschweigendes Einverständnis an, dass sie vielleicht doch beide unterschiedliche Vorstellungen hatten, aber das ihnen nicht im Wege stehen sollte und solange es kein Problem darstellt musste man ja nicht auf biegen und brechen versuchen, diese Unterschiede irgendwie zu nivellieren, dachte er, wahrscheinlich, dachte er dann aber, waren sie auch einfach zu feige, sich dem zu stellen, liefen sie davon davor, ignorierten es, um nicht darüber reden zu müssen, verschwiegen es, weil es einfacher war, verdrängten es. Er würde ihr auch nicht sagen, dass er gestern mit einer anderen Frau geschlafen hatte. Obwohl, er wusste nicht, ob sie es überhaupt wissen wollen würde. Es kam ihm der seltsame Gedanke, dass sie eigentlich nie wirklich miteinander geredet hatten. Also über ihre Gefühle zueinander sich nie wirklich im Gespräch geöffnet hatten und vielleicht war es ihm deshalb eine angenehme Vorstellung, sich ihr nun öffnen zu können, aber ohne Worte, sodass sie es zwar schon verstehen würde, aber trotzdem nichts würde ausformuliert werden müssen, nichts in Worte gepresst, auf Begriffe gebracht. Irgendwie schien es leichter zu sagen „Aber du hast doch gesagt, dass … !“ als „Aber ich sah doch in deinem Blick, dass … !“ obwohl doch jeder übereinstimmen würde, dass es leichter ist, mit Worten zu lügen als mit Blicken. Vielleicht können Blicke nicht lügen, dachte er dann, aber sofort wieder: doch, natürlich.
Er konzentrierte sich wieder auf ihre Augen, dann, nein, auf ihren Blick, versuchte ihn zu erhaschen, fragte sich, ob sie auch dasselbe dachte wie er, oder etwas Ähnliches, er versuchte möglichst durchdringend zu schauen, versuchte wirklich mit seinem Blick in sie einzudringen, in ihr tiefstes Inneres, wie man so sagt, in Wirklichkeit versuchte er so zu blicken, dass sie glauben würde, er würde in ihr Innerstes sehen können, versuchte, während er einen durchdringenden Blick mimte, gleichzeitig in ihrem Gesicht zu erkennen, ob sie sich auch durchdrungen fühlte, ob sie glaubte, sein Blick würde sie durchdringen, würde auf ihre Seele sehen können, aber er konnte es nicht erkennen. Manchmal hatte er das Gefühl, ihren Blick zu treffen, dann fühlte er wieder diese innige Verbundenheit, diese Offenheit ihr gegenüber, und ihm gegenüber, dann aber wieder sah er bloss ihre Augen, oder betrachtete ihr Gesicht, sah ihren Kopf langsam sich verdoppeln, verschwimmen und verschwinden, dann wieder fuhren die beiden Bilder seiner Augen zusammen und er versuchte gleichzeitig in beide Augen zu sehen, oder vielmehr wiederum ihr glauben zu machen, er würde gleichzeitig in ihre beiden Augen sehen, wechselte von einem ins andere Auge, oder fokussierte auf einen Punkt zwischen ihren beiden Augen.
The Looking Chamber lässt uns ein weiteres beeindruckendes Phänomen erfahren:
Werden beim In-die-Augen-Sehen die unwillkürlichen Drift- und feinschlägigen
Mikrobewegungen, die die Augen konstant vollführen, vermindert und so für ein paar
Sekunden die Reizung einzelner Rezeptoren in den Augen nahezu konstant gehalten,
tritt ein auch Troxler-Effekt genanntes Phänomen ein: Netzhautareale passen sich einem ständig gleichen visuellen Reiz an und blenden so konstant wahrgenommene Eindrücke aus. Normalerweise wird diese sogenannte Lokaladaption durch Mikrosakkaden verhindert, das sind kleinste ruckartige Bewegungen des Auges, die eben genau zu diesem Zweck automatisch ausgeführt werden. Da die Wirksamkeit der Mikrosakkaden umgekehrt proportional zur Grösse des rezeptiven Feldes ist – das heisst, dass die relativeAuswirkung einer Mikrosakkade mit der Grösse des korrespondierenden rezeptiven Feldes sinkt – kann bei sehr langem und unbewegtem Geradeaussehen in einem ebenfalls unbewegtem Umfeld das gesamte Sichtfeld einer Lokaladaption unterliegen. Man erfährt ein blendendes Leuchten des gesamten Raumes, bei einer gleichzeitigen Nivellierung der Struktur- und Farbunterschiede. Durch die Glättung der Strukturen und Details des Raumes entsteht ein flächiger, gleichsam grafischer Gesamteindruck. Der ganze Raum scheint in die Fläche gedrückt und nur von einer durch die Illusion der Zentralperspektive vorgespielten Tiefe. Der Betrachter selbst projiziert unwillkürlich die endlich Lebenswelt gewordene Kunst zurück in das traditionsbehaftete einstmalige flächige Leitmedium. Der Raum bietet sich als Bild dar, gleichsam als Gemälde, und anstatt dieses flache Gebilde kraft der Regeln der Zentralperspektive als räumliche Verortung zu lesen, betrachten wir den Raum als Bild und damit die unmittelbare sinnliche Situation als reflektierbares ästhetisches Konstrukt. Hat die Gründerin des Instituts damit den revoltierenden Fluss ihrer Kunst umgekehrt und zu seiner Quelle selbst zurückgeführt um ihn dort zum versiegen zu bringen? Den revolutionären Gestus durch die eigene revoltierende Hand zum Schweigen gebracht? Wohl kaum. Genauso wenig, wie die von diesem durchaus auch kunsttheoretisch verstehbaren visuellen Eindruck ausgehenden Überlegungen des Autors zur Überwindung der Zentralperspektive und weiter zu neuen Formen der Kunst, die aus einer Reaktion gegen die traditionellen Medien, insbesondere das Leitmedium Malerei, entstanden und eben auch die Performancekunst beinhalten, in der die Gründerin des Instituts ihre adäquate künstlerische Sprache gefunden hat; genauso wenig, ist anzunehmen, war diese
Assoziationskette intendiert, gleichwohl zeigt sich, dass die Mobilisierung des Denkens durch Immobilisierung des Körpers funktioniert, dass sich in der Ruhe des Körpers der Geist umso mehr bewegt. Dass dies der Intention der Gründerin entspricht, ist wiederum in jedem Fall anzunehmen.
Die gleichsam halluzinatorische Erfahrung der grossflächigen Lokaladaption kann bei
Menschen, denen sie unbekannt ist, Trance-ähnliche Zustände, aber auch Schrecken
hervorrufen. Diese recht körperliche Art der Selbsterfahrung ergänzt die intellektuelle Erfahrung der Meditation über den Blick und der freien Assoziation der Gedanken, ja, bestärkt sie geradezu und fügt so eine weitere Dimension der Erkenntnis zu der performativen Reflexion über den Blick hinzu. In ihrem Werk kreiert die Gründerin so nicht nur besondere Erfahrungsräume, die über die üblichen Erfahrungen in der Welt der gewöhnlichen Dinge hinausgehen, und ähnlich der Fotografie eines Laszlo Moholy-Nagy neue, unbekannte sinnliche Erfahrungen ermöglichen (die sich hier eben nicht nur auf das Sehen beschränken). Sie öffnet auch einen Denkraum, in dem sich frei denken lässt, in dem die Richtung der Gedanken nicht eingeschränkt oder zweckbestimmt gerichtet wird. (Vielleicht sind die Räume auch deshalb einer runden Form angenähert, die, wie die Form des Kopfes nach Francis Picabia, die Gedanken ihre Richtung ändern lässt.) Das ganze Projekt scheint diese Analogie zur Neuen Sachlichkeit zu zeigen. Wie diese damals neue Seherfahrungen ermöglichen wollte, in einer Welt, in der die Menschen vor einer Flut an neu entstehenden Bildern blind zu werden schienen (Fußnote 5), so will das Institut eine ganzheitliche neue Daseins-Erfahrung ermöglichen in einer Zeit, in der die Menschen durch die permanente Erreichbarkeit und All-Verbundenheit nur noch selten wirklich körperlich und geistig in der Gegenwart, im unmittelbaren Hier und
Jetzt anwesend sind.
Doch noch ein weiterer kunsthistorischer Vergleich drängt sich auf wenn der Raum als vibrierende Form erscheint. Er erinnert dann an die energiegeladenen Skulpturen von Constantin Brâncuși, seine unendliche Säule als materialisierte Schwingung, so wie Brâncuși sie gesehen haben muss, als er – von den Fotografien seines Freundes Man Ray enttäuscht – selbst zur Kamera griff um seine Werke zu dokumentieren. Seine verschwommenen und verwackelten Fotografien sind eben kein Zeugnis fotografischer Unkenntnis, sondern ein Interpretationsversuch, eine Rezeptionsanweisung in einer Sprache, die Brâncuși unendlich besser beherrschte als die der Begriffe – eine Erklärung in Bildern. (Fußnote 6) Dieselbe pulsierende Energie, die Brâncușis Figuren zum bersten gespannt erscheinen lässt und ihre summende Bewegung suggeriert, findet sich im Seheindruck des Raums unter der eingetretenen Lokaladaption. Als würde er glühen, zitternd hervor und zurücktreten, vibrieren, pulsieren; all das trägt zur überwältigenden Kraft des Ortes bei. Zumindest bis die Stimme im Ohr einen wieder aus der Versenkung reisst und in den nächsten Raum bittet.
Der Raum fing langsam an zu flimmern und zu leuchten, wie wenn man zu lange oder
in zu starkes Licht gesehen hat. Er schien wie ein Relief hervorzutreten oder zurück und leuchtete in weissgelb, blendete ihn fast. Die Grenzen zwischen den hervortretenden Flächen traten wie Einschnitte zurück, waren dunkel und vibrierten. Der ganze Raum schien sich ganz langsam und leicht nach links zu drehen. Das lange, regungslose Blicken auf einen unveränderlichen Hintergrund, scheint im Auge eine ähnliche Schutzfunktion auszulösen wie die von zu starkem Licht, die in den Augen helle Flecken nachleuchten lässt, dachte er, wie wenn man in die Sonne sieht. Er versuchte mehr aus dem Phänomen herauszuholen, die Augen länger reglos, ohne blinzeln zu lassen, um noch mehr zu sehen, noch Anderes, versuchte diesen ungewohnten Blick nicht abbrechen zu lassen. Es war ein ähnliches Gefühl wie wenn man Drogen nahm, das Erleben eines zuvor nicht spezifizierten Anderen, das, dachte er, vor allem deshalb erlebenswert ist, weil es anders ist. Die hellen Flächen schienen beinahe zu klingen, dabei verschoben sie sich langsam wie ein Blick, der abdriftet, bis er das Zwinkern nicht mehr zurückhalten konnte, innerlich hochschreckte und sein Blick ohne jegliche Bewegung wieder zurückfand zur alltäglichen Wirklichkeit.
„Die alltägliche Wirklichkeit“, dachte er und betrachtete wieder ihr Gesicht. Es war immer noch schön. Die Vertrautheit hatte ihm nicht die ungewöhnliche Schönheit genommen, trotzdem war es für ihn nicht mehr so bezaubernd, wie es gewesen war, vielleicht gerade weil es nicht mehr die Verheissung eines unspezifischen Neuen, eines Anderen, Besonderen war, sondern eben sie, sie, die er kannte und die er mochte und die er schätzte, aber die nicht die Aufregung des Unbekannten und Neuen verströmte. Auf der anderen Seite wusste er, fiel ihm ein, dass er sich ihr Gesicht, einmal aus den Augen verloren, nicht würde vorstellen können, dass ihre Gesichtszüge sich seinem Erinnerungsvermögen entzogen und lediglich der Eindruck, den ihr Gesicht hinterliess, zurückblieb, ein Gefühl, die Erinnerung an ein Gefühl. Bei ihrem ersten Treffen, als er sie das erste Mal sah, oder bei dieser oder jener Gelegenheit, aber es war nie ihr Gesicht selbst, das in seiner Erinnerung hängen geblieben war, sondern immer nur was es auslöste. Oder, wenn er es schaffte aus seiner Erinnerung ein Abbild ihres Gesichtes hervorzukramen, dann war es ein Foto, mehr die Erinnerung an ein Bild als an sie selbst, ein materielles Gebilde in seiner Hand, oder ein immaterielles auf dem Bildschirm irgendeines der elektronischen bildschirmbestückten und fotobeladenen Geräte, so als würde es sich seiner Wahrnehmung entziehen, als könnte er es sehen aber nicht wahrnehmen. Vielleicht war es genau das. Er könnte es auch nicht beschreiben, wie denn auch? Es war ja unvergleichbar. Wieso ist es so schwer, dachte er, gerade die Gesichter unserer Liebsten zu behalten, diejenigen, die wir nicht nur am öftesten sehen, sondern mit denen wir doch auch am meisten mit-wahrnehmen sollten? Vielleicht war es die Gewohnheit, das Immer-wieder-Sehen desselben, das uns dieses damit aus unserer bewussten Wahrnehmung nahm, das nicht durch einen Verfremdungseffekt durchbrochen wird um es uns wieder als neues Bild darzubieten. Können wir denn noch sagen, ob beispielsweise das Geschirr, das wir seit etlichen Jahren verwenden, Tag für Tag, können wir denn noch sagen, ob es schön ist, oder hässlich, fragte er sich, mehr rhetorisch, denn er wusste, dass ihm gerade dies bei dem Besteck bei seinen Eltern schon einmal aufgefallen war, er sich fragte, ob das, von dem er immer dachte, es wäre das schönere gewesen, nun wirklich auch das schönere war, das heisst, ob er jetzt, unvoreingenommen vor die Wahl gestellt, immer noch dasselbe als das schönere ansprechen würde. Oder ob es nicht vielmehr einfach dieses Geschirr geworden ist. Dieses Geschirr, das wir jeden Tag verwenden ohne es bewusst anzusehen. Das einzige was uns auffallen wurde, dachte er weiter, wären wohl die Gebrauchsspuren, die Leerstellen der abgegangenen Farbe, ein abgesplitterter Rand, ein Sprung oder ein Kratzer. Trotzdem der Verfall so langsam vor sich geht, ist er das Einzige, das wir bemerken, vielleicht, sagte er sich nachdenklich, würde man auch sehen, wenn jene, die man liebt, alt werden. Er dachte an seine Eltern, wie alt sie sein müssten und wie alt sie aussähen, versuchte sie sich vorzustellen aber wurde plötzlich von der Stimme in seinen Ohren aus seinen Gedanken gerissen, die ihm sagte, sie sollten nun in den nächsten Raum weiter gehen.
[…]

dritter teil

Du musst dein Leben ändern.
(Rainer Maria Rilke)

[…]
Er erhob sich und folgte der Strasse, hielt einen halben Block weiter an und betrachtete die gegenüberliegenden Fassaden. Von den immer gleichen Multiplikationen der Fenster und deren Überdachungen, den Stuckaturen und Inkrustationen, die ihm keine ästhetischen Anhaltspunkte mehr boten ausser ihrer Verbindung zu einem übergeordneten Ganzen, ihrer Rasterung, schweifte er – zunächst unmerklich – zu den Aussparungen der Gebäude, betrachtete, nahm vielleicht zum ersten Mal die Negativität der Bauten wahr, das Unbebaute, Quadrate und Rechtecke von sattem Blau, gerahmt von Dächern und Gesimsen, Flächen des Nicht-Bebauten, geometrischen Formen die zwischen den Gebäuden hervortraten, die als einzige den Blick freigaben auf die Flecken des Himmels hinter ihnen, die abstrakte Farbflächen wurden; er erinnerte sich – zunächst ohne grosses Interesse – an einen Maler, dessen Werke er einmal gesehen hatte, erinnerte sich an die Bilder, geometrische Formen, die genau dies, sagte der Wandtext des Museums, erinnerte er sich, aufnahmen, die eigentlich, so dachte er jetzt, die Negativität der Stadt zum Ausdruck brachten. Und tatsächlich hiess die erste Solo-Ausstellung von Robert Mangold 1965 in der Fischbach Gallery in New York „Walls and Areas“ und bestand aus grossen Gemälden auf Masonit und Sperrholzplatten, die, einheitlich dick bemalt, einen harten Gegensatz zu den leichteren, besprühten Werken formten, genauso wie sich jetzt das unkörperliche Blau des Himmels gegen die harten Gebäude absetzte. Später begann Mangold zunächst, mehrere mit Leinwänden bespannte Keilrahmen zu unregelmässigen Formen zusammen zu schrauben und schuf so seine sogenannten „Frame Paintings“: Vier, mit unterschiedlichen, meist kräftigen Farben bemalte, längliche Leinwände wurden so zusammengefügt, dass in ihrer Mitte der Blick auf die weisse Wand frei blieb. Zusammengehalten wurden die Farbformen von einer geometrischen Zeichnung, einem Oval, aus Kohlestift. Genauso wie mit seinen ersten Gemälden, den „Walls and Areas“ war auch dies ein radikaler Angriff auf die bestehende Kunstvorstellung. Seine frühen Arbeiten waren nicht nur in ihrer unpersönlich einheitlichen Faktur und monochromen Farbigkeit ein offensiver Gegenpol zur hegemonialen Vormachtstellung des Abstrakten Expressionismus, mit seinen emotionsgeladenen Farben und expressiven Pinselstrich, sondern auch in ihrer Form ein geradezu tätlicher Angriff auf die althergebrachte Form des Tafelbildes, die sich hartnäckig bis zu Jackson Pollocks Action Painting, den abstrakten Bildern Willem de Koonings und Mark Rothkos Farbfeldmalerei gehalten hatte: Mangolds Bild „Pink Area“ beispielsweise ist eine rechteckige Farbfläche von nebelhaftem Pink, von der ganz einfach die rechte untere Ecke ausgeschnitten wurde. Seine Frame-Paintings vertauschten nun den Rahmen mit dem Bild: Gerahmt wurde die blosse Wand und der Rahmen selbst war zum Bild geworden. Nicht nur war dies ein ironischer Kommentar auf die zahlreichen Historienschinken, deren kunstvoll gearbeitete Goldrahmen irgendwann teurer wurden, als die Bilder selbst, die irgendwann das einzige waren, das dem Bild eines längst vergessenen Ereignisses noch Grösse gab. Es war auch gleichzeitig das letztgültige Ende der Narration, die selbst in den abstrakten Bildern eines Pollock noch zutage trat, als Geschichte der eigenen Entstehung, die sich in der gesamten Oberfläche des Bildes an den Spuren des Künstlers offenbarte. Die sorgsam abgestimmte Farbigkeit und Grösse der einzelnen Keilrahmen sorgte bei Mangolds Frame Paintings dafür, dass das sensible innere Gleichgewicht der Bilder auch über ihre materielle Aussengrenze hinweg Einfluss verübte. Die freien Mauerflächen links und rechts des Bildes traten in Verbindung mit der mittleren Wandfläche sodass sich das Bild in den Raum hin ausbreitete. Gleichzeitig war es nicht mehr möglich, die Bilder wie einst einfach nebeneinander an die Wand zu hängen, sondern sie verlangten ihren eigenen Platz und eine grosse Sensibilität in der Aufteilung im Raum. Gemeinsam mit anderen Künstlern, die in etwa um die gleiche Zeit ihre eigene Sprache fanden, emanzipierten sie die Kunst vom Objekt an der Wand zum ganzheitlichen Erlebnis, dass den Betrachter in all seinen Sinnen anging und einnahm.
Er dachte, ob es vielleicht die Zeiten sein würden, wenn sie nicht da war, die ihm fehlen würden, weil er sich satt gesehen (berührt? geredet?) hatte an und mit ihr, aber nicht an der Sehnsucht nach jemandem, der gerade nicht da war, ob es ihm fehlen würde, jetzt, da sie weg war, wenn sie nur nicht da war. Der Gedanke, dass da jemand war, der aber nicht da war, dass man alles machen konnte, alleine, frei, aber doch wusste, dass man nicht alleine war (nicht frei?), das Gefühl der Sicherheit, des Immer-noch-nach-Hausegehen-Könnens-und-trotzdem-nicht-alleine-schlafen-Müssens; er fragte sich, ob er wirklich ein „Zuwendungsdefizit“ hatte, das er stillen müsste, wie ihm einmal gesagt, oder vielmehr vorgeworfen wurde, dachte er, ihm wurde tatsächlich einmal vorgeworfen, ein „Zuwendungsdefizit“ zu haben!, das er immer wieder anders zu befriedigen suchte, auch wenn er dabei jemanden an der Nase rumführte, der ihn mochte, dass dieses „Zuwendungsdefizit“, das er hatte, und das er stillen musste ihn also rücksichtslos Zuwendung von Menschen einfordern liess, mit dem Ziel und auch wenn er dabei jemanden an der Nase rumführte, der ihn mochte, genau dieses sein „Zuwendungsdefizit“, das er hatte, auszugleichen. (Er hatte damals in einem dermassen pathetischen, von rhetorischen Fragen – „Was soll ich jetzt noch sagen?” – und pseudophilosophischen Anwandlungen – „Ich habe das Gefühl, die Worte leisten nicht mehr, was sie zu versprechen scheinen!” – schwangeren Brief geantwortet, dass es ihm selbst nach Jahren noch Mühe machte, ihn wieder zu lesen. In tausend Worten hatte er eigentlich nur geschrieben, dass er eigentlich nichts mehr zu schreiben wusste – es war vorbei – aber auch nicht nichts schreiben konnte, weil dann sie das letzte Wort hätte.
Oder in seinen Worten: „Ich will auch nicht nichts sagen, denn nichts zu sagen würde heissen, den Schlussstrich selbst zu ziehen. Worte zu übermitteln, wo ich eigentlich nichts mehr sagen kann, ist das Unvermögen, das Ende hinzunehmen. Ein Unvermögen, das aus der Hoffnung resultiert, es könnte doch noch nicht geschehen sein.”) Er hörte wieder auf, darüber nachzudenken, weil er wusste, weil er fühlte, dass er sich nicht würde ergründen können, nicht jetzt, dachte er, aber vielleicht auch nie, vielleicht war es auch gar nicht möglich, vielleicht brauchte man doch immer jemanden, der einem den Spiegel vorhielt um zu sehen, wer man ist, jemanden, der einem sein Zuwendungsdefizit unter die Nase hielt, es einem vorwarf, und einem dabei doch nicht mehr als ein Spiegel war, der „Zuwendungsdefizit“ doch nur das nannte, was er als Zuneigung zuvor gerade noch genossen hatte, und jetzt, wo einem die Nähe zu einer Last wurde, unangenehm, weil plötzlich nicht mehr nur in der geschützten Sphäre der Zweisamkeit, weil sie plötzlich sich ausbreitete in die Lebenswelt wurde sie Zuwendung plötzlich defizitär, wurde sie erst zum Zuwendungsdefizit, wurde sie einem plötzlich vorgeworfen, wurde einem vorgeworfen, ein Zuwendungsdefizit zu haben, das die eigene Zuwendung aufsaugen konnte, einsaugen und somit gleichzeitig mit der Diagnose dieses Zuwendungsdefizits auch die eigene Zuwendung geheilt und man wieder eigenständig und frei wurde, wieder unberührt, ungebunden und unzugewendet—
Er atmete durch und sagte sich, dass ihn das eigentlich schon lange nicht mehr aufregte, stand auf und ging wieder weiter, fragte sich, ob es nicht bald dämmern würde, aber die Sonne stand unverrückbar und unerbittlich am Himmel. Er streifte durch die Strassen, die Menschen und überlegte ob er etwas essen sollte, irgendwo, nur um sich die Zeit zu vertreiben, er hatte keinen Hunger, eigentlich auch keine Lust auf irgendetwas bestimmtes, eigentlich auf nichts, aber essen, dachte er, könnte man ja trotzdem, überlegte, wo er hingehen konnte, was er essen konnte, stellte sich die Speisen vor aber mochte keinen Appetit bekommen. Fast wie unbewusst hatte er eine Richtung zu sich nach Hause eingeschlagen und wehrte sich nicht dagegen, ging weiter, die Strasse entlang und verspürte plötzlich den Drang, zuhause zu sein. Er ging schneller, bog links ab und ging die Strasse hinunter zur nächsten Querstrasse, dann rechts zur Tramhaltestelle. Neun Minuten, zeigte ihm die elektronische Anzeige an, sollte es noch dauern, bis ein Zug kam, so lange, dachte er, konnte er nicht warten und ging, die Schienen entlang, zur nächsten Haltestelle – acht Minuten – zur nächsten und nächsten, verliess den Weg des Zuges, nahm das Netz der Strassen, suchte, baute, entwarf seinen Weg, ging jetzt schneller, fast hastig, bis zu sich nach Hause, sperrte die Haustüre auf, lief die Treppen hoch, die Wohnungstüre, beim Drehen des Schlüssels hoffte er, es würde niemand zuhause sein, keine Menschen, kein Reden, kein Erklären, kein Erkennen, schloss die Tür, erreichte sein Zimmer, schloss die Türe hinter sich, legte sich auf sein Bett, auf den Rücken, starrte nicht an die Decke oder Löcher in die Luft, sondern gar nicht, blickte wie zurück in sich hinein und schloss die Augen und wollte nur noch liegen, kein denken, nicht mal schlafen, nur liegen. Einfach nur liegen, dachte er. Er wollte schlafen. Er erhob sich mühselig und setzte sich an seinen Schreibtisch, schob unwirsch die Zettel und Bücher und Hefte und Stifte und Filme beiseite, nahm ein Paper, Gras und eine Zigarette und drehte sich einen Joint. Wenn er schon nichts zu tun hatte, nichts auf die Reihe kriegen würde, dann konnte er auch gleich kiffen, dachte er, dann würde er vielleicht schlafen können, oder sich hin und her wälzen, oder an irgendetwas denken, das sich immer wieder im Schwall der Gedanken verlor, würde keinen Gedanken festhalten können, oder weiterdenken, würde alles durchdenken, aber nichts behalten, Auslöschung durch Wiederholung. Er rauchte aus dem Fenster und schloss es wieder, legte sich auf sein Bett und wartete bis der Nikotinflash (warum noch immer, dachte er, als hätte er nicht lange genug geraucht) vorbeiging, damit die Zittrigkeit aufhörte und dachte irgendetwas, was ihm wichtig oder gut erschien, wovon er aber wusste, dass es nichtig war, unterliess seine Gewohnheit alles aufzuschreiben um danach nicht von Erinnerungen im Viertelstundentakt mit banalen Gedanken, die ihm bahnbrechend erschienen, genervt zu werden und schlief endlich ein.

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Er nahm eine Cola aus dem offenen Kühlregal, liess sich die zwei letzten Samosa
einpacken, nahm noch eine Tüte Sea Salt & Black Pepper Crisps, zahlte und verliess den Laden. Es war ein kurzer Schlaf gewesen und überhaupt mehr ein Halbschlaf, ein hin und herwälzen und schliesslich war er aufgestanden mit einem vagen Hungergefühl und war, aus dem einzigen Grund, dass ihm wirklich nichts anderes einfallen wollte, zum Späti gegangen um sich Samosa und eine erfrischende Limonade zu holen. Jetzt ging er langsam nach Hause und der Weg kam ihm unendlich lang und anstrengend vor. Die Treppen hoch ging er in die Küche, warf die Samosa in das Backrohr und machte sich seine Cola auf. Immerhin, erfrischend, dachte er und fragte sich, wo sein Mitbewohner war. Er sass regungslos am Küchentisch und blickte auf den Ofen wie durch ein Fenster. Er überlegte, ob er rauchen sollte, doch der Gedanke allein verursachte ihm eine leichte Übelkeit, sodass er es sein liess. Er nahm die halbwarmen Samosa aus dem Ofen und verspeiste eines ohne grosse Lust, aber mit soviel scharfer Sosse, dass ihm Schweissperlen auf der Stirn standen und er liess zweite auf dem Teller am Küchentisch liegen. Er nahm seine Coke und die Crisps und ging in sein Zimmer, schloss die Tür und legte sich auf das Bett, musste aber sogleich feststellen, dass er in dieser Position nicht wirklich trinken konnte, also setzte er sich auf, mit dem Rücken gegen die Wand und stand sogleich wieder auf, holte sein Macbook und setzte sich wieder aufs Bett, die Decke und die Kopfkissen gegen die Wand gelegt und seinen Rücken dagegen. Er überlegte eine Serie zu schauen, aber wusste nicht welche, von Archer hatte er bereits alle Folgen gesehen, mehrmals, und es gab noch immer keine neue Staffel, stellte er enttäuscht fest, als er watchseries.lt aufgemacht hatte. Für einen Moment scrollte er durch seinen Facebook Newsfeed aber auch hier fand sich nichts wahnsinnig interessantes. Wie immer, dachte er, nahm sich noch etwa acht Sekunden um durch seinen Twitter-feed zu scrollen und dabei die Tweets zu überfliegen, von denen er eventuell Interessantes zu erwarten hatte, brach aber ab, als er merkte, dass er ohnehin nichts wirklich las, bzw. das Gelesene fast im selben Moment wieder vergass und wechselte wieder zu watchseries.lt und überlegte, welche der bereits gesehenen Folgen besonders gut war, was schwierig war, dachte er, da alle gut waren, und ihm zu keiner ein besonderes Highlight einfiel, dass er jetzt meinte unbedingt nochmal sehen zu müssen, also liess er es und machte ein neues Tab auf, watchcartoononline.com, und suchte Adventure Time Folgen. Hier gab es immer neue, also wählte er die neueste aus und schaute sie. Sad Face (S6E5) ist eine der vielleicht aussergewöhnlichsten Episoden der ohnehin aussergewöhnlichen Serie. Am Beginn werden wir in die beobachtende Perspektive von Beemo und seinen Freunden versetzt, die Jakes während dem Schlaf sich von ihm davonstehlenden Schwanz beobachten, sich jedoch nur für das Erwachen desselben und dessen Ausbruch aus dem gemeinsamen Heim interessierten, wohin er ginge, sei, so Beemo, „none of our business“. Die ZuseherInnen können gleichwohl weiterverfolgen, wohin sich der Schwanz mit dem Eigenleben nun – immer noch mit Jake verbunden, durch dessen offenbar unendliche Dehnbarkeit in seiner Reichweite jedoch uneingeschränkt – begibt und was er dort erlebt. Er schlängelt sich durch den Wald und kommt schliesslich an einem Zirkus an, wo er zuerst – Jake war nicht gleich eingeschlafen – aufgrund seiner Verspätung gescholten wird, geht dann sogleich in seinen Trailer, schminkt sich ein sad face, setzt seinen Hut auf und betritt die Manege.
Doch seine Darbietung findet keinen rechten Anklang, „too artsy too less fartsy“, findet der Zirkusdirektor. Die Hauptattraktion des Zirkus ist dann ein – im Vergleich zu den anderen Protagonisten riesiges – Eichhörnchen, das dem Publikum als furchterregendes Monster vorgeführt wird, und aufgrund der Grössenverhältnisse im Zirkuszelt wahrlich monströs wirkt. Es wird in Ketten in den Zirkus gebracht und gereizt, bis es zornig ist, die Ketten zerreisst und sogar den Direktor und die Zuschauer angreift. Doch Sad Face greift ein und durch rhythmische Bewegungen seines Schlangenähnlichen Körpers hypnotisiert er das wütende Tier wie ein Schlangenbeschwörer, durch einen geschickten Schuss des messerwerfenden Grashüpfers wird es dann betäubt und später wieder in seinen Käfig gesperrt. Die brutale Knechtung und Ausnutzung des Tieres empört Sad Face, sodass er den Direktor zur Rede stellt, er habe ihm doch versprochen, sie würden das Tier frei lassen, der wiederum entgegnet ihm, dies sei die Nummer, die am meisten Geld bringe, wenn sie wieder andere Zugpferde hätten, würde er es frei lassen. In der darauf folgenden zweiten Show zieht der Schwanz von Jake dann eine plumpe Slapstick-Nummer ab, die das offenbar wenig anspruchsvolle Publikum köstlich zu amüsieren scheint, die in die Manege fliegenden Pennies übersteigen die Zahl der für das Eichhörnchen geworfenen. Trotzdem lässt der geldgierige Zirkusdirektor es wieder vorführen.
Nun beginnt Sad Face’s Rache – oder sein Befreiungszug. Er entreisst dem Direktor
seine Peitsche und peitscht ihn selbst durch das Zelt, überwältigt dessen Schergen und nimmt Reissaus mit dem Eichhörnchen. Doch sein being attached wird ihm zum Verhängnis, die Schergen des Zirkus ziehen ihn an seiner Verbindung zu Jake zurück und stellen ihn zur Rede. Als ihm einer den Hut ins Gesicht drückt wandelt sich seine Schminke und er ist nicht mehr länger ein sad face, sondern scheint nun zu lächeln. Da geht die Sonne auf und der Schwanz zieht sich rückwärts zurück zu seinem Besitzer, Jake, vorbei an Zirkuszelten, Wald und zwei sich liebenden Eichhörnchen bis er bei seinem Ursprung angekommen ist. Ein verschlafener Jake kann sich nur noch um Farbreste an seinem Schwanz und einen winzigen Hut in seinem Bett wundern. Das being attached, das hier physisch dargestellt ist, ist auch im übertragenen Sinn zu lesen: Er ist Jake verbunden und mit ihm verbunden. Seine Beziehung war ihm hinderlich am Ausbrechen aus seiner gewohnten Umgebung, jetzt, wo sich die Gelegenheit geboten hatte. Aber es wird auch sogleich die Sinnlosigkeit des Versuchs aufgezeigt, da das Eichhörnchen sich ohnehin für Seinesgleichen interessiert. Seine Verbindung lässt die Anderen ihn zunächst zurückziehen, hindern an der überstürzten aber beherzten Flucht, zugleich aber rettet ihn die Verbindung selbst, als sie ihm in der gefährlichen Situation erlaubt, sich selbst (zu Jake) zurückzuziehen. Auf seinem Weg in das schützende aber gleichwohl eintönige Leben des im Schlaf erst Erwachenden, dessen Gang zum Zirkus – können wir uns vorstellen – erst aus demselben Wunsch nach Neuem, Spannendem – kurz: Anderem, entstand, aber gleichzeitig ein Gang ist, der nur im Traum stattfindet, ein Traum von Freiheit, der nun selbst zur traurigen Routine geworden war; in seinem Rückzug sieht er noch das Eichhörnchen mit einem Anderen vereint, seine Flucht also wäre eben nur ein überschw.nglicher Ausbruch der eintönigen Pulslinie des Lebens geworden, der ihn nach dem nahenden Ende noch weiter hätte zurückgeworfen.
Ist Sad Face glücklich? Wir wissen es nicht, denn zum glücklich sein gehört mehr als das momentane, erhebende Gefühl, das wir auch Glück nennen, zum glücklich sein gehört die Zeit. Momentan ist er nicht mehr er selbst, er ist durch sein Erlebnis – gleichwohl immer noch unter der semantischen Parenthese des Traums mit allen seinen Implikationen – Happy Face geworden. Was die Zeit bringt, zeigt die Episode nicht, kann sie nicht zeigen, weil sie, wie das Leben, in Entfaltung begriffen ist. Vielleicht aber, so hofft der Zuseher und die Zuseherin, zeigt es Adventure Time.


1 Vgl. George Orwell. 2008 [1949]. Nineteen Eighty-Four. London: Penguin.
2 Jacques Derrida. 2007. Berühren, Jean-Luc Nancy. Berlin: Brinkmann & Bose, 8-9.
3 Ebd., 13.
4 Ebd.
5 Dass künstlerische Fotografie, die sich ungewohnter Blickwinkel, wie dem der Vogelperspektive
bediente, in einer Zeit entstand, in der die militärische Aufklärung durch Spionageflugzeuge
kriegsentscheidend werden konnte, ist sicherlich ein weiterer zu beachtender Punkt.
6 Vgl. Friedrich Teja Bach. 2004. Constantin Brancusi: Metamorphosen plastischer Form. Köln:
DuMont.

Leseprobe: Tina Ger – “Das Angeln von Piranhas”

Schließlich gelangen wir am Abend vor die Tore Poconés. Der Himmel ist unsichtbar vor tief hängenden Wolken, die immer weiteren Regen versprechen. Die schwüle, heiße Luft drückt unsere Körper in die Sättel. Die Pferde sinken im tiefen Matsch ein. Das schmatzende Geräusch ihrer schweren Schritte begleitet uns seit Stunden. Im andauernden Regen hat sich die alte Straße zu einem einzigen Sumpf verwandelt. Sie ist eigentlich nicht mehr als eine unbefestigte Fahrrinne, die rechts und links von kniehohen Steinen markiert wird. Sie haben die Brocken einst aus den Gruben geholt, in denen Gold geschürft wurde. Auch ihre Häuser bauten die Pantaneiros aus Goldgräbergeröll. Das ist lange her. Es ist kaum mehr jemand da, der sich an diese Zeit erinnern kann. Die weit verzweigten Minen sind längst erschöpft. Die Stollen sind zugeschüttet oder werden in der Nähe der Grenze nach Bolivien zum Schmuggel benutzt. Niemand interessiert sich mehr für diese trostlose Gegend. Einzig die Verlierer und Bandidos sind im Pantanal geblieben. Und das ist vielleicht auch gut so. Unsere Pferde sind nach dem Gewaltmarsch so erschöpft wie wir. Sie stehen vor Dreck. Tier und Mensch teilen denselben Geruch. Das ist das Schicksal des Vaqueiros. Immerhin hat der Regen die Fliegen und Mücken vertrieben. Einen Teil der Rinder, die sich schwerfällig von unseren Pferden treiben lassen, führen wir auf die Ranch, die den Verkauf übernehmen wird. Den Rest der Herde treiben wir zum Schlachter. Damit ist unsere Arbeit nach Anbruch der Dunkelheit getan. Ich steige vom Pferd ab. Meine müden Knie geben dem Gewicht meines Körpers für einen Moment nach. Das Pferd schnaubt.
Die Brüder werden am nächsten Morgen mit den Pferden zurück nach Quatro Santos reiten. Ich lasse mein Reittier bei ihnen, schultere den Inhalt meiner Satteltasche und winke am Straßenrand bei Poconé einem Mototaxi. Es wird mich nach Hause bringen. Ich habe zwischen den verlassenen Goldgräbergruben und der Stadt eine Chácara gekauft. Mein Grundstück umfasst einen winzigen Hof samt baufälliger Backsteinhütte. Trotz der Tristesse bin ich stolz auf mein Heim. Es ist alles mein Besitz, von dem Geld erworben, das ich als Callboy verdient habe. Ein ervögeltes Stück Heimat. Man sieht dem Land die ruchlose Finanzierung nicht an. So ist es gutes Geld geworden das mich glücklich macht. Dass dieser blutleere Sex zu mehr als meiner Vernichtung zu gebrauchen sein würde, hätte ich in Fortaleza nicht zu ahnen gewagt. War ich nicht unweigerlich auserkoren unterzugehen? Der Regen des Pantanals hat meine törichten Sehnsüchte ertränkt. Mein Garten, meine Pflanzen, die schweren Früchte an den Bäumen sind jetzt meine Leidenschaft, obwohl ich der Natur um mich herum früher nie etwas abgewinnen konnte. Plötzlich aber erfüllt mich die Gartenarbeit mit inneren Frieden. Ich habe die ewige Enttäuschung hinter mir gelassen. Sie irrt in Fortaleza um die Häuser selbstgewählter Gefangenschaft. Heute kann ich mich über eine neue Blüte, eine reife Mango oder sprießenden Setzling mit seltener Freude ereifern, denn ich habe die Freiheit gefunden. Mein Herz schlägt in Erwartung der herrlichen Idylle, die mein Refugium mir verspricht.
Auf dem Mototaxi schlägt mir neuer Regen erbarmungslos ins Gesicht. Das Zweirad kämpft sich in dunkler, sternenloser Nacht durch die tiefen Pfützen, die sich in den Schlaglöchern der Geröllpisten gebildet haben. Alle paar Meter springen riesige Käfer in das Licht des Scheinwerfers und finden ihren frühen Tod unter den Reifen unseres schlitternden Gefährtes. Trotz dem flatternden Regenponcho bin ich mittlerweile völlig durchnässt. Am Ende der Straße nähern wir uns meinem Domizil. Im Lärm des Regens und Motors hört mich der Führer meines Motortaxis nicht. Ich klopfe ihm auf die Schulter und zeige auf das Tor zu meinem Hof. Er hält rutschend im Matsch. Aus meinem Sack, den ich in der Satteltasche mitgeführt habe, ziehe ich das Geld, das mir meine Königin gegeben hat. Dann gebe ich den Helm zurück und gehe durch den Regen den schlammigen Weg zu meinem Haus hinauf. Da ich keine Wertgegenstände besitze, schließe ich manchmal nicht ab. Nicht so dieses Mal. Ich fluche, stehe im strömenden Nass und suche nach dem Hausschlüssel im Sack. Ein Klimpern leitet mich bis in die Tiefen und schließlich stoße ich mit den Fingerspitzen auf Metall und ziehe ihn hervor.
In meinem Haus schüttle ich mich wie ein Hund. Von jeder Haarspitze fliegen Wassertropfen, die im Flur an die Wände klatschen. Ich reiße mir die nassen Klamotten vom Leib, lasse sie achtlos im Flur liegen und trete nackt in die Küche um Wasser aufzusetzen. In der Hitze der schwülen Nacht trocknet mein Körper nicht. Die Luftfeuchtigkeit vermengt sich mit dem Regen auf meiner Haut zu einem feuchten Film, der sich anfühlt, als würde ich in seichtem Brackwasser stehen. Es stinkt. Das bin ich. Der Kessel auf dem Gasherd pfeift. Ich gieße das heiße Wasser in eine Tasse und verlasse die Küche, um ein Handtuch zu suchen. Das Haus liegt im Dunklen. Ich entzünde kein Licht, um die wasserscheuen Moskitos nicht zu mir in meine trockene Höhle zu locken. Mit meiner dampfenden Tasse in der Hand, beobachte ich den Regen, wie er monoton gegen die Scheiben knallt, als fahnde er nach einem Weg hinein. Die Nacht ist mondlos. Gedankenverloren lehne ich mich gegen den Holzpfosten, der die Mitte meines Hauses bildet und verharre in dankbarem Sein um meine neue Unabhängigkeit und die köstliche Ruhe, die mich umgibt, als sich plötzlich ein Schatten in meinem alten Korbsessel bewegt. Das Geflecht knarrt, als säße jemand in ihm.
Oi, höre ich eine leise Stimme aus dem Sessel kommen. Meine Hände verkrampfen sich um die Tasse Tee, die ich halte. In meinen Nacken fährt eine feine Gänsehaut. Ich ziehe die Schultern hoch, als müsse ich mich wappnen, als gelte es sich zu verteidigen. Die Anspannung pulsiert durch meine Glieder. Mein Herz pumpt das Blut durch meinen Körper und peitscht Leben in mich, das ich nicht haben will. Wie ein Puma starre ich in die Nachtschwärze meines Hauses. In der fahlen Dunkelheit kann ich die Silhouette einer Frau ausmachen, die im Korbstuhl ihre Beine übereinander schlägt als wäre sie zu Hause und genieße die Aussicht. Ihre Arme ruhen auf den Lehnen. Dann höre ich den alten Sessel unter ihrem Gewicht wieder stöhnen. Sie setzt sich auf, um mir ihr Gesicht zuzuwenden und meine Augen verarbeiten die Information, die in meinem Gehörgang schon längst zu Realität geworden ist: Sie ist es. Es ist Yara.
Aus meinem Körper weicht alles Gefühl. Ich verliere die Kontrolle über meine Muskeln und höre die Tasse mit einem lauten Klirren auf dem Steinboden aufschlagen. Sie zerspringt in tausend Teile. Das heiße Teewasser, das sich auf dem Boden um meine nackten Füße ausbreitet, spüre ich nicht. Yara…, dringt meine eigene Stimme zu mir, als gehöre sie mir nicht.
Es war offen, sagt sie als interessiere mich, wie sie ins Haus gekommen ist.
Yara…, wiederhole ich atemlos und fühle mich nicht fähig weitere Worte zu gebrauchen.
Die Gedanken überschlagen sich in meinem Kopf ohne dass ich sie wirklich denken kann. Es tost zwischen meinen beiden Ohren als wären alle Meeresozeane in mir eingeschlossen und brandeten gegen meine Gehirnwände.
Yara…, höre ich mich wieder und höre meine eigene Fassungslosigkeit.
Ja, ja, ich bin es.
Vollkommen unbeeindruckt von meiner Erregung, lehnt sie sich im Korbsessel zurück. Sie ist es, hallt es durch meinen Kopf. Sie ist hier. Ich sehe sie und kann es doch irgendwie nicht recht fassen. Es ist einfach zu unmöglich.
Musst du unbedingt am Ende der Welt wohnen?, höre ich sie wie eingeschnappt fragen und dann zieht sie ihre Beine zu sich heran und umschlingt sie mit den Armen.
Das Kinn lässt sie auf die Knie gleiten.
Es ist ziemlich nass hier, höre ich sie sich weiter beklagen und habe plötzlich das Gefühl mich an dem Pfosten, bei dem ich stehe, festhalten zu müssen.
Ich schwanke. Es ist ein Schwindel, der mich erfasst, wie im völligen Rausch. Die Scherben unter meinen Füßen stören mich nicht, denn meine Sinne überflutet eine übermächtige Welle von Glück. Jede Faser meines Seins entledigt sich der Schwere und gleitet in eine Form von Enthusiasmus wie ich ihn nur nach sportlichem Erfolg kenne. Ich spüre die Anspannung aus den Gliedern fahren und einem völligen Taumel Platz machen. Eine ausgelassene Aufregung packt mich, die sich auf meinen Atem niederschlägt.
Yara!, sage ich wieder.
Ein Strahlen fällt mir auf die Lippen. Ich muss vollkommen bescheuert aussehen.
Kannst du auch noch was anderes sagen?, höre ich von ihr und fühle mich bestätigt.
Sie hat die Stimme erhoben. Offenbar ist sie genervt. Ich lasse mich davon nicht entmutigen, sondern steige über die knirschenden Scherben und greife nach ihrer Hand. Sie sieht zu mir auf. Ihr Blick gleitet über die Nacktheit meines Körpers ohne die geringste Scheu. Ihre unerschöpfliche Selbstsicherheit hat mich schon immer erstaunt. Sie steht über den Dingen und über mir obgleich sie sitzt und ich stehe. Ich sehe sie die Stirn in Falten legen. In alter Gewohnheit sieht sie sich den Ton angeben, doch dem komme ich zuvor. Steh auf, fordere ich, weil ich sie in der Dunkelheit des Korbsessels kaum sehen kann.
Nein, erwidert sie störrisch, ich muss mich erholen. Ich war drei Tage, hörst du, drei Tage im Bus unterwegs, um hierher zu kommen und dann warst du nicht mal da.
Sie ist scheinbar wirklich sauer auf mich.
Jetzt bin ich ja da, beruhige ich sie und kann gleichzeitig nicht genug von ihren Beschwerden bekommen.
Dass sie mich in der Abgeschiedenheit meiner Hütte so vermisst hat, verschafft mir Befriedigung. Ich will, dass es genau so ist. Ohne weiter auf ihren Widerwillen zu achten, ziehe ich sie aus dem Korbsessel und trete einen Schritt zurück, um sie betrachten zu können. Ihr rotbraunes Haar ist heller geworden. Blonde Strähnen fallen ihr ins Gesicht. Sie streicht sie sich aus der Stirn. In der nachlässigen Bewegung ihrer Hand liegt diese betörende Sinnlichkeit, die mich fast besinnungslos macht. Ihre blasse Haut ist der brasilianischen Bräune gewichen, die unvermeidbar erst den Nacken und dann den ganzen Körper erfasst. Sie steckt immer noch in zu engen Röhrenjeans, als gäbe es keine anderen Größen. Ich ziehe sie zu mir heran, um ihre Haut auf der meinen zu spüren, doch sie entwindet sich mein Griff.
Cowboy, du stinkst!
Sie rümpft die Nase und sieht mich herausfordernd an. Ich schnappe sie mir unbarmherzig. Mit einem schnellen Griff lege ich ihr die Arme auf den Rücken und halte sie fest. Luca!, beschwert sie sich.
Halt den Mund, Yara, bestimme ich.
Sie sieht mich überrascht an. So kennt sie mich nicht, denn ich habe mich in der Zwischenzeit verändert. Ihr Protest verhallt ungehört. Damit hat sie nicht gerechnet. Ich gebe ihr Zeit mein neues Ich zu verarbeiten. Sie bemerkt die Muskeln meiner Oberarme, die sie halten. Sie sieht die neuen Dimensionen meines Körpers, den die schwere Farmarbeit geformt hat und beginnt zu verstehen, dass sie es heute mit mehr zu tun bekommt, als meinem alten ihr erlegenem Sein. Ich war schwach und dumm. Endlich lasse ich ihre Arme los, um ihren Kopf in meine Hände zu nehmen.
Du gehst also nicht duschen?
Nein, sage ich tonlos und weiß, dass sie die neuen Machtverhältnisse verstanden hat.
Ich brauche sie nicht mehr, als sie mich. In den Sekunden, die verstreichen, fügt das Schicksal unserer Vernichtung ein neues Kapitel hinzu. Ich fahre mit dem Daumen die Kontur ihres zornigen Schmollmundes ab. Ich betrachte die helle Linie oberhalb ihrer Lippen und bin fast besinnungslos vor Lust. Das vage Wissen um den Untergang wird von meiner Begierde ausgelöscht. Sie macht mich zu Fleisch. Das morsche Brummen meines Verstandes verstummt. Auch Yara sagt irgendetwas, doch ich höre nichts mehr. Ich bin komplett ausgeschaltet. Meine Glieder vibrieren. Die Sehnsucht der letzten Monate erfüllt mich vollkommen. Ich beuge mich zu ihr und lege meine Lippen auf die Ihren. Sie schmecken nach Stadt. Das sind die unsichtbaren Spuren eines Lippenstifts, der auf der langen Busreise seine Farbe verloren hat. Irgendwann stoße ich auf ihre Zähne und werde ich ihrer Zunge gewahr, wie sie mir über die Lippen fährt. Dann schwappt die Erregung in sie, die mir längst aus allen Poren strahlt. Ich werde mir ihres Atems bewusst. Meine Hände greifen nach ihrem T-Shirt, das zu eng anliegt, um es ihr einfach über den Kopf streifen zu können, weshalb sie ihre Hände von meiner Brust nimmt und so mühelos aus ihren Klamotten gleitet, als wären sie nur aufgemalt.
(…)
*
Im Schatten des Papayabaums sitze ich in meinem alten Korbsessel und beobachte Yara wie sie durch den Garte streift. Sie greift nach allen Blüten, lässt sie sich durch die Finger gleiten und riecht dann und wann an ihnen, als wäre sie eine große Kennerin dieser oder jener Pflanzengattung. Sie hat sich meinen breitkrempigen Hut aufgesetzt und tief ins Gesicht gezogen. Heute scheint sie der Pferdegeruch nicht zu stören. Ich kann meine Augen nicht von ihr nehmen. Sie erscheint mir wie eine Reinkarnation von Frau und gleichzeitig als müsse der Begriff gänzlich neu für sie erfunden werden. Mit dem Daumen hat sie sich in ihr Bikinihöschen eingehakt. Ein Bein angewinkelt steht sie in meinem Unterhemd da und winkt flüchtig in meine Richtung. Die Sonne lässt den weißen Stoff durchsichtig werden. Endlich weiß ich, wofür dieses unerbittliche Strahlen vom Himmel gut sein soll. Aus Yara macht das grelle Licht eine durchscheinende Erscheinung obgleich ich sie wohl niemals verstehen werde. Sie ist atemberaubend schön. Sie entfacht meine Lust mit jedem Schritt, den sie vermeintlich harmlos umherspaziert. Sie ist mit meinem Begehren in ein stummes Gespräch vertieft. Es ist ein stetes Anschwellen und Aufbäumen von Argumenten und Stimmungen, die sich meinem Verstand entziehen. Ich spüre den Schwingungen nach und bin ihr völlig ausgeliefert. Mir liegt schon den ganzen Morgen ein Grinsen im Gesicht das sich nicht mehr fortwischen lässt. Ich bin wie Trunken vor Glück. Nur zugekokst oder im Vollrausch habe ich mich jemals so erfüllt gefühlt. In diesem unwirklichen Rausch verharre ich in meinem schattigen Korbsessel. Wir befinden uns in einem Moment des Stillstandes, ohne das alles wie eingefroren wirkt, sondern eher dieser lebendige, flirrende Stillstand kurz vor dem Start einen Rennens. Dieser eine Augenblick, in dem alle Eindrücke in doppelter Intensität einwirken. Manchmal wage ich es mich kaum, mich der schnöden Realität des Atmens hinzugeben, um das Überirdische ihres Seins nicht zu erschüttern und sie womöglich zu vertreiben. Mein Glück ist so unwirklich, ich kann es noch gar nicht fassen. Sie ist da. Hier. Bei mir. Im Vorbeigehen berührt mich sachte ihr ausgestreckter Zeigefinger. Sie fährt meinen Oberarm hinauf, verharrt einen Moment in meinem Nacken und zieht weiter ihre Kreise durch den Garten und auf das Haus zu. Ein Prickeln bleibt mir auf der Haut zurück. Die Intensität ihrer Anwesenheit lässt meinen Körper beben. Meine Empfindungen gehorchen mir längst nicht mehr. Sie haben sich ihr ergeben. Im Haus höre ich sie in der Küche klappern. Ich überlege mir zu ihr zu gehen und ihr mein Unterhemd vom Körper zu reißen doch dann sehe ich sie schon wieder in den Garten treten. Den Hut hat sie im Haus gelassen. Dafür hält sie jetzt eines der Buschmesser in der rechten Hand, die ich zur Farmarbeit benutze und kommt damit auf mich zu. Sie kneift die Augen zusammen, da die Sonne mir im Rücken steht und sie blendet.
Nimm, sagt sie und reicht mir das Messer.
Ich greife danach. Dann erklimmt mich Yara als wäre ich ein Berg. Es wäre leichter gewesen, wenn ich einfach aufgestanden und ihr eine der Früchte gepflückt hätte, doch schätzt Yara die Leichtigkeit nicht. Sie sucht das Abenteuer und klettert in den Baum. Konzentriert fokussiert sie eine reife, schattige Papaya. Die Frucht hängt an einem langen Ast. Ohne Hinzusehen weiß ich, dass es sich sicherlich um die Papaya handelt, die am Schwersten zu erreichen ist. Sie streckt sich und schiebt sie sich schließlich unter den Arm, um wieder an mir herunterklettern zu können. Ich nehme ihr die Frucht ab. Mit festem Boden unter den Füßen zieht Yara den Hocker, auf den ich meine Beine gelegt hatte, heran. Sie setzt sich im Schneidersitz darauf und schaut mich erwartungsvoll an. Ich erinnere mich an das Messer in meinem Schoß und schneide ihr die gelbe Papaya in Halbmondstreifen. Die Kerne lässt sie achtlos auf die Wiese fallen. Gierig verschlingt sie die süße, warme Frucht. Ich schneide ihr einen Halbmond nach dem anderen. Mit dem letzten, nachlässig abgenagten Streifen beginnt sie sich über das Gesicht zu fahren, als hielte sie nicht Papaya, sondern einen Wattebausch in der Hand. Ich sehe ihr dabei zu. Sie streicht sich ihr langes Haar über die Schulter und fährt mit ernsthafter Mine die Züge ihres Gesichtes ab, um jedes Grübchen mit dem Fruchtfleisch einzuschmieren. Als sie fertig ist, sieht sie gelbstichig aus und hat Papayareste im Gesicht hängen. Sie stört sich nicht daran.
Willst du auch?
Nein, danke, sage ich.
Sie hält ihr Gesicht in die kleine Brise, die zwischen den Bäumen hängt. Ihr Rücken ist ganz gerade. Im Schneidersitz sieht sie aus wie ein meditierender Buddha. Ich muss lachen. Das macht man so, erklärt sie ungerührt.
Hmhm, mache ich und sehe der Papaya beim Trocknen zu. Das ist gut für die Haut.
Sieht man gleich, sage ich um Ernsthaftigkeit bemüht, die mir nicht gelingt.
Du hast eben keine Ahnung.
Yara lacht jetzt auch und dann greift sie mit ihrer kleinen Hand nach meiner. So verharren wir in der leichten Brise des frühen Nachmittags.
Weißt du, woran ich denke?, frage ich irgendwann.
Der gelbe Papayabuddha schüttelt den Kopf.
Ich stelle mir vor, wie wir gemeinsam am Ufer des Amazonas leben.
Hmhm, macht sie jetzt.
Ich beschreibe das Bild vor meinen Augen. Es könnte ein Haus auf Stehlen sein, das im wogenden Fluss uns mit leichten Bewegungen einwebt. Wir würden mit der Natur um uns herum eins werden. Nach dem Aufstehen liefen wir die Holzplanken hinab. Der Sonnenaufgang wärmt uns. Bei den Stromschnellen würden wir unsere Angeln auswerfen und Piranhas für das Mittagessen aus dem Amazonas fischen. Glücklich verweile ich in meiner Vorstellung.
Es gibt ne Menge Moskitos da oben, sagt sie knapp.
Ja, bestätige ich wissend, das stimmt.
Ich denke an meine Zeit auf der Chalana. Der sachte Benzingeruch des kleinen Motorbootes hüllte mich ein. Sonst gab es nur Baumwipfelgrün das meinen Blick streifte. Das Ufer wog mich in seinem verlässlichen Immergleich im Takt der seichten Wellen des breiten Flusses. Das war der erste Ort meines Lebens, an dem ich in selige Gelassenheit gefunden habe. Ich gesundete am Amazonas, er heilte mich von meinen Verletzungen und ebnete den Weg für den Pantanal. Ohne den Fluss hätte ich niemals die Kraft gefunden, das Leben erneut anzupacken. Ich wäre zur Grunde gegangen. Dahinvegetiert. Und schließlich abgenippelt.
Es gibt unendlichen Frieden dort, fasse ich meine Gedanken zusammen.
Yara gähnt.
Piranhafischen klingt für mich nicht nach Frieden, sondern nach tödlicher Langeweile, kommentiert sie mein kleines Paradies.
Hm, mache ich und beobachte die feinen Züge ihres schmalen Gesichts. Ihr Haar hängt ihr tief in den Rücken hinab. Hier und da kringelt es sich in nachlässigen Locken. Yaras Hand ist in der meinen ganz schweißig geworden. Sie entzieht sie mir und wischt sie an meinem Unterhemd ab, das sie immer noch trägt.
Ich brauche die Stadt, sagt sie und erinnert mich an mich. Das habe ich auch gedacht, nicke ich. Die Stadt, sinniere ich und erinnere in leiser Ferne einen unbestimmten Lärm.
Was hat dich davon abgebracht?, will sie wissen.
Die Stadtsucht hat mich aufgefressen. Sie hat mich krank gemacht und mich von mir selbst entfernt. Ich habe mich selbst in der Stadt verloren und bin kopflos meinem Schatten nachgejagt. Ich habe gelitten. Ich habe mich betäubt. Wie soll ich ihr das erklären?
Keine Ahnung, sage ich einfach und lasse meinen Blick durch die Weite des Landes um meinen kleinen Hof streifen.
Sie blickt mich an.
Die Stadt ist der Tod. Ich wollte das Leben, erkläre ich ausweichend.
Sie nickt. Das Leben ist ein Biest. Egal wo, sagt sie und klingt dabei als hätte sie schon ein paar Lebenskleider getragen. In meinen Gedanken sehe ich sie vor einer großen Holztruhe stehen. Sie zieht lange, altmodische Kleider hervor, die sie kritisch mustert und dann kurzerhand auf links dreht, um die abgestoßenen Nähte und Borten hinter seidenem Innenfutter zu verstecken. So getragen wirken die alten Mottenfetzen wie neue Ballkleider. Das ist Yara. Sie wirkt hell und rein und ist doch pechschwarz.
Ja, bestätige ich, ohne für meine Zustimmung das rechte Gefühl parat zu haben, weil meine Leben gerade vor Glück trieft. Für mich ist es genau richtig. Egal, was Yara sagt oder denkt. Ich gehe jetzt duschen, lässt sie verlauten und entwirrt ihre Beine aus dem Schneidersitz.
Nimmst du mich mit?
Nein, befindet sie streng.
Ich sehe sie an. Sie stützt sich auf die Lehnen meines Korbsessels. Ihre Haare fallen mir ins Gesicht. Ich streiche sie ihr auf den Rücken. Das schwere Haar in ihrem Nacken ist warm von der Sonne. In Yaras Augen sehe ich eine Unternehmungslust blitzen.
Ich will, dass du mir deine Goldgräberstadt zeigst.
Poconé?, frage ich.
Ja! Sie zieht meine Hände aus ihren Haaren, wirft mir einen flüchtigen Kuss zu und läuft ins Haus. Ich sehe ihr nach. In ihren federnden Schritten liegt diese unbedingte Lust auf das Leben, die mich schon in Berlin in den Bann geschlagen hat. Yara will das volle Leben. Alles davon. Mit allen Abgründen. Kompromisslose Gier. Sie fühlt sich lebendig in allem Neuen und in allem Risiko. Sie geht durch das Leben ohne sich umzudrehen. Sie kennt keine Scheu. Keine Zurückhaltung. Keine Sorge.
Ich lehne mich in meinem Korbsessel zurück. Die Sonne ist glühend heiß. Hoffentlich lässt sich Yara Zeit im Bad. Ich lege meine Beine wieder auf den Hocker, den sie nicht mehr besetzt und spüre ein Bedauern in mir erwachen. Ein Bedauern um die Makellosigkeit, die mein Hof bisher für mich hatte. Er war meine Höhle und mein Refugium. In Yaras Augen findet das alles nicht statt. Sie meidet alle Sicherheit, in der für sie nichts weiter als Langeweile liegt. Sie bewegt sich durch den Schmerz, den das Leben für sie bereit hält, wie eine stolze Regentin. Sie nimmt ihn an ohne zu fragen. Sie hadert nicht, sie zweifelt nicht und sie bereut wahrscheinlich niemals. Unerbittliche Erneuerung liegt in allen ihren Bewegungen. Wie ein Chamäleon gleitet sie von einer Haut in die nächste und von einem Leben in das andere. Ich bin auch einmal so gewesen. Ich habe mir das echte Leben so sehr gewünscht. Ich wollte mich spüren und nicht einfach so existieren. Doch dieses Leben ist hart. Es fordert viel. Yara hat vor diesen Lebensklippen keine Furcht. Sie nimmt das Leben wie es kommt. Sie braucht die Veränderung, wie die Luft zum Atmen. Das Prinzip Yara kennt keinen Alltag. Keiner kann an ihrer Seite existieren, weil Yara keine Seiten hat. Sie ist luftdurchlässig, wie Gaze. Sie erneuert sich beständig. Ich blicke in den ausgewaschenen Himmel und weiß, dass ich nicht so bin. Ich wünschte mir mein Leben in Auslassungen leben zu können. Ich brauche nur noch Ruhe und die Erfüllung meines Begehrens nach ihr. Der Rest meines Daseins kann meinetwegen elliptisch verlaufen. Ich schätze den Schmerz nicht mehr, den Yara immer noch für ein besonderes Lebenselixier hält. Das ist eine Schimäre, doch ich weiß, dass auch ich noch vor wenigen Monaten nicht geglaubt hätte, dass der Sinn des Lebens nicht in der Selbstverstümmelung liegt. Während ich mittlerweile vor dem Abgrund flüchte, sehnt sie ihn sich herbei.
Mit einem fertigen Lächeln tritt sie aus meinem Haus. Ihre Haare sind nass. Sie wringt sie aus, als wären sie ein Stück Stoff. Dann bindet sie sie am Hinterkopf zu einem Knoten zusammen. Ihr Kleid klebt an ihrem feuchten Körper. Wahrscheinlich stinken meine Handtücher zu sehr, um sie zu benutzen. Sie tritt zu mir und reicht mir ihre Hand. Ich erinnere mich daran, wie sie mich in unserer ersten Nacht aus dem bonbonfarbenen Sessel des Berliner Hotelzimmers mit derselben Geste auf die Reise geschickt hat. Eine Reise, die vor den Toren einer namenlosen Goldgräberstadt im brasilianischen Hinterland endete. Yara sieht mich an. Ihr Blick ruht auf mir und erzählt von Gelassenheit, als wolle sie mir Mut machen. Und dann grinse ich sie an, weil ich weiß, dass ich auch dieses Mal die Reise antreten werde. Egal, wo sie mich diesmal hinführen wird. Sicher ist, dass wir niemals bleiben werden. Wohin auch immer uns das Schicksal verschlagen wird.
(…)
*
Was ist das?, frage ich blöd und weiß es doch sofort.
Mein Telefon klingelt, sagt Yara.
Du hast ein Mobiltelefon?
Klaro, sie sieht mich an und zieht eine Augenbrauche hoch. Ich nicke und bin trotzdem irritiert. Mir ist entfallen, wann ich mein Smartphone das letzte Mal gesehen habe. Es wird irgendwo in Fortaleza geblieben sein. Ich habe seit Monaten nicht daran gedacht zu telefonieren. Es gibt ja auch niemanden, den ich hätte anrufen wollen. Irgendwann endet das Klingeln, das aus der Hütte schallt. Mit dem Pinsel in der Hand stehe ich im Garten und weiß nicht weiter. Ich habe Yara erzählt, dass wir das Haus anstreichen müssen, bevor ich den Hof verkaufen kann. Dabei werde ich mein Refugium wohl auch mit frischem Farbanstrich nicht verkauft bekommen. Das Grundstück stand jahrelang leer und verfiel, bevor ich kam und es rettete oder mich hier retten ließ. Diese gottverlassene Gegend ist kein Ort, der viel Zuzug zu verzeichnen hat. Die Menschen gehen eher, als das sie kommen. Irgendwie wollte ich einfach Zeit gewinnen. Ich mag mein Leben im Pantanal. Ich brauche mein Leben hier, weil ich in der Stadt nicht mehr überleben kann. Ich kann nicht ohne die Weite der Steppe vor meinen Augen sein, weil unweigerlich Großstadtdschungel an ihre Stelle träte und sich darin Gefahren und Verführungen tummeln, denen ich nicht gewachsen bin. Sie würden mich kaputt machen, zermalmen, zerquetschen wie eine faule Tomate. Es ist September und damit viel zu heiß um körperlicher Arbeit nachzugehen. Manchmal steigt das Thermometer bis aufsechsunddreißig Grad. Gleißend beißt uns der rote Feuerball ins Gesicht. Ich schiebe mir meinen Hut aus dem Gesicht und wische mir den Schweiß von der Stirn. Yara pinselt mit leichter Geste mein Haus gelb an. Mir war die Farbe egal, weil es sowieso nicht um die Farbe geht. Mein Haus wird gelb und ich weiß nicht weiter. Ich will Yara fragen, wer sie anruft und warum sie ein Mobiltelefon hier in mein Haus gebracht hat. Ich will wissen, welches Leben dahintersteckt und warum sie mir nichts davon erzählt. Seit sieben Monaten ist sie hier bei mir und seitdem hat es nicht ein einziges Mal geklingelt. Warum jetzt? Außenwelt dringt auf mich ein ohne dass ich darauf vorbereitet war. Das Gefühl, das mich überwältig, erinnert mich an Eifersucht. Nur ist es heftiger und schneidender. Vielleicht weil es so überraschend kommt? Es gibt in ihrem Leben mehr Menschen als mich. Das weiß ich. Sie hat mir erzählt, dass sie in Kontakt mit ihrer Schwester Lily steht. Warum auch nicht? Vielleicht ist nur sie es, die da gerade angerufen hat? Manchmal kann ich mich selbst nicht ertragen. Eine heiße Welle von Scham überkommt mich. Es ist schon wieder passiert. Aus mir ist ein Mensch geworden, den ich selbst nicht ertragen kann. Ich muss mich hinsetzen. Yara blickt mir hinterher, wie ich mich in den Schatten meines Papayabaums setze. Was ist?, fragt sie.
Mir ist heiß, sage ich vage und greife nach einer Karaffe Wasser.
Sie wendet sich wieder ihrer Arbeit zu. Ich stelle das Wasser zurück und zweifle an mir. Ich kann nicht mit und auch nicht ohne sie leben. Was ist da die Alternative?
Selbstbetrug ist die Alternative. Klar, darin bin ich gut. In dieser Disziplin macht mir niemand etwas vor. Ich komme ständig an diesen Punkt in meinem Leben. Als liefen alle Wege, die ich einschlage, immer auf das gleiche Ziel hinaus. Und dennoch, ich kann es irgendwie noch nicht fassen. Ich bin nicht bereit meinen Hof für sie aufzugeben, denn ich verlöre mit ihm alles, was mir lieb und teuer ist. Irgendwie hänge ich der Hoffnung nach, sie doch noch von diesem Leben hier draußen überzeugen zu können. Um der Langeweile zu entkommen, halte ich sie mit Erkundungsritten in Bewegung. Manchmal wünscht sie sich einen Affen als Haustier, aber das konnte ich bisher verhindern, obwohl ich ihr sonst jeden Wunsch von den Augen ablese. Ich will nicht gehen, muss ich mir selbst zugestehen und dennoch sehe ich irgendwie einem Ende entgegen. Vor allem dem Ende meiner Nerven. Jetzt greife ich doch nach der Karaffe mit dem warmen Wasser, lasse es mir die Kehle hinunter rinnen und habe plötzlich das dringende Gefühl mich betrinken zu wollen. Dabei habe ich seit Monaten nicht mehr das Bedürfnis verspürt, eine Bar zu betreten. Ich seufze. Selbstbetrug und Alkohol sind wie zwei Seiten derselben Medaille. Das eine geht unweigerlich mit dem anderen zusammen. Ohne weiter darüber nachzudenken, lasse ich meinen gelben Pinsel auf die Wiese fallen und überlasse das weitere Streichen Yara. In Poconé trete ich an die erste Bar am Stadtrand. Es ist noch heller Tag. Die Hitze hat alle Bewohner der kleinen Goldgräberstadt in die Innenräume ihrer bunten, kleinen Häuser getrieben. Dort hocken sie in klimatisierten Zimmern oder unter klappernden Deckenventilatoren und hoffen auf Besserung. An der Bar stehen Menschen, die ich nicht kenne. Keiner dieser Leute ist mir je begegnet, obwohl Poconé eine winzige Stadt ist. Ich sehe sonnengegerbte und tief zerfurchte Gesichter. Bewegungslos verharren sie am Tresen hinter den Rauchschwaden ihrer Zigaretten, die in den wolkenlosen Himmel ziehen. Ein leises Murmeln fast nur lauteres Schweigen liegt in der stickigen Luft. Direkt neben der Bar bietet eine junge Frau ihre Friseurdienste an. Ich habe sie schon einmal gesehen. Sie zieht von Hof zu Hof mit ihrem Plastikschemel. Ihre Knöchel sind geschwollen. Das wird nicht ihre letzte Schwangerschaft sein. Manchmal sehe ich sie mit ihren Kindern, die ihr wie junge Labradore folgen, in der Stadt ihre Einkäufe erledigen. Ihre Körpermitte ist bereits so angeschwollen, sie wird wohl bald niederkommen. Als Ehemaliger in dem Geschäft, erkenne ich sie. Sie bietet sich mir mit einem Blick an, der so bleiläufig wie eindeutig ist. Die Schwangerschaft setzt ihrer Arbeit kein natürliches Ende. Ein Kunde sitzt auf ihrem Plastikhocker, hält ein kühles Bier in der Hand und lässt sich die Haare stutzen. Die vertraulichen Gesten, die sie austauschen, lassen darauf schließen, dass das nicht alles ist, wofür er sie zu bezahlen gedenkt. Ich wende mich ab und versuche zwischen den unbekannten Gesichtern an der Bar auf meinen Platz zu finden. Ein leichtes Bedauern durchzieht meine Glieder. Ich komme mir vor, wie ein geprügelter Straßenköter. Ich gehöre nirgendwo hin. Also lasse ich die Schultern hängen und gehe wieder. Ich drehe mich um meine eigene Achse und laufe zurück zu meinem Refugium, dass nicht mehr mein Refugium ist, sondern der Mittelpunkt meiner Angst.
Schon von der Ferne rieche ich den Acrylgeruch der Farbe. Er liegt unerträglich schwer in der Luft. Mein Kopf dröhnt. Auf meiner Haut perlt eine Reizbarkeit, die mich zu vergiften sucht. Ich trete durch die Vordertür ins Haus und gehe ins Bad. Dort hoffe ich, die Probleme abduschen zu können. Unter dem kalten Wasser verteile ich die Seife auf meinem Körper. Ich halte mein Gesicht in den kräftigen Wasserstrahl und versuche nicht zu denken, denn in jedem Gedanken liegt die alte Verzweiflung, die ich bereits kenne. Ich hatte geglaubt, sie hinter mir gelassen zu haben. Warum musste mir das passieren? Warum musste mir Yara meine Zufriedenheit, meine Ruhe, mein Paradies nehmen? Was bezweckt sie damit? Mit einem schnellen Griff stelle ich das Wasser ab, wickle ein Handtuch um meine Hüften und trete aus dem Haus. Sie pinselt immer noch und ist schon ein gutes Stück vorangekommen.
Also wer war’s?, frage ich unumwunden.
Was?, fragt sie zurück und sieht von ihrer Malerarbeit auf.
Ich stehe nackt nur mit dem Handtuch um die Hüften in meinem Garten.
Hast du geduscht? Wir sind doch noch gar nicht fertig.
Sie deutet auf das halb gestrichene Haus. Ich gehe nicht darauf ein.
Wer hat dich angerufen?
Ach so, sie lacht, keine Ahnung.
Du musst doch wissen, wer dich angerufen hat?!
Nein, ich hab nicht nachgesehen.
Ja, aber du weißt doch, wer dich anruft.
Sie sieht mich an und zieht wieder mit dieser Geste eine Augenbraue hoch.
Luca, du willst mir nicht erzählen, dass du bei jedem Klingeln weißt, wer dich anruft?
Ich sage nichts, weil sie Recht hat.
Sieh nach!, fordere ich.
Keine Lust, sagt sie und streicht weiter.
Yara, bitte, lenke ich ein.
Es interessiert mich aber nicht, versucht sie das Thema abzuschließen. Was bringt es dir, wenn ich dir irgendeinen Namen sage, den du nicht kennst?
Mir ist der Name egal, sage ich. Ich will wissen, was der Typ will.
Welcher Typ?, fragt Yara und tunkt ihren Pinsel in den Farbeimer.
Der dich angerufen hat.
Woher weißt du, dass es keine Freundin ist? Oder Lily?
Ich glaube ihr nicht. Angefressen starre ich sie an. Ich war bestimmt zwei Stunden nicht da. Sie hatte genug Zeit, um ins Haus zu gehen und nachzusehen.
Wo ist es?, frage ich.
Drinnen, sagt sie mit frischer Farbe auf dem Pinsel.
Wo genau? Ich hole es.
Lass mich in Frieden, du Nervenbündel. Ich frage dich auch nicht, wo dein Telefon liegt.
Ich habe keines, sage ich und will mich immer noch durchsetzen.
Echt?, fragt sie ehrlich erstaunt.
Echt!, bestätige ich und lege einen gewissen Stolz in dieses Wort, als wäre der telefonlose Mensch ein besserer Mensch. Also?, insistiere ich weiter.
Was ist jetzt plötzlich so besonders an meinem Mobiltelefon? Das hat dich doch sonst nicht interessiert.
Es klingelt nach sieben Monaten das erste Mal und du tust so, als ob nichts sei, entrüste ich mich.
Yara lacht.
Es hat die ganze Zeit geklingelt.
Aha, mache ich.
Es war nur aus oder auf leise gestellt.
Mir wird das Gespräch zu blöd. Irgendwie hinke ich der Realität hinterher. Wie immer. Yara hat hier in meinem Garten unter dem Papayabaum gesessen, mein Refugium zu ihrem gemacht und damit die Abgeschiedenheit langsam aus allen Dingen herausgelöst. Alles Gute kommt mir plötzlich schlecht vor. Die Welt ist verdorben. Mein Leben steckt in einem Säurebad wie ein Foto das in Entwicklungslauge liegt. Mir werden die Dinge langsam klarer, ohne dass ich darum gebeten habe. Ich erkenne das Bild sich aus dem Silbersalz herauskristallisieren. Yara ist darauf zu sehen wie sie in der Stadt lebt. Sie lacht.
Glücklich. Ohne mich.
(…)
*
Schöner ist die Welt, wenn sie in unklaren Konturen der Nacht stattfindet. Trost liegt in allem Verschwommenen. Ich halte mich am Tresen fest und lasse einen kühlen Drink meine trockene Kehle hinunter rinnen. Ich erinnere mich nicht mehr daran, was ich trinke und kümmere mich auch nicht weiter darum. Gin? Wodka? Meine Zunge ist längst betäubt. Durch den Strohhalm sauge ich die goldgelbe Flüssigkeit in mich hinein und winke dem Barkeeper mit einem Blinzeln des linken Auges, um dasselbe noch einmal zu bestellen. Mit dem neuen Glas vor mir, wage ich einen kurzen Blick in mich hinein und stelle fest, dass mein Denkvermögen noch nicht ertränkt ist. Da ist immer noch Yara und das muss unbedingt aufhören. Es geht mir nicht gut mit ihr in meinem Kopf.
Ich weiß noch, wie sie mich auslachte, als ich ihr von meiner Sehnsucht nach ihr zu erzählen suchte. Es war eine dieser Nächte, in denen wir wach lagen und unsere Stimmen durch meine kleine Hütte spazieren führten. Wir schauten an die dunkle Decke und erzählten uns von uns. Yara berichtete von dem Leben in Rio und ich von mir und ihr. Ich versuchte ihr von meinem Schmerz zu erzählen, doch sie lachte nur, nahm meinen Kopf in die Hände und schalt mich.
Du liebst mich immer noch, Luca!
Ja, sagte ich und kam mir unendlich dumm vor.
Damit musst du wirklich, unbedingt aufhören, empfahl sie mir und ich Idiot habe mich nicht daran gehalten.
Jetzt ist es zu spät. Die Zügel sind mir mal wieder entglitten. Es ist zu spät, um noch Entscheidungen zu treffen, weil das Leben mich überrumpelt hat. Ständig passiert mir das. Ich laufe mir selbst hinterher und gerate jedes Mal außer Atem. Warum bin ich nur so ein Trottel? Dabei weiß ich es doch längst besser. Ich habe Angst vor der Wiederholung. Ich will Yara nicht wieder gehen lassen. Ich will sie nicht verlieren. Es ist das letzte Mal nicht gut gegangen und das wird es diesmal nicht. Doch will ich sie halten? In ihren Verletzungen, die sie mir zufügt, liegt Variation wenn sie da ist. Das ist das süße Glück der Ahnungslosigkeit. Nie weiß ich, was kommt. Ständig hoffe ich, dass es diesmal klappt. Die Qualen, die sie sich für mich ausdenkt, kündigt sie nicht an. Sie folgt ihren spontanen Einfällen, denen ich nichts entgegenzusetzen habe. Ich liebe sie einfach zu sehr. Das macht mich blind. Ich kann sie nicht wieder gehen lassen. Die Sehnsucht hat mich fast das Leben gekostet. Ich will dieses Dasein nicht noch einmal. Ich verweigere die Annahme. Was auch immer sie von mir verlangt, ich werde es tun. Ich werde alles geben, und wenn es mein Leben ist, um den Absturz zu verhindern. Das ertrage ich nicht noch einmal. Ich habe in all seinen Ecken nachgesehen. Alle Tunnel und Gräben sind durchforstet. Das Grauen der Sehnsucht hält nichts mehr für mich bereit.
An der Bar, die ich zu der meinen erkoren habe, arbeitet ein schwarzer Lausbub, der sich Wellington nennt. Er ist mir gleich sympathisch gewesen, weshalb ich ihn seither jede Nacht besuche. Er geizt nicht mit dem Alkohol, doch vor dem Morgengrauen macht er dicht. Da ist er nicht zu erweichen, auch wenn ich ihn meinen neuen, besten Freund nenne. Manchmal gibt er mir eine halb geleerte Schnapsflasche mit auf den Weg. Ich habe es schließlich weit. So auch heute Nacht. Er ist ein guter Mensch. Er hat ein Herz für mich. Also wiege ich meine Flasche im Arm und wanke nach Hause. Hinter den Palmen zeichnet sich bereits das unheilvolle Glühen des Sonnenaufgangs ab. Ich schaffe es nie vor dem Tagesanbruch nach Hause zu kommen, dafür sind die Nächte in Brasilien einfach zu kurz. Ständig überrascht mich der blaue Schleier des zarten Morgenlichts oder das Rosarot des anbrechenden Tages.
Ich halte an der letzten Wegkreuzung vor meinem Haus. Es ist nicht mehr weit von hier aus. Vielleicht noch zwanzig Minuten. Auf dem großen, flachen Stein am Wegesrand stelle ein Bein ab und strauchle fast, weshalb ich doch beide Beine am Boden belasse. Dann öffne ich die Schnapsflasche, um mir einen letzten Schluck zu genehmigen, doch sie ist leer. Hab ich sie schon ausgetrunken? Ich schüttle sie vor meinen Augen, als könnte ich sie so wieder auffüllen. Dabei gleitet sie mir aus der Hand und landet im verdorrten Pflanzendickicht der sonnengeplagten Steppe.
Scheiße, fluche ich und stelle verwundert fest, dass sich dort mehrere Flaschen befinden.
Die meisten sind Bierflaschen. Sie liegen alle verstreut hinter dem Stein und kommen mir bekannt vor. Ob ich hier schon einmal gehalten habe?, frage ich mich kurz und blicke mich um. Ich will meinen Weg fortsetzen, es hält mich ja nichts mehr hier, doch dann steht plötzlich ein schwarzer Mann vor mir. Wo kommt der so plötzlich her? Er steht ganz nah vor mir. Ich trete zurück, greife in meine Hosentasche und ziehe ein verbeultes Päckchen Dunhill hervor.
Feuer?, frage ich den Kerl.
Als wüsste er, dass ich diese Frage stellen würde, hebt er die Hand und entzündet die Flamme für mich. Es geht kein Wind. Sie flackert nicht mal. Ich neige mich zu ihm und versuche die Zigarette in meinem Mund über dem Feuer ruhig zu halten, doch von irgendwoher überkommt mich ein Schwanken als stünde ich an Deck eines Segelschiffs, das in einen Orkan geraten ist. Ich nehme die Zigarette aus dem Mund, sehe den Mann an und versuche es wieder. Jetzt brennt die Zigarette. Ich nehme einen tiefen Zug und werde mir der Tatsache bewusst, dass der Mann kein Feuerzeug in der Hand hält.
Wie hast du das gemacht?, frage ich und glaube an einen Trick. Der Mann grinst mich an. Er ist jung und sieht angriffslustig aus. Was will er von mir? Auf seinen Augen liegt ein Brennen. Er trägt einen langen, schwarzen Ledermantel obwohl es selbst in den frühsten Morgenstunden stickig und heiß ist. Seine schwarzen Haare sind zu Zöpfen geknotet, die er in einen Pferdeschwanz gebunden hat. Er funkelt mich an als versuche er mich mit seinem Blick zu durchbohren. Ich lege meinen Kopf schief und versuche die Situation zu begreifen. Was will der Typ?
Gib mir etwas zu trinken und ich erfülle dir einen Wunsch, erklärt er.
Seine Stimme klingt dunkel und rau als würde sie nur selten benutzt.
Wer bist du?, frage ich.
Ein Freund, sagt er und lächelt mich an.
Ich sehe zu meiner Schnapsflasche im Dickicht.
Für einen Freund einen Schluck, lalle ich herzensgut und lasse mich auf den Stein fallen.
Die erste Flasche, die ich erwische ist eine leere Bierflasche. Ich werfe sie zurück und suche weiter. Ich weiß nicht warum ich das tue. Mir liegt die Gewissheit in den Knochen, dass es da noch etwas zu trinken geben muss. Einen guten Schluck für den Fremden und einen für mich. Ich grinse zuversichtlich und bekomme eine Flasche zu fassen, die ich siegessicher emporreiße. Meine Lippen verzerren zu einem Grinsen. Ich schüttle meinen Fund und das verheißungsvolle Plätschern einer leicht gefüllten Flasche erklingt. Die Innenseite ist beschlagen. Außen kleben Grashalme. Ich habe keinen Moment gezweifelt. Der Alkohol war mir immer ein guter Freund. Er hat mich nie im Stich gelassen.
Hier, sage ich und sehe zu dem Mann am Wegesrand, der mir meine milde Gabe aus der Hand nimmt.
Seine Bewegungen sind schnell. Ich habe Schwierigkeiten ihnen zu folgen. Schneller als gedacht, fühle ich das Glas der Schnapsflasche wieder zwischen meinen Händen und trinke selbst einen Schluck. Mir rinnt die warme Flüssigkeit die trockene Kehle hinunter. Gestärkt stehe ich vom Stein auf und halte dem Fremden die Flasche hin. Er trinkt erneut. Dann grinst er mich an. In seine Augen fällt wieder dieser rote Glanz, als stünden sie unter Strom. Er gibt mir die Flasche zurück.
Gutes Gelingen, sagt er und dann ist er weg.
Ich drehe mich um meine eigene Achse.
Aber ich habe mir doch noch nichts gewünscht?, rufe ich in das Nichts um mich herum.
Der Mann ist weg. Ich halte die Schnapsflasche in meiner Hand und drehe mich noch mal um. Es ist niemand da. Ich strauchle kurz, blicke auf die Flasche und verschließe sie mit dem Deckel, den ich schon den ganzen Weg über in meiner Faust halte. Dann lasse ich sie neben den Stein fallen und setze mich in Bewegung. Ich muss endlich nach Hause und pennen. Mein gelbes Haus ist nicht abgeschlossen, weil Yara als Wertgegenstand nicht zählt und mehr Dinge sind mir in den letzten Monaten nicht zugelaufen. Ich stoße hier und da gegen eine Wand und dann erwische ich den Holzpfeiler in der Mitte der Hütte, halte mich daran fest und versuche mir die Klamotten vom Körper zu reißen. Es ist heiß im Haus und ich atme schwer. Wahrscheinlich habe ich wieder zu viele Zigaretten geraucht.
Hallo, höre ich.
Yara sitzt auf dem Bett und sieht mich an. Sie ist offensichtlich hellwach.
Hallo, erwidere ich und versuche die Spuke im Mund zu behalten.
Warum sitzt sie da um diese Zeit komplett bekleidet, als wolle sie einen Ausflug machen?
Luca?
Hm, mache ich und versuche die Schuhe und Socken auf einmal loszuwerden, weil ich sonst die Hose nicht von den Beinen gezogen bekomme.
Ich gehe, sagt sie.
Hm, mache ich wieder, bis später.
Luca?
Was?, frage ich gereizt.
Sie zeigt auf ihren Rucksack, der im Korbsessel liegt.
Ich gehe nicht für den Moment, sondern ganz.
Nein, sage ich einfach.
Doch, erwidert sie.
Nein, wiederhole ich, du gehst nicht.
Du willst, dass ich gehe. Vertrau mir.
Nein.
Du trinkst, sagt sie und glaubt damit alles gesagt zu haben. Und?, frage ich und tue so, als gäbe es da überhaupt keinen Zusammenhang.
Du warst in Ordnung, als ich hier angekommen bin und jetzt säufst du wie ein Loch, also gehe ich.
Nein, sage ich wieder, es ist nur eine Phase.
Aha, sagt sie und glaubt mir nicht.
Das höre ich ganz deutlich. Ich kneife die Augen zusammen, um sie klarer erkennen zu können. Ich kann dich nicht ertragen, wie du bist, wenn du trinkst.
Sie sieht mich an. Ich weiß nicht, was ich darauf sagen soll.
Die Zeit der Argumente ist vorbei. Ich ziehe mir die Jeans wieder hoch, lasse Reißverschluss und Knopf offen, stoße mich von dem Holzpfosten in der Mitte des Raumes ab und gehe zwei wankende Schritte auf das Bett zu, auf dem sie sitzt.
Es liegt an dir, erkläre ich.
Ach so, sagt sie beiläufig, als erkläre das alles, aber ich bemerke die Ironie trotz des Alkohols. Ich will dich nicht verlieren, sage ich.
Und deshalb trinkst du?, fragt sie zweifelnd.
Ich antworte darauf nicht. Mir scheint das alles so logisch. Warum begreift sie die Zusammenhänge nicht?
Das ist so ziemlich das Sinnloseste, das ich je gehört habe, befindet sie und steht auf.
Geh nicht, bitte ich.
Yara dreht sich um, sieht mich an und schweigt. Ich weiß nicht, was ich noch sagen soll, weil sie mir ständig alle Worte im Mund verdreht. Sie ist doch daran Schuld, dass ich trinke. Sie sieht mich schweigen und greift nach ihrem Rucksack. Ich sehe sie an und hoffe auf irgendeine Eingebung. Ruf mich an, wenn du wieder ok bist, sagt sie und tritt auf mich zu.
Wahrscheinlich um mich zu umarmen. Vielleicht bekomme ich sogar einen letzten Kuss? Auf die Wange? Ich lasse es nicht soweit kommen.
Warte, sage ich und stehe auf.
Das Zimmer dreht sich, als hätte es jemand auf eine Spieluhr gesetzt und ausgerechnet jetzt aufgezogen.
Ich habe etwas für dich, sage ich und verschwinde im Flur. Ok.., höre ich hinter mir und weiß nicht, was ich jetzt machen soll.
Warte draußen, rufe ich und höre, wie sie langsam zur Tür geht.
Ich renne ins Badezimmer und halte meinen Kopf unter kaltes Wasser. Ich brauche eine Idee und zwar schnellstens. Meine Füße tragen mich durch das Haus. Ich reiße alle Schränke auf und suche nach irgendetwas, das sie umstimmt und sie hält. Etwas, das mein Leben rettet. In der Küche bin ich bei den Unterschränken angekommen. Ich reiße die alten Farbutensilien heraus, Schwämme, Lappen, Einmachgläser und was weiß ich und dann fällt mir das Gewehr in die Hände. Ich blicke es an. Luca?, höre ich sie von draußen rufen.
Ja, rufe ich zurück und stehe auf.
Im Türrahmen bleibe ich stehen und blicke in die breiten Streifen der mittlerweile gleißende Sonne, die in meinen Garten fallen. Der Feuerball ist hinter den Palmenwipfeln hervorgekommen und taucht die Welt in ihren goldenen Glanz.
Yara steht mit dem Rucksack in der Hand beim Papayabaum. Sie dreht sich zum mir und schirmt die Augen mit der Hand ab, weil die Morgensonne über dem Haus steht und ihr ins Gesicht scheint. Hinter meinem Rücken halte ich das Gewehr. Ich weiß, das es geladen ist und ich weiß, das es funktioniert, weil ich damit Hokkushühner jagen wollte, es dann aber nie getan habe. Wie ich so vieles nicht getan habe, weil Yara plötzlich da war. Ich lege meinen Zeigefinger auf den Abzug, bleibe im Schatten des Türrahmens stehen, lasse das Gewehr vor meiner Brust auf meinen linken Arm gleiten und ziele auf Yaras Herz. Mein Körper liegt in völliger Ruhe. Ich atme nicht, sondern sehe sie an.
(…)

Leseprobe: Iden Wagner – “Rollende Wale”

Lasst mich doch alle in Ruhe. Mit eurer Vernunft, mit eurer Angst, mit euren gottverdammten Ratschlägen. Ich brauch das alles nicht. Ich weiß es besser. Ab jetzt liege ich im Bett.

*

Antriebslosigkeit gilt ja als sicheres Zeichen für Depressionen. Ich seh das anders. Wenn ich im Bett liege, geht’s mir am allerbesten. Allein, wohlgemerkt. Welcher Ort könnte schöner sein als einer, an dem es nichts gibt außer Kissen, Decken und Wärme. Mir fällt jedenfalls keiner ein. Das heißt ja auch: Nirgendwo hin müssen und niemandem Rechenschaft schuldig sein. Nicht wie all die Deppen busy busy von Termin zu Termin hetzen und auch noch glauben, die Welt würde aufhören, sich zu drehen, wenn man nicht mitrennt. Schwachsinn. Wenn am Ende die Schaufeln Erde auf dich herabregnen, interessiert das niemanden. Da geht’s um ganz andere Sachen, aber das kapieren solche Leute nicht. Die denken, wenn jemand entspannt im Bett liegt, vergeudet der seine Zeit. Und die kriegen gar nicht mit, dass sie es sind, die ihre Zeit verplempern mit ihren angestrengten Versuchen, brav und nützlich zu sein und alles richtig zu machen. Die wirklich coolen Leute haben das natürlich erkannt: Brian Wilson verließ das Bett für drei Jahre nicht, Marlene Dietrich zog sich für ihre letzten dreizehn Jahre komplett in die Federn zurück, John Lennon und Yoko Ono hielten der kriegerischen Welt ihre Bed-Ins entgegen. Und Marcel Proust hat sich mit 35 Jahren ins Bett begeben, um aufzuschreiben, was er die 35 Jahre zuvor erlebt hat, denn das reichte ihm. Ich bin zwar erst achtzehn, aber mir reicht es auch. Was ich erlebt habe, zeigt mir im Großen und Ganzen, wie die Sache läuft. Mehr muss ich nicht wissen.

*

Der Room-Service hat mir das leckerste Frühstück der Welt gebracht. Genau so, wie ich es mag: Zwei Croissants, Nutella, Kirsch-Marmelade, Butter, Orangensaft, Kaffee schwarz, eine Packung Gauloises Blondes ohne Filter. Ich habe es mir gewünscht, und ich habe es bekommen. Ich bin im Himmel! Nun krümel ich mein Bett voll, was aber egal ist, weil das später in Ordnung gebracht wird, wenn ich es, je nach Schweregrad der Verkrümelung, wünsche. Ein Anruf genügt, und eine adrett gekleidete Dame kommt eilfertig angewuselt und bezieht alles neu, und ich zerfließe vor Dankbarkeit, denn wenn ich etwas hasse, ist das Bettenbeziehen. Dann kriegt sie ein dickes Trinkgeld und wir sind beide zufrieden. Derweil kann ich mich gar nicht entscheiden, was ich am liebsten tun möchte. Es gibt ausschließlich schöne Möglichkeiten. Als da wären: Aus dem Fenster gucken. Das ist schon mal überwältigend. Ich sehe: Dieses täglich hundertoder tausendfach fotografierte Wahrzeichen der Stadt, das erbaut wurde, als hier noch Kutschen fuhren, und ein Meer von Häuserdächern in allen möglichen Farben und Formen. Mit ein wenig Fantasie könnte ich Grace Kelly in Über den Dächern von Nizza sein, und jede Sekunde würde der charmanteste Mann aller Zeiten in Gestalt von Cary Grant über den Balkon in mein Zimmer klettern. Wenn ich mich strecke, kann ich die Menschen über den Platz vor dem Hotel huschen sehen, wie Spielzeugfiguren in einer Eisenbahnlandschaft, die zu Leben erweckt wurden. Nach undurchschaubaren Regeln wieseln sie hierhin und dorthin, aber alles hat seine innere Logik, vergleichbar der eines Ameisenstaates. Nichts anderes sind wir schließlich. Klein aus der Höhe meines Hotelfensters, winzig klein aus der ewigen Weite des Weltalls. Eine andere der schönen Möglichkeiten, Lebenszeit zu verbringen, ist lesen. Am liebsten sind mir ganz und gar entlegene Sachen, irgendetwas, das noch nie jemand gelesen hat, den ich kenne, und wozu es noch nicht eine einzige Bewertung bei Amazon gibt – und am besten, es ist bei Amazon nicht mal erhältlich. Aber das ist praktisch unmöglich, schließlich gibt’s da so gut wie alles, was jemals gedruckt worden ist. Und momentan bin ich ohnehin darauf angewiesen, dass ich es online bekomme. Aber man findet da auch ziemlich gute Sachen. In den letzten Wochen, die ich hier bereits liege, habe ich einiges aufgetrieben, darunter ein sagenhaftes Buch von einem Mann oder einer Frau namens Kian irgendwas. Die Geschichte handelt von einem Jungen, der elternlos aus einem namenlosen Schreckensland in eine namenlose Stadt geflüchtet ist, wo er, nachdem sich niemand für ihn zuständig fühlt, zusammen mit einer Gruppe Ratten in der Kanalisation lebt. Die Ratten behandeln ihn viel freundlicher als jeder Mensch, dem er begegnet, und am Ende gibt es eine riesige Umweltkatastrophe, bei der die gesamte Stadt ausgerottet wird, und nur der Junge und seine Ratten überleben. Die Letzten werden die Ersten sein. Ich habe ohnehin eine Schwäche für Geschichten über Außenseiter, ganz besonders, wenn sie es mit übermächtigen Gegnern zu tun haben. Großartig erzählt davon zum Beispiel Kafka, oder natürlich good old Salinger, und ganz vorne mit dabei ist auch Shelagh Delaney und ihr Taste of Honey. Es ist eigentlich ein Theaterstück, aber ich habe die Geschichte als Film gesehen, und mit Filmen bin ich wirklich streng, aber der war erstklassig. In der Geschichte geht es um eine junge Frau, die nach einem One-Night-Stand mit einem Farbigen schwanger wird und das uneheliche Kind mit Hilfe eines schwulen Freundes aufzieht. Das war in den 1950er Jahren natürlich ein unerhörter Skandal. Ein uneheliches Kind! Ein Schwarzer! Ein Homosexueller! Das Schlimme ist, dass es meinen Eltern mehr als ein halbes Jahrhundert später immer noch die Socken ausziehen würde, wenn ich dieses Mädchen Jo wäre. Wenn ich keine Lust mehr zum Lesen hab, hör ich Musik. Neue entdecken oder alte wieder und wieder hören, beides gehört sowieso zum Besten, was das Leben zu bieten hat. Im Idealfall bekommst du großartigste Poesie, verabreicht in drei Minuten, vorgetragen in einer Sprache, die keiner Worte bedarf. Meine Lieblingsband habe ich von Onkel Tom geerbt. Onkel Tom ist eher mein älterer Bruder, so fühlt es sich jedenfalls an, auch wenn er fast dreißig Jahre älter ist als ich. Er ist der jüngste Sohn von Oma Alice, die jetzt tot ist, und meine Eltern behaupten, Tom sei ebenfalls tot, aber das stimmt nicht, ich weiß es, und Oma Alice hat es auch gewusst, so lange sie noch lebte. Er ist irgendwo in der Südsee und lebt dort mit einem zivilisationsresistenten Stamm und nimmt gemütlich bewusstseinserweiternde Pflanzen zu sich. Vielleicht ist er sogar Südsee-König geworden, wie bei Pippi Langstrumpf. Jedenfalls habe ich durch Tom allerhand kennengelernt, eigentlich alles, was wichtig ist, und eben auch die beste Musik der Welt. Die kommt von den Smiths, klare Sache. Die Leute in meinem Alter, die am liebsten diesen ganzen Charts-Mist hören, haben davon natürlich keine Ahnung. Sie wissen nicht, dass sie sich ihren Musikgeschmack mit pappigem Fast Food verderben, während das Drei-Sterne-Menü aus dem Manchester der 1980er Jahre stammt. Ich dreh das ganz laut: And if you have five seconds to spare Then I´ll tell you the story of my life…

*

Oma war cool. Die einzige Coole in unserer ganzen erbärmlichen Sippe von Duckmäusern, abgesehen von Tom. Oma, die Unerschrockene, die Revoluzzerin, die Heldin. Oma hatte den armen Henri geheiratet, da war sie 21, weil er so sexy war. Es machte ihr nichts aus, dass sie in einem Loch von Kellerbude hausten, am wichtigsten war ihr, dass sie den Menschen um sich herum hatte, den sie am allermeisten und bedingungslos liebte. Dann ist ihr Henri, also mein Opa, mit einer Knopf-Fabrik reich geworden. Sie sind umgezogen, in eine Sechs-Zimmer- Wohnung, in der alle ihr eigenes Zimmer hatten, die Eltern, mein Vater, meine Tante und später Tom. Für eine protzige Villa hätten sie auch genug Geld gehabt, aber Henri hatte für Luxus nichts übrig und gab generell wenig aus. Er sah nicht mal aus wie ein reicher Chef, sondern eher wie ein Bettler, und er hat gearbeitet wie ein Tier, und dann ist er tot umgefallen. Peng, Herzinfarkt. Da war er erst 62 Jahre alt, und ich war noch nicht mal geboren. Ich kenne Opa Henri nur von Fotos her, in seinen verbeulten Anzughosen, wie er ernst und schüchtern in die Kamera guckt. Mit einem Mal konnte Oma alleine über das Geld bestimmen. Und sie war ganz anders als Henri, sie hatte überhaupt kein Problem damit, es mit vollen Händen auszugegeben. Für Reisen, für gutes Essen, für schöne Kleidung. „Warum sollte ich es auf dem Konto vermodern lassen? Da sind es nur Zahlen auf einem Papier. Man muss Geld zu Leben machen, sonst hat es keinen Sinn.“ Alle anderen hatten auch was davon. Sie hat nicht nur großzügige Trinkgelder gegeben, sondern auch die Löhne der Fabrikarbeiter der Knopf-Fabrik erhöht, deren Chefin sie nun war. Und dann hat sie etwas gemacht, woraufhin meine Eltern sie für verrückt erklärten: Sie hat gemeint, die Arbeiter sollten für sich selbst arbeiten und sich „freikaufen“.
Sie hat den Preis für die Fabrik ermitteln lassen und nur die Hälfte davon veranschlagt, und dann hat sie einen großen Topf aufgelegt, in den kam der Überschuss, den die Arbeiter erarbeitet hatten. Damit haben sie Oma nach und nach die Fabrik abgekauft und in eine Genossenschaft umgewandelt, und fortan waren die früheren Angestellten Genossen und ihre eigenen Chefs. Oma war als junges Mädchen sehr in einen Kommunisten verliebt gewesen. Der hat ihr das alles erklärt, mit den ungerechten Produktionsverhältnissen und der Aneignung des Mehrwerts und der Ausbeutung der Arbeitskraft und so weiter. Er war sehr schlau und las ungefähr drei Bücher pro Tag, und vor allem hatte er ein ausgeprägtes Gefühl für Gerechtigkeit. Sobald es irgendwo ungerecht zuging, wurde Omas Kommunist traurig und wütend und versuchte alles, um der Gerechtigkeit Geltung zu verschaffen. Egal, ob es darum ging, dass im Dorf einer bei einem Geschäft übers Ohr gehauen worden war, oder ob es um die großen politischen Fragen ging. So hat es Oma jedenfalls erzählt. Bestimmt hätten sie geheiratet, wäre er nicht noch in den letzten Tagen des Krieges von den Nazis verhaftet und hingerichtet worden. Trotzdem hatte Oma den Kommunisten und was er ihr erzählt hatte, nicht vergessen. Sie selbst war nicht gerade eine Intellektuelle, außer Liebesromane und Krimis hat sie nichts gelesen, aber sie hat sich gemerkt, was Leute ihr erzählt haben, die sie für gutherzig und schlau hielt. Beides zusammen. Niemals nur schlau.

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Das Frühstück hat mir heute ein Neuer gebracht. Ein ganz junger Typ, nur drei oder vier Jahre älter als ich. Das fand ich merkwürdig, dass ich nur so rumlag, während er mich bediente. Typisch, würde meine Schwester sagen, das ist unsere patriarchale Gesellschaft. Wenn Frauen dich bedienen, findest du es normal, aber wenn es ein Mann ist, ist es bemerkenswert. Judith ist Mathematik-Professorin und mächtig stolz darauf, es in einer Männerdomäne geschafft zu haben. Dass Männer nie stolz darauf sind, es in einer Frauendomäne geschafft zu haben, fällt Judith gar nicht auf. Sie hält sich für hyperemanzipiert und wittert überall männliches Machotum und weibliche Unterwerfungsgesten. Dabei wäre ihr klar, dass es darum nicht geht, wenn sie mich ein bisschen kennen würde. Normalerweise würde ich mit Leuten meines Alters am Tresen einer Bar rumstehen oder so. Das ist alles. Der Zimmerjunge, oder wie die richtige Bezeichnung auch immer ist, hat es jedenfalls ganz professionell gemacht. Ein bisschen steif und ein bisschen schüchtern, aber vor allem höflich. Pokerface genug, um keine allzu genauen Anhaltspunkte zu seinem Innenleben zu geben. Letztlich war es ja auch kein großes Ding. Er hat nur den Servierwagen mit dem Frühstück vor mein Bett gefahren und gefragt, ob ich noch irgendwelche Wünsche hätte. Hatte ich nicht, und irgendwie war ich gehemmt, denn ich hab mich nicht getraut, ihm ein Trinkgeld zu geben, was ich sonst immer mache.

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Ich habe meine Mails abgerufen, so was Doofes. Ich weiß gar nicht, warum. Schließlich hatte ich mir fest vorgenommen, es nicht zu tun. Natürlich waren da etwa eine Millionen Aufforderungen meiner Eltern und meiner Schwester, dass ich mich melden soll. Ich habe das Meiste nur überflogen, aber angeblich bringen sie sich um vor Sorgen um mich. Was absoluter Quatsch ist, denn schließlich haben sie sich mein Verschwinden selbst zuzuschreiben. Richtig ekelhaft finde ich, dass sie es mit den übelsten Tricks versuchen. Das Blöde ist ja, dass Eltern, um ihre Interessen durchzusetzen, plötzlich ein Wissen über einen an den Tag legen, das sie niemals zeigen, wenn man Verständnis und Beistand nötig hätte. Also haben sie einen meiner Schwachpunkte eingesetzt, meine Achillesferse. Das ist mein kleiner Neffe Milan, der achtjährige Sohn meines Bruders Alexander. Milan ist der aufgeweckteste Mensch, den ich kenne. Die meisten Kinder in dem Alter sind ja die schlimmsten Klugscheißer und Nervbacken, aber Milan ist überhaupt nicht so. Er guckt nur sehr genau hin und stellt Fragen, für die manche Leute Philosophie studieren. Und nun schreibt meine Mutter, dass Milan ständig nach mir fragt und dass er mich in dieser Situation ganz besonders brauchen würde. Also will ich wissen, was diese Situation bedeutet, und entdecke in einer früheren Mail, dass Alex und Nicole mal wieder getrennt sind. Anlass war eine Feier von Freunden meiner Eltern, da hat Alex die Hose runtergelassen und in den Pool gepinkelt. Und die Gastgeber als elende Spießer beschimpft. Ich lache Tränen, aber eigentlich ist es auch traurig, denn eigentlich ist mein Bruder ein Herzchen, das sich nichts sehnlicher wünscht, als von allen geliebt zu werden. Am dringendsten von meinem Vater. Deshalb ist er Anwalt geworden, anstatt Oldtimer zu restaurieren, was er viel lieber gemacht hätte. Und deshalb ist Alex als Anwalt eine ziemliche Null, und deshalb verachtet ihn der Herr Großkanzlei-Papa um so mehr, und deshalb pumpt Alex sich und sein Ego mit Koks voll und macht solche Sachen wie auf der Party. Und schielt neidisch auf Judith, die mit ihrer Professoren-Karriere alles so richtig gemacht hat und Papis ganzer Stolz ist. Scheiß doch drauf, hab ich zu Alex gesagt, als er sich am 60. Geburtstag unseres Vaters eine Line nach der anderen reinzog. Warum schmeißt du den blöden Anwaltsjob nicht hin und machst stattdessen eine Autowerkstatt auf. Das würde den Alten viel mehr ärgern als deine Kokserei. Und die hättest du dann auch nicht mehr nötig. Ach, Mäxchen. Alex tätschelte meinen Arm und sah mich mit fußballgroßen Pupillen an. Das verstehst du nicht. Papa nimmt mich und meine Fotos auch nicht ernst, fuhr ich fort. Aber mir ist das egal. Mit eigener Familie ist alles anders, nuschelte Alex, da kommt man aus der Mühle nicht mehr raus. Ich brauch die Kohle einfach. Quatsch, protestierte ich. Denk an all die Leute mit fünf Kindern und einem Zehntel deines Gehalts. Die sterben auch nicht. Tja. Ich würde lieber sterben, wenn ich so leben müsste. Er zerzauste meine Haare und warf sich ins Getümmel der Geburtstagsgesellschaft, die man angesichts der versammelten Ärscheschaft aus Juristen, Politikern und Vertretern ähnlich sympathischer Branchen nüchtern tatsächlich nicht ertragen konnte. Also betrank ich mich mit Champagner und beobachtete, wie Alex Schultern klopfte, um gleich darauf irgendeine Beleidigung loszulassen, und meine Eltern, wie sie versuchten, ihn daran zu hindern und Bücklinge machend um Schadensbegrenzung bemüht waren. Man könnte Nein zu all dem sagen, aber das traut Alex sich nicht. Und wenn keiner aufpasst, ergeht es Milan ebenso. Meine Achillesferse…

*

Ich habe diese Angewohnheit, dass ich anfallartig zu jemand anderem werde. Es überkommt mich, wenn ich an der Supermarktkasse stehe und die Kassiererin all die Einkäufe über das Laufband schiebt, dann sitze ich plötzlich auf ihrem Stuhl und piepse die Waren ab, während die Kunden mich anstarren und ungeduldig warten, dass ich fertig werde, und ich sehe mich, Max, wie ich dastehe als eine von denen, die meine Qual erzeugen. Oder ich sitze in einer Bar und sehe diesen verknitterten Kerl an der Theke, und ich spüre meine müden Knochen und die Last jahrzehntelanger Demütigungen, die niemals ein Ende finden wird, und all diese jungen, prall glänzenden Dinger um mich her sehen genau, dass ich niemals zu denen gehört habe, die anderen Befehle erteilen, sondern immer nur deren Empfänger war, und deshalb werde ich nie eine von ihnen für mich begeistern können, nicht einmal für eine Nacht. Und dann schlüpfe ich in diese Frau, die mit gebeugtem Rücken in Zeitlupentempo am großen Fenster der Bar vorbeischleicht, nicht in der Lage, den vom Alter gebeugten Kopf zu heben, nur konzentriert darauf, den Weg bis nach Hause zu schaffen, und ich spüre die Angst in mir hochkriechen vor der viel zu kurzen Ampelphase und den Autos, die schon losbrausen, wenn ich den rettenden Bürgersteig noch gar nicht erreicht habe. Und jetzt also der Zimmerjunge. Ich betrete die Suite 503, nachdem mein Klopfen mit einem knappen Herein beantwortet wurde. Wie immer liegt diese Frau mit den kurzen Haaren im Bett, vergraben unter Kissen und Decken, den Laptop auf dem Schoß. Sie muss ungefähr in meinem Alter sein und ich kann mir nicht erklären, was sie hier macht. Ist sie krank? Oder eine Berühmtheit dieses Landes, das mir noch immer fremd ist, und dies ist ihr Rückzugsort? Woher hat sie das viele Geld, das ihr erlaubt, in diesem Luxushotel ihre Zeit zu vergammeln? In so jungem Alter kann es eigentlich nur ein reiches Töchterchen sein. Wie sehr ich sie verabscheue, diese verwöhnte Brut. Haben nichts für ihren Reichtum getan, alles verdanken sie nur diesem lausigen Zufall, dass sie aus einem Samen und einer Eizelle entstanden sind, deren Träger aus welchen Gründen auch immer vermögend sind. Ein Zufall, der darüber entscheidet, ob du hier bequem im Bett liegst, oder ob du deine Heimat verlassen hast, in der du keine Chancen siehst, um in ein Land zu gehen, das kaum mehr davon bietet. Aber immerhin einen Funken mehr. Und diese elende Hoffnung, die dich bei der Stange hält. Ich hatte noch eine Packung Gauloises bestellt, sage ich mit rauer Stimme. Nur, weil er es vermutlich schwerer hat als ich, muss ich ja nicht auf meine Zigaretten verzichten. Ich kann schließlich genau so wenig für die Ungerechtigkeiten dieser Welt wie er. Entschuldigung, ich bringe sie sofort, sagt Braunauge mit überraschend weicher Stimme und einem Akzent, den ich nicht zuordnen kann. Ich gehe aufs Klo, aber ich habe mich im Verdacht, dass ich gar nicht so dringend muss, sondern meine vernachlässigte Hülle im Spiegel betrachten möchte. Aber das hätte ich lieber bleiben lassen sollen. Ich habe furchtbare Augenringe und fettige Haare, und mein T-Shirt ist mit Marmeladenkleksen verziert. Wurde ich früher tatsächlich mit dem 1960er-Jahre-Starlet Jean Seberg verglichen? Das muss Lichtjahre her sein, mit der unansehnlichen Person im Spiegel wäre ein solcher Vergleich lächerlich. Ich schütte mir kaltes Wasser ins Gesicht, aber das macht die Sache nicht besser. Was soll´s. Ich bin nicht hier, um schön zu sein. Und was geht mich ein Zimmerjunge mit braunen Augen an? Also trotte ich zurück ins Bett und ziehe mir die Decke bis unters Kinn. Sieht man wenigstens das vollgekleckerte T-Shirt nicht mehr. Es klopft und Braunauge bringt mir meine Zigaretten. Dieses Mal drücke ich ihm zehn Euro in die Hand. Er wehrt ab: Nein, nein! Das geht auf Rechnung! Das ist Trinkgeld. Für dich. Aus Versehen habe ich ihn geduzt. Überrascht starrt er auf den Schein in seiner Hand, den er mir entgegen hält. Schließlich zieht er die Hand zurück und lässt das Geld in seiner Hosentasche verschwinden. Vielen Dank. Sein Gesicht ist ernst, ohne jedes Lächeln. Hab ich ihn jetzt etwa beleidigt? Er verabschiedet sich und verlässt mein Zimmer. Und ich habe das Gefühl, ich hätte noch irgendetwas sagen sollen.

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Alice starb einen Tag nach meinem achtzehnten Geburtstag. Ihr Herz hatte einfach aufgehört zu schlagen, während sie schlief. So etwas gilt angeblich als die Art von Tod, die sich jeder wünscht, aber am Ende kommt doch immer dasselbe dabei raus: Ein Mensch, der vorher da war, ist weg. An meinem Geburtstag hatten wir noch telefoniert, und ich erzählte ihr, wie sehr ich die Nase voll hab vom Internat und irgendetwas total Unwichtiges über eine Mitschülerin, die irgendwelchen Dreck über mich gepostet hatte, und meine Pläne für meine Feier, die sich in einem Kinobesuch mit Jerome erschöpften. Darüber ärgere ich mich bis heute, dass ich praktisch nur von mir geredet habe. Ich meine, wenn ich gewusst hätte, dass es unser letztes Gespräch für alle Zeiten ist, hätte ich nicht einen Piep gesagt und nur sie erzählen lassen. Ich hätte alles wissen wollen, ihr ganzes Leben, und nicht eine einzige Lücke hätte bleiben sollen. Obwohl ich wirklich viel von ihr weiß. Ich hab nämlich öfter bei ihr gewohnt, wenn es mit meinen Eltern ganz schlimm war oder einfach wenn Ferien waren oder am Wochenende, und dann haben wir oft bis spät in die Nacht gequatscht. Eingekuschelt in die Decken ihres riesigen Bettes, zwischen uns eine Schüssel voller Kekse und ein Tablett mit schwarzem Tee, habe ich ihr von meinen Kümmernissen berichtet, und sie hatte immer eine Geschichte aus ihrem Leben parat, die meiner ähnlich war. Bei anderen wäre das vielleicht selbstbezogen gewesen, aber aus ihrem Mund war es ein echter Trost, denn mit dem Abstand ihres langen Lebens, das all diese Dinge überstanden hatte, war ich imstande, auch meine Erlebnisse aus der Weite einer zukünftigen Vergangenheit zu betrachten, und dann war alles gar nicht mehr so furchtbar, sondern oft genug zum Lachen. So erfuhr ich von einer fiesen Lehrerin, die Alice besonders oft und hart mit dem Rohrstock auf die Hände geschlagen hatte, bis sich die Dame bei einem Luftwaffenangriff in einen Brunnen rettete und aus diesem nicht mehr herauskam. Zwei Tage später fanden sie ein paar ihrer Schüler, und sie bettelte um Hilfe, aber sie ließen sie schmoren und holten nach und nach die gesamte Klasse zum Brunnen, und jeder durfte ihr auf den Kopf spucken. Die Lehrerin wollte danach nicht zurück in die Schule, und seitdem hatte Alice eine ganz entzückende junge Lehrerin, die den Rohrstock kein einziges Mal anrührte. Eine andere meiner Lieblingsgeschichten handelte davon, wie Alice auf einer Party dem Bankdirektor einen zuvor abgelehnten Kredit für die Knopf-Fabrik abschwatzte, indem sie den Mann mit Hilfe eines sündigen Dekolletés und gespitztem Kussmund vor seiner Frau derart in Verlegenheit brachte, dass er das Geld schließlich zusagte, nur um sie loszuwerden. Gern hörte ich auch die Episode vom Kampf der Fabrikarbeiter für mehr Lohn. Das Ganze hatte sich derart hochgeschaukelt, dass es zu Streiks und Protesten auf der einen Seite und zu Kündigungen auf der anderen, also Henris Seite, gekommen war. Auf einer besonders wütenden Veranstaltung der Arbeiter betrat Alice unangemeldet den Raum und fragte, warum sich denn alle so aufregten. Es seien ja schon seit langem Lohnerhöhungen weit über den geforderten geplant gewesen, und noch dazu mehr Urlaubstage für alle. Die Arbeiter jubelten, Henri schäumte, aber am Ende waren die folgenden Jahre die umsatzstärksten seit langem. Ich bezweifle trotzdem, dass ich mehr als ein Hundertstel ihres aufregenden Lebens kennengelernt habe, und wenn ich daran denke, dass all ihre Geschichten und gelebten Momente nun für immer verschwunden sind, will ich nicht nur schreien und toben und alles kaputt hauen, sondern mich am liebsten selbst auflösen und nicht den Hauch einer Spur hinterlassen.

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Braunauge hat beim Einschenken des Kaffees leicht gezittert und etwas braune Brühe auf meine Bettdecke vergossen. Er wurde rot und wischte hektisch mit einer Serviette an den Flecken herum, wobei er mich aus Versehen aufdeckte und ich in dreckigem T-Shirt und Boxershorts vor ihm lag, was ihn noch mehr aus dem Konzept brachte. Er warf die Decke schnell wieder über mich und murmelte, dass sie sofort neu bezogen würde, und wollte schon aus dem Zimmer flüchten, aber ich rief, das solle er bloß bleiben lassen, es sei ja alles gar nicht schlimm. Als er trotzdem raus wollte, hielt ich ihn sogar am Ärmel fest. Überrascht sahen wir uns aus viel zu großer Nähe in die Augen, woraufhin wir beide erschrocken den Blick auf den Boden lenkten. Nicht, dass Sie Ärger bekommen, erklärte ich flüsternd mein ungebührliches Benehmen. Erst sagte er gar nichts, und ich dachte schon, er hätte mich nicht gehört. Danke, flüsterte er schließlich, und wieder sahen wir uns kurz in die Augen. Dann stand er noch eine Weile – ich glaube, dreißig Stunden oder so, aber wahrscheinlich nur drei Sekunden – wortlos vor mir, bis er das Zimmer verließ. Ich weiß wirklich nicht, warum ich mir seine Sorgen mache.

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Was Menschen wollen: Am Leben bleiben. Schmerz vermeiden. Sich vermehren. Darauf lässt sich im Grunde alles zurückführen. Diese ganze aufgeblasene Zivilisation mit Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, mit Kunst und Kultur und mit Liebe und Mitgefühl ändert gar nichts daran und tüncht die wahren Motive nicht mal annähernd zu. Worum es nämlich nie geht: Irgendwem außer sich selbst etwas Gutes zu wollen oder etwas Schönes zu schaffen, einfach nur um der Schönheit willen, oder darum, Nachwuchs zu bekommen, ohne eigene Zwecke zu verfolgen. All die Dichter und Denker und großen Geister wollen die Welt nicht verbessern, sondern Ruhm und Reichtum als Fortpflanzungsvorteil, und die Revolutionäre wollen nicht Gerechtigkeit für alle, sondern eine Villa mit Pool wie diejenigen, denen sie dafür die Köpfe abhauen, und die Eltern aller Jahrhunderte wollen ihre Kinder nicht glücklich sehen, sondern als Wiederholung ihrer selbst, um die eigene Sterblichkeit zu vergessen. Na und?, hat Jerome gesagt. Ist doch normal. Mag ja sein, dass es normal ist. Es ödet mich trotzdem an. Und es interessiert mich null, irgendeinem dieser durchschaubaren Manöver auch noch Beifall zu klatschen. Da liege ich lieber im Bett und hab meine Ruhe.

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Eine ältere Dame mit schwarz-grauem, zum Dutt aufgesteckten Haar hat mein Bettzeug frisch bezogen. Die strenge Uniform des Hotels und die nervtötende Tätigkeit können ihr nichts anhaben. Während ich platt wie eine Flunder daliege und mich schließlich wie ein Baby mit der duftig gestärkten Wäsche zudecken lasse, trällert sie ein fremdländisches Lied und lacht mich fröhlich an. Soll man sich auch mal gut gehen lassen, findet sie. Auch sie spricht, wie fast alle Hotelangestellten, mit Akzent. Sie ist ganz ohne Neid. Ich bin mir sicher, dass sie noch nie Gast in einem solchen Hotel war und es auch nie sein wird, aber sie gönnt mir, dass ich es mir in dieser Absteige für Reiche gut gehen lasse, während sie mir mein Bett macht wie das Hauspersonal einer Adelsfamilie im 19. Jahrhundert. Ohne jeden Kampfgeist. Oma hätte versucht, ihr den beizubringen. Sie hätte ihr erklärt, dass man sich wehren muss und wie man einen Betriebsrat gründet. Jerome hätte darüber nur gelacht. Er hätte ein Schwätzchen mit der Frau gehalten, ein paar Scherze gemacht, und schon nach ein paar Minuten wären sie wie alte Freunde gewesen. Keine Änderungsversuche. Warum der Frau das Gefühl geben, ihr Leben sei falsch, wenn sie es selbst nicht so empfindet? Weil vor der Tat das Bewusstsein steht, hätte Alice geantwortet. War bei mir doch genau so. Mir musste auch erst ein hübscher junger Mann erklären, wie das läuft mit den Produktionsverhältnissen, und später hab ich meine Arbeiter befreit. Jerome hätte sich ausschüttet vor Lachen. Du hast ihnen die Freiheit geschenkt! Die Freiheit, ihr Leben den Knöpfen zu widmen. Eine Großtat, wirklich wahr. Alice hätte sich von Jeromes Spott nicht beeindrucken lassen: Natürlich. Denn nur darum geht es. Die Freiheit zu haben, eigene Entscheidungen zu treffen und niemandem gehorchen zu müssen außer sich selbst. Jerome hätte das nicht gelten lassen: Manche wollen es aber lieber so: Ein sicheres Gehalt und wenig Verantwortung und wenig Risiko. Nicht jeder ist zum Unternehmer geboren. Jeder ist zu allem geboren, hätte Alice gesagt. Und zur Freiheit sowieso. Alices Optimismus war so ansteckend. Wenn ich bei ihr war, glaubte ich, dass alles möglich sei. Ich würde fliegen können, wenn ich es nur wollte. Und die klassen-, rassen- und grenzenlose Gesellschaft war nur noch eine Frage der Zeit. Sobald ich aber wieder im Internat mit all den anderen reichen Kindern war, erschien mir Jeromes abgeklärter Zynismus als die einzig realistische Haltung. Jetzt hab ich Alices Frohsinn nicht mehr und Jerome hält mir seinen Pessimismus nicht mehr entgegen. Was soll nur aus mir werden?

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Es ist ja nicht so, dass meine Eltern keinen Plan für mich gehabt hätten. Klar, die wesentlichen Aufgaben waren bereits verteilt, als ich auf die Welt kam: Mein Bruder Alexander, der Erstgeborene, übernimmt das Leben meines Vaters. Die Zweitgeborene, meine Schwester, übt ewige Rache für das ungelebte Leben meiner Mutter. Da hätte man meinen können, sie würden mich, die Nachzüglerin, in Ruhe lassen. Haben sie aber nicht. Für mich hatten sie den Platz der Schöngeistigen vorgesehen. Weil Kultur zu einem großbürgerlichen Bildungshaushalt selbstverständlich dazu gehört. Das Problem ist, dass meine Eltern null Gefühl für jede Art von Kunst haben. Natürlich gehen sie laufend ins Theater, in die Oper – Bayreuth! – oder in die neuesten Ausstellungen. Aber sie gehen aus demselben Grund hin, aus dem mein Vater Doktor-jur-Ichrette-Ihr-Geld-vor-dem-Fiskus als Mitglied im Rotarier-Club ein paar Cents für Bedürftige spendet und meine Mutter ihre Charity-Partys veranstaltet: Weil man das eben macht, wenn man zur Oberschicht gehört. In Wirklichkeit interessieren sie sich weder für arme Leute noch für das, was sie in ihrem straff organisierten Wir-treffen-die-anderen-Arschlöcherunserer-Reichen-Clique-Programm zu sehen und zu hören bekommen. Was man ihnen bei der sogenannten Hochkultur allerdings nicht verübeln kann. Denn die wird ja aus denselben Gründen gemacht, aus denen meine Eltern hingehen: Aus Angeberei, aus dem Wunsch, dazu zu gehören, aus Geldgier. Die kalkulierten Skandale, die angestrengte und nie wirklich neue Neuartigkeit, die angebliche Verachtung des Mainstreams: Alles nur Getue. Die echte Kunst findet natürlich woanders statt. Auf der Straße, in den Kneipen, in den Kellerclubs oder einfach zu Hause. Alles Orte, die meine Eltern niemals aufsuchen würden, abgesehen von ihrer keimfreien Villa mit Seezugang. In der haufenweise Hochkultur-Kunst an den Wänden hängt. Und in der mir die Rolle des lebenden Kunstwerks zugedacht worden war. Mit Geige, Ballett und Gesangsunterricht wollten meine Eltern mich zu dem fehlenden I-Tüpfelchen machen. Und ich war ja wunderbar geeignet! Mit meinem Puppengesicht und den gelenkigen Gliedern und dieser wunderlichen musischen Begabung, von der niemand weiß, woher sie stammt. Wie gemacht für eine Karriere auf hochkulturellen Bühnenbrettern, in deren Licht sich meine Eltern hätten sonnen können. Warum nur, warum nur hat diese vermaledeite Brut mit vierzehn Jahren alles hingeschmissen? Sich die schönen langen Zöpfe abgeschnitten und durch giftgrüne Stoppeln ersetzt, die Geige gegen ein Schlagzeug ausgetauscht und das Tutu gegen ein Tattoo? Oh Schreck, oh Schreck, wer hat das liebe Töchterchen auf die schiefe Bahn gebracht? Also schnell auf ein Internat mit ihr, zu all den anderen Sprösslingen aus gutem Haus, die aber – oh je, oh je – noch viel verdorbener waren als die eigenen… Ach, ihr lieben Eltern, grämt euch nicht. Lebt euer Leben zwischen Großkanzlei und Gala-Dinner, und vergesst eure rumgammelnde, drogenabhängige, fortpflanzungsresistente Nachkommenschaft, die euch so gar nicht zur Ehre gereicht.

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Meine Eltern mailen, dass sie die Polizei einschalten, wenn ich mich nicht melde und verrate, wo ich bin. Hahaha, sollen sie mal machen. Ich bin erwachsen, und wenn ich die Nase voll hab von meiner Familie und überhaupt der Menschheit, ist das meine Sache. Die werden sich totlachen bei der Polizei. Hahaha.

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Nach Alices Tod bin ich nicht zurück gegangen ins Internat. Ich hatte Alices Wohnungsschlüssel und hab mich in ihr großes Bett verkrochen, in dem wir unsere Keks-Partys veranstaltet hatten. Manchmal hab ich mich in eine Decke gehüllt auf den Balkon gesetzt und die Eichhörnchen beobachtet, wie sie über die Bäume huschen. Durch die kahlen Äste glitzerte der See, der in Fußnähe zu Alices Wohnung liegt. Meine Eltern ließen mich natürlich nicht in Ruhe. Fast täglich kamen sie oder riefen sie an, um mich dazu zu bewegen, zurück zur Schule zu gehen und mein Abitur zu machen. Es sind noch drei Monate, stöhnte mein Vater. Drei Monate! Die wirst du ja wohl noch durchhalten. Du wirfst dein Leben weg, kreischte meine Mutter. Aber was erwarte ich? So war sie ja schon immer! Sie schickten auch Judith, die an meine Vernunft appellierte, und sogar Alex ließ sich zu einem Besuch hinreißen: Mensch, Max, das bringt dir Alice doch auch nicht wieder. Darum geht’s nicht, sagte ich. Worum dann?, wollte Alex wissen. Wie sollte ich es erklären, wenn er es nicht von selbst wusste? Diese Ungeheuerlichkeit, dass für einen Menschen die Welt aufgehört hat zu existieren, und alle anderen weitermachen, als sei nichts geschehen. Aber ich schien die einzige zu sein, die so fühlte. Auch Jerome verstand nicht, warum ich nicht in die Schule zurückkehrte: Jetzt hast du es so lange ausgehalten. Das wäre alles umsonst gewesen, wenn du es nicht zu Ende bringst. Ist mir egal, sagte ich. Hauptsache, es hat überhaupt ein Ende. Je eher, desto besser. Komm zurück, bettelte Jerome, mir zuliebe! Es ist so langweilig ohne dich. Nicht zum Aushalten. Aber ich wusste, dass er maßlos übertrieb. Im Gegensatz zu mir war Jerome bei allen beliebt und wusste ohnehin am besten selbst, wie er sich aus allem einen Spaß machen konnte. Auch wenn ich sein eingeübter Sparringpartner gewesen war, würde er sehr gut ohne mich zurechtkommen. Und ich behielt recht. Seine Anrufe wurden schon nach zwei Wochen seltener, und auch ich bemerkte, dass ich ihn viel weniger vermisste, als ich vermutet hatte. Vielleicht war es so, dass Jeromes und meine Freundschaft nur im Rahmen des Internat-Lebens funktionierte. Mehr eine Notgemeinschaft als Seelenverwandtschaft. Trotzdem war ich überrascht, als mich Jerome nur einen Monat nach Alices Tod besuchte und erklärte, dass er sich unsere Verbindung in Zukunft eher auf platonischer Ebene vorstelle. Erstaunlich, wie schnell sich alles ändern kann. In kürzester Zeit habe ich die drei Menschen, die mir am allernächsten waren, auf die eine oder andere Weise verloren.

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Heute Nacht bin ich aufgewacht, irgendwo hat jemand geschrien. Ich weiß nicht, ob es im Hotel war oder von draußen durch die offene Balkontür hereinwehte. Irgendwo hatte jemand Schmerzen oder Angst oder war wütend. Überall auf der Welt schreit gerade jemand, aber dieser Jemand ist nicht ich, dieses Mal nicht. Was also geht es mich an? Oder sind wir doch alle irgendwie verbunden, spüren das Leid der Welt, weiter gegeben durch physikalische Wellen, die wir nicht sehen und von denen wir nichts wissen? Woher weiß ich, dass all diese Teilchen, die Ich sind, spezialisiert auf Haut- oder Hirn- oder Darm-Funktionen, sich nicht doch viel mehr austauschen mit all den Luft- und Hausmauer- und anderen Lebewesen-Teilchen? Vielleicht sind wir alle viel weniger abgegrenzt, als wir vermuten? Ich saß aufrecht im Bett und wartete auf den nächsten Schrei, der nicht kam. Im Nachthimmel reflektierten vereinzelt ein paar ferne Planeten das Licht einer Sonne, und in der Glaswand des Hauses gegenüber spiegelten sich die fünf Sterne vom Schild des Hotels. Ich dachte, wenn ich jetzt sterbe, wäre es in Ordnung.

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Jerome in allen möglichen Posen. Im Anzug und mit Zylinder auf dem Kopf unter einer Dusche am Strand; mit seinem ironischen Grinsen, in der Hand ein Buch von Oscar Wilde; auf einer Schaukel, die Beine hoch in die Luft werfend und mit vor Lachen aufgerissenem Mund. Oma Alice: Fesch in ihrem Trenchcoat im weißen Cabrio, hinter dessen Lenkrad sie sich bis zum letzten Atemzug gesetzt hat. Auf ihrem Balkon am kleinen Bistrotisch, die Zigarette mit Spitze vornehm in abgewinkelter Hand. Ein Foto aus Jugendtagen mit Opa Henri: Fröhlich und frech in die Kamera lachend, dem ernsten Henri mit zwei Fingern ein paar Hasenohren zeigend. Tom, wie er in seiner Hängematte liegt, die Selbstgedrehte im Mundwinkel, ein Buch auf dem Bauch – seine Lieblingsposition. Mit seiner Gitarre im Schneidersitz unter einem Baum, den Kopf geneigt, um den richtigen Griff zu prüfen. Zusammengekauert in Embryostellung in einer weißen Zimmerecke – er hat es selbst so inszeniert – und auf einem Felsen sitzend, mit Blick auf den Horizont in der Ferne. Meine Galerie der Verstorbenen, Verschollenen und Verflossenen. Warum, verdammt noch mal, lasst ihr mich alle allein?

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Braunauge hat mir eine Blume auf den Frühstückstisch gestellt. Gelbe Blütenblätter um einen handtellergroßen Kreis aus orangen Samen. Verblüfft betrachtete ich die Blume und dachte im ersten Augenblick, Jerome hätte mich auf irgendeine Weise ausfindig gemacht und mir diesen Gruß geschickt. Aber dann murmelte Braunauge leise: Weil Sie mich nicht verpetzt haben. Weil mir nicht einfiel, was ich sagen könnte, nahm ich die Blume aus der Vase und schnupperte an ihr. Die duftet gut, sagte ich. Danke. Dann wussten wir beide nichts zu sagen und schauten aneinander vorbei. Ich heiße Max, brachte ich schließlich hervor. Eigentlich Maxine, aber Max ist mir lieber. Schöner Name, sagte Braunauge und stellte sich mir als Gilbert vor. Ich nickte und wieder fiel mir nichts ein. Das Kompliment für den Namen konnte ich nicht zurückgeben, ohne zu lügen. Meine Mutter hat mich nach dem Nachnamen des Arztes benannt, der mich auf die Welt gebracht hat, erklärte Gilbert, als hätte er meine Gedanken erraten. Oh! rief ich nur. Das klang nicht gerade nach Eltern, die meinen an Liebesfähigkeit etwas voraus gehabt hätten. Tja, sagte Gilbert. Meine Mutter ist krank, irgendwas hier – er deutete an seinen Kopf. Und mein Vater ist kurz nach meiner Geburt abgehauen. War wohl eine mäßig schöne Kindheit, sagte ich. Er lachte und zeigte dabei seine kleinen, sehr weißen Zähne. Welche Kindheit? Ich starrte auf die Grübchen in seinen Wangen. Gilbert wurde wieder ernst. Entschuldigung. Wieso Entschuldigung? Naja, das interessiert Sie sicher nicht. Oh, doch!, das kam rausgeschossen. Zum Ausgleich ließ ich mich tiefer ins Kissen sinken. Gilbert lächelte wieder und zeigte seine Grübchen. Und Ihre Eltern? Machen die auch hier im Hotel Urlaub? Geht dich gar nichts an, hätte ich fast gesagt. Aber ich schüttelte nur den Kopf. Ich hab keine Eltern, mit denen ich Urlaub machen könnte, erklärte ich stattdessen und klang aggressiver, als ich wollte. Oh, machte Gilbert und sah unglücklich aus. Keine Sorge, ich liege hier ausgezeichnet, sagte ich in versöhnlichem Tonfall. Er sah mich erwartungsvoll an, als warte er auf weitere Erklärungen, aber ich hatte keine Lust, ihm die Gründe für meinen Hotelaufenthalt auseinanderzusetzen. Aber… das kostet hier ja ziemlich viel, traute sich Gilbert zu sagen. Ich habe geerbt, verriet ich, damit er endlich Ruhe gab. Genug, um den Rest meines Lebens in diesem Bett zu verbringen. Gilbert starrte mich mit tellergroßen Augen an. Schon ärgerte ich mich, dass ich gegen meinen Willen so viel erzählt hatte. Also drückte ich ihm einen Zwanziger in die Hand und sagte etwas zu barsch: Entschuldigung, aber ich brauche viel Schlaf. Ich drehte mich auf die Seite und lauschte, wie Gilbert fast geräuschlos zur Tür schlich und sie mit einem leisen Klicken hinter sich schloss.

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Alices Testament kam in einem unspektakulären blassblauen Briefumschlag ins Haus geflattert, sechs Wochen nach ihrem Tod. Und es war in zweierlei Hinsicht eine Überraschung: Zum einen war sie viel reicher, als wir alle geahnt hatten. Sie besaß nicht nur ihre Wohnung am See und das Häuschen am Meer, sondern auch derart viele Aktien, dass es schien, als gäbe es kein einziges Unternehmen auf der Welt, an dem sie nicht beteiligt gewesen wäre. Vielleicht hat sie es selbst nicht gewusst. Fast alle Papiere stammten aus der Zeit, als Henri noch lebte.
Offenbar hatte er sein ganzes Geld anstatt in teure Anzüge oder Autos in andere Firmen gesteckt. Und dabei augenscheinlich ein außergewöhnliches Gespür dafür gehabt, welches Unternehmen sich über die Jahrzehnte prächtig entwickeln würde. Alle Aktien zusammen genommen waren so viel wert, dass ich die Zahl auf den ersten Blick gar nicht erfassen konnte. Bisher hatte ich nicht gewusst, dass ein einzelner Mensch überhaupt so viel Geld besitzen konnte. Alex pfiff durch die Zähne, als er die Summe sah: Für eine Kommunistin hatte Alice erstaunlich viel Geld. Salon-Kommunistin trifft es ja wohl eher, meinte Judith. Es ist unfassbar. Sie war steinreich. Die zweite Überraschung war, dass ab sofort ich dieser steinreiche Mensch sein würde. Denn Alice hat mich als Alleinerbin eingesetzt. Damit steht mir die Hälfte des gesamten Vermögens zu, während sich mein Vater, meine Tante Patricia und Onkel Tom mit der anderen Hälfte als Pflichtteil begnügen müssen. Mein Vater konnte seine Wut kaum unterdrücken, er bekam einen roten Kopf und einen Schweißausbruch, während sich meine Mutter kreidebleich hinlegen musste. Judith nahm es gelassen, aber Alex fühlte sich übergangen: Sie hätte mir ja wenigstens ihr Haus vererben können. Ich geb euch was ab, bot ich an. Ich komm drauf zurück, sagte Alex, und Judith meinte, dass es sie beruhige, im Notfall eine derart solvente Schwester zu haben. Ich war froh, dass mir meine Geschwister die Bevorzugung nicht verübelten, aber für meine Eltern tat es mir überhaupt nicht leid. Über Alice hatten sie sich immer nur aufgeregt, und außerdem haben sie selbst genug Geld. Das sie immer wieder gern als Waffe eingesetzt haben. Wer artig ist, bekommt viel von ihnen, wer unartig ist, bekommt keins. Das hat jetzt ein Ende. Ihre Drohungen, mein Taschengeld zu kürzen, laufen ins Leere. Ich habe mein eigenes Geld, sogar viel mehr als meine Eltern, und ich kann selbst darüber entscheiden. Jedenfalls, sobald alles geregelt ist. Denn vorerst sind wir eine Erbengemeinschaft und müssen erst alles unter uns aufteilen. Dafür wurde ein Freund meines Vaters als Nachlassverwalter angestellt. Und meine Eltern hatten sofort tausend Pläne, was mit dem Geld geschehen soll. Welcher Fonds gut sei, und welche Aktien man behalten und welche man lieber verkaufen und neu anlegen sollte. Außerdem lösten sie ein Konto auf und verteilten das Geld unter uns vier Erben, was schon so viel ist, dass ich mich wie eine Königin fühle. Ansonsten hatte ich keine Ahnung und ließ sie erst mal machen. Nach ein paar Wochen aber wusste ich, was ich will. Ich habe nämlich im Internet recherchiert und herausgefunden, dass das meiste Geld in irgendwelchen Beteiligungen steckt, die ich nicht weiter unterstützen will. Es sind durchweg Unternehmen, die irgendwelchen Dreck am Stecken haben. Weil sie Menschen irgendwo auf der Welt für absurd geringe Löhne arbeiten lassen, weil sie die Umwelt verpesten, weil sie Sachen herstellen, die überhaupt nicht hergestellt werden sollten, und meistens trifft sogar alles drei zusammen zu. Es ist nicht so, dass mich das alles übermäßig interessiert. Ich nehme aber an, dass sich Alice nicht allzu intensiv mit all diesen Papieren beschäftigt hat und gehe davon aus, dass es in ihrem Sinne ist, wenn ich den ganzen Mist abstoße. Ich verkaufe alles und packe es auf mein Girokonto, erklärte ich. Meine Eltern erstarrten. Das ist nicht dein Ernst, keuchte mein Vater. Sie ist verrückt, schrie meine Mutter. Sie ist endgültig verrückt geworden! Ich ließ sie toben. Aber sie ließen nicht locker. Das macht der Nachlassverwalter nicht mit, belehrte mich mein Vater. Du allein kannst gar nichts entscheiden, nur wir alle zusammen. Aber ich hatte mich informiert: Dann verlange ich die Auseinandersetzung. Wie du willst, liebe Tochter, aber das dauert ein Weilchen. Ein sehr langes Weilchen. Wir werden uns jedenfalls gegen deine Wertzerstörung zur Wehr setzen. Und bis es eine vernünftige Lösung gibt, nutzt hier keiner irgendetwas, das zum Erbe gehört. Sie schmissen mich also tatsächlich aus Alices Wohnung raus. Ich ging freiwillig, aber ich bin mir sicher, wenn ich es nicht getan hätte, hätten sie das die Polizei erledigen lassen. Ausgestattet mit dem Geld von Alices Konto, zog ich ins Hotel.

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Leseprobe: Alexander Raschle – “Die grauen Kinder”

Sie kamen im Untergang der Sonne; die Camions quälten sich über die engen Serpentinen der Tremola den Berg hoch, die Soldaten, die verborgen und aneinandergedrängt in den abgedunkelten Ladeflächen sassen, schwankten in den Kurven, während sie sich an ihren Karabinern festhielten und starrten sich gegenseitig auf die Stiefel; sie passierten niedrige Blockhütten, Scheunen und Ställe, wie zufällig platziert auf den Hängen unter der gewaltigen Bergmasse, weder Mensch noch Tier war zu sehen, und sie fuhren den steilen Pass weiter hoch, kamen in Sichtweite eines weissen Chalets und dann mitten auf der Strasse zum Stillstand. Die Fahrer und Beifahrer stiegen aus und öffneten die Ladeklappen. Die Milizsoldaten kletterten mühselig aus den Lastwagen, wuchteten ihr militärisches Gepäck beim gemauerten Strassenrand aufs Kopfsteinpflaster. Keiner half dem anderen. Sie setzten sich auf ihre Taschen und auf die Steinmauer und die leeren Lastwagen fuhren zurück ins Tal. Die Männer warteten, die Arme eng vor der Brust verschränkt. Keiner sprach ein Wort; keiner fragte den anderen was ihn hierhergeführt habe, der Grund bei jedem anders und doch derselbe.
Einige beobachteten die Bergflanken im letzten Licht, andere sahen ins Tal; die schon winzigen Lastwagen verschwanden bald gänzlich. Aus dem Tal kroch das Dunkel herauf. Es wurde kalt, die Männer entrollten ihre grauen Soldatenmäntel und hüllten sich ein und warteten weiter. Manche stapften einige Schritte hin und zurück. Ein kurz gewachsener Soldat lief beobachtend umher, grinste, sah dann in Richtung des Chalets hoch oben am Berghang und sagte, er kenne den Weg. Er nahm sein Gepäck und kletterte damit behände über die niedrige Mauer und stieg quer über die Wiese den Hang hinauf. Die Männer standen auf und beobachteten ihn, standen unschlüssig da, und nach einer Weile, da nahm einer hektisch sein Gepäck und folgte, dann folgten mehr und bald zog die ganze Mannschaft zu Fuss den Hang hinauf. Der Wind rauschte durch die Berglandschaft und gab ihnen Auftrieb in die Rücken, als wolle er ihnen helfen auf ihrer Flucht vor der Nacht, auf ihrer Flucht vor schrecklichem Unglück. Einer der Männer rutschte aus, als er den Stacheldrahtzaun übersteigen wollte; die Schwere des Tornisters brachte ihn zu Fall, er blieb hängen, die anderen wichen ihm aus und liefen weiter. Bevor mit einigem Abstand der Letzte der Kolonne folgte, ein hagerer Mann mit langen Beinen, befreite er sich, rappelte sich auf und hastete hinterher. Zwischen Stein und dunklen Grasbüscheln marschierten sie, vorbei an wasserlosen Brunnen, an seltsam kantigen Felsen; im langsamen Dämmer bewegten sich die Gestalten in Einerkolonne den Hang hinauf, hinter ihnen die sinkende Sonne. Sie strebten dem Chalet entgegen; sich wie ein Trugbild hellweiss in der anbrechenden Düsternis und dem Lärchengewand abzeichnend. Kein Weg führte dahin, wer wollte hier oben ein solches Haus bauen? Die Männer erreichten den trutzigen Steinsockel des dreistöckigen Chalets; sie standen im Schatten des Krüppelwalmdachs, an der Balkonbrüstung befestigt über ihnen eine Familie bemalter Holzfiguren mit leeren schwarzen Augen. Aus den Fenstern brannte kein Licht. Einer der Soldaten ging näher heran, strich vorsichtig über die Fenster, es waren keine; die verwitterte Farbe bröckelte unter seinen Fingern. Ein zweiter näherte sich der dunklen Holzbretterschalung, zog am wuchernden Blätterwerk und darunter verbargen sich Beton und Schiessscharten. Und die Männer standen da, hüllten sich tiefer in ihre Soldatenmäntel und vor ihnen stand bedrohlich das Haus, das keines war, wie eine bizarre Kulisse inmitten der falschen Bergidylle. Der kurze Soldat legte sein Gepäck ab, spuckte aus, tappte gnomenhaft und grinsend zum Vorplatz und schwang dort auf der Kinderschaukel hin und her. Es war still, nur das Quietschen der Schaukel war zu hören, das Windrauschen, das unterdrückte Husten der Männer. Nach einer Weile öffnete sich das Haus. Mitten in der Fassade öffnete sich ein grosses rundes Stahltor mit aufgemalter Holzstruktur ein Stück weit und heraus kamen zwei unbekannte Soldaten; sie hatten ihre Sturmgewehre hintergehängt und stellten einen Schemel und einen Holzklapptisch auf der falschen Veranda auf. Ihnen folgte ein Dritter mit einer olivgrünen Aktenmappe. Er setzte sich, öffnete die Mappe und legte seine Papiere aus. Misstrauisch spähte er in die Runde, flankiert von den zwei Bewaffneten. Dann wurden mit gedämpfter Stimme Namen von einer Liste ausgerufen, zögernd traten die genannten Milizsoldaten zum Tisch und dort wurde jeder gemustert und nach seiner Gesundheit befragt, suchte dann seinen Namen auf der Liste und machte seine Unterschrift nebenan mit schwarzem Tintenfüller zum Beweis, dass er nun hier war und hierbleiben würde, für die Zeit seines Dienstes nicht mehr nach Hause gehen und Stillschweigen vor Freund und Feind bewahren würde. Als der Prüfende alle vierzig Namen ausgerufen und kontrolliert, jeder unterzeichnet hatte, war es bereits völlig finster; die Milizionäre standen wie erstarrt bei ihrem schweren Gepäck unter einem sternenlosen Himmel. Der Prüfende verstaute seine Unterlagen in der Mappe und rief einen Befehl. Und als hätte er eine Zauberformel gesprochen die das Haus zur vollständigen Verwandlung zwang, tat es sich auf, zogen die beiden Bewaffneten das Tor endgültig auf und offenbarten einen Tunnel in den Berg. Das künstliche Licht blendete die Männer, die blinzelten und schützend ihre Arme vor die Gesichter hielten. Auf Befehl des Prüfenden bildeten sie eine Einerkolonne nach Wuchs, ein grosser Hagerer an der Spitze, ein Gnomenhafter am Ende. So zogen die Männer in Einerkolonne mit aller Last die sie mit sich trugen in den Berg ein und das Tor schloss sich hinter ihnen.

 

Die Sirene riss den Schlafenden aus dem Dunkel ins Dunkel. Sie heulte durch die Kammern und Kavernen, durch Stahl und Beton des Bunkers, rhythmisch sich aufbäumend und wieder fallend, drang sie unerbittlich in alle Schädel, als verkünde sie die kommende Morgenröte über den Bergen und den Anbruch von Gottes Strafgericht. Der Mann erhob sich aus seinem Strohlager, hüllte seinen Körper in die rauhe Wolldecke und wankte barfuss wie ein Erblindeter durch die Schwärze. Was?, rief jemand. Was? Der Mann antwortete nicht. Er tastete der feuchtkalten Wand entlang, drückte vergebens den Lichtschalter, suchte nach der Sturmlaterne auf dem Tisch nebenan und zündete die Kerze darin mit einem Streichholz an. Dann nahm er seinen Karabiner aus dem Gewehrständer, zog den Verschluss nach hinten, setzte den Lader an, drückte mit dem Daumen sechs Patronen ins Kastenmagazin, verriegelte die Waffe und hängte sie über den Rücken. Was ist los, rief ein anderer. Alarm, sagte der Mann. Seine Stimme war gefasst, klar aber nicht laut, nicht drängend oder warnend. Mit der Laterne in der Hand öffnete er die Türe der Schlafkammer und sah in den Stollen vor ihm. Links und rechts quollen die Menschen aus den Türen der Mannschaftsunterkünfte in die Bunkergänge hervor; eine aufgescheuchte Horde aus fremdartig anmutenden, halbnackten Wesen inmitten von dunklem Grau, und die Sirene heulte weiter, schwellte in ungeheurer Lautstärke auf und ab, und verzerrte die Stimmen zu bizarren Klagerufen. Der Mann trat heraus. Er schwenkte die Laterne umher, an der Betonwand ihm gegenüber kauerte ein dünner Soldat mit eingefallener Brust und hielt sich die Ohren zu, sah das Licht, stand auf und packte ihn am Arm, wie ein Schiffbrüchiger, der sich verzweifelt an ein Stück Treibholz klammert. Hilfe. Helfen Sie mir. Gehen Sie sofort zum Ausgang. Bitte, bitte stellen Sie die Sirene ab. Lassen Sie mich los. W-Was ist passiert? Ich weiss es nicht. Gehen Sie zum Sammelplatz beim Ausgang. Ich- Wo muss ich hin? Er löste den Griff und lief in den sich verengenden Stollen hinein. Der Dünne folgte ihm. Alarm, zum Ausgang, rief er in das grauschwarz wabernde Nichts. Es stank nach kaltem Schweiss. Nackte stiessen gegen ihn und stiessen erstickte Laute aus. Er hielt seine Laterne fest an sich gepresst und in ihrem stumpfen, flackernden Licht erschienen von Urangst verzerrte Gesichter, scheinbar körperlos im Dunkel. Die Männer sahen ihn an und warfen ihre Hände wie Motten wirr um sein Licht und hielten sich an seiner groben Wolldecke fest. Was ist los?, riefen sie. Alarm. Raus. Scheisse. Wo geht es hier raus?, rief jemand und streckte die Finger nach dem Gewehr auf seinem Rücken aus. Alarm, sagte der Mann. Bleiben Sie ruhig. Zum Ausgang. Folgen Sie mir. Sie sahen ihn an, standen in der grauen Düsternis zwischen den Betonwänden, wie verlorene Kinder, zitternd und hilflos in einer feindlichen Welt, als würde die Sirene ihnen alles nehmen, was sie zu Soldaten machte und jeglichen Verstand. Er wiederholte seinen Befehl, immer und immer wieder; Alarm. Zum Ausgang. Alarm. Und dann lief er weiter durch das menschengeschaffene Berglabyrinth, die Laterne schwenkend, seine Worte während den kurzen Niedergängen der Sirene wie eine Losung verkündend, und um sein Licht und seine Stimme sammelten sich die Menschen und sie hielten sich an den Schultern des Vordermannes fest und gaben den Befehl weiter an diejenigen, die noch im Dunkeln irrten und auch sie wiederholten ihn im Chor, eine archaische Soldatenlitanei, und sie folgten dem Licht, langsam, einer schemenhaften Prozession aus einem Fiebertraum gleich, mit unsichtbarem Ziel. So passierten sie das offenstehende Schleusentor, marschierten aus dem Unterkunftstrakt hinaus, erreichten den Treppenschacht und stiegen die Stufen hoch, und es waren viele Stufen, und es war so eng, dass sie mit den halbnackten Leibern aneinanderstiessen und sich um ihren Platz drängten und immer schneller wurden und in panisches Gebrüll ausbrachen. Er rannte wie ein Gehetzter an der Spitze. Er warf die Wolldecke ab, hielt die Laterne mit beiden Armen vor seiner Brust umschlossen, als behütete er in ihrem gläsernen Innern das letzte Licht auf Erden, rannte hinauf, bis ihm ein massiger Körper entgegenschlug. Glas splitterte. Er kämpfte ums Gleichgewicht. Der metallene Gewehrlauf schrammte der feuchten Betonwand entlang. Scherben schnitten in nackte Füsse. Er fiel auf die Knie und hielt die Hände schützend über die zu Boden gefallene weisse Wachskerze und ihrer flackernden Flamme. Die Sirene drang durch den Schacht und verlor sich, ähnlich dem entstellten Echo eines Hornstosses im Gebirge. Der Feldweibel, der ihn umgestossen hatte, verschnaufte laut, erkannte den Kauernden im Halbdunkel an und rief: Gottverdammt. Steiner? Bist du das? Hast du die ganze Mannschaft hochgebracht? Geht sofort zurück, die Schleusen werden jeden Moment geschlossen. Das ist ein Strahlenalarm. Hinter Steiner drängten die Männer ahnungslos aus dem Dunkel und stiessen ihm bald blindlings rasend in den Rücken und stürzten fluchend über ihn und noch immer verharrte er in gekrümmter Gebetshaltung über der Kerze, so dicht, dass die kleine Flamme erstickend an seiner Haut leckte. Die Sirene heulte, bäumte sich plötzlich lange und gellend auf, vermischte sich mit dem Brüllen der sich im Schacht stauenden Fliehenden zu einer makabren Sinfonie, die all ihr Leid aus ihrem Schlund der Verzweiflung herauszupressen versuchte, und dann wurde sie von allen Seiten übertönt; ein durchdringendes, dumpfes Grollen brach durch die ganze Bergfestung und verstummte abrupt, als hätten sich sämtliche Schleusen zur Aussenwelt soeben für immer verschlossen. Ein letzter kalter Windstoss zog herab und das Licht ging aus und der Schacht versank in vollkommener Schwärze. Die Sirene erstarb. Zurück blieben nur Stille und Angst.

Zurück nach unten, rief der Feldweibel ins Dunkel. Die Hauptschleusen sind zu. Geht alle mit Korporal Steiner nach unten und wartet dort. Niemand sprach. Nichts bewegte sich. Manuel, wo bist du? Gottverdammt. Bring sie alle zurück in den Unterkunftstrakt, ich stell die Notbeleuchtung an und hol die Offiziere. Hörst du mich? Hast du verstanden? Steiner antwortete nicht, kauerte reglos auf den Stufen, zwischen den blutigen Scherben der Laterne und ihrem toten Licht. Manuel, sagte der Feldweibel. Bring sie nach unten. Es war sehr still. Rasselnder Atem aus dem pulsierenden Schwarz. Irgendwo tropfte Wasser. Die Lüftungsanlage begann wieder zu dröhnen, als hätte sie während des Alarms die Luft angehalten. Von weiter unten hallten Hilferufe durch den schwarzen Schacht. Der Feldweibel tastete nach Steiner, packte ihn am sehnigen Arm und zerrte ihn hoch. Los jetzt. Um Himmels willen. Dann liess er ihn los und verschwand. Steiner stand eine Weile reglos da. Jemand hielt sich an seinem Arm fest und fragte ihn etwas. Das Gewehr drückte, ein Joch im Nacken. Er nahm es ab und hielt es mit beiden Händen. Die Hilferufe wurden lauter. Flüche mischten sich dazwischen. Er gab den Befehl des Feldweibels mit ausdrucksloser Stimme weiter und lief, mit dem Karabinerlauf die nackten Körper vor sich herdrückend, die Treppe runter, trieb die verstörten Gestalten vor sich her, trieb sie zurück, zurück durch den Bunkerschacht nach unten, zurück in den Stollen vor dem Unterkunftstrakt. Ein hässliches Surren und Knacken ertönte und wie ein Schrei kam das Licht zurück. Die Deckenlampen warfen zwischen den Schatten in regelmässigen Abständen ihr weissgrelles Licht auf die halbnackten Männer und ihre geschorenen Köpfe. Sie drängten sich im Stollen zwischen Gewehrrechen, stinkenden Lederstiefeln, Waschbecken und nummerierten Kleiderhaken. Im Dröhnen der Lüftung und dem wütenden und zugleich verängstigten Geschimpfe und Gefluche der Mannschaft versuchten die anderen auftauchenden Gruppenführer Befehle zu erteilen. Einer darunter, von gedrungener Gestalt wie ein grotesker Gnom, Steiner nur bis zur Brust reichend, stand plötzlich untätig neben ihm, sah dem Ganzen zu und grinste ihn mit tückischer Feindseligkeit an. Die Männer reihten sich in den Stollen auf. Ihre Stimmen und ihre Fragen erloschen in den Befehlen der niederen Kader. Dann warteten sie. Stumm und halbnackt standen die vierzig Milizionäre im Stollen wie eine Reihe von Steinskulpturen, das vergessene Heer eines Königs alter Zeit. Nichts regte sich. Die vergitterten Deckenlampen glühten blendend zwischen den Lüftungsrohren, abgesehen vom Dröhnen der Anlage war es still. Sie warteten lange und es wurde kalt. Unruhe kam wieder auf. Als sie das erste Mal die Stimme der Frau hörten, warteten sie schon seit einer Stunde, die Offiziere waren noch immer nicht aufgetaucht. Erst ein Knistern und Knacken aus den Lautsprechern an den grauen Wänden, wuchs es bald zu einem Rauschen an. Nach einer Weile hoben die ersten die Köpfe. Das Rauschen wurde laut, als ob Schwälle von Blut hinter den undurchdringlichen Wänden durchschossen. Die Männer kauerten ob dem verstörenden Klang zusammen. Dann begann die Frau zu sprechen und jeder hörte ihre schaurig sanfte Stimme; eine Stimme so tief und so warm, ohne Zeit und ohne Alter. Die Frau sagte den Namen und den Vornamen eines jeden Mannes und jeder öffnete den Mund als trinke er die Stimme wie süssen Wein. Die Frau sprach leise den letzten Namen aus und eine seltsame Stille setzte ein. Dann sagte sie: Meine lieben Soldaten; hören Sie mir zu. Die Übung ist beendet. Sie haben erfüllt. Gehen Sie schlafen. Und wie betört von der Stimme, wie erfüllt scheinend vom Urvertrauen und der Sicherheit die sie tief in ihnen auslöste, standen sie auf, wankten wortlos und friedlich, wie im Traum versunken, noch bevor die Offiziere dazukamen und ihre Befehle gaben, in Richtung der Unterkünfte und legten sich dort nieder und wickelten sich in die Wolldecken auf dem Stroh. Niemand beklagte sich oder vermochte mehr Fragen zu stellen. Steiner sah dem seltsamen Treiben mit ausdruckslosem Gesicht zu, konnte sich keinen Reim daraus machen und fragte sich, was er tun sollte, und rührte sich nicht von der Stelle, bis der Stollen leer war. Der Gnom war als einziger bei ihm geblieben. Er kicherte und tippte auf den Gewehrlauf, der genau auf seinen Schädel zeigte. Er zwinkerte ihm mit den schmalen Schweinsäuglein linkisch zu, sagte etwas, was Steiner nicht verstehen konnte und verschwand.

Er lehnt an der Wand im Schatten. Seine Hände und Füsse starr und taub. Später geht er durch die verlassenen Betongänge, das Gewehr auf den Rücken geschnallt. Hinterlässt kaum sichtbare Blutspuren. Schleicht von Türe zu Türe wie ein Unheilbringer. Späht in die engen lauwarmen Unterkunftsräume. Lauscht. Hört kaum etwas, vielleicht ein Hauchen oder eine unbekannte Stimme. Er löscht das Licht wo er welches findet. Öffnet jede Türe und kontrolliert jeden Raum und wenn er ihn wieder verlässt ist es dunkel und völlig still. Er löscht jedes Licht, spricht etwas hinein in den leeren Korridor, dann verlässt er den Unterkunftstrakt, durchquert die Gasschleuse, geht zum Treppenschacht und steigt in die Kälte. Er marschiert die Treppen hoch; ein Schattenwesen das sein verlassenes Nachtreich durchstreift, so furchtbar alleine, auf der Suche nach seiner Decke oder vielleicht etwas Anderem. Er marschiert nach oben bis er zur erloschenen Kerze und den blutigen Scherben kommt. Er hebt eine auf und dreht sie in der Hand. Nach einer Weile setzt er sich auf den Beton und streicht mit der Scherbe über seine Haut. Sein Gesicht starr wie eine Maske. Die Lüftung dröhnt. Wasser tropft. Er steigt über die Scherben und geht weiter hoch. Er marschiert lange. Kalter Schweiss läuft ihm über die Brust und nach einer Weile fragt er sich, wo der Ausgang überhaupt war, denn er kann ihn nirgends mehr finden und der Treppenschacht scheint endlos. Er findet gar nichts mehr und keine Stimme spricht zu ihm und sagt ihm wo er entlanggehen muss und wie weit der Weg noch sei. Er bleibt stehen. Sieht lange in die brütende Düsternis; dann kehrt er um.

Er betrat die Unteroffiziersquartiere und betätigte den Lichtschalter; die Kugellampe beleuchtete die enge Schlafkammer wie ein kränklicher Mond. Sieben Männer schliefen auf dicht nebeneinanderliegenden Stockbetten, eingewickelt in Wolldecken und gebettet auf Stroh. In der Mitte stand ein Holztisch. Der Gnom war noch wach, sass auf einem schäbigen Holzstuhl über den er seine Uniformjacke gelegt hatte und lächelte selig, als hätte er die ganze Zeit im Dunkeln auf Steiner gewartet. Soll ich Ihnen ein Geheimnis verraten? sagte er. Hier ist nicht ihr Zimmer. Steiner ging an ihm vorbei, setzte sich auf das freie Bett und legte den Karabiner neben sich ab. Aus seinem Ledertornister nahm er eine schmutzige Rolle Baumwollkompressen hervor und begann, sie fest um seine Füsse zu wickeln. Der Gnom beugte sich über ihn. Das sollten Sie desinfizieren lassen. Das gibt sonst Wundstarrkrampf. Der Gnom zeigte mit dem Finger in die Höhe, vollführte eine groteske Verrenkung und verharrte in dieser Pose. Hören Sie mich? Wollen Sie denn mit Ihrer Knarre schlafen? Hab ja keine Decke mehr. Ähä. Soll ich Ihnen ein anderes Geheimnis verraten? Wie heissen Sie überhaupt? Der Gnom grinste, nahm eifrig seine Jacke vom Stuhl, zeigte ihm den Namenszettel am Kragen. Korporal Weiss, Philipp, verkündete er laut. Ja. Ja genau, der bin ich. Tscha, weiss Gott. Da steht’s geschrieben, sehen Sie? Steiner sah auf. Eine halbe Armlänge neben ihm wälzte sich ein Mann im Schlaf und gab wirre Traumgeräusche von sich. Bin beim Kommandozug, sagte der Gnom nach einer Weile. Seine Stimme klang geduldig, etwas bemitleidend, als müsse sein Gegenüber das Erzählte doch bereits wissen. Ich warte die Maschinen, die ganze Festung, und ich helfe dem Kommandanten bei allem was er macht. Und auch bei dem, was er nicht selbst machen will. Tu ich schon seit Jahren. Jetzt legen Sie doch mal die Knarre weg, Sie machen mich ganz nervös. Weiss deutete auf die schlafenden Männer in den Pritschen. Trauen Sie mir nicht? Ich bin kein schlechter Kamerad, wissen Sie? Das meinen die anderen hier nämlich auch. Wenn sie wach wären, würden Sie’s Ihnen auch sagen. Steiner schwieg, zog den Verband fest, löschte das Licht, legte sich mit der Waffe hin und wartete, bis Weiss, der nun im völligen Dunkel stand, zu sprechen aufhörte und sich ebenfalls niederlegte. Steiner hielt die Augen geschlossen, doch er schlief nicht. Auf seiner Brust lag schwer der Karabiner, schnürte ihm fast den Atem ab, wie ein eiserner Nachtmahr der nun für immer mit ihm verwachsen war.

Als er aufstand, war es noch immer dunkel. Stickiger Schweissgeruch erfüllte die Kammer. Er streckte sich; eine blasse verspannte Schattengestalt mit langen Beinen und sehnigen Muskeln. Er entlud den Karabiner langsam und stellte ihn ab, nahm seine Kleidung vom Holzgestell nebenan und zog sich lautlos im Dunkel an; feldgraues Hemd und Hose mit Hosenträgern, darüber der Waffenrock, gefertigt aus grober Wolle, ein derbes, schweres Material. Am linken Oberarm prangten aufgestickt zwei karmesinrote gekreuzte Kanonen auf schwarzem Grund. Er kniete nieder und zwang die verbundenen Füsse in die schwarzledernen, nagelbeschlagenen Kampfstiefel und schnürte fest zu. Er schnallte den Waffengurt, an der Seite hingen zwei lederne Patronentaschen und die Lederscheide mit dem Faschinenmesser. Er zog die graue Feldmütze mit seinem Gradabzeichen über und schaltete das Kugellicht an. Die Leute um ihn herum begannen zu furzen und stöhnen und leise zu fluchen wie sie langsam erwachten, wälzten sich in abgehackten Bewegungen umher. Tagwache, sagte Steiner. Dann öffnete er die Stahltüre des Raumes, schloss sie hinter sich, nahm die Feldmütze ab, hielt sie mit beiden Händen und stand eine Weile mit gesenktem kahlem Haupt im Halbdunkel des Stollengangs und betete. Dann ging er den Gang entlang, betrat den Waschraum der Unteroffiziere, rasierte sich, wusch das harte Gesicht, das zu lächeln vergessen hatte, das Wasser auf der rauen Haut so kalt und unerbittlich wie der Berg und auch er selbst. Der Speisesaal war geschlossen. In einem der langen Gänge hatte man die an der Wand fixierten Holztische heruntergeklappt, auf denen sonst die Stiefel und die Gewehre geputzt wurden. Das Frühstück bestand aus Fleischkonserven; rotbraune Masse, mit dem Taschenmesser aus den Dosen geschnitten und auf die grauen Brotscheiben gestrichen, Fleischgeruch vermischte sich mit dem von abgestandenem Schmierfett und Waffenöl. Auf dem letzten Holztisch standen Pulvermilch und Kaffee in stumpfsilbernen Kannen. Irgendwo huschten die Küchengehilfen wie Schatten umher und man hörte, wie der Feldweibel an den Schlafkammern vorbeistampfte und die Leute wie der Leibhaftige aus dem Schlaf brüllte. Steiner füllte den Blechteller, stand nahe dem Eingang zu einem der langen Holztische, stützte sich an den Ellenbogen ab, ass langsam und still und beobachtete, wie die Soldaten eintraten und allmählich den Stollen ausfüllten. Einer nach dem anderen bildeten sie eine Schlange zur Essensausgabestelle, verteilten sich dann an die Stehtische, die meisten gähnend, die Augen noch halb geschlossen, als würden sie erst allmählich aus einem seltsamen Traum erwachen, und nur wenige, wie in einer darauffolgenden Phase, angespannt und nervös um sich blickend, mit blutunterlaufenen Augen. Weiss kam zu ihm und breitete sich aus. Feierlich klappte er sein schmutziges Taschenmesser auf und betrachtete die Konservendose vor ihm, als entwiche alles Übel der Welt daraus, sobald er sie öffne. Er grinste, öffnete die Dose, schnitt Fleischmasse heraus, schmierte sie auf die Brotscheibe. Er kaute laut und eifrig mit offenem Mund und versuchte ein Gespräch mit Steiner zu beginnen, aber der gab keine Antwort. Will ihnen ja bloss Gesellschaft leisten, sagte der Gnom. Ihnen meine Hilfe anbieten. Ich glaub, die brauchen Sie.
Ausser mir kennen Sie hier ja niemanden, oder etwa doch? Wir müssen doch alle zusammenhalten, wenn wir diesen Dienst am Vaterland abschliessen wollen. Weiss schluckte und spülte alles runter mit Milch, gab gurgelnde Geräusche von sich und strich ein zweites Brot. Steiner liess sein Messer aufgeklappt und reinigte es. Die beiden Männer standen nebeneinander an den groben Holztisch gelehnt, starrten an die Betonwand, sahen sich nicht an. Ihr Messer glänzt ja wie meins am ersten Tag, sagte Weiss. Ich war doch schon immer ihr Freund. Auch wenn Sie’s mir jetzt noch nicht glauben. Ist das etwa Ihr erster Dienst? Wissen Sie überhaupt, wozu Sie hier sind? Steiner schwieg, begutachtete sein Messer das scharf im grellen künstlichen Licht ob ihnen glänzte. Dutzende Männer scharten sich inzwischen stumm um sie herum an die Holzbänke und schmierten mit ihren Taschenmessern ihr Dosenfleisch auf die Brote und sie kauten und assen, ihre Kiefer mahlten unablässig, Blechteller schepperten leise, Gestank und Wärme breiteten sich aus, manche sassen auf die Bänke und platzierten ihr Essen vorsichtig zwischen den Beinen, das alte Holz ächzte bedrohlich ob der Belastung, niemand schlief mehr und niemand sah den nächsten an; wie in stiller Erwartung, als würden sie jeden Moment ein gut behütetes Geheimnis erfahren, wenn sie nur gut genug zuhören würden. Weiss schielte zu Steiner. Seine Uniform sass ihm schlecht, ein Stück triefendes Fett fiel darauf und blieb am grauen Stoff hängen. Mit vollem Mund sprach er weiter. Ich schon. Ich weiss ganz genau wo ich hier bin und was ich hier soll. Das ist meine Festung. Sie gehört mir. Dort in der Tiefe, dort spricht sie zu mir, und spricht sie sie zu allen anderen. Aber Sie. Niemand spricht zu ihnen, ausser mir. Sie gehen nur in den Scheiss. Ich weiss genau, wo Sie hinmüssen, und mit wem. Schöne Männer haben Sie sich ausgesucht. Ich kenne Sie gut. Sie kennen hier selber niemanden. Jäh, vielleicht doch. Man muss Menschen mögen, nicht wahr? Man muss ihnen nur lange genug zuhören, dann erzählen sie einem alles; sie fühlen sich regelrecht genötigt dazu. Es ist ihnen sogar ganz gleichgültig, welcher armen Seele sie ihre Schuld und ihr Unglück aufbürden, solange nur zugehört wird. Mit sich selbst sprechen nur diejenigen, die sie sich selbst ertragen; nur Kinder und Wahnsinnige.

Die Kompanie stand auf dem grauen Postplatz zwischen zwei Stollen in Reihenformation angetreten, eingeteilt in die Züge und deren Rangordnungen, bereit zum Appell. Die Soldaten zwischen den Anschlagssäulen nur Schemen, die Konturen im bleichen Licht gebrochen durch die Stahlhelme und geschulterten Karabiner. Stumm und gleichförmig standen die Männer da und warteten, husteten von Zeit zu Zeit, die Betondecke der Kaverne gestützt von den runden Pfeilern ein trostloser Baldachin über dem Allerheiligsten. Die Offiziere standen mit dem Rücken gewandt zum niederen Kader und die standen vor der Mannschaft. Der Feldweibel verlangte nach den Beständen. Die Männer nummerierten sich selbst, ein Bote teilte die Zahlen dem Feldweibel mit und der schrieb alles in sein Büchlein und rechnete. Der Adjutant erschien; er trug seine Rangabzeichen am Kragenspiegel und eine hartkantige Schirmmütze, stand genau unter dem Licht der Deckenlampe, Schatten tauchte seine Augen ins Dunkel. Wie die anderen Offiziere trug auch er Lederhandschuhe und hohe Lederstiefel und Gamaschen. Der steife Soldatenmantel kaschierte alle menschlichen Konturen und bewegte sich kaum, als der Adjutant schweigend die Reihen entlanglief, bis er beim Feldweibel angelangt war. Der war noch immer bei seiner Rechnung, schien die Konzentration zu verlieren, radierte die Zahlen wieder aus, begann von vorne, murmelte gehetzt wirkend vor sich hin. Der Adjutant sah ihn ausdruckslos an. Dann verstaute der Feldweibel das Büchlein, holte tief Luft und zog den Bauch ein. Stillgestanden!, brüllte er. Wie ein einziges Wesen schlugen die Füsse der Männer auf den Befehl eng zusammen, die ausgestreckten Hände klatschten an die nackten Oberschenkel und blieben daran haften. Die Blicke leer geradeaus gerichtet, die Münder geschlossen, standen sie in Achtungsstellung wie im Krampf erstarrt da, atmeten kaum. Das militärische Ritual und die Befehle verankert in den Hirnen, in unzähligen Stunden der Ausbildung, wieder und wieder, stumpf und mechanisch ablaufend. Der Feldweibel salutierte dem Adjutanten, der nahm den Gruss unbeteiligt ab. Alles sah zum höchsten Mann im Raum. Er begann zu sprechen, seine Stimme blieb völlig ausdruckslos, als würde er eine Zeitungsmeldung ablesen. Guten Morgen, sagte er. Als Stellvertreter des Hauptmanns bin ich beauftragt, Ihnen folgende Information mitzuteilen; Strahlenalarm wurde ausgelöst. Die Funkverbindungen zur Führung sind unterbrochen. Sämtliche Aussenschleusen der Festung bleiben bis auf weiteres geschlossen, davon ausgenommen sind die Zugänge aus dem Kasernentrakt in die Kampfstände. Aus Sicherheitsgründen wird der Werkdienst die Kampffilter anbringen. Der Kommandant will den Betrieb gemäss Tagesbefehl weiterführen, das Manöver wird wie geplant durchgeführt. Zugführer, Züge befehlen. Die Leutnants riefen ihre Unterstellten zu sich, führten die Befehlsausgabe mündlich durch und überboten sich dabei gegenseitig mit mit ihrem Wissen über Auftrag und Festung. In der Übung sollten die Gefechtsstände über eine unbestimmte Zeit den Betrieb selbständig durchführen; Trockenübungen, Prüfung und Handhabung der Geräte mit anschliessender Inspektion, bei der die Einsatzbereitschaft und Durchhaltefähigkeit kontrolliert werden sollte, zum Schluss ein koordiniertes Testschiessen. Die Offiziere sprachen über den höhergestellten Auftrag der Kompanie; Sperrung des Gebirgspasses gegen die Ostfront, Kontrolle und Vernichtung eines einfallenden Gegners und Sicherstellung der Durchhaltefähigkeit bei einer Belagerung im Kriegsfall. Über das Bergmassiv, in das die riesige Bunkerfestung getrieben worden war, das sich erhob wie ein Monolith aus dem kreuzförmigen Gebirgspass und den Tälern. Die strategische Bedeutung seiner Lage war immens; es gab keinen Weg um dieses mächtige, grenznahe Bollwerk darin, doch würde es fallen, könnte der Feind ungehindert ins flache, verwundbare Landesinnere vorstossen. Beim Bau der Bunkerfestung wurden gewaltige Kavernen aus dem Felsinneren gesprengt und gegraben, kilometerlange Stollen tief durch das Fleisch des Berges getrieben, Bauwerke aus Stahlbeton ins Dunkel hineingegossen. Der getarnte Haupteingang zur Festung bestand aus einer unscheinbaren Bauernhütte am Fuss des Berges, die keine war, die Fenster und Türen bloss mit Farbe aufgemalt, das Dach eine Attrappe, nur Eingeweihte wussten, dass sich dort ein Portal in eine andere Welt befand; ein Tunnel führte in die enge und dunkelfeuchte Unterwelt inmitten des Gebirges, unsichtbar die langen verzweigten Stollengänge und Treppen, die insgesamt acht bekannte Stockwerke miteinander verbanden. Maschinen, Rohre, Elektronik waren in den Räumen installiert und durchzogen sie wie Gedärm und Lebensadern. Eine eigene Stromversorgung über Dieselaggregate, eine Lüftungsanlage, Herz und Lunge des Bunkers, die überall zu jeder Zeit zu hören war, Telefonzentralen für die Übermittlung innerhalb der Festung und nach aussen, ein gesichertes Munitionslager tief im Berg mit abertausenden Granaten. Der riesige Kasernenbereich im Zentrum, mit streng getrennten Unterkünften für Mannschaft und Kader. Speisesaal, Küche, Bäckerei, Vorratsräumen, Materialdepots und einem unterirdischen Spital mit Operationsraum. Irgendwo der Kommandoposten, der Standort selbst vor den eigenen Truppen geheim; jeder hatte sich nur in den ihm zugewiesenen Raum zu bewegen, alles andere war tabu, keiner sollte die ganze Festung kennen. Unsichtbar und tödlich die Ausläufer der Festung an den strategisch wichtigen Stellen des Berges, von denen man die anliegenden Pässe und Täler bewachen und kilometerweit unter Beschuss nehmen konnte. Maschinengewehr- und Artilleriestellungen, Panzertürme, Festungsgeschütze, Handgranatenauswürfe, Panzersperren und Stacheldraht. Eine waffenstarrende Zwischenwelt im Berg, ein stiller Ort ohne Tageslicht, dem Himmel so nah aber doch unendlich weit davon entfernt. Alle Bereiche der unterirdischen Festung durch hermetisch abschliessbare Gasschleusen voneinander getrennt; im Falle eines Angriffs mit Kampfstoffen oder bei einem Strahlenalarm konnten sie aktiviert werden, dadurch wurden im Kasernenbereich ein Überdruck aufrechterhalten und die Luftbereiche getrennt. Seit dem Alarm waren nun nicht nur diese Gasschleusen aktiv, sondern auch sämtliche Schleusen aus dem Berg hinaus blockiert. Jedem Dienstleistenden war mittlerweile klar, dass, ob Übung oder nicht, sie in dieser Festung eingeschlossen waren bis die Übung zu Ende war. Die Befehlsausgabe schloss. Die Offiziere verschwanden ohne Fragen zu beantworten und die Gruppenführer sammelten die ihnen zugeteilten Soldaten ein, zogen sie mittels Namenslisten aus den Reihen, ein wirr anmutender Vorgang von mehrfach überkreuztem, immer lauter werdendem Rufen und Befehlen und Daherrennen und Salutieren, bis ein jeder seinen Platz und seine Bestimmung gefunden hatte. Die Korporäle orientierten die Soldaten über den Einsatz. Sie brachen die erhaltenen Informationen in stumpfer Gleichgültigkeit oder zeitgedrängtem Pragmatismus so weit nieder, bis nur noch sinnfreie Bruchstücke von dem übrig waren, was sie zuvor selbst vernahmen hatten. Die Soldaten rannten auf Befehl davon und bereiteten in ihren Kammern die Ausrüstung für den Einsatz vor; sie prüften und packten Putzzeug, Helme, Munitionstaschen, Gewehre, Messer und Stiefel, Feldflaschen, Blechgamellen, Decken, Essbesteck und Zahnbürsten und Unterwäsche. Der Feldweibel brüllte die Korporäle zu sich für weitere Informationen, die ihrer Ansicht nach für niemanden irgendwie von Belang waren ausser für ihn selbst, und so gab auch niemand etwas weiter. Portionierte Zwischenverpflegung wurde vom Fourier und seiner Küchenmannschaft willkürlich verteilt, Würste, grobgeschnittenes Brot und kalte Äpfel, in schäbiges Papier verpackt. Material wurde derweil in den Unterkünften vertauscht und vermisst, von manchen vielleicht absichtlich, um Zeit für irgendwas zu schinden, einer konnte seinen Helm nicht mehr finden, ein anderer trug plötzlich das falsche Gewehr. Wieder andere verschwanden in den Toiletten und blieben dort bis sie vom kontrollierenden Feldweibel herausgeschrien wurden. Wirre Befehle widerhallten hohl in den Stollen, unmöglich einzuhaltende neue Zeitvorgaben wurden gesetzt und widerrufen, die Soldaten erstellten die Zimmerordnungen, füllten ihre Ledertornister hastig mit allem Material und schnallten sie fest über die Rücken und hängten die Karabiner um die Schultern und setzten die Helme auf, rannten vollgepackt und schwerfällig hin und her. Ein Schmächtiger, der zu spät dran war, stürzte unter Geschimpfe und Geschupfe seines Vorgesetzten im Rücken über die dunklen Treppen, sein schlampig zugeschnürter Tornister öffnete sich und seine Habseligkeiten verteilten sich überall und die Leute rannten im Bogen um ihn herum, während er hastig und verzweifelt alles einzusammeln versuchte und der Vorgesetzte pausenlos und rauschhaft weiterschimpfte. Die Unteroffiziere sammelten ihre Soldaten ein und führten sie zur Gasschleuse, die aus dem Unterkunftstrakt zum Hauptstollen und in die Kampfstände führte. Die Männer der ganzen Milizkompanie stauten und drängelten sich dort unruhig umher und nur ein einziger Soldat bediente die Schleusen wie ein einsamer Pförtner; völlig überrumpelt und überfordert vom plötzlichen Ansturm. Sämtliche Korporäle versuchten grimmig ihre Soldaten zusammenzubehalten, und um keinen zu verlieren, stellten sie sie in wirren Kolonnen auf und machten ständige Bestandeskontrollen, bis sie durchgelassen wurden. Zwischen Schleusen und Entgiftungsduschen traten sie gruppenweise in den hermetisch abgeriegelten Raum, wo sie warteten bis der Druckausgleich hergestellt war. Alles dröhnte und zischte leise, der Raum war sehr eng, so dass sie sich mit ihren schweren Tornistern kaum bewegen konnten und umständlich auf dem Betonboden kauerten, den Raum allmählich mit ihrer Körperwärme und ihren Ausdünstungen ausfüllten und sich an ihre Waffen klammerten. Ein blutrotes, nervös blinkendes Lämpchen signalisierte den Ausgleich, die Vorgesetzten riegelten die Türe auf, befahlen den Männern ihnen zu folgen und so verliessen sie alle die geschützte Kaserne ins Dunkel des Hauptstollens, verteilten sich über tausend Nebenstollen ins Dunkel des gewaltigen Festungslabyrinths.

Leseprobe: Sabine Huttel – “Ein Anderer”

Es war ein klarer Tag, der Himmel wie mit scharfer Klinge aufgeschnitten. Ernst führte seinen Schimmel im Kreis herum, immer am Zaun entlang, unter den kahlen Holunderzweigen, an den Johannisbeersträuchern vorbei, über das Gras, das gestern noch vom Schnee niedergedrückt gewesen war. Der Schimmel schüttelte sich und schnaubte, Ernst ließ seine Peitsche knallen. Hüa!, rief er, hüa!, ein liebes, ein leichtes Wort, ein Wort ohne Zischlaute, ohne F. Und der Schimmel fiel in Trab, die Kettenglieder an seinem Geschirr blitzten in der Sonne. Schneller ging es jetzt im Kreis herum, Ernst drehte sich um die eigene Achse, das Pferd trabte rascher, vorüber flogen hinter dem weißen Schweif das Schulhaus, die Kirche, die Wiesen, die Schotterstraße nach Aschau, die alte Linde, das Pfarrhaus und wieder das Schulhaus, er hörte den Atem des Tieres heftiger gehen (oder war es sein eigener?), hörte das Stampfen der Hufe im feuchten Gras rascher und lauter werden, bis ihm schwindelig wurde. Als er umfiel, musste er die Leine fahren lassen. Da wechselte der Schimmel die Gangart und schritt auf ihn zu, indem er seinen langen Hals niedersenkte. Ernst legte ihm eine Hand auf die Mähne, strich langsam über den zitternden Rist. Die Peitsche, eine Weidenrute, an die der Vater einen alten, ausgefransten Schnürsenkel gebunden hatte, war ins Gras gefallen. Hüa, sagte er leise, wartete darauf, dass die Welt aufhöre sich zu drehen, lehnte den Kopf an den Hals des Pferdes und schloss die Augen. Unter dem Fell fühlte er das Pferdeherz klopfen. Dann rupfte er ein Büschel Klee aus und hielt es dem Tier vor die Nüstern. Dass es aus Holz war, störte ihn nicht. Von fern hörte er ein Huhn gackern. Märzwind streifte sein Gesicht. Die Kirchenglocke schlug zwölf, vier hohe Schläge, zwölf tiefe, eine vertraute Melodie, ein Schlaflied, er hörte es kaum. Halb auf dem Pferd liegend, halb ins feuchte Gras gesunken schlief er ein.
Komm rein! Der Vater rüttelte ihn an der Schulter, packte ihn am Arm und zog ihn auf die Beine, die einknicken wollten. Du bist ja ganz nass! Dummer Junge! Wie lang liegst du schon wieder so da! Ernst antwortete nicht. Der Anzug des Vaters kratzte. Er griff nach dem Bindfaden, an dem sein Schimmel hing, und stolperte hinter dem Vater her. Das Holzpferd schlitterte über Gras und Steine. An der Treppe bückte er sich und nahm es auf den Arm.
Geh in die Küche, sagte der Vater. Mach! Ich muss noch ins Dorf. Die Schule war aus, Ernst hatte die Schulkinder nicht gehört, die beim Verlassen des Schulhauses immer Lärm machten, so fest hatte er geschlafen.
In der Küche war es warm und es roch nach Kartoffelsuppe. Auf dem Tisch lagen Kartoffelschalen, Zwiebelschalen und Rübenreste. Die Mutter rührte im Dampf. Ihr Haar war von einem blau gemusterten Kopftuch fast vollständig verhüllt. Ernst kletterte auf die Bank unterm Fenster. Na, war’s schön draußen?, fragte sie, und er nickte. Hast du nasse Hosen? Sie ließ den Löffel los, kam zu ihm und befühlte seine Hosenbeine. Steh auf, sagte sie dann, du bist ja völlig durchnässt. Hast wohl im Gras gesessen. Gib mir deine Hose, die hängen wir an den Herd. Sein Gesicht sah wieder sehr verschwollen aus. Sie schälte ihn selbst aus der nassen Hose. Allein hätte er Stunden dafür gebraucht. Die Suppe kochte zu stark, es spritzte und prasselte, sie griff nach dem Topflappen, der am Haken hing, und zog den Topf halb von der Feuerstelle. Jetzt geh rauf, ich komm dann und zieh dir die andere Hose an. Nein, dein Pferd lass hier. Es gibt gleich Essen, wenn der Vater wiederkommt. Er folgte stumm und nahm die steile Treppe in Angriff. Seine Füße gehorchten ihm mal mehr, mal weniger. Er stolperte, fiel um und blieb dann sitzen. Die Hälfte war immerhin erklommen. Beim Ausruhen betrachtete er eine Spinne, die auf ihren vielen langen, dünnen Beinen über die weiße Wand kroch. So leicht ging das, fast schwebte die Spinne voran. Sie knickte nicht ein, sie stürzte nicht, ihre Beine gehorchten, ohne sich zu verheddern. Dort auf der Treppe fand ihn später die Mutter, wie sie es erwartet hatte. Mit wenigen Griffen, vorwurfsvollen und nachsichtigen, zog sie ihn ins Obergeschoss, trieb ihn zur Eile an, als er im hölzernen Anbau Wasser ließ, stellte ihn dann auf einen Schemel und wusch ihm die Erdkrusten von den Händen in der Schüssel, die das Waschwasser vom Morgen enthielt, das nun eine bräunliche Farbe annahm und zum Waschen nicht mehr benutzt werden konnte. Sie half ihm in die trockene Hose, führte ihn an der Hand treppab in die Küche, band ihm ein Küchenhandtuch um den Hals und atmete auf, als er beim Eintreten des Vaters ordnungsgemäß auf seinem Stuhl saß. Der Vater achtete aber gar nicht auf seinen Sohn. Im „Deutschen Haus“ sei er gewesen, erzählte er, um den Gemeindevorstand zu treffen. Der alte Spindler habe ihm ein Blatt gezeigt, das er selbst nicht habe lesen können, weil seine Augen so schlecht geworden waren. Von einer Pferdemusterung habe das Blatt gehandelt, die für den kommenden Donnerstag angesetzt sei, absurderweise, wo doch bei der ersten Pferdemusterung im November vor zwei Jahren, als der Krieg losgegangen war, schon alle nur halbwegs kriegstauglichen Pferde gestellungspflichtig geworden waren, so dass jetzt nur noch Fabigs Schindmähre übrig sei, die, wie jeder wisse, so blind sei, dass sie überall Blessuren habe, weil sie sich sogar im Stall den Kopf stoße. Ernst verstand nicht, was der Vater redete. Das Wort Pferdemusterung kam immer wieder vor, überhaupt hagelte es Wörter aus dem Mund des Vaters, der auf der Oberlippe, auf den Wangen und auf dem Kinn Bartstoppeln hatte, die sich beim Sprechen seltsam bewegten. Das Pferd von Fabigs kannte er gut. Wenn er mit der Mutter Milch holen ging bei Fabigs, durfte er manchmal in den Pferdestall. Er ging gern zu der braunen Stute hinein, wo es immer etwas wärmer war als draußen. Dort roch es nach Mist, die Hufe der Stute stampften im Stroh, müde blickten ihre blinden Augen. Er durfte dann auf einen Schemel steigen und sein Gesicht an ihre Flanke legen oder ihren Hals tätscheln. Der riesige Pferdekörper hatte etwas Vertraueneinflößendes, Verlässliches, und Ernst mochte es nicht, wie der Vater von der Stute sprach. Einzelne Wörter schlugen an sein Ohr: Aushebungskommission und Vorführungsliste und Aushebungspferde und kriegstauglich und immer wieder das Wort Gestellung und regelmäßig das Wort lachhaft und Fabigs Schindmähre und einziges Schlachtross und die nicht vorhandenen Pferde müssen genau in der Reihenfolge der Vorführungsliste vorgeführt werden, und zwar alle!, was der Vater mehrmals wiederholte und was ihn besonders zum Lachen zu reizen schien. Das Lachen kam stoßweise, wie mit Dampfdruck aus dem Vater heraus, und zu dem alle! schlug er mit der Faust auf den Tisch, so dass Ernst zusammenzuckte vom dumpfen Schlag und vom Klirren der Teller und sein Pferd mit beiden Armen umklammerte. Das sah die Mutter, und mit einer kleinen Wendung ihres Kopfes machte sie den Vater darauf aufmerksam. Dein Pferd doch nicht!, fuhr der Vater ihn an, das können sie im Feld nicht gebrauchen, es ist ja bloß ein Stück Holz! Und lauter: Holz! Holz! Hast du verstanden?
Ernst sah ihn mit großen Augen an.
Antworte deinem Vater!
Ernst nickte.
Antworte, hab ich gesagt! Du bist doch nicht stumm!
Ernst brachte mit rotem Kopf ein leises „Ja“ heraus.
Der Vater zuckte mit der Schulter und wandte sich ab. Dann, mit plötzlich veränderter Stimme, sprach er das Tischgebet. Die Mutter schöpfte die Suppe aus.
Ernst Kroll war damals drei Jahre alt. Seit drei Jahren war Krieg. Außer dem alten Spindler, dem alten Zempel und dem alten Much waren keine Männer mehr im Dorf, die jüngeren waren alle im Feld. Alle, nur der Pfarrer nicht und Ernsts Vater, der im Dorf Lehrer war, und zwar auch für die Aschauer Schulkinder, die jeden Morgen herüber gelaufen kamen. Aschau war unvorstellbar weit weg, fremd und dunkel, noch nicht einmal von der Kirche aus konnte man es sehen, die am Ende des Dorfes stand, nur die lange Schotterstraße, die dorthin führte. Alle diese Kinder musste der Vater unterrichten, deshalb war er nicht im Feld.
Rund um das Dorf, in den Weizen-, Gerste- und Rübenfeldern waren nie Männer zu sehen, nur Frauen. Manchmal wunderte Ernst sich darüber, denn die Männer waren doch angeblich alle im Feld. Aber er fragte nicht danach. Er vermied das Fragen, das Sprechen überhaupt. Es strengte ihn an, und die meisten Laute konnte er auch mit größter Anstrengung nicht herausbringen. Seine Zunge war dick, als ein schwerer Klumpen lag sie im Mund, und die Lippen schlossen nicht ordentlich wie bei anderen Kindern. Sein Unterkiefer stand vor. Wenn er entspannt war, stand ihm der Mund offen, nur mit Mühe erreichte er, dass die Lippen sich trafen. „Mutter“ zu sagen bekam er hin, Ober- und Unterlippe rollte er dabei nach innen ein und brachte nach langem „Mmm“ das „-utter“ mit Nachdruck heraus. „Vater“ dagegen hatte diesen fatalen f-Laut, den er nur mit äußerstem Kraftaufwand und unter krampfhaftem Zittern zustande brachte. Die Mutter sprach mit Ernst in fast normaler Lautstärke, aber der Vater hatte sich angewöhnt, ihn scharf anzufahren, weil Ernst ein wenig schwerhörig war und weil man Dumme immer anfahren musste, damit sie überhaupt reagierten. Geschützdonner hatte Ernst noch nie gehört. Aber die Stimme des Vaters hörte er jeden Tag. Wenn Hilmar Kroll brüllte, donnerten die Wörter wie Kanonenkugeln.
Nun aß der Vater schweigend seine Kartoffelsuppe. Dünne Suppe konnte das verschwollene Kind nicht essen. Einen Löffel mit Flüssigkeit langsam und gleichmäßig anzuheben, ihn dabei waagerecht zu balancieren, mit dem gefüllten Ende auf den Mund zu zielen, diesen rechtzeitig zu öffnen, die heiße Suppe hineinzugießen, ohne sich vor Aufregung zu verschlucken, den leeren Löffel aus dem Mund zu ziehen, ohne dass die Suppe wieder herausschwappte, ihn dann in den Suppenteller wieder einzutauchen, ohne dass es spritzte, das war eine verwickelte, eine unlösbare Aufgabe. Die Mutter hatte deshalb das Brot, das zur Suppe gegessen wurde, für Ernst in kleine Würfel geschnitten und die Würfel in Ernsts Teller gelegt. Dann hatte sie eine halbe Kelle Suppe darüber gegossen, und jetzt nahm sie eine Gabel und zerdrückte die Brotwürfel mit den Kartoffeln und Rüben, die in der Flüssigkeit schwammen, zu einem weichen Brei. Nun war das Ganze etwas abgekühlt, nun galt es. Ernst musste sein Holzpferd loslassen und den Löffel nehmen. Der Vater sah nicht hin. Ernst senkte den Kopf bis über den Tellerrand, nicht aus Scham, sondern weil es anders gar nicht gegangen wäre, umklammerte den Löffelstiel und schaufelte, bebend vor unsinniger Kraftanstrengung und Konzentration, etwas von dem Brei in den weit aufgerissenen Mund hinein, schluckte und schaufelte wieder, schluckte, stöhnte, schmatzte, schlürfte und schaufelte doppelt, weil immer auch etwas wieder herauslief, ihm übers Kinn, und in den Teller heruntertropfte. Der Vater sah weg, die Mutter aber hatte, während sie schweigend aß, das schwer arbeitende Kind im Blick, stets auf dem Sprung dazwischenzufahren, denn wenn Ernsts Löffelhand etwa auf den Tellerrand heruntergeknallt wäre und den Suppenbrei quer über den Tisch katapultiert hätte, wäre es mit dem Frieden der Mahlzeit vorbei gewesen. Es hätte ihm nichts genützt, dass dies nicht aus Mutwillen geschehen wäre, sondern wegen seiner Unfähigkeit, die Bewegungen seines Arms dauerhaft zu kontrollieren. Aber heute ging alles gut. Als er fertig war und schwer atmend den Kopf wieder hob, wischte sie ihm das Kinn ab und schöpfte dem Vater einen kleinen Rest Suppe auf den Teller.
Er schwieg und aß.
Das Wasser ist alle, sagte Martha Kroll dann.
Ich gehe schon, sagte Hilmar, stand auf, reckte sich und gähnte, zog die Wolljacke an, die im Hausflur an einem Nagel hing, schnallte sich die alte hölzerne Wasserbütte um, denn die neue blecherne war der letzten Metallsammlung zum Opfer gefallen, und ging in den Pfarrgarten hinüber zum Brunnen. Es war wieder kälter geworden. Die Sonne hatte sich zurückgezogen.
Martha brauchte einen großen Teil des Wassers zum Wäschewaschen. Kernseife gab es schon lange nicht mehr, nur Germania-Pulver. Sie schöpfte das Wasser, das Hilmar brachte, in einen großen Topf, der auf dem Herd stand, füllte die Wäsche hinein, gab drei Esslöffel Germania-Pulver dazu und wusch, bis das Wasser kochte, die Suppenteller ab. Mit einem langen Holzlöffel rührte sie die Wäsche um. Das Pulver klumpte und war nach dem Kochen, wenn sie mit dem Holzlöffel die brühhei.en Teile in eine Emailschüssel gehievt hatte, kaum mehr aus dem Gewebe herauszuspülen.
Ernst, dessen rechter Arm auf dem Holzpferd lag, war in all dem Dunst auf der Küchenbank eingeschlafen. Hilmar, nebenan in der Kirche, übte die Choräle, die er am Sonntag im Gottesdienst zu spielen hatte. Martha holte die Wasserkrüge aus dem Schlafzimmer im oberen Stockwerk, wo es kalt war, und auch den aus dem Hausflur, füllte sie in der Küche, schnallte sich dann die leere Bütte um und ging selbst noch einmal in den Pfarrgarten hinüber zum Brunnen, schöpfte mit dem Eimer, um genügend Wasser für die Wäsche zu haben, und schleppte es zurück ins Schulhaus. Sie spülte die Wäsche erneut und wrang die einzelnen Teile mit den Händen aus. Dann stieg sie mit dem vollen Wäschekorb ins Obergeschoss hinauf, wo in einer kleinen, zugigen Kammer neben dem Taubenschlag Wäsche getrocknet werden konnte. Sie schüttelte die Wäschestücke glatt und hängte sie auf die dicht an dicht gespannten Leinen.
Das Gurren der Tauben, das hier besonders laut zu hören war, erregte ihren Widerwillen. Ihr fiel ein, dass sie die Tauben noch nicht gefüttert und getränkt hatte. Es waren Hilmars Tauben, er hatte den Schlag gebaut und mit der Taubenzucht angefangen, um das karge Lehrergehalt durch den Verkauf von Tauben in den nahe gelegenen Städten aufzubessern. Die wenigen Hühnereier, die sie übrig hatten, reichten dafür nicht und lohnten kaum den weiten Weg nach Königsee oder Schwarzburg. Obwohl das Ganze Hilmars Idee gewesen war, kümmerte er sich so gut wie nicht um die Vögel. Er drehte ihnen nur den Hals um, wenn es so weit war. Mussten ein paar Tauben gerupft werden, stellte er zwei oder drei seiner älteren Schülerinnen zum Rupfen an, die diese Arbeit bereitwillig übernahmen, weil ihre Mütter ihnen eingeschärft hatten, in der Schule gehorsam zu sein und dem Herrn Lehrer niemals eine Bitte abzuschlagen. Ansonsten hatte er die Taubenwirtschaft mehr oder weniger komplett auf seine Frau abgewälzt, die die Tauben hasste. Sie schüttelte sich, wenn die balzenden Täuberiche mit aufgeplustertem Gefieder und geblähtem Kehlsack unter heuchlerischen Verbeugungen vor den Weibchen hin und her stolzierten, und fühlte sich beim Anblick des Klumpens, den man in den Hälsen der gurrenden Vögel auf und nieder kollern sah, an Würgekr.mpfe beim Erbrechen erinnert. Das Kind schlief immer noch fest, als sie in die Küche hinunterging und sich nach dem Eisenring bückte, um die Kellerluke zu öffnen. Sie stieg in die Vorratskammer hinab und holte eine Tasse voll Weizenkörner aus dem Sack, der dort in der Ecke stand. Beim Heraufkommen redete sie ihren Sohn an. Ernst, wach auf! Der Vater wird gleich hier sein!
Als Ernst die schweren Lider hob und ziellos darunter hervorschaute, war sie schon wieder aus der Küche heraus und oben bei den Tauben.
Später ging sie mit ihm auf den Friedhof und Milch holen. Die Kindergräber lagen gleich links hinter dem Eingang am Zaun. Es waren acht, und am hintersten, kleinsten, blieb die Mutter jeden Tag ein paar Augenblicke lang stehen. Sie zupfte Grashalme aus dem Immergrün oder stand einfach nur schweigend dort. Nur einmal hatte sie die eingebrannte Inschrift auf dem Holzkreuz mit dem Finger abgefahren und Ernst vorgelesen: Karl Anton Kroll,
geboren am 17. März 1911, gestorben am 17. April 1911. Dann ging es an der Hand der Mutter die steinige Dorfstraße hinunter zu Fabigs. Auf dem Rückweg fror er. Es roch nach Rauch.
Als es dunkel geworden war, fegte Martha, schon im Nachthemd, den Küchenboden. Ernst schlief oben, Hilmar war nebenan im Herrenzimmer. Sie stellte einen kleinen Schemel in die Mitte und setzte sich darauf, eine schmale weiße Gestalt. Der Ofen war noch warm, obwohl das Feuer ausgegangen war. Sie zog die Nadeln aus den Flechten an ihrem Hinterkopf und legte sie, eine nach der anderen, in ihren Schoß. Ein schwerer Zopf fiel ihr auf den Rücken, der bis zur Taille reichte. Sie holte ihn nach vorn, den Blick auf den Herd gerichtet, löste das dünne Band an seinem Ende und bürstete ihr Haar, das sich glänzend und fast schwarz um ihre Schultern legte. Die Katze war hereingekommen und stieß, sofort schnurrend, den Kopf an ihre Beine, strich schnell daran entlang, rundherum, wieder und wieder, und malte mit ihrem Schwanz hellgraue Zeichen in die Luft. Martha legte sich alles Haar auf die rechte Seite. Sie zupfte an den Haarspitzen, um einzelne lose Haare herauszulösen, und flocht einen neuen Zopf. Dann stand sie auf, rückte den Schemel beiseite und fegte mit einem Handbesen die heruntergefallenen Haare zusammen.
In diesem Moment kam Hilmar aus dem Herrenzimmer herüber, einen Brief in der Hand. Auf seine am Boden hockende Frau warf er einen spöttischen Blick. So so, du also auch. Da hätte der Kaiser aber seine Freude an dir. Ich muss doch, sagte sie. Alle müssen. Zempels Agnes sammelt sie jeden Monat ein und nimmt sie mit nach Schwarzburg. Da kann ich nicht mit leeren Händen ankommen. Sie hob das Häufchen Haare auf und steckte es in eine Papiertüte, die mit Haaren schon halb gefüllt war.
Und? Wieviel kriegt ihr zusammen in einem Monat?
Letztes Mal war’s fast ein halbes Pfund, sagte sie.
Ausgezeichnet, sagte er und lachte. Treibriemen machen sie daraus für unsere U-Boote. Stell dir vor, unsere U-Boote würden stillliegen, wo doch die U-Boote die Lieblinge des Kaisers sind!
Nein, für die U-Boote ist das Allerfeinste gerade gut genug.
Ich kann doch schlecht sagen, ich verlier keine Haare, sagte sie.
Nein, sagte er, wahrscheinlich nicht. Er seufzte. Der Hermann schreibt mir auch so schöne Sachen… In Augsburg zwingt man die Schulkinder, Quecken auszugraben. Angeblich weil die Queckenwurzeln wertvolles Viehfutter sind.
Aber, sagte Martha, Queckenwurzeln gehen doch einen Meter tief in die Erde – Da müssen die Kinder eben etwas tiefer graben und den Rücken etwas krummer machen.
Das ist eine sinnlose Viecherei, sagte Martha. Hilmar lachte. Im Gegenteil! Man schlägt zwei Fliegen mit einer Klappe. Das Unkraut ist weg aus dem Acker und man gewinnt ein gutes Futter. Wer weiß, vielleicht ernähren wir uns nächstes Jahr auch nur noch von Queckenwurzeln. Das ist Fortschritt: Die Kinder schickt man verquecktes Land urbar machen und die Mütter pflügen, während die Väter sich totschießen lassen, so dass es zu Hause weniger Esser gibt. Da greift eins ins andere. Er griff nach ihrem Zopf. Lass mich mal deinen Kriegsrohstoff wiegen, sagte er. Das wiegt schwer, das gäb’ so einen schönen Treibriemen, willst du sie nicht gleich ganz abschneiden und dem Kaiser schicken?
Sie wandte das Gesicht weg und versuchte ihren Zopf seinem Griff zu entziehen.
Wie gut doch so ein Kriegsrohstoff riechen kann, sagte er. Nun komm nach oben.
Sie löschte die Kerze und folgte ihm.

Sieben Frauen und vier Kinder saßen oben auf dem Heuwagen. Sie kniffen die Augen zusammen unter dem Biss der Mittagssonne und blickten nach unten, auf die knöcherigen Hinterteile der Ochsen, die den Wagen zogen, auf die verwackelten blauen Leuchtpunkte der Wegwarte am Straßenrand, auf das Schotterband, das schwankend hinter ihnen zurückblieb, bewölkt von Staub. Die Kinder wühlten im Heu nach den Schoten der wilden Erbsen, die man ganz in den Mund steckte und die sü. und saftig waren. Sie kauten darauf herum, bis nur noch Fasern übrigblieben, die sie dann auf die Straße spuckten. Mit dem Geräusch der Rinderhufe und einem gleichmäßigen Quietschen des rechten Vorderrads mischte sich der Redestrom einer Frau, deren Oberarme bräunlich in der Sonne glänzten. Die anderen Frauen saßen schlapp und schweigend, ab und zu griffen sie nach ihren Kindern, wenn sie sich beim Spucken zu weit über den Rand des Wagens beugten, und nur Martha Kroll hörte der sprechenden Frau zu, mehr aus Höflichkeit als aus Interesse. Die Sätze, die diese Frau, eine Frau Bunzel, Ilse Bunzel, aus sich herausrollen ließ, ganz ohne Kraftaufwand, wie es schien, bildeten eine Girlande, an der die Unglücksfälle ihres Daseins aufgereiht waren, vom angebrannten Grießbrei am vergangenen Morgen über den Tod ihres Ehemanns, der im Krieg geblieben war und der sich infolgedessen nicht um die Reparatur der Treppe am Hauseingang kümmern konnte, was nun an ihr hängen blieb, über die hohen Preise für Maurer- und andere Handwerkerarbeiten, ihren Sturz die Kellertreppe hinunter, vor drei Wochen, beim Gang nach dem Kirschkompott, bis hin zu ihrem einzigen Kind, Marion, Schreikind von Anfang an, das es auch jetzt noch, da es vier Jahre alt war, darauf anlegte, sie mit Widersetzlichkeit und Zanklust verrückt zu machen, und auf das zum Glück die alte Frau Fabig ein Auge hatte, während Ilse aufs Feld musste.
Martha Kroll schwieg.
Na, jeder hat seine Last zu tragen, jelle, Frau Kantor, seufzte Ilse Bunzel mit Seitenblick auf Ernst, aber Ihrer ist so ein Guter, so ruhig, so ruhig…!
Martha lächelte und band sich das Kopftuch fester.
Ernst hatte eine Schote entdeckt. Er bohrte seinen Zeigefinger tief in das Heu, krümmte ihn mit aller Kraft und zog ihn wieder heraus. Aber er hatte nur Gräser erwischt, und als er sie losließ und verwundert seine Hand besah, hatte die gleichaltrige Hedwig Schöps mit schnellen Fingern die Schote schon gefunden und in den Mund gesteckt. Dieses Spiel wiederholte sich ein paarmal, zu Hedwigs großer Belustigung, bis Ernst aufgab.
Die Ochsen zogen den Wagen langsam ins Dorf, an der Kirche und am Schulhaus vorbei, ließen Fabigs Hof links und Lüdenstedts Hof rechts liegen, erreichten den Dorfplatz, die Schmiede, den Anger. Der Teich schimmerte grüngrau. Endlich hielt der Wagen im Hof vor dem Gutshaus. Die Frauen stiegen aus dem Heu herunter und halfen den Kindern. Ihre Kittelschürzen klebten an ihren Körpern. Sie klopften sich das Heu ab, bekamen ihren Lohn von der Frau des Gutsbesitzers und machten sich auf den Heimweg.
Über dem Schulhaus brütete die Hitze. Der Himmel war fast weiß. Von Aschau her fuhr ein schwacher Wind durch die Lindenblätter, aber im Dorf stand die Luft, und man roch den Abtritt im Vorübergehen. Die Hühner hatten sich in den Sand eingebuddelt und gakten leise. Drinnen war es kühler. Der Vater lief im Hausflur auf und ab. Wegen der Hitze hatte er den Unterricht eine Viertelstunde vor der Zeit beendet. Nun war er hungrig.
Kommt ihr auch noch mal nach Hause!, sagte er barsch. Ruf mich, wenn das Essen fertig ist.
Martha beeilte sich. Ernst stieg auf einen Schemel und wusch sich die Hände, langsam wie immer. Als er damit fertig war, hatte die Mutter Feuer unter dem Suppentopf gemacht und den Tisch gedeckt. Sie rief den Vater, der mit finsterer Miene aus dem Herrenzimmer kam, ein dickes Buch unterm Arm. Ernst saß schon auf seinem Platz am Tisch, aber der Vater zitierte ihn zur Tür. Heute ist Messtag, sagte er.
Ernst musste sich barfuß im Türrahmen aufstellen. Der Vater ging in die Hocke und war plötzlich ganz nah. Ernst konnte das Weiße in den Augen des Vaters sehen und den hungrigen Atem des Vaters riechen. Füße zusammen! Steh gerade!, befahl er. Ernst erstarrte. Mit der rechten Hand griff der Vater ihm an die Stirn und drückte seinen Hinterkopf gegen den Türrahmen. Mit der linken legte er dem Kind das schwere Buch auf den Scheitel, Die Pflanzen Europas. Neunte
Auflage, und drückte es gegen den Türsturz. Dann musste Ernst unter dem Buch hervorkommen, ohne daran zu wackeln und ohne an den Arm des Vaters zu stoßen, der nun mit einem Bleistift an der Unterkante des Buchs entlang eine Linie zog, das Buch fortnahm und stirnrunzelnd die Linie betrachtete, die genau bei der Marke lag, die der Vater vor drei Monaten dort angezeichnet hatte. Am Ersten jedes Quartals war Messtag.
Der Vater brachte Buch und Bleistift ins Herrenzimmer zurück und setzte sich dann zum Essen.
Morgen kommt der neue Doktor von Schwarzburg herüber, sagte er, während er die Suppe löffelte. Ein intelligenter junger Mensch, auf der Höhe der Wissenschaft, nicht so ein alter Trottel, der alles bloß so macht, weil man es immer schon so gemacht hat. Sprich nicht so von Doktor Agemar, sagte Martha, mir hat er oft geholfen.
Hilmar verdrehte nur die Augen. Wenn er vormittags kommt, lass ihn herein. Er heißt Stauch. Ich habe ihm davon erzählt. Mit einer kurzen Kopfbewegung deutete er auf Ernst, blickte aber in seinen Suppenteller. Er will sich das mal ansehen.
Martha nickte.
Gegen Abend, als es kühler wurde, ging sie mit Ernst an der Hand ins Freie, rechts ab von der Straße, ins Jesmich, wie sie die Wiesen dort nannte, die noch nicht geschnitten waren und so hoch standen, dass sie den Eingang der seit Kriegsbeginn verwaisten Schwerspatgrube überwucherten, dorthin ging sie mit ihm, wo tausend Insekten summten, zirpten und sirrten, wo Bremsen stachen und die Halme Ernsts Gesicht streiften. Hier blühte der Erdrauch, den die Mutter während des Sommers in ihre Schürze sammelte, so oft und so lange es ging. Er blühte zwischen Gräsern, zwischen Bilsenkraut, Hirtentäschel und Pfefferminze. Ernst rupfte hier und da wahllos einen Stängel ab, weil er helfen wollte. Die Mutter zeigte ihm den Erdrauch mit seinen violetten Blütenständen und erklärte ihm den Unterschied zum gelben Hahnenfuß und zur blauen Flockenblume. Er strengte sich an, die Gewächse zu unterscheiden, sah sie sich lange an, bevor er eine Blume pflückte, und wenn er ihr endlich voll Stolz einen Stängel Lerchensporn hinhielt, der dem Erdrauch ähnlich war, lächelte sie, bedankte sich und legte die Blume zu den anderen in ihre Schürze. Zu Hause, am Abend, warf sie die falschen Kinderhalme weg, streifte die graugrünen, krautigen Blätter von den Stielen des Erdrauchs und breitete sie auf einem Bord im Schuppen zum Trocknen aus.

Das erste Mal kam der neue Doktor an einem Sommermorgen, während Hilmar Unterricht hielt. An einem Mittwoch mit trockener Luft war es, und da die Fenster des Schulzimmers weit geöffnet waren, konnte man Hilmar bis ins Dorf hinunter fiedeln und singen hören mit den Kindern. Jeden Mittwoch nahm er seine Violine mit nach oben und brachte den Kindern ein neues Kirchenlied bei. Martha war gerade am Brunnen gewesen zum Wasserschöpfen, hatte sich über die Frau des Pfarrers geärgert, die im Vorbeigehen und ohne Martha überhaupt ins Gesicht zu sehen fallen gelassen hatte, das Altartuch müsse wieder einmal gewaschen werden, und kam nun zurück mit der vollen Holzbütte auf dem Rücken, stieg die drei Stufen am Eingang des Schulhauses hinauf und öffnete die Tür, blind in der Schwärze des Hausflurs nach all dem gleißenden Sonnenlicht. Oben sangen die Schulkinder All’ Morgen ist ganz frisch und neu. Da wurde sie aus dem Dunkel heraus von einer fremden Stimme angeredet, einer Stimme ohne Gesicht. Sie blieb stehen. Als ihre Augen sich an die Dunkelheit gewöhnten, sah sie einen jungen Mann mit einer Ledertasche, der den Kopf schief hielt und den Schrecken, den er hervorgerufen hatte, mit einem etwas süßlichen Lächeln abzuschwächen versuchte. Er deutete eine Verbeugung an, stellte sich als Doktor Stauch vor und folgte Martha in die Küche. Dort half er ihr, die Wasserbütte abzusetzen. Nach einigen belanglosen Worten über die Hitze fragte er, ihr näher kommend, im Ton der Anteilnahme, wo sich denn ihr Kreuz befinde. Verwundert antwortete sie, im Schulhaus gebe es keins, die Kirche sei ja gleich gegenüber, worauf er wiederum süßlich lächelte über ihr Missverständnis und ihr erklärte, nein, er meine die größte Sorge und Last ihres Lebens, ihren Sohn. Er heißt Ernst, sagte sie. Draußen ist er, bei den Hühnern. Sie öffnete das Fenster, sah Ernst zwischen den Hühnern sitzen, das Holzpferd auf dem Schoß, und rief ihn herein. Der Arzt setzte sich an den Küchentisch. Aus seiner Ledertasche, die nach Schuhwichse roch und zwei blankpolierte Messingschlösser hatte, holte er einen Zollstock und ein Maßband, ein Stethoskop, einen Teelöffel, einen Füllfederhalter und ein Notizbuch, schlug darin eine neue Seite auf und schrieb das Datum in die erste Zeile, daneben Ernst Kroll. Dann nach den Angaben der Mutter das Geburtsdatum des Jungen. Als Ernst hereinkam, das Holzpferd unter dem Arm, musste er dem Doktor die Hand geben, sagte etwas, das entfernt so klang wie Guten Tag und wollte sich dann bei der Mutter verstecken, aber der Arzt griff nach seiner Schulter und drehte ihn wieder zu sich herum. Nun wurde er der Länge nach mit dem Zollstock gemessen. Der Arzt zog die Augenbrauen hoch und trug die Zahl in sein Notizbuch ein. Dann betastete er mit den Fingerspitzen beider Hände Kinn, Stirn und Wangen des Kindes und notierte wieder etwas.
Der Gesang im Schulzimmer war inzwischen verstummt. Sanft und unablässig gurrten oben die Tauben. Ist er oft so verschwollen?, fragte der Arzt Martha Kroll.
Ja, meistens, antwortete sie.
Er notierte Facies oedematosa und forderte sie auf, dem Jungen das Hemd auszuziehen. Nun setzte er ihm das Stethoskop an verschiedenen Stellen auf die Brust und horchte. Dann legte er es weg. Seine Feder kratzte über das Papier. Dreh dich mal mit dem Rücken zu mir, sagte der Arzt zu Ernst.
Der rührte sich nicht.
Sie müssen etwas lauter sprechen, sagte Martha, er hört schwer. Aha! Dr. Stauch notierte Hypakusis, nahm Ernst bei den Schultern und drehte ihn, so dass er mit dem Rücken zu ihm stand. Mit einem beidhändig festen Griff an die Schläfen verhinderte er, dass das Kind sich umdrehte. Dann fragte er Martha leise, ob Ernst sagen könne, wie er heiße. Als sie nickte, fragte er leise: Wie heißt du?, und als keine Antwort kam, fragte er dasselbe etwas lauter, und so weiter mit stufenweise gesteigerter Lautstärke, bis er schließlich sehr laut rief: Wie heißt du? und von Ernst eine Antwort bekam, die Ä und O enthielt, auch eine Andeutung von L. 3. Grades, notierte der Doktor. Man hörte Hilmar oben mit den Schulkindern schimpfen. Er spricht schlecht, sagte Martha, aber er macht Fortschritte. Der Arzt ignorierte diese Äußerung. Er drehte den Jungen zu sich herum und brachte seinen Teelöffel in Anschlag.
Mund auf!, befahl er. Zeig deine Zunge! Ernst verstand nicht. Mach so!, rief der Doktor und streckte selbst die Zunge weit heraus. Sag A!
Ernst folgte gehorsam, der Doktor nickte, drückte die Zunge mit dem Teelöffel nach unten, um weiter hinten in den Rachen sehen zu können, und wandte sich wieder seinem Notizbuch zu. Lingua oedematosa, notierte er.
Ernst sah voll Angst die Mutter an.
Da kamen die großen Hände des Arztes von hinten und griffen ihm an die Kehle. Ernst erschrak und wollte weinen, aber von hinten oben kam der Befehl: Halt still! Es tut nicht weh!, während die fremden Finger an seinem Hals herumdrückten. Struma, notierte der Arzt, nahm sein Maßband zur Hand, legte es Ernst straff um den Hals, der nun in Tränen ausbrach und sich, als das Band wieder gelöst wurde, zur Mutter flüchtete und seinen Kopf in ihrem Schoß vergrub. 2. Grades, notierte der Arzt zufrieden.
Wie geschickt ist der Junge mit seinen Händen?, fragte er dann, mit der Feder Feinmotorik übers Papier kratzend, denn er wusste die Antwort schon.
Nicht sehr, sagte sie und strich Ernst, der leise schluchzte, schnaufte und sabberte, mit der Hand über den Hinterkopf. Die Finger des Arztes, die den Füller hielten, waren lang und breit, Haut und Nägel von rosiger Farbe, die Nagelränder schneeweiß.
Doktor Stauch nickte und notierte unterentwickelt.
Er schläft wohl viel?
Ja, sagte Martha.
Und ist in allem etwas langsam?
Ja, vielleicht … Aber ich weiß nicht, sagte sie, er ist ja mein erstes Kind, oder nein, eigentlich das zweite, aber ich – Eigentlich?, fragte der Arzt mit einem frivolen Unterton, während er schrieb, ohne aufzusehen. So so, Frau … Kantor, das müssen Sie mir aber erklären! Ist er nun Ihr erstes oder Ihr zweites Kind?
In diesem Augenblick hörte man von oben das Stampfen und Scharren vieler Kinderfüße, dazu ein Gewirr heller Stimmen. Das zweite, sagte Martha Kroll. Ihre Augen begegneten dem forschenden Blick des Arztes.
Die Unruhe im Schulzimmer hielt an.
Mein erstes ist an Lungenentzündung gestorben, mit vier Wochen.
Aha, sagte der Arzt. War das auch ein Junge?
Ja, sagte sie.
Die Schulkinder polterten die Treppe herunter. Man hörte Hilmar kommandieren. Dann fiel die Tür ins Schloss und es war still im Haus.
Ernst weinte nun nicht mehr. Der Arzt ergänzte seine Notizen. Herr Doktor, sagte die Mutter, können Sie ihm nicht etwas verschreiben, damit er besser wächst? Dr. Agemar hat immer gesagt, das würde schon noch kommen. Aber im letzten Jahr ist er fast gar nicht gewachsen.
Der Arzt lächelte mitleidig. Ja, wenn das so einfach wäre!, sagte er und fing an, seine Sachen einzupacken. Ist denn etwas Ähnliches, fragte er dann, in der Familie des Herrn Kantors schon bekannt?
Sie schüttelte den Kopf und sah auf Ernst hinunter. Nein, ich glaube nicht.
Dr. Stauch ließ die Messingschlösser zuschnappen. Ich werd’s im Auge behalten. Vielleicht gibt es auch ein Mittel … in Kriegszeiten allerdings schwer zu bekommen … fast unmöglich … versprechen kann ich nichts. Aber lassen Sie den Kopf nicht hängen, sagte er dann, berührte mit der freien Hand ihren Arm und lächelte wie eingangs, eine hübsche, junge Frau wie Sie kann noch viele gesunde Kinder kriegen, und dann – er warf einen kurzen Seitenblick auf Ernst – fällt das hier gar nicht mehr auf.
Sie sah ihn nicht an und erwiderte nichts. Eine heftige Röte war in ihr Gesicht getreten.
Ernst musste dem fremden Mann noch einmal die Hand geben. Dann brachte Martha den Arzt hinaus.
Es wird schon noch alles gut werden, sagte sie mit bebender Stimme drinnen zu Ernst und wischte ihm das Gesicht ab.
Vielleicht findet der Doktor ein Mittel für dich. Wenn nur der Krieg bald aus wäre! Sie hielt ihn fest in ihren Armen und wiegte ihn hin und her. Dann, als seine Augen sie anblickten, leer und doch mit einer unbestimmten Erwartung, seufzte sie und tippte ihn auf die Nase. Na komm, sagte sie, wir gehen Löwenzahn holen für die Hühner!
Wolken waren aufgezogen, die Blätter der Linde raschelten. Hinter dem Pfarrhof bogen sie links ab und fingen an zu pflücken. Ernst riss die gelben Blüten ab, die leicht zu packen waren, die Mutter rupfte die Pflanzen mit Blättern. Bitter war der Löwenzahn im Sommer. Im Frühling hatte sie noch Salat gemacht aus Löwenzahn, Scharbockskraut, Brennnessel und Sauerampfer. Sie war mager geworden während des dritten Kriegsjahrs. Auch Ernst war dünn.
Nur der Vater hatte seine kräftige Statur behalten.

Einige Tage später wurde das Dorf von einem Ungetüm heimgesucht. Die Sonne war noch nicht aufgegangen, da kam es von Schwarzburg herunter, an der „Traube“ und am „Deutschen Haus“ vorbei rumpelte und ratterte es, stieß einen Qualm aus, der die Luft verpestete, arbeitete sich zwischen den Höfen der Fabigs und Hetzels durch, wälzte sich links herum auf den Schotterweg und kam vor der Kirche mit einem durchdringenden Quietschen zum Stehen.
Es folgte eine Stille, als hielte alles den Atem an. Kein Hund bellte, kein Huhn gackerte, die Frösche am Teich waren verstummt. Aufgewirbelter Staub wallte über der Schotterstraße bis ins Dorf hinunter.
Ernst hatte den Lärm nicht gehört. Aus tiefem Schlaf weckte ihn die Mutter, steckte seine lahmen Beine in eine Hose und die Arme in eine Jacke, über das Schlafhemd, weil es schnell gehen sollte. Ein Lastwagen!, sagte sie, komm, wir wollen sehen, was er bringt!, und zog ihn die Treppe hinunter.
Dunkelheit umhüllte die aus dem Dorf Herankommenden, die Kirche und das Ungetüm, das riesenhaft war. Die ganze Straße zwischen dem Schulhaus und der Kirche füllte es aus, jetzt nicht mehr schwarz, sondern moosfarben und glänzend, denn der erste fahle Schimmer tastete sich über die Höhe von Bechstedt-Trippstein. Vier Männer in Uniform stiegen aus dem Führerhaus, grüßten knapp die Dorfbewohner, betrachteten den Kirchturm und berieten sich untereinander. Ernst, zwischen Frauenbeinen und Kittelschürzen, konnte weder den Lastwagen noch die Männer sehen. Als er im Nacken gezwickt wurde, drehte er sich um und erkannte Marion Bunzel, deren Mutter jetzt mit seiner Mutter sprach. Marion war einen Kopf größer als er, und sie lachte viel, besonders, wenn sie ihn zwicken konnte.
Haben Sie schon gehört, Frau Kantor, sagte Ilse Bunzel, die Gerda hat die Ruhr!
Martha war mit ihren Blicken bei den Soldaten, die an der Kirchentür rüttelten.
Ein Feldgrauer war’s, der hat’s nach Unterköditz eingeschleppt, in Unterköditz sind schon fünfe angesteckt, sagte Ilse Bunzel, ließ Marion los und zählte an ihren Fingern ab: Die alte Macheleid, die Herta von Kochs, dann Schillings Jüngste, und Pfeiffers Christa, die liegt schon im Sterben angeblich, auch die Greta Unbehaun und der ihr Sohn – sechse sind’s, nicht fünfe … und jetzt bei uns Fabigs Gerda.
Marion zwickte Ernst in den Nacken und, wenn er sich dann nach ihr umdrehte, vorn in den Bauch, dann wieder in den Nacken und so fort. Er wollte sich wehren, aber er hatte nur eine Hand frei, an der anderen hielt ihn die Mutter fest, und Marion hampelte so flink um ihn herum, dass er sie nicht zu fassen bekam und sich fühlte, als habe man ihn eine Peinigungsmaschine gesteckt. Die Glocke begann zu läuten, die tiefe, die sonst immer mit abgezählten Schlägen die vollen Stunden angab, dreimal am Tag, um sechs Uhr früh, mittags um zwölf und abends um sechs, vorausgesetzt, die Konfirmanden, die zum Läuten eingeteilt waren, taten ihre Pflicht.
Schluss jetzt, Marion, zischte Frau Bunzel, schäm dich!, und zerrte sie von Ernst weg. Marion lachte und zeigte auf Ernst, dessen Augen aus den Höhlen traten vor Wut und Hilflosigkeit. Untersteh’ dich!, drohte Frau Bunzel ihrer Tochter. Komm, hörte Ernst die Mutter sagen, wir gehen den Vater suchen. Es kann doch höchstens fünf Uhr sein, so dunkel, wie es noch ist, dachte Martha, aber es läutete zehn-, fünfzehnmal und immer weiter. Die Soldaten blickten zum Turm hinauf, wo man die Glocke hin- und herschwingen sah, stellten fest, dass die Tür zum
Glockenturm sich öffnen ließ, und gingen hinein. Als das Läuten schwächer und langsamer wurde, setzte die Orgel ein, mit dem Choral, der am kommenden Sonntag im Gottesdienst gesungen werden sollte: Jesus, meine Zuversicht.
Martha zögerte, dann folgte sie den Männern. Im Glockenturm war es finster. Die Akkorde der Orgel durchtosten das Gebäude mit einer Gewalt, die Angst machte, die Wände könnten einstürzen. Jemand musste mit voller Kraft die Bälge treten. Sie nahm Ernst fest an die Hand, bestieg mit ihm die Treppe, die zur Orgelempore hinüberführte, hielt sich am rauen Gemäuer, half dem Kind, das über die eigenen Fü.e stolperte, und erreichte endlich die Orgel. Hilmar, fragte sie, was soll das? Hilmar?
Der Vater antwortete nicht. Angestrengt blickte er in die Noten, die von einer flackernden Kerze schwach beleuchtet waren, und spielte mit Händen und Fü.en den Choral zu Ende. Dann schob er das Prinzipal und die Koppeln wieder hinein, zog blitzschnell zwei andere Register und begann die zweite Strophe, die nun zarter und leiser klang.
Ernsts Lippe blutete.
Hilmar, antworte mir doch!, sagte Martha und drückte ihren Ärmel gegen Ernsts Mund, um das Blut zu stillen.
Hilmar Kroll drehte kurz den Kopf und blickte an ihr vorbei, mit weiten Augen, wie ein Nachttier, das vom Lichtkegel einer Lampe überrascht wird. Dumpf polterten die Tritte der Soldaten die
Turmtreppe hinunter. Die Tür schlug. Ernsts Lippe blutete noch immer. In der kurzen Pause zwischen der zweiten und dritten Strophe hörte Martha den unsichtbaren Kalkanten die Bälge treten. Hilmar verwendete jetzt das Rohrflötenregister. Nebenan waren wieder schwere Schritte zu hören, offenbar schleppten die Soldaten sperriges Gerät ins Turmgebälk hinauf, das gegen die Mauern krachte. Martha verstand nicht, warum ihr Mann die Orgel spielte, während Ungeheures in der Kirche vor sich ging. Sie beschloss, der Sache auf den Grund zu gehen, griff nach Ernsts Hand und stieg mit ihm die Treppe hinunter und dann in den Turm hinauf, am alten Spindler vorbei, der mit starrem Blick die Bälge trat. Kommandorufe der Soldaten mischten sich in die Orgelklänge.
Schließlich war sie mit Ernst oben angelangt, wo die Glocken hingen, eine große und eine kleine. Weit geöffnet standen die hölzernen Flügel der Luke nach Aschau hinaus. Die Soldaten waren eben dabei, zwei Bretter, die sie hier heraufgeschleppt hatten, auf den Fenstersims zu legen. Am anderen Ende, unter der großen Glocke, lagen sie auf einem Balken auf und bildeten eine schiefe Ebene, eine Rutschbahn ins Freie. Einer der beiden, der größere, war damit beschäftigt, das Brett an zwei seitlichen Balken zu vertäuen. Auf seinem rechten Handrücken hatte er einen großen braunen Leberfleck.
Martha packte Ernsts Arm und zog ihn die Treppe hinunter und ins Freie.
Sie holen die Glocken!, rief sie.
Der Pfarrer, sonderbarerweise in seinem schwarzen Talar, den er sonst nur während des Gottesdienstes trug, war inzwischen eingetroffen und stand ein paar Schritte vom Kirchturm entfernt, im Gespräch mit den Frauen.
Herr Pfarrer, rief Martha, sie holen die Glocken! Pfarrer Fuchs hob die Hände wie zum Segnen der Gemeinde am Ende des Gottesdienstes. Ich weiß, Frau Kroll, sagte er. Aber es ist nicht zu ändern. Die Männer haben mir den Befehl gezeigt – ein Schriftstück, unterzeichnet von allerhöchster Stelle … Er legte die Hände vor der Brust ineinander, und seine Stimme tönte dunkel vor Zufriedenheit darüber, dass er einen schriftlichen Befehl von allerhöchster Stelle in der Hand gehalten hatte. Unsere Glocke wird anderweitig benötigt.
Martha widersprach, aber er schnitt ihr das Wort ab, indem er sich begütigend an alle wendete. Die kleine Glocke bleibt uns ja, sagte er, sie nehmen uns nicht beide. Auch die große wird mit Gottes Hilfe zurückkommen, wenn der Krieg aus ist. Und wenn nicht, dann hat eben auch unser Dorf seinen Beitrag leisten müssen.
Die Leute hatten sich inzwischen an der Aschauer Seite des Turms aufgestellt. Gegen die Sonne, die jetzt von der Bechstedter Höhe her blendete, beschatteten sie ihre Augen mit den Händen und schauten nach oben, wo das Brett aus der Luke ragte. Hilmar schlug die Orgel. Die Männer im Turm arbeiteten rhythmisch, unter lauten Zurufen. Man hörte sie eine gewaltige Last bewegen.
Schließlich war der dunkle Rand der großen Glocke auf dem Brett zu sehen, das aus der Luke ragte. Einer der Soldaten streckte seinen Kopf heraus, brüllte: Obacht!, die Dorfbewohner wichen einige Schritte zurück, dann wurde langsam das Brett geneigt, die schwarze Bronze wölbte sich aus der Luke heraus, das Brett senkte sich weiter, bis der Glockenkörper, träge zuerst, dann schneller, ins Rutschen kam, in die Tiefe stürzte und stumpf aufschlug. Niemand sprach ein Wort. Nur Ernst lachte hell auf, verblüfft über eine solche Dreistigkeit: Jemand wagte es, die Kirchenglocke aus dem Turm zu werfen, einfach so, huiiii!
Zerbrochen war sie nicht. Sie hatte sich schief ins Erdreich hineingebohrt, stumm lag der Klöppel.
Die meisten Dorfbewohner sahen sie zum ersten Mal aus der Nähe. Erstaunt über ihre Größe gingen sie hin und fassten das Metall an, befühlten die Akanthusblätter, die sich um den oberen schlanken Teil des Glockenkörpers rankten, und lasen den sichtbaren Teil der Inschrift: IN AETERNUM, wurden aber dann vom Pfarrer aufgefordert zurückzutreten. Die Soldaten warfen die Bretter und das Tau durch die Luke wieder hinaus, kamen herunter, schaufelten die Glocke aus dem Erdreich frei und hievten sie auf den Lastwagen.
Währenddessen spielte die Orgel noch immer. Frau Kroll, sagte der Pfarrer und blickte seitlich zu Boden, sagen Sie Ihrem Mann, er soll aufhören und nach Hause gehen. Es hat doch keinen Sinn. Martha blickte finster. Ernst stand neben ihr, den vorstehenden Unterkiefer trotzig erhoben.
Der Herr Pfarrer hat recht, sagte Frau Bunzel. Was sein muss, muss sein.
Martha schwieg, ging ein letztes Mal mit Ernst zur Orgel hinauf und redete Hilmar an, der so tat, als höre er sie nicht. Er starrte in die Noten und traktierte das Instrument mit Händen und Füßen.
Hilmar, komm, sagte sie und rüttelte an seiner Schulter. Er kam aus dem Takt, aber er machte sich steif.
Ich bleibe hier! Er grub die Finger in die Tasten und verspielte sich.
Freiwillig gehe ich nicht! Sollen sie kommen und mich wegtragen! Später stand sie im Schulzimmer am Fenster mit Ernst, den sie auf einen Stuhl gestellt hatte, und sah, wie die Soldaten die Prinzipalpfeifen aus der Kirche schleppten. Frau Bunzel sprach mit dem Pfarrer, während Marion hinter seinem Rücken Grimassen schnitt. Einer der Soldaten, auf der Ladefläche des Lastwagens stehend, Martha gegenüber und nur wenige Meter entfernt, nahm
die Pfeifen entgegen. Klirrend fielen sie aufeinander, keine Töne mehr, nur Geräusche machten sie, achtlos hingeworfen, bloß noch Zinn. Der dieses grobe Geschäft verrichtete war ein schlanker, junger Mann. Sie sah den Leberfleck auf seiner Hand und verfolgte, wie er sich, mit beiden Beinen fest stehend, in der Körpermitte drehte, um eine Pfeife abzuwerfen, sich wieder zurückdrehte, um nach der nächsten Pfeife zu greifen, die ihm angereicht wurde, mit kraftvollen und geschmeidigen Bewegungen, und als er in einer Pause von zwei oder drei Sekunden, weil er offenbar spürte, dass er beobachtet wurde, den Blick zu ihrem Fenster hob, sie entdeckte und ihr zulächelte, wurde sie rot und trat einen Schritt zurück.

In den folgenden Tagen sprach der Vater nicht. Betrat er die Küche, lud die Luft sich auf, man wartete auf ein Gewitter. Das aber nicht kam. Schweigend löffelte er seine Suppe, schweigend verschwand er anschließend im Herrenzimmer. Kaum jemals sah er seinen Sohn an, und auch Martha fing allenfalls einen düsteren Blick auf, wenn sie ihn etwas fragte und keine Antwort bekam. Ernst fürchtete sich.
Der Vater ist böse, weil die Soldaten die Kirche geplündert haben, sagte sie zu Ernst. Wir müssen ihn in Ruhe lassen. Aber der Zustand hielt an, obwohl Hilmar nicht mehr unterrichten musste, weil die Schule wegen der Ruhr schon vor dem Beginn der Sommerferien geschlossen worden war. Martha war allein gelassen mit den Nöten der Nahrungsbeschaffung, mit all der Plackerei wegen des langsamen, unverständigen Kindes und neuerdings mit der Angst vor der Ansteckung. Viele Male am Tag reinigte sie jetzt die Hände des Kindes mit einer Wurzelbürste. Ernst, der sich meist länger auf dem Abtritt aufhielt als nötig und der sich beim Abputzen mit Kot mehr beschmutzte als säuberte, weil ihm das Gefühl, dass es sich um Schmutz handle, immer noch fremd war, musste, wenn er auf dem Abtritt gewesen war oder draußen herumgestreunt hatte, vollständig ausgezogen und von Kopf bis Fuß abgeschrubbt werden, zusätzlich zu aller anderen Mühe, die das Kind ihr bereitete. Trinkwasser musste abgekocht, das Waschwasser ständig gewechselt werden. Sie ging dreimal so oft Wasser holen wie sonst.
Die Johannisbeeren waren reif. Aber Marmelade konnte sie nicht kochen, weil der Zucker fehlte. Und seit dem Frühjahr war es verboten, statt Zucker Kohlrüben zum Einkochen zu verwenden.
Also pflückte sie die Beeren, zupfte sie von den Stielen ab und stellte sie auf den Tisch.
Hilmar aß einen Löffel voll davon und schüttelte sich. Bah, die sauren Dinger, die haben wohl die Hühner nicht gewollt! Das war der einzige Satz, den sie von ihm zu hören bekam.
An diesen Tagen trank Martha nicht nur die eine Tasse Erdrauchtee vor dem Zubettgehen, die Dr. Agemar verordnet hatte, sondern schon nach dem Mittagessen, wenn sie Hilmars Schweigen zu ertragen gehabt hatte und daran zu ersticken glaubte, am Nachmittag, und abends, wenn sie es kaum noch aushielt vor Groll und ohnmächtiger Wut, eine ganze Kanne. Der Erdrauch beruhigt und befreit, hatte Dr. Agemar gesagt. Und sie fand, dass es stimmte. Vielleicht bildete sie es sich nur ein. Aber ohne den Erdrauch wäre es gar nicht mehr gegangen.
Ein paarmal sah sie den jungen Doktor mit seinem rosigen Gesicht und seiner glänzenden Ledertasche, wie er zu Fabigs Gerda ging und neuerdings auch zur alten Frau Schöps, die beide die Ruhr hatten, wo er immer bloß strikte Hygiene predigte, ohne zu helfen, wie man hörte. Auch der ließ sie im Stich, obwohl er doch ein Mittel für Ernst in Aussicht gestellt hatte.
So gut sie konnte, mühte sie sich ab, Ernsts Entwicklung voranzubringen. Aber Fortschritte gab es kaum. Wenn sie daran dachte, dass er in zweieinhalb Jahren das Schulalter erreicht haben würde, wurde ihr angst und bang. Immerhin, die Farben hatte sie ihm beigebracht. Kurz nach seinem vierten Geburtstag, im April, war er so weit gewesen, dass er rot und gelb, blau und grün unterscheiden konnte. Aber er war so träge, so schläfrig, so unbeholfen mit Händen und Fü.en, von der plumpen Zunge ganz zu schweigen, dass sie oft in Versuchung geriet, ihn zu rütteln und zu schütteln. Wenn sie ihn draußen bei den Hühnern neben dem Abtritt antraf und sah, wie Fliegen über sein Gesicht und seine Arme liefen, die er nicht verscheuchte, sondern ungehindert auf sich herumlaufen ließ, überkam sie ein Grauen, und wenn sie durchs Küchenfenster beobachtete, wie er am Rand der Schotterstraße hockte und langsam Steine umdrehte, um nachzusehen, ob ein Käfer darunter war, wenn sie sah, wie er mit
seinen ungelenken Fingern einen Stein nach dem anderen aufhob und wieder fallen ließ, stundenlang, und wie er sich kindisch freute, wenn endlich einmal ein aufgestörtes Krabbeltier erschrocken weglief, biss sie sich auf die Lippen, denn das war nun schon seit beinahe zwei Jahren sein liebster Zeitvertreib. Hilmar aber nahm keine Notiz davon. Hilmar sprach nicht. Er verschanzte sich im Herrenzimmer, blätterte, wie sie wusste, in Pamphleten der
Unabhängigen Sozialdemokratie, die man besser nicht im Haus gehabt hätte, und brütete über Möglichkeiten der Weltverbesserung.
An manchen Tagen ging er zu Fuß nach Schwarzburg. Vom Taubenschlag aus konnte sie ihn als schwarzen Punkt sehen, der sich über die Höhe zwischen dem Himmelreich und dem Röderberg davonschlich. Da er nicht mit ihr sprach, fragte sie gar nicht, was er in Schwarzburg machte, mit wem er sich traf und zu welchem Zweck. Sie hatte so ihre Vermutungen, und es brachte sie gegen ihn auf wie alles andere.
Als sie an einem Nachmittag hörte, wie er wieder aus Schwarzburg zurückkam, im Hausflur seine Mütze an den Nagel hängte und im Herrenzimmer verschwinden wollte, stieß sie die Küchentür auf und schleuderte ihm ihre gesammelte Wut entgegen. Wenn du schon den ganzen Tag weg bist, könntest du den Jungen ruhig mal mitnehmen, dass er was sieht von der Welt!, rief sie hitzig.
Ernst klammerte sich an sein Holzpferd und schaute zu Boden.
Martha erwartete eine bösartige Erwiderung, aber sonderbarerweise blieb sie aus. Hilmar kam in die Küche, bückte sich, nahm dem Jungen das Holzpferd ab, stellte es auf den Fußboden, griff nach Ernsts Hand und zog ihn hinter sich her zur Küchentür und hinaus auf den Flur.
Vom Fenster aus, das offen stand, sah Martha die beiden das Haus verlassen und ins Dorf hinuntergehen.
Sie wartete. Was war jetzt in ihn gefahren?
Nach einer Weile kamen sie wieder herauf, Ernst an Hilmars Hand, Hilmar, notgedrungen langsam gehend und in freundlichem Gespräch mit dem Jüngsten von Zempels, der ab dem Herbst in die Oberklasse gehen und zu den Konfirmanden gehören würde.
Hilmar lachte sogar mit dem Jungen. Ja, mit anderen konnte er lachen …! Zu dritt gingen sie auf die Kirche zu, sie sah Hilmar aufschließen, sah, wie sich die Tür hinter den dreien schloss, und hörte lange nichts. Dann setzte die Orgel ein, aber in der Schule war sie nur schwach zu hören. Die Töne hatten ihre Schärfe eingebüßt, ihren Glanz. Dumpf und mulmig flossen sie dahin.
Es war wohl der Zempels-Junge, der die Bälge trat … Sie ließ das Fenster offen stehen, hackte das gesammelte Grünfutter für die Hühner und entsteinte die Pflaumen, die sie von ihrer Nachbarin Hilde Bogenschnitzer bekommen hatte. Die Kerne kamen in einen Eimer, der am Abend im „Deutschen Haus“ abgeliefert werden musste. Von dort wurden sie nach Schwarzburg gebracht, zusammen mit Kirschkernen und Menschenhaaren. Anscheinend übte Hilmar für den Gottesdienst am Sonntag oder für die Beerdigung der Gerda Fabig, um die es schlecht stand, wie Martha wusste. Sie erkannte den Choral Wer nur den lieben Gott lässt walten und ein Vorspiel dazu, das offenbar schwierig war, denn sie hörte Hilmar häufig stocken, abbrechen und Passagen wiederholen.
Es war das erste Mal, dass Ernst neben dem Vater auf der schmalen Orgelbank sitzen durfte. Mit klopfendem Herzen sah er aus nächster Nähe, wie die Finger des Vaters die weißen und schwarzen Tasten niederdrückten, und hörte auf die sanften Töne, die aus den Holzpfeifen kamen. Der Körper des Vaters geriet in Bewegung, wenn er die Pedale trat und sich mit Fußspitze und Ferse abwechselnd eine Reihe von Pedalen hinauf und hinunter arbeitete. Kam das rechte Bein des Vaters zum Einsatz, musste er sein Gewicht nach links verlagern und drückte Ernst ein wenig zur Seite. Wenn er abwechselnd den linken und den rechten Fuß benutzte, wurde eine Schaukelbewegung daraus, die Ernst genoss.
Dabei war der Blick des Vaters strikt in die Noten gerichtet. Manchmal nahm er blitzschnell eine Hand von den Tasten, um eine Seite umzublättern. Ernst bewunderte seine Geschicklichkeit und Schnelligkeit. Meist traf der Vater die Töne, auch ohne auf das Manual zu blicken, aber nicht immer. Einmal, nach einem falschen Akkord, brach er ab, sank seufzend ein wenig in sich zusammen und horchte auf den Missklang, der im Kirchenschiff nachhallte.
Dann griff er mit beiden Händen nach seinem Sohn und stellte ihn neben sich auf die Orgelbank. Mit dem linken Arm zog er das Kind dicht an sich heran, bis ihre Wangen sich berührten, den rechten streckte er aus und zeigte schräg nach oben. Ernst war sehr aufgeregt. Die Bartstoppeln des Vaters piekten.
Sieh mal!, sagte er und schaute der zahnlosen Orgel tief in den Rachen, in den Wald der hölzernen Pfeifen hinein, die verschieden hoch waren und rhythmisch versetzt standen und zwischen denen nur ganz hinten im Dunkeln noch einige kleine Zinnpfeifen schimmerten, die die Soldaten übersehen hatten oder die ihnen nicht der Mühe wert gewesen waren. Dann sagte er dem Kind etwas ins Ohr, mit einer leisen Stimme, in der etwas zitterte wie Angst oder Ingrimm, so dass Ernst, der den warmen Atem des Vaters an seinem Ohr spürte, nicht sicher sein konnte, ob er richtig verstand: Wer weiß, was sie uns noch alles wegnehmen werden …, Ernst …!

Leseprobe: Doris Brockmann – “Tuppek am seidenen Faden”

Das Schreiben dieses Romans war insofern ein Glücksfall, als es nicht einmal eine Woche gedauert hat. Die Handlung hatte ich geträumt. Ein paar Tage später habe ich eine Seite probehalber geschrieben, dann wurden daraus zwölf Sei­ten, und nach sechs Tagen war das Buch fertig.

(Thomas Glavinic: Interview. In: Ray-Magazin, Juli/August 06)

 

Freitag, der 13.02.2009

Der da unten heißt Adrian Tuppek. Tagtäglich sitzt er vorm Küchen­fenster und schaut hinaus, schaut Wolken hinterher und blinkenden Flugzeugen, krault sich am Ohr, trinkt und raucht was, verschränkt die Arme vorm Bauch, öffnet – bisweilen im Sekundentakt – sein E-Mail-Postfach, twittert ein wenig, ermahnt sich zur Arbeit an und war­tet.
Lass ihn bloß nicht Schriftsteller sein. Doch! Jetzt! Gerade!
Die solcherart verbrachten Tage in ihrer Gesamtheit sind in zwei Ar­ten unterschieden. Zum einen die Tage, an denen Tuppek sich nicht in die Quere kommt auf dem gera­den Traumpfad zum Erfolg. Kein Stock, kein Stein, kein Vers. Wer um­kehrt, landet in der Sackgasse. Er, fast schon auf der Zielgeraden, schaut nur nach vorn, dorthin, wo die Begeisterten ihm zujubeln, mit Fähn­chen wedeln, Fähn­chen, auf de­nen amerika­nische Verlagsvorschüsse, Jubelrezensionen und hübsche Preise abge­bildet sind. Keine Frage, über kurz oder lang wird er Ruhm und Ehr er­langen, wahrschein­lich eher über kurz.
Und dann gibt es die Tage, an denen er sich geradezu geisterfahrerhaft in die Que­re kommt, ständig die falschen Ver­gleiche zieht, suizida­le Feinstaubana­lysen seiner Texte durchführt und vor lauter Selbstzwei­feln sogar einfachste Wörter („Sintflut“, „Kartoffelwasser“, „Lebtag“) oder beliebte Re­dewendungen („wissen, wo Barthel den Most holt“) im Duden nach­schlagen muss. Solche Tage kommen häufiger vor.
An einem dieser Tage liest er das Interview mit Thomas Gla­vinic. Es wird sein Leben verändern. Vor allem eine der dort getroffenen Aussa­gen ist entscheidend und deshalb oben als Zitat wiedergegeben. Es könnte jetzt noch einmal nachgelesen werden. Muss aber nicht.
Adrian Tuppek kann man sich als einen normalen Schriftsteller vor­stellen: Sieben-Tage-Woche, Zehn-bis-zwölf-Stunden-Tag – Denken, Plotten, Pitchen und Quatschen hören beim Kaffeekochen, Putzen, Plätzchenbacken und Dartspielen ja nicht auf – , mehrere Ordner mit Verlagsabsagen („persönli­che“, „Standard“, „unverschämte“), Angst vor Ideenklau, temporärer Verlust des Gerechtigkeitssinns angesichts von Besten­listen und Literaturpreisvergaben, anfallsweise Sehn­sucht nach einem schönen Brotberuf und Toleranz gegenüber viel, viel, viel zu we­nig Be­achtung.
Sieht man vom sowieso immer wohl­meinenden engsten Freundeskreis, einem Autorenstipendium der Stadtbibliotheken Bergi­sches Land, vier Kundenrezensionen für den bei Amazon selbstveröffentlichten Ro­man („3,7 von 5 Sternen“), dem Gewinn des nordhessischen Literatur­preises „Holzhäuser Heckethaler“, des „Nettetaler Literaturwettbe­werbs“ sowie des „Putzlitzer Preises des 42er Autoren e.V.“ einmal ab, hat Tuppeks Schriftstellerei im Grunde nur bei ei­ner Person besondere Auf­merksamkeit erregt, und das ist Frau Jankowi­ak vom zu­ständigen Fi­nanzamt Marl, die seit Jahren vermutet, dass Tuppek Wer­bungskosten geltend macht, ohne entsprechende Ar­beitsleistungen zu erbringen. Schließlich ist er nicht imstande, honorar­fähige Veröffentli­chungen in einem seinen Lebensunterhalt sichernden Aus­maß vorzu­weisen, von ei­nem Beststel­lerlistenrang im „Spiegel“ ganz zu schwei­gen.
Frau Jankowiak ist vielseitig interessiert und liest gern, weiß also, wo­von sie spricht, wenn sie auf seine Steuererklärungen antwortet. Es ist ihr schleierhaft, wovon Adrian Tuppek lebt, und das macht ihn ihr ver­dächtig. Zum Leben muss er über an­dere Mittel verfügen, vermutet sie, und ist geradezu versessen darauf, ihm hinter seine Schliche zu kommen. Noch hat sie nichts gegen ihn in der Hand, aber sie wird am Ball bleiben. Harte Nüs­se knackt sie besonders gern. Darum wird sie in der Abteilung heim­lich „Herzchen“ genannt: Man anglisiere das deut­sche Wort „hart“, am besten gleich doppelt, obendrauf noch ein kleiner Di­minutiv und herauskommt ein einwandfrei geheimdiensttauglicher Spitzna­me. Besser kann man es nicht machen. Wie dilettantisch neh­men sich dagegen die früheren Co­denamen aus: Lange Zeit wurde die eifrigste Kolle­gin in der Abteilung heim­lich un­ter dem Kürzel „S.A.J.“ für „Special Agent Jankowiak“ ge­führt, ganz zu schweigen von der Kürzelvariation mit dem Vornamen. Frau Jankowi­ak heißt mit Vorna­men Ursel.
Als Adrian Tuppek liest, dass Thomas Glavinic den „Kameramörder“ in nur sechs Tagen fertiggestellt hat, wallt in ihm (nicht im Kameramör­der, nicht in Thomas Glavinic!) ein Gefühl auf. Es ist möglicher­weise gar kein Gefühl, auch wenn es sich so anfühlt. Genau betrachtet han­delt es sich wohl um Ehrgeiz, um eine besonde­re Form von Ehrgeiz, eine, die schon in den Bereich der Anmaßung über­schwappt, wie jener Auf­schrei belegt, den Tuppek kurz darauf aus­stößt: „Das kann ich auch!“
Wunderlich ist, dass ihm solches an einem der häufiger vorkommenden Tage passiert, jenen also, die ganz im Zeichen von Zweifel und Zau­dern stehen. Von denen ist nun nichts mehr zu spüren. Stattdessen hat ein anderes Z-Wör­ter-Paar die Oberhand gewonnen: Zu­versicht und Zu­trauen. Wie die beiden so einfach auf den Plan treten konnten, bleibt nur zu vermuten.
Höchstwahrscheinlich hat es mit der Besonderheit des Datums zu tun, das bekanntlich (s.o.) ein Freitag, der 13. ist. Adrian Tuppek gehört zu jener Minderheit, für die solche Freitage normalerweise persönliche Glücksstage sind. Dieser hier ja offenbar auch. Wie anders denn als großes Glück soll man das bezeichnen, wenn Zweifel und Zau­dern sich urplötzlich und rückstandslos in Zuversicht und Zutrauen auf­lösen? Ge­nau. Womit gleich ein weiteres Mal belegt wäre, dass Freitag, der 13. ein Glückstag im Leben von Adrian Tuppek ist. Hoffent­lich bleibt das auch so.
Die Widersprüchlichkeit des Glücks-Freitags ist übrigens nur eine der Paradoxi­en, mit denen Tuppek großzügig gesegnet ist. Eine andere be­steht in der Tatsache, dass ihm – obwohl Schriftsteller – das Schreiben keineswegs leicht von der Hand geht. Für eine Kurzge­schichte braucht er im Durchschnitt drei Wochen. Mindestens. Es ist auch schon vorge­kommen, dass er an einem einzigen Satz sage und schreibe vierzehn Tage lang gebastelt hat.
Mit dem Projekt „Ein-Roman-in-sechs-Tagen“ fordert Tuppek sich also extrem heraus. Die Pistole sitzt auf der Brust. Es gibt kein Zu­rück mehr. Da ist er rigoros: Wenn er etwas behauptet, steht er auch da­für ein, wenn er sein Wort gibt, setzt er alles daran, es zu halten. Auch dann, wenn er selbst der Ad­ressat des Behauptens und Wortge­bens ist, auch dann, wenn nicht mal Zeugen zuge­gen waren.
Gesagt ist gesagt. Noch nichts aber ist getan. Tuppek steht mit dem Rücken zur Wand. Auge in Auge mit dem durch sein anma­ßendes „Das kann ich auch!“ nur sich selbst gegebenem Versprechen, das ihn schiebt, würgt und umstellt wie zwei große rotgesichtige Inkassao-Be­auftragte mit kleinen schwarzen Hüten. Hauptsache, Zuver­sicht und Zu­trauen lassen sich jetzt nicht auch noch einschüchtern.
Handwerk hilft nicht immer, aber oft viel. Also macht Tuppek sich als erstes daran, den „Kameramörder“ zu vermessen: In der Taschen­buch-Ausgabe beginnt der Text auf Seite 5 und endet auf Seite 157. Die Zei­lenanzahl pro Seite beträgt 28 und die Zei­chenanzahl pro Zeile im Durchschnitt 40-43 ohne Leerzeichen.
Da Tuppek gerne im gängigen Normseiten-Format schreibt, rechnet er den Satzspiegel entsprechend um und kommt auf einen ungefähren Richtwert von 140-144 Seiten. Die muss er durch sechs teilen und weiß sodann, dass er pro Tag ca. 24 Sei­ten schreiben muss. Umgerechnet auf Tuppeks Arbeitsweise bedeutet dies zwei Kurzgeschichten pro Tag oder anders gesagt, sechs Wochen in 24 Stunden. Klar, dass ihm jetzt das Wort „hybrid“ einfällt. Zumal, wenn man bedenkt, dass die Umrech­nung mit dem Faktor „Nur, wenn alles optimal läuft“ erfolgte.
Aber ist hybrid wirklich so schlimm? Nicht, wenn man es groß schreibt, rufen Zuversicht und Zutrauen. Die haben sich offenbar noch immer nicht einschüchtern lassen. Einfach nur eine Mischform, ein Mit­telding, nichts Schlimmes, setzen sie nach und haben, vermutlich, ohne es zu be­absichtigen, Adrian Tuppek sehr schön auf den Begriff ge­bracht: Er ist ein Mittelding, ein bisschen talentiert und ein bisschen un­begabt, ein bisschen hochtourig und ein bisschen entschleunigt, ein bisschen ju­gendlich und ein bisschen verblüht, und gewiss nichts Schlimmes, einfach nur ein Hybrid.
Kriminalromane zu schreiben, ist seine Sache nicht. Obwohl. Eigent­lich weiß er das nicht. Er weiß nur, dass er noch nie einen ge­schrieben hat. Und noch etwas weiß er: Schriftsteller sollten, was Stil und Gattung anbelangt, nicht einglei­sig fahren, sollten in unterschiedlichen Formen geübt sein, sollten sie zumindest ausprobiert haben. Also: Tolle Gele­genheit, jetzt einen Krimi schreiben zu müssen. Eine gute Fingerübung und noch dazu kostenlos. Mit dem sechstägigen Selbststudium spart Tuppek die Kos­ten für einen entspre­chenden Autoren-Work­shop. Den könnte er sich momentan eh nicht leis­ten. Das Konto zeigt Farbe und die einzige Ein­nahmequelle, die er zur Zeit hat, ist der winzige Neben­job, der nur wenig Geld in die Kasse spült, noch dazu unregelmä­ßig.
Und dann das. Gerade hat sich der Krimistudent auf das erste Pro­seminar eingestimmt, macht ihm der Terminkalender einen Strich durch die Rechnung. Fast hätte Tuppek vergessen, dass der winzi­ge Neben­job ausgerechnet heute seinen Einsatz verlangt. Und zwar pronto.
Im Wissen, dass gute Schrift­steller immer und überall an ihren Wer­ken ar­beiten können, zumindest gedanklich, steckt er den Kugelschrei­ber ein und schultert die Riesenumhängetasche. Die stammt aus der Briefträ­gerzeit seines Großvat­ers und ist der­art multifunktional, dass sie die Anschaff­ung einer Einkaufs-, Bade- oder auch Aktentasche, ja sogar ei­nes Kof­fers überflüssig macht.
11:30 Uhr stürmt Tuppek aus der Wohnung. Am Hauseingang läuft ihm die junge Mieterin aus dem Parterre über den Weg, die als erklär­ter Fan der „Truman Show“ jeden im Haus mit „Gu­ten Morgen! … Und falls wir uns heute nicht mehr se­hen, Guten Tag, Gu­ten Abend und Gute Nacht!“ begrüßt. Tuppek erwidert den Gruß so gut er kann, wirft die Post in die Briefträgertasche und radelt zum Bahnhof. Unterwegs kommt ihm Frau Jankowiak entgegen, aber die weiß ja nichts von sei­nem Ne­benjob.
Die Tasche quer vor dem Bauch, schleicht Adrian Tuppek um die Re­gale der Lederwarenabteilung eines großen Recklinghäuser Kaufhauses. Unauffällig checkt er die Verkäuferinnenpositionen, zieht einen Ruck­sack aus dem Regal, begut­achtet das Leder, öff­net Vorder- und Seitentaschen und geht mit dem Rucksack zum Wühltisch mit den Sonder­posten. Wäh­rend er in den dort aufgetürmten Lederwaren kramt, schiebt er einen Schlüsselanhänger in die Vorderta­sche und kurz darauf noch einen Geldscheinhalter in die Innentasche des Rucksacks. Als er sich umsieht, bemerkt er, dass aus eini­ger Entfernung eine Ver­käuferin zu ihm herübersieht. Als ihre Bli­cke sich treffen, schaut sie schnell weg und räumt sorgsam ein paar Brieftaschen in die Glasvitrine. Will halt jeder seine Ruhe haben.
Tuppek schlendert in die angrenzende Modeschmuckab­teilung, wählt ein Glasperlenarmband aus, streift es über sein Handgelenk und geht Richtung Kasse. Die zwei Verkäuferinnen am Packtisch sind ins Ge­spräch vertieft. Tuppek grüßt freund­lich und wird ignoriert. Er legt den Rucksack auf die Packt­heke und räuspert sich. Die Verkäuferinnen ris­kieren einen Seitenblick und schauen, als läge eine verschim­melte Cur­rywurst vor ihnen, eine, die gleichzeitig unsichtbar zu sein scheint. Ver­käuferin 1 gelingt das Kunststückchen, die rechte Augen­braue fast bis zum Stirnansatz hochzuziehen. Im Zu­sammenspiel mit dem mehlfarbe­nen Gesichtspuder und dem ziegelroten Lippenstift hat das den Effekt, als wäre sie halbseitig auf Mephisto nach Art des großen Mi­men geschminkt.
„Wenn Sie bitte die Güte hätten“, sagt Tuppek.
Die Verkäuferinnen verdrehen die Augen. Der Mephisto reißt mür­risch das Preisschild vom Rucksack, reicht es der Kollegin, stopft den Ruck­sack in eine Einkaufstüte und schubst sie zum Thekenrand Rich­tung Tuppek, der im selben Moment einen Fünfzig-Euro­schein aus sei­nem Portem­onnaie zieht.
„Neun’nzwanzichneunzich“, deklamiert Verkäu­ferin 2, deren Schminkfarbe eher ins Othellohafte geht.
Tuppek streift das Armband vom Handgelenk und legt es ne­ben die Einkaufstüte: „Das nehme ich auch noch.“
Verkäuferin 1 + 2 entfährt ein grimmiges: „Sonst noch was?!“
„Nein danke, ich habe genug.“
Am Ausgang stellt sich ein Toupetträger im Hawaiihemd in die Que­re, der dem großartigen Schauspieler Martin Brambach ver­dächtig ähn­lich sieht.
„Wenn Sie mir bitte folgen wollen“, sagt er.
Adrian Tuppek folgt. Es geht in ein Bürokabuff, wo der Toupet- und Hawaiihemdträger die Einkaufstüte auf ein Tisch­chen donnert, als wäre er Deutscher Meister im Nagelbalken.
„Wie schön, dass in diesem Haus wenigstens einer auf Zack ist“, sagt Tuppek.
„Na, Ihre Unverschämtheit möcht’ ich haben“, knurrt Brambach.
Tuppek grinst und greift in die Riesenumhängetasche. „Schon mal was von Kassentest gehört?“
„Es ist immer wieder verblüffend, was für Geschichten mir hier auf­getischt werden“, schnauzt der Security Service Manager, der ausweis­lich des Namensschildes auf dem Schreibtisch „Poweleit“ heißt. „Sie wollen mir allen Ernstes er­zählen, dass Sie hier als Testdieb unter­wegs sind?!“
„So ist es.“ Der Fast-Kriminalromanautor lacht und wühlt weiter in sei­ner Ta­sche. „Ich kann Ihnen das sogar bewei­sen … meine Auftrags­bestätigung … habe ich …“
„… wohl leider vergessen?“
„Nein! Warten Sie, … einen Moment…“
„Nun lassen Sie doch das Theater.“ Martin Poweleit ist ungehalten, denn die Kaffeepause naht, und die ist ihm heilig.
„Wir können das Ganze auch abkürzen“, sagt Tuppek. „Rufen Sie bei den ‘Shop-Inspectors’ an. Dort wird man Ihnen meinen Auftrag bestäti­gen.“
„Selbstverständlich werde ich anrufen, aber bei den richtigen Inspek­tors, denen von 1-1-0.“
„Jetzt glauben Sie mir doch! Ich habe im Auftrag gehandelt!“
„Handeln wir nicht alle in irgendeinem Auftrag? Sind wir nicht alle ein wenig ferngesteuert?“ Der Security Service Manager gerät in leich­tes Vibrieren.
Tuppek gerät leich in die Defensive: „Nun machen Sie mal ‘n Punkt. Ich soll hier testen, ob das Personal an der Kasse die Ware hin­reichend kontrolliert, bevor sie eingetütet wird! Glau­ben Sie mir, wenn ich wirk­lich etwas hätte stehlen wollen, dann hätten Sie das bestimmt nicht be­merkt!“
„Interessant, interessant. Sie geben also zu, dass Sie sich mit Laden­diebstahl auskennen …“
„Ich gebe überhaupt nichts zu!“
„So-so“, sagt der Sicherheitsdienstexperte und greift zum Telefon.
„Glauben Sie mir, die Peinlichkeit wird auf Ihrer Seite sein, wenn sich am Ende alles aufklärt und Sie einen unnötigen Poli­zeieinsatz zu ver­antworten haben.“
„Machen Sie sich um mich keine Sorgen“, kontert der Security Ser­vice Manager und drückt mit der Langsamkeit des Ge­nießers die erste von drei Zah­lentasten.
Tuppek kippt die Briefträgertasche auf dem Büroboden aus und dreht und wendet Manuskript- und Zei­tungsseiten, Prospekte und Briefe, Keks- und Chipstüten. Dann ein hochgehaltener Briefbogen, ein Lachen und ein „Glauben Sie mir jetzt?“
Der Hausdetektiv studiert die Auftragsbestätigung der „Shop-Inspec­tors“, fasst sich ans kastanienbraune Haarteil und gibt auf.
Hochgestimmt wegen dieses K.-o.-Sieges und nicht minder wegen der 53,80 Euro, die er heute ver­dient hat, fährt Tuppek zurück nach Dorsten.
Könnte es sein, dass ihm vorhin der Stoff zugestoßen ist, den er zu ei­nem Kriminalro­man verarbeiten sollte? Die Recherche wäre praktisch schon erledigt. Nach zwei Jah­ren Tester-Job ist reich­lich Quellenmate­rial vorhanden. Aber wird das für einen erfolgreichen Kri­mi reichen? Haben Diebstahlsdelikte noch Potential, Leser zu fes­seln? Und Zuschauer? Im Taumel des Glücks­tages geht Tuppek davon aus, dass der momentan noch nicht ganz fertiggestellte Roman selbstverständlich verfilmt werden wird. Dann die entscheidende Frage: Ist ernsthaft vor­stellbar, sich sechs Tage und Nächte lang mit diesem Kaufhausdetektiv zu beschäftigen? Nein, das ist unvorstellbar. Es sei denn.
Also, es müsste ja nicht unbedingt eine Diebstahlsgeschichte sein. Wie wäre es mit: Tote tragen keine Toupets? Morde wer­den vom Publi­kum viel stärker nachgefragt. Überall nur Mordgeschichten. Da könnte man Poweleit schön über die Klinge springen lassen. Gleich schiebt sich das Cover der gebundenen Ausgabe von Tote tragen keine Toupets vor Tuppeks inneres Auge und hinterdrein das Film­plakat: Ein Kaufhausregal voll mit Handtaschen, Koffern und Schlüsselanhängern, ­vorn am lin­ken Bildrand ein herunter­fallendes Toupet, auf dem ein klei­ner Bluts­tropfen klebt, und am rechten Bild­rand nur die schwarzen Hosenbeine und Schuhe eines Flüchtenden. Hinten auf dem Buchum­schlag ein Schwarz-Weiß-Portrait des Autors, darunter in fettgedruck­ten Lettern: „Adrian Tuppek ist ein herrlich anar­chisches Debüt gelun­gen! Sie werden das Buch nicht aus der Hand le­gen wollen!“
Keine Frage: Zuversicht und Zutrauen ziehen gerade alle Re­gister. Hof­fentlich gehen die Pferde nicht mit ihnen durch.
Als Tuppek gegen 17:00 Uhr zuhause ankommt, ist er erschöpft. Ver­ständlicherweise. So eine Radfahrt, Bahnfahrt, Kassentestung, Bahn­fahrt, Radfahrt sind anstrengend, zumal, wenn man gleichzeitig noch ständig Romanideen im Kopf spa­zieren führt. Ein wenig Tee, ein wenig Musik und ein wenig Hinlegen helfen da immer.
In der hohen Birke vorm Küchenfenster sitzen regungslos sechs Kol­kraben. Leich­ter Wind fährt durch die Zweige und lässt die chronisch vorwurfsvoll blickenden Vögel schaukeln wie Enten bei leichtem See­gang. Wer da lange zusieht, wird selbst in angenehmer Lage auf einem schö­nen Küchensofa ein wenig seekrank. Tuppek reckt und streckt sich, leert den Becher Tee und fühlt sich langsam etwas frischer. Ein Blick auf die Uhr reicht, und er fühlt sich sogleich vollkommen frisch. Es bleibt nicht mehr viel Zeit. Bis Mitternacht müs­sen 20-24 Seiten ge­schrieben sein.
Zum soeben erlangten Frischegefühl gesellen sich jetzt Herz­klopfen und ein heftiger Bewegungsdrang. Das Z-Wörter-Paar, das bis eben noch das Regiment geführt hat, befindet sich auf dem Rückzug. Tuppek muss sich beeilen und anfangen. Jetzt und schnell, bevor sich Zweifel und Zaudern wie­der in den Vor­dergrund schieben.
Er räumt seinen Schreibtisch auf, spitzt Bleistifte an, stapelt Kartei­karten nach verschiedenen Farben, überlegt kurz, ob er den Rechner an­stellen soll, verwirft den Gedanken aber sogleich wieder. Erste Skizzen und Notizen macht er ja immer hand­schriftlich.
Dann setzt er sich endlich hin und denkt nach. Er muss es pragma­tisch angehen, denkt er. Er muss mit dem auskommen, was vorhanden ist. Warum immer großartig was Neues erfinden? Warum keine Ge­schichte, in der ein Kaufhausdetektiv vorkommt? Ja, warum eigentlich nicht? Was zählt schon der Inhalt? Worauf es ankommt, ist die Form. Sie macht die Kunst aus.
„Ich muss eine besondere Form finden“, schreit Tuppek. Und dann schaut er rüber zu den schaukelnden Kolkraben und wartet auf eine In­spiration.
Statt der Inspiration kommt Lena zur Tür herein. Lena gehört dem stets wohlmeinenden engsten Freundeskreis an. Im Prinzip jedenfalls. Das heißt, sie ist ein biss­chen mehr als ein enger Freund, stets wohlmei­nend ist sie hinge­gen nicht, gebraucht in dem Zusammenhang aber lieber den Ausdruck „einfach nur ehrlich“. Lena wohnt seit vierzehn Jah­ren mit Tuppek zusammen.
In der 12. Klasse war sie an seine Schule gewechselt und hatte im ge­meinsamen Deutsch Leistungskurs ein Referat zu Kleists berühmten Essay über das Gespräch mit dem Schauspieler und dem Knaben, den Tänzer und den fechtenden Bären gehalten – konzentriert und selbstbe­wusst und vor allen Dingen mit einer Geste, die Tuppek schon nach kurzer Zeit vom Zuhören wegführte. Jedesmal, wenn Lena vom Blatt aufsah, fuhr sie sich kurz durch die schwarzen Haare und gab den Blick frei auf diese Huskyaugen. Noch nie hatte er solche Augen gesehen. Und noch nie hatte er wegen einer Geste oder ein paar Augen verges­sen, zuzuhören, wenn etwas ihn interessierte. Das mit dem Maschinis­ten, dem Schwer­punkt und dem Paradies hatte ihn sogar sehr interes­siert. Er aber nahm bald nur noch wahr, wie Lena die Haare aus der Stirn schob und wie sie schaute, nicht, was sie sagte. We­nig später wusste er, Lena würde sein Lieblingsmensch werden und würde es blei­ben.
An diesem Freitagspätnachmittag plumpst dieser Lieblingsmensch schnaufend aufs Sofa. Denn er ist ebenfalls er­schöpft und im Gegensatz zu seinem eigenen Lieblingsmenschen nicht von einem plötz­lich aufge­tretenen Gefühl voll­kommener Frische heimgesucht worden. Lena hat sieben Stun­den hinter der Theke gestanden. Sie arbeitet in der Marler Filiale von Herrn Krause, der zwischen Dorsten und Haltern fünf Bä­ckereien betreibt. Nach erfolgreichem Magisterabs­chluss (Ethnologie und Religionswissenschaft) und insgesamt neunundvierzig Absagen von Verlagen, Museen und Radiosen­dern ist sie eben dort hängenge­blieben, wo sie seit der 12. Klasse ge­jobbt hatte. Der Zwei-Drittel-Job sichert die Grundversorgung und hat als angenehmen Nebeneffekt, dass Lena nach der Arbeit mit ei­ner gut gefüllten, gleichwohl kostenlosen Brötchentüte nach Hause kommt, in der verschie­denes Gebäck gehortet ist, das bei Bäcker Krause sonst bis zum Rest der Woche als „Kuchen vom Vortrag“ angeboten wer­den würde. Eine solche Tüte zieht Lena aus ihrem Rucksack, entleert sie auf einen Tortenteller und schnappt sich ein topfdeckelgroßes Pflaumenmushörnchen.
Adrian Tuppek schaut fasziniert zu. Es gefällt ihm, dass Lena bereits kurz nach ihrem vierzigsten Geburtstag geschafft hat, was anderen Frauen meist erst nach dem fünfzigsten Geburtstag gelingt: ihre Lust am schönen Essen hö­her zu werten als die Lust am schlanken Körper. Ihm gefällt ebenso, dass sie sich seit kurzem ein wenig weicher anfühlt.
„Was hast du heute gemacht?“ schmatzt der weiche Lieblingsmensch vom Sofa herüber.
„Das Übliche: bisschen gelesen, bisschen getestet und bisschen einge­kauft.“
„Und?“
„Wie und?“
„Auch bisschen was geschrieben?“
„Tja … also….“
„Also nicht!“
„Das kann man so nicht sagen. Ich habe mit einem größeren Projekt an­gefangen.“
„Oh Gott!“
„Wie ‘oh Gott’?“
„Dein letztes größeres Projekt war die Bewerbung für den Bachmann­wettbewerb vor zwei Jahren. Der Text liegt noch heute un­vollendet in der Schublade.“
„Fang nicht wieder damit an.“
„Fang du mal lieber was Vernünftiges an.
„Würde ich ja gerne, aber du lässt mich ja nicht.“
„Was ist los?“
„Ich stehe unter extremem Zeitdruck. Da kann ich nicht noch Grund­satzdiskussionen führen. Da brauch ich Ruhe und keinen Stress.“
„Das trifft sich ja gut. Ich stehe nämlich seit heute morgen 7:00 Uhr un­ter Zeit­druck! Bei Krauses wird nämlich nicht nur bisschen gearbei­tet! Wenn hier jemand Ruhe braucht, dann bin ich das!“
„Und warum gibst du dann keine Ruhe?“
„Ich habe lediglich gefragt, was du heute gemacht hast. Wenn das Ru­hestörung ist, bitte! Ich für mein Teil, geh jetzt erstmal entspannen.“ Lena springt vom Sofa auf und knallt die Badezimmertür hinter sich zu.
Adrian Tuppek hat jetzt seine Ruhe, aber noch immer keine Inspirati­on. Die kleine Disharmonie wirkt sich nicht gerade förderlich aus. Tuppek ist auf Harmonie an­gewiesen, um sich wohlfühlen zu können, um kreativ sein zu können, um sich auf eine Sache konzentrieren zu können. Die Zeitanzeige am Elektroherd leuchtet signalrot 19:08 Uhr. Noch fünf Stunden. Nein, weniger als fünf Stunden blei­ben ihm noch. Jetzt wird es wirklich knapp.
Tuppek ruckelt auf dem Stuhl, schlägt mit den Füßen einen schnellen Takt, dreht den Kugelschreiber zwischen den Fingern. Aber nichts pas­siert. Keine Idee. Vom Badezimmer drin­gen die Wannengesänge der weichen Frau herüber. Dann ist sie also wieder fröhlich, denkt er er­leichtert und zeichnet eine Blume aufs Papier. Ob die Kolkraben wohl noch immer in der Birke schau­keln? Das darf ihn nicht küm­mern. Er darf jetzt nicht aufstehen. Er muss sich zusammenneh­men und endlich beginnen.
Er drückt die Mine ins Papier, überlegt einen Augenblick lang, schaut kurz zur Decke, zurück aufs Papier und schreibt blitz­schnell den Titel seines Romans: „Wenn Sie mir bitte folgen wollen.“ Erlöst kippt er nach hinten auf die Rückenlehne und streckt alle viere von sich. Ge­schafft! Jetzt bloß nicht nachlas­sen. Weitermachen.
Ob Powelowsky das Toupet aus persönlicher Eitelkeit oder rein berufli­chen Gründen trug, war letztlich nicht auszumachen. Tatsa­che ist, dass ihn kaum jemand ohne diese Kopfbe­deckung gese­hen hat. Wahrschein­lich gab es einige wenige, etwa aus dem medizinischen Bereich, mögli­cherweise aus dem horizontalen Gewerbe, die ihn oben ohne bzw. mit verrutscht­em Kunsthaar gesehen hatten und mehr wissen, aber kei­ner von ihnen hat sich als Zeuge gemeldet und eine Aussage gemacht. Nä­here Ver­wandte, gar eine Ehefrau des gerissenen Spions sind nicht be­kannt oder nicht vorhanden oder spektakulär untergetaucht.
Es trifft zu, dass man bei genauem Hinsehen die gewiefte Tar­nung bzw. eitle Schönheitskorrektur unschwer erkennen konnte bzw. musste. So­lange sie im Dienst der guten Sache stand, gab es aber keinen Grund, das Geheimnis zu lüften und also Powelowskys Einsatz zu ge­fährden. Viel­leicht hätte man schon früher auf­horchen sollen und Maß­nahmen er­greifen müssen. Aber nie­mand hat sich etwas anmerken las­sen, niemand hat sich zustän­dig und verantwortlich gefühlt. Und dann ge­schah das Unge­heuerliche, von dem zu berichten wir die traurige Auf­gabe ha­ben. Nichts werden wir verheimlichen, unterschlagen, be­schönigen. Al­les wird zur Sprache kommen, offen und schonungslos. Der Wahrheit die Ehre.

„Jah!!!“ Tuppek macht die Boris-Becker-Faust und lässt den Kugel­schreiber auf die ersten zwei vollgeschriebenen Blätter seines ersten Kriminalromans fallen. Die Blockade ist durchbro­chen! Der Weg ist frei. Alles kommt in Fluss. Alles wird gut.
Ein Glücksgefühl durchwallt Tuppek. Es ist so stark, dass er davon aufspringen und sich bewegen muss, um diese Elektrisierung ein wenig abzureagieren, um sie überhaupt aushalten zu können. Er tänzelt durch den Raum, bewegt Schul­tern und Arme im Rhythmus der Wannenge­sänge, summt leise mit und entkorkt eine Flasche Wein – eine von den teu­ren, denn es gibt Grund zum Feiern.
Das Bade­zimmer ist von sanft flackernden Kerzen und Teelichtern in schummriges Licht gehüllt ist. Eine Atmosphäre, wie sie passen­der nicht sein könnte für diesen besonderen Augenblick. Nur ei­ns passt nicht, und zwar dass die Badende über­haupt nicht neugierig zu sein scheint, wer da gerade zu Besuch ge­kommen ist. Auch singt sie nicht mehr. Tuppek aber lässt sich nicht beirren und wagt die Flucht nach vorn: „Komm Leni, sei wieder gut.“
Er lächelt sein Glücksgefühl-Lächeln und hält das Rotweinglas vor ihre Nase. Bange Se­kunden des Wartens verstreichen, bis endlich fünf ver­schrumpelte Finger nach dem Glas greifen. Man prostet sich zu, tauscht ein paar klä­rende Worte aus, es kommt zum zaghaften Aus­tausch von Zärtlich­keiten und dann überfällt beide das ganz normale, der Ta­geszeit entspre­chende Hungergefühl. Die Venus möchte sich eben schnell noch eincre­men und der Krimiautor verspricht, derweil das Abendessen vorzube­reiten.
Wie könnte es weitergehen? Vielleicht eine Erpressung? Powelowsky wird von einer Kaufhausangestellten wegen sexueller Nöti­gung er­presst. Wahrscheinlich von Verkäuferin 1, die mit vielsagendem Blick seine Wege kreuzt und dabei nicht müde wird, ihr Augenbrauen-Kunst­stückchen vorzufüh­ren, um ihn einzu­schüchtern, unter Druck zu setzen. Da­bei war sie es gewesen, die auf der Weihnachtsfeier eindeutige Zei­chen gesetzt hatte, ständig mit der Zunge über ihre Lip­pen gefahren war, ihn später noch zum Besuch einer Bar überredet und dort beim langsamen Tanz den Oberschenkel zwischen seine Beine gedrückt hat­te. Und dann, mitten im Trubel des nachweihnachtlichen Geschenkum­tausches tritt sie eine Lawine übelster Vorwürfe los, die nichts an­deres sind als die Antwort einer Beleidigten, die Rache nehmen will an einem Unbeschol­tenen, der ehrlich und unmiss­verständlich zu verste­hen gege­ben hat: „Ich stehe nicht zur Ver­fügung“. Weil sie das nicht verkraften kann, geht nun eine Hetz­jagd auf ihn los. Wie wird er damit umgehen? Wel­che Strategien der Gegenwehr wird er anwenden?
„Was gibt es Leckeres zu essen?“ Wohlduftend, rotwangig und nur mit einem Bademantel bekleidet steht Lena im Türrah­men.
Tuppek hält ihr eine Platte mit liebevoll dekorierten Graubrotscheiben unter die Nase. Jetzt kann die Party beginnen. Man lümmelt sich aufs Sofa, schlürft Wein und schnabuliert lecker Schnittchen. So selig ist der Frischversöhnte, dass er nicht mehr an sich halten kann: „Was hieltest du von ei­nem Kriminalroman, in dem ein Kaufhausdetektiv die Hauptrolle spielt?“
„Warum nicht.“
Tuppek ignoriert die mangelnde Begeisterung und legt einfach los: „Also, der Kaufhausdetektiv wird verleumdet, verfolgt, man könnte sa­gen, gestalkt, und zwar von einer Verkäuferin, die er hat abblitzen las­sen und die nun Rache nimmt, möglicherweise bis zum bitteren Ende, aber das ist noch nicht klar. Lena? Hörst du mir zu?“
„Hm.“ Lena schaut unentschlossen zwischen dem mit Gurken ver­zierten Mettwurstbrot und dem tomatengeschmückten Käseschnittchen hin und her.
„Dann kommt auch noch eine Auseinandersetzung zwischen dem Kaufhausdetektiv und einem Testdieb dazu.“
„Hm“, sagt Lena und wählt das Mettwurstbrot. „Wenn du meinst.“
„Wie, wenn ich meine?“
„Na, wenn du meinst, dass könnte interessant sein.“
„Das will ich ja gerade von dir wissen.“
„Woher soll ich das denn wissen?“
„Na, weil du eine belesene Person bist.“
„Du weißt, dass Kriminalromane mich nicht so interes­sieren? Was hast du denn auf einmal mit Krimis?“
„Ich schreibe einen.“
„Du schreibst einen Krimi?“
„Ja.“
„Wieso das denn?“
„Weil ich das will. Und weil ich das muss.“
„Wieso muss?“
„Weil ich ein Versprechen gegeben habe.“
„Wem?“
„Mir.“
„Ach, so.“
Die Zeitanzeige am Elektroherd leuchtet signalrot 21:30 Uhr. Noch zwei­einhalb Stunden, dann ist der erste Schreibtag zuende. Lena gähnt und sagt: „Sei nicht böse, aber ich muss jetzt ins Bett.“
„Schon gut.“
Lena holt sich einen Gute-Nacht-Kuss ab und schlafwandelt aus dem Zimmer.
Tuppek liest die erste Seite seines ersten Kriminalromans und findet sie gar nicht so schlecht. Zu häufig hat er „bzw.“ ge­braucht, aber das lässt sich ja ändern. Wie soll er nun weiter verfahren? Handlungs­aufbau und Plots festlegen? Sämtli­che Figuren auflisten und sie kurz charakterisieren? Ein Sudel­buch für spontane Einfälle anlegen? Oder sollte er einfach am Text weiterschreiben? Ja, das will er, einfach weiterschrei­ben. Die anderen Dinge, denkt er, kann er nebenbei erledi­gen.
Tuppek nimmt Haltung an, schiebt das Manuskriptpapier zu einem bün­digen Stapel zusammen, legt die fertigen zwei Seiten links daneben, greift zum Kugelschreiber, schaut geradeaus, schaut nach unten, reibt mit den Zehen des rechten Fußes über den Spann des linken, nimmt die Brille ab, wischt mit dem Taschentuch über die Gläser, zupft an den Är­melbündchen seines Pullovers und überlegt. Vielleicht noch ein Gläs­chen von dem teuren Roten? Genau. Biss­chen locker machen.
Draußen im Schein der Straßenbeleuchtung schaukeln schwar­ze Woll­knäuel in der Birke. Die Straße ist ruhig und Tuppek an­scheinend der einzige, der den Mut besitzt, sich dem Ganzen zu stellen, auszuhar­ren, der nicht müde wird, das zu tun, was ihm aufgetragen ist. Hier steht er, unnachgiebig und geduldig. Die Sterne sind seine Zeugen.

„Nein“, sagt Powelowsky, „ich bin kein Mann für eine Nacht, ich su­che kein Abenteuer. Ich will Familie, will Autowaschen und Grillen am Wo­chenende, das ganz Normale. Sex ist wichtig, aber nicht alles. Ha­ben Sie bitte Verständnis.“
Höhnisch schaut sie ihn an, hebt missbilligend die Augenbraue und dann giftet sie los: „Das hätte ich mir ja denken kön­nen, dass einer ohne Haare auch nichts in der Hose hat, hah!!“
„Natürlich verstehe ich, dass Sie jetzt enttäuscht sind“, lenkt Powelows­ky ein.
Doch die Furie ist schneller: „Das werden Sie mir büßen. Mich hat noch keiner von der Bettkante geschubst! Ich mach Sie fertig!“

So geht es nicht, denkt Tuppek und ist mehr als unzufrieden mit sich. Er nimmt einen großen Schluck Rotwein, als wolle er die Schmach weg­spülen, von der außer ihm, gottlob, noch niemand etwas mitbekom­men hat. Bedauerlicherweise zeigt der Schluck keine befreiende Wir­kung, weder beruhigt er das Gefühl der Scham, noch setzt er Impulse für eine erneute und dies­mal niveauvolle Bearbeitung des Themas frei.
Könnte es sein, dass Tuppek sich literarisch in einem Niemandsland bewegt, in dem es keinen Ort gibt für „Niveau“ und in dem sein ganzes Mühen und Tun von nichts anderem bestimmt wird als davon, Aus­schau zu halten nach den Alles-Könnern jenseits und den Nichts-Kön­nern dies­seits des Niemandslandes? Immer nur beobachten, die einen mit Angst, die anderen mit Häme? Tuppek erschaudert. Zweifel und Zaudern sitzen in der Ecke und halten sich schadenfroh die Bäuche. Se­hen sie et­was ande­res? Sehen sie ihn nicht im Niemands­land, sondern im Diesseits? Er möchte so gerne ins Jen­seits. Aber er kommt nicht von der Stelle. Er steht sich im Weg. Gehört dieser Tag am Ende doch wie­der zu den häufiger vorkommenden Tagen. Tuppek muss lernen, sich aus dem Weg zu gehen.
Die Augen fallen ihm zu. Er kann nicht mehr. Er kommt nicht weiter. Ihm bleiben nur noch fünf Tage. Das ist nicht zu schaffen. Er wird es nicht schaffen. Aber er wird nicht aufgeben. Wenn ihm etwas ge­lingt, dann das. Nicht aufzugeben. Handlung, Idee und Figuren von „Wenn Sie mir bitte folgen wol­len“ sind nicht schlecht, redet er sich Mut zu. Gar nicht so übel.
Form! Form! Form!, johlen die bösen zwei Z’s aus der Ecke.
Tuppek nimmt sein Sudelbuch hervor, kann die meisten der spontan hingekritzelten Einfälle jedoch nicht entzif­fern. Eigenartige Abkürzun­gen, Kreise, Durch- und Unterstreichungen, Pfeile und Querverbindun­gen. Ein einziges Wirrwarr, als hätte er es darauf angelegt, sich nicht zu verstehen. Vielleicht kann er morgen aus dem Ganzen schlau werden und noch et­was damit anfangen. Jetzt geht erstmal nichts mehr.
Er sollte zu Bett gehen. Aber er weiß, was ihn dort erwartet: Sobald er zu schlafen versucht, wird sich das Gedankenkarussell in Gang set­zen. Er ist hundemüde, aber er wird nicht schlafen können. Wieder so eine von Tuppeks Paradoxi­en. Doch es nützt nichts. Er muss es wenigs­tens ver­suchen. Das nun auch noch.
Vom Schlafzimmer dringen gleichmäßige Schnorchelge­räusche herüber. Beneidenswert. Um Lena nicht zu stören, legt Tuppek sich aufs Sofa. Das Gedan­kenkarussell fährt los. Und mit jeder Runde wird dem Schlaflo­sen eines immer kla­rer: Der heutige Tag ist auf keinen Fall ein Glückstag gewesen.
Hier mangelt es ihm aber offenbar am nötigen Überblick. Gut, es gab einige unschöne Momente, aber davon sollte er sich nicht täuschen las­sen. Immerhin lebt er noch.

Leseprobe: Charlotte Kliemann – “Nenn ich dich Aufgang oder Untergang”

1 Nebeneinander

Nach drei Jahren hatte ich die Hoffnung so gut wie begraben. Irgendwann nach diesen drei Jahren gewahrte ich eine Leere, eine brennende Verlassenheit, da, wo sich so lange die Hoffnung aufgebläht hatte, eine Leere, die sich schnell verdichtete zu einer kleinen, schmerzhaften Wunde, an die ich nicht rühren durfte. Drei Jahre, in denen die Jahreszeiten an mir vorübergezogen waren, ohne dass ich an ihnen teilgehabt hätte, in denen ich Tag für Tag in der Redaktion an meinem Schreibtisch gesessen hatte und in denen aus meinen Kindern Teenager geworden waren. Während also das Leben, wie man so sagt, weitergegangen war, hatte mich die Frau begleitet, deren Haar an einem sonnigen Oktobermorgen einmal im Traum auf meinem Kissen gelegen hatte und über das meine Hand gestrichen war. Anfangs, als ich noch die Wochen zählte, die ohne ihren Anruf vergangen waren, hatte sie Ähnlichkeit mit einer neu gewonnenen Zuversicht in das Leben. Ganz allmählich verblasste der zuversichtliche Glanz und wurde durch ein angstvolles Hoffen abgelöst, ein Hoffen, das sich als ein Konglomerat aus Demut und Vergeblichkeit offenbarte und schließlich irgendwo im Alltäglichen verloren ging. Drei Jahre lang hatte ich auf einen Anruf gehofft, auf ein Lebenszeichen der Frau, deren Haar im Traum auf meinem Kissen gelegen hatte.
Und dann, als alle Vergeblichkeit des Hoffens sich komprimiert hatte zu dieser kleinen, quälenden Wunde – begegneten wir uns doch noch.

Am Kölner Hauptbahnhof stieg ich aus dem Zug in das laue Licht unter dem Hallendach. Ich rückte zwischen Rollkoffern und Rucksäcken auf den Ausgang zu und ging, ohne innezuhalten und mich umzusehen, dem Dom entgegen. Es war ein sonniger, ungewöhnlich heißer Tag im Mai 2008. Schon während der Zugfahrt hatte ich meine Krawatte gelockert. Wie eine Schlinge hatte sie dann um meinem Hals gehangen, nur der Dachbalken hatte gefehlt, an dem ich das lange Ende hätte verknoten können. Weiß der Teufel was mich bewogen hatte, an einem solchen Tag eine Krawatte umzubinden, in dezentem Dunkelblau.
Ich lehnte in meinem Sitz zwischen gut gelaunten Menschen, die Schlinge wie das Zeichen einer Ächtung um den Hals. Ich vermisste die Intimität meines Volvos, ich hatte auf ihn verzichtet, weil ich zu feige gewesen war, mich an einem Samstagmorgen in der Kölner City um einen Parkplatz zu schlagen. Nun saß ich also hier im Zug, inmitten dieses belanglosen Geredes, inmitten einer geradzu unerträglichen Wochenendfröhlichkeit. Und ich fragte mich, ob man mir ansah, dass ich zu einer Frau fuhr, der ich einmal vergebens durch die halbe Republik gefolgt war.
Nach vierzig Minuten Fahrt hatte sich auf der rechten Seite der Rhein in die Stadt gezwängt und die Kölner Vororte auseinandergetrieben. Da war ich aufgestanden und zur Zugtoilette gegangen und hatte mir die Schlinge vom Hals genommen. Ich hatte sie, so gut es ging, zusammengefaltet und in die Hosentasche gesteckt. Zu pinkeln hatte ich nicht gewagt, im Zug läuft man immer Gefahr, sich vollzukleckern, und auf die Klobrille mochte ich mich nicht setzen. Für den äußersten Fall gab es ja die Bahnhofstoilette. Ich hatte mir kaltes Wasser über die Hände laufen lassen und versucht, dem Blick in den Spiegel zu entgehen. Aber dann war es wie ein Zwang gewesen, mein Gesicht zu prüfen. Ich war perfekt rasiert, das helle, graue Sakko stand mir. So weit, immerhin, schien doch alles gut zu sein. Wenn nicht die Augen wären, diese schon unangenehm großen Augen, viel zu dunkel, viel zu unergründlich, mit dem steten Flackern des Zweifelns. Während ich auf den Dom zuging, drückte ich die Hand auf die Hosentasche. Ich spürte die Krawatte, wie sie sich mit jedem Schritt in meine Hand schmiegte. Schlinge, dachte ich, die Schlinge musst du loswerden, mit der Schlinge in der Tasche kann es nichts werden.Der Dom stand da wie immer: keine Hilfe, keine Zuflucht, sondern eher eine Herausforderung. Auf dem Platz davor wimmelte es von Menschen, und auch ich legte wie alle anderen den Kopf in den Nacken und starrte eine Weile zu den Türmen hinauf. Ich sah, wie sie sich mir entgegenneigten, kaum merklich, es aber nur noch eine Frage von Sekunden war, bis sie auf uns herabstürzen würden. Selbstverständlich stürzten sie nicht um, schließlich standen sie hier in ihren Grundfesten seit Jahrhunderten, weitgehend unverändert. Aber als bloße Möglichkeit sollte man es doch ins Auge fassen.
Ein Blick auf die Uhr: noch zehn Minuten.
Die Domplatte dampfte die Mittagshitze ab, die Menschen drängten hierhin und dorthin. Ich musterte die Männer, keiner, kein einziger trug eine Krawatte. Ich strich an einem Abfallbehälter vorüber, eine leichte Bewegung des Arms und ich war das Knäuel aus der Tasche los. Entspannung stellte sich nicht ein. Stattdessen zog ich planlose Kreise über den Platz. Ich passte hier nicht ins Bild. Dass ich hier war, das hatte, wie gesagt, in den drei Jahren des Hoffens die Berechtigung verloren, Realität zu werden.
Genau genommen hatte ich es wohl meinem Buch zu verdanken, das niemand lesen wollte. Hatte ich darum dieses Buch geschrieben? Um einen Köder auszulegen, an dem sie würde anbeißen können, anbeißen müssen? Hatte ich mich danach gesehnt: heute, an diesem sonnigen Samstag im Mai, vor dem Kölner Dom hektisch auf und ab zu wandern, angetrieben vom hämmernden Techno-Rhythmus meines Herzens?
Ich zog ein Taschentuch hervor, wischte mir über die Stirn und sah mich nach einem Abfallbehälter um. Der, in dem die Schlinge, zusammengerollt wie eine Schlange, in der Mittaghitze brütete, kam nicht infrage. In der Nähe des Domportals fand ich einen anderen, in den ich das Taschentuch fallen ließ.
Wie war sie auf das Buch aufmerksam geworden? Sie hatte es wohl gelesen, nahm ich an. Tatsache war: Sie hatte beim Verlag angerufen und ihre Handynummer hinterlegt. Meine Handynummer, die ich ihr einmal hatte zukommen lassen, hatte ich nur ihretwegen nie geändert. Doch sie musste diesen wunderlichen Weg über den Verlag wählen. Er würde demnächst eine Kontaktbörse eröffnen, hatte mein Lektor, mit dem ich per Du bin, gewitzelt, damit hätte er sicher mehr Erfolg als mit Manuskripten. Mir war so schnell keine passende Antwort eingefallen auf die spitze Bemerkung wegen des Freundschaftdienstes, den er mir mit dem Buch erwiesen hatte, das nun floppte, aber ich war geistesgegenwärtig genug, ihre Nummer zu notieren, auf meine Schreibtischplatte, neben mein Notebook, das bereit gewesen wäre.
Dann ließ ich zwei Wochen verstreichen, bevor ich sie anrief. Zwei Wochen, in denen ich tatsächlich meinte, ich könnte mich vorweg an unsere erste Begegnung gewöhnen. Als ich ihre Stimme am Telefon hörte, erinnerte ich mich sofort, damals, als ich nach ihr gesucht hatte, vergeblich gesucht hatte, dass ich damals von ihren ehemaligen Nachbarn erfahren hatte, sie würde die Songs, die sie hörte, immer dieselben, sagten die Nachbarn, diese immer selben Songs würde sie laut mitsingen.
Jetzt lebte sie in Köln, und wir verabredeten uns für den kommenden Samstag.
Sie erwarte mich an der Kreuzblume vor dem Dom, hatte sie gesagt und erklärt, die Kreuzblume sei eine Nachbildung der einen Turmspitze in Originalgröße. Und ich hatte verwundert getan, als hätte sie mir etwas außerordentlich Erstaunliches mitgeteilt.

Auf der obersten Stufe der breiten Treppe blieb ich schließlich stehen, der Dom im Rücken wie eine pausenlose Provokation von Beständigkeit. Unten vor der Kreuzblume scharte sich eine Touristengruppe um die Reiseleiterin, mit erhobener Stimme redete sie auf die ihr zugewandten Gesichter ein. Aus den Straßen tropften unentwegt Menschen, sie rieselten in den Strom, der gemächlich die Stufen hinauftrieb, sich vor mir teilte, hinter mir wieder schloss und ins Domportal drängte.
Ich stand wie ein in den Boden gerammtes Hindernis, und ich dachte: Sie wird nicht kommen, sie hat es sich anders überlegt. Ich stellte mir vor, wie ich zurückfahren würde, ich stellte mir die Rückfronten der Häuser vor, wie sie teilnahmslos vorüberz.gen, und wie ich im Sitz lehnen und mir sagen würde, dass doch eigentlich alles beim Alten geblieben sei.
Da fiel mir eine Frau auf, am Rand der Touristengruppe. Ich sah sie von der Seite, im Profil. Sie trug ein hellblaues Sommerkleid und eine Sonnenbrille. Und sie war sehr schlank und schien groß zu sein. Mindestens einsachtundsiebzig, schätzte ich. Doch tatsächlich war mir das Haar aufgefallen, blond und in Wellen hing es auf ihren Rücken. Ich erkannte es sofort wieder, das Haar, das im Traum schon einmal auf meinem Kissen gelegen hatte und über das meine Hand gestrichen war.
Sie ist also doch gekommen, dachte ich. Und gleichzeitig war mir klar, dass es ja auch ganz anders sein könnte, dass die Frau da unten irgendjemand anderes war, irgendeine Nicole oder Ella oder Anja. Da wendete sie den Kopf, gerade als ich dachte, dass sie also doch gekommen sei und dass genauso gut sie es nicht sein könnte. In meine Richtung wendete sie sich um. Es war nicht auszumachen, ob sie ausdrücklich mich ansah, wegen der Sonnenbrille. Sie ging aber auf die Treppe zu und stieg mit dem Strom die Stufen hinauf, sehr direkt auf mich zu. Im Laufen nahm sie die Sonnenbrille ab und ließ sie in die Tasche fallen, die ihr über der Schulter hing.
Ich wagte es nicht, ihr geradeheraus entgegenzublicken, und sah halbwegs über sie hinweg auf die Kreuzblume. Zwei Stufen unter mir blieb sie stehen. Martin Heuser? fragte sie.
Ja, sagte ich und tat, als wäre ich aus tiefen Gedanken aufgeschreckt worden.
Sie stieg die letzten beiden Stufen hoch und streckte mir zwischen den vorwärtsdrängenden Menschen die Hand entgegen: Ich bin Claudia Arnsberg. Es freut mich, Sie kennenzulernen. Mit der freien Hand strich sie sich das Haar hinters Ohr. Ich wusste, dass Claudia neununddreißig Jahre alt war und dass ich ihr Haar im Traum schon einmal berührt hatte. Bis dahin hatte ich im großen Ganzen alles ganz gut im Griff gehabt. Doch jetzt stand die Frau, die sagte, sie sei Claudia Arnsberg, vor mir und drückte meine Hand und strich sich mit der anderen die Haarsträhne aus dem Gesicht, und ich sah schnell halb zur Seite zu den Domtürmen hoch, die während der letzten zehn Minuten nicht umgestürzt waren und auch jetzt keine Anstalten machten, zusammenzufallen. Ich habe sie verkannt, dachte ich, sie strahlen eindeutig eine Gewichtigkeit aus. Ja, diese Türme spendeten eine belangvolle Bedeutung, an der sich alles, was tief zu ihren Füßen herumwieselte, mühelos bedienen konnte. Ich hielt Claudias Hand, und ich lächelte. Nur im Kehlkopf klumpte ein Kloß zusammen, der sich nicht so ohne Weiteres von zwei Zeugnissen architektonischer Zuverlässigkeit beeindrucken ließ.
Haben Sie schon gegessen? Claudia blinzelte gegen das Sonnenlicht und hielt sich dann schützend die Hand, die die Strähne hinter das Ohr geschoben hatte, über die Augen. Ich verneinte und hätte beinahe, nur um auch einmal mehr als Ja und Nein zu sagen, verlauten lassen, ich müsse eigentlich nichts essen, als sie einen Vorschlag machte. Gleich dort drüben, sagte sie, gibt es ein Restaurant, das neu eröffnet hat. Wir könnten es ausprobieren. Wir arbeiteten uns gemeinsam gegen den Strom voran und gingen zum Gaffel hinüber. Ich hatte von der Neueröffnung in der Presse gelesen. Das Gaffel war ziemlich angesagt. Ich sagte etwas Ähnliches mit meiner knödeligen Stimme, während ich sie neben mir spürte wie etwas Leichtes, Flüchtiges. Sie lachte. Warum nicht? fragte sie, warum nicht was Angesagtes?
Dabei sah sie zu mir herüber, interessiert, vielleicht auch prüfend. Hier, im Schatten der Häuser, fiel mir ihre Augenfarbe auf. Veilchen, dachte ich, käme sie in einem alten Roman vor, hätte sie veilchenblaue Augen.

2 Rubina

Rubina brach auf, ließ das Lager an der Eisenbahn hinter sich und schleppte ihren Koffer durch die Siedlung. Er hing ihr um den Hals, mit jedem Schritt schlug er gegen den Bauch.
Es war das Jahr 1957, es war Juli, der Himmel glasig weiß, da, wo er am Ende der Siedlung hinter den Hausdächern wegtauchte, kräuselte er sich grau. Sicher würde es noch Regen geben, dann würde sie umkehren müssen. Sie ging von Haus zu Haus und setzte entschlossen ihren Zeigefinger auf die Klingelknöpfe. Dann legte sie den Daumen gegen den Verschluss des Koffers, ein leichter Druck und der Koffer sprang auf und war augenblicklich ein Bauchladen. Ordentlich aufgereiht war dort alles zu finden, was eine Hausfrau zum Nähen brauchte: Knöpfe in verschiedenen Größen und Farben Gummilitze für die Unterwäsche Nähgarn Nähnadeln Maßbänder Schneiderkreide. Die lückenlose Üppigkeit des Nähbedarfs vor ihrem Bauch, sagte Rubina ihren Spruch auf: Liebe Frau, fehlt Ihnen etwas, Nähgarn …
Nie war es nötig, den Spruch zu vervollständigen, denn spätestens nach dem Nähgarn wurde die Tür zugeschlagen. Um ein bisschen Abwechslung in das trübe Geschäft zu bringen, zog sie mal die Knöpfe vor, mal die Nähnadeln, mal die Gummilitze. Und wenn sie so gar nichts verkaufte und der verächtliche Blick der Mutter immer näher rückte, begann sie auch schon mal mit der Schneiderkreide. Liebe Frau, fehlt Ihnen etwas, Schneiderkreide … Schneiderkreide? Der junge Mann, der in der offenen Tür stand, zeigte sich interessiert: Was ist das? Könnte ich das gebrauchen?
Rubina machte erschrocken einen Schritt zurück. Der Mann hob beschwichtigend die Hände: Bitte, haben Sie keine Angst. Sie haben Glück, ich habe Urlaub, sonst hätte Ihnen niemand geöffnet.
Rubina sah auf ihren Bauchladen hinunter. Mit Schneiderkreide, sagte sie, kann man Markierungen auf Stoff anbringen, zum Beispiel wo der Saum genäht werden soll, sie lässt sich leicht wieder ausbürsten.
Sie drücken sich sehr gewählt aus, bemerkte der Mann und betrachtete sie interessiert.
Rubina sah auf. Sie sah dichtes blondes Haar, das wie ein paar Besenborsten in die Stirn des Mannes hing. Es war das Haar, das Rubina sofort Vertrauen einflößte. Und zu dem blonden Haar sagte sie: Ich lese viel, Bücher. Was für Bücher sie denn lese, wollte er wissen. Alles lese sie, was sie bekommen könne. Sie habe eine Freundin, die leihe ihr manchmal Bücher. Was sie denn gerade lese?
Rubina sah von den wirren blonden Haaren auf die sauber aufgereihten Knopfheftchen und Nähgarnrollen vor ihrem Bauch hinunter. Der Fall Mauritius, sagte sie leise. Jakob Wassermann? Der Mann nickte. Alle Achtung. Er strich sich langsam das Haar aus der Stirn, als nähme er sich einen Moment Zeit, um nachzudenken, und brauchte dann ihre Hilfe bei der Auswahl der Knöpfe. Sie wagte sich einen Schritt vor und sah ihm jetzt in die Augen, hellen blauen Augen. Und sie fand etwas in ihnen, das ihr angenehm war. Es war eine Klarheit, eine blanke Klarheit, die sie bisher nur in den Augen von Kindern gesehen hatte. Sie riet ihm, da er ja ein Mann sei, zu braunen Knöpfen und dazu passend zu einem braunen Nähgarn. Und die Schneiderkreide, erinnerte er sie. Er stopfte sich Knöpfe, Nähgarn und Schneiderkreide in die Hosentasche und ging ins Haus, um Geld zu holen. Rubina wartete an der Tür. Sie betrachtete gelbliche Fliesen am Boden, große schwarze Blumen an den Wänden und eine schmiedeeiserne Garderobe, an der ein Mantel hing. Und sie las den Namen an der Türklingel: Heuser.
Der Mann kam zurück mit einem Glas Wasser und einem Buch. Er reichte ihr das Glas und sagte, sie sähe müde aus. Sie bedankte sich und trank. Der Mann sah ihr zu und das Klare, Blanke in seinen Augen ruhte auf ihrer Hand, die das Glas hielt, wanderte zu ihrem Hals hinunter, wo sie mit jedem Schluck die Bewegung des Kehlkopfes spürte, und hob sich dann zu ihren Augen und begegnete ihrem Blick, der den Weg seiner Augen beobachtet hatte.
Sie hielt ihm schnell das leere Glas hin und bedankte sich noch einmal. Er stellte es hinter sich auf die Fliesen und legte ihr das Buch in den Bauchladen, auf die Nähutensilien. Ob sie Knut Hamsun kenne, fragte er. Sie schüttelte den Kopf. Er sagte, das sei ein norwegischer Schriftsteller. Er warf ihr einen fragenden Blick zu, wohl um zu prüfen, ob sie wisse, wo Norwegen liege.
Sie hielt seinem Blick stand und sagte, sie habe bishernoch nie einen skandinavischen Schriftsteller gelesen. Der Mann nickte zufrieden: Dann solle sie dieses Buch mitnehmen und lesen. Es sei sehr eindrucksvoll und berührend, der Schriftsteller sei zwar ein Nazi gewesen, aber das habe ja nichts mit seinen Büchern zu tun.
Sie holte schnell und tief Luft, schob den Bauchladen ein Stück von sich weg auf den Mann zu und bat ihn, das Buch dort hinunterzunehmen, sie wolle es nicht mitnehmen.
Er griff langsam nach dem Buch, und er sagte leise: Verzeihung. Aus seiner Hosentasche holte er ein Zweimarkstück und reichte es ihr und sagte noch einmal: Verzeihung. Sie schüttelte den Kopf: Sie habe kein Wechselgeld. Der Mann sagte, sie solle die zwei Mark als Bezahlung nehmen, sie habe ihn so gut beraten. Und ob sie es ihm übel nähme, die Sache mit dem Buch?
Sie schüttelte wieder den Kopf. Nein, sagte sie leise. Da streckte der Mann ihr über den Bauchladen hinweg seine Hand entgegen: Ich heiße Heiner, sagte er. Sie zögerte, sie sah auf das blonde Haar, das ihm schon wieder wie ein paar Besenborsten in der Stirn hing, und sie überlie. ihm ihre Hand und sagte: Ich bin Rubina.
Rubina, sagte Heiner andächtig: Das sei ein Name, der strahle wie ein Edelstein.
Rubina lächelte, und Heiner fragte, ob sie sich vielleicht einmal wiedersähen?
Samstags hätten sie einen Stand auf dem Markt, antwortete Rubina, dort könne er Stoffe und Tücher und Teppiche kaufen. Am selben Abend klopfte der Mann, der Heiner hieß und Knöpfe, Nähgarn und Schneiderkreide gekauft hatte, an die Tür ihres Wohnwagens. Vom Fenster aus hatte Rubina gesehen, wie er über den Platz kam, die zwischen den Wohnwagen spielenden Kinder fragte und auf ihren Wagen zuging. Es hatte geregnet, und vor der kurzen Holztreppe hatte sich eine Pfütze gebildet. Er stand in der Pfütze, ohne Rücksicht auf seine Schuhe zu nehmen. Der Großvater hatte die Tür geöffnet, und Heiner bat ihn höflich, mit Rubina sprechen zu dürfen. Rubina spreche nicht mit jedem dahergelaufenen Mann, antwortete der Großvater.
Heiner ließ sich nicht beirren. Er wolle Rubina etwas fragen, sagte er, etwas Wichtiges.
Was das denn wohl sei? wollte der Großvater wissen. Heiner zögerte, und dann sagte er: Er wolle Rubina fragen, ob sie zu ihm in sein Haus kommen wolle, er würde sie gerne heiraten.
Wenn Rubina heiraten wolle, dann müsse sie ihn, den Großvater, um Erlaubnis bitten, und er würde sie niemals einem Gadzo, der abends an die Tür klopfe, zur Frau geben.
Heiner zog aus seiner Hosentasche ein Portemonnaie: Zweitausend Mark habe er mitgebracht, die würde er dem Großvater geben, wenn er die Heirat erlaube.
Da war sie aufgestanden und zum Großvater an die Tür gegangen. Sie sah ihm über die Schulter, sie sah auf den jungen Mann herunter, von dem sie wusste, dass er Heiner Heuser hieß. Er stand in der Pfütze und musste schon nasse Füße haben. Sie sah in sein freundliches Gesicht. Sein Blick traf sie, blank und zärtlich. Sie kannte viele Blicke, verächtliche, gleichgültige, begehrliche. Mit einem solchen Blick, einem zärtlichen, hatte sie bisher nur einer angesehen, und das war vor langer Zeit gewesen.
Über die Schulter ihres Großvaters rief sie dem Mann Heiner in der Pfütze zu, ob er von ihr verlangen würde, das Kind, das sie einmal haben würden, wegzugeben. Heiners zärtlicher Blick verwirrte sich: Ein Kind weggeben? Warum sollte ich so etwas tun? Da sagte sie zu dem Großvater, er solle das Geld nehmen, sie würde mit dem Mann gehen und in seinem Haus leben. Es gab ein Palaver, und schließlich ging sie in den Wagen zurück und packte ihren Sack. Währenddessen dachte sie unentwegt daran, wie nass Heiners Fü.e inzwischen sein müssten. Die Mutter versuchte, sie festzuhalten, doch sie riss sich los, drängte den Großvater beiseite und stieg die Stufen hinab in die Pfütze. Sie stellte sich an Heiners Seite. Der zog das Geld aus seiner Geldtasche und reichte es dem Großvater hinauf.
Sie gingen nebeneinander über den Platz, und alle sahen, dass sie nun zueinander gehörten. Er hatte ihr den Sack abgenommen und über seine Schulter geworfen und nach ihrer Hand gegriffen. Die Mutter stand in der offenen Tür des Wagens und sah ihr nach. Rubina drehte sich noch einmal zu ihr um, und sie nahm den Blick der Mutter mit in ihr neues Leben, wie eine weitere Schuld. Während sie mit Heiner Hand in Hand durch die Straßen ging, sagte er, er sei Buchhändler und das habe ihm gefallen, dass sie so gerne lese, und die zweitausend Mark habe er im Lotto gewonnen, ein Auto habe er sich kaufen wollen undjetzt sei er froh, dass er es nicht getan habe.

25 Der Baum

Mein Schicksal, hatte ich gesagt und Claudia das Foto von meiner Mutter mit dem kleinen Gero überlassen. Wieso dein Schicksal, fragte sie, wieder sehr behutsam. Ich, in den Polstern meines Sofas, die Beine auf dem Tisch, noch das Summen des Motors im Ohr nach der stundenlangen Autofahrt und das Bild von Rubina vor Augen, wie sie Claudias Hand umklammert und mit den Fingerspitzen ihren Handrücken streichelt, ich suchte nach dem Weg zurück. Konnten wir es nicht bei dem belassen, bei dem, was wir bislang voneinander wussten? Warum sich noch weiter vorwagen? Jeder Schritt voran in die Vergangenheit konnte Unberechenbares heraufbeschwören. Sie war vermint, meine Vergangenheit, und ich hatte keine Ahnung, wo sie verborgen waren, die Minen, die bei der kleinsten Berührung explodieren konnten. Aber ich kannte ihre Sprengkraft, sie riss erbarmungslos auseinander, was man für fest verschweißt gehalten hatte. Wenn selbst Nähte, die doch eigentlich für die Ewigkeit eines Lebens gedacht waren, dieser Sprengkraft nicht widerstanden, was war dann erst mit einer Verbindung, die noch undichte Stellen aufwies? Die schon Gefahr lief, sich zu zerstören durch den schlichten Wunsch nach einer gemeinsamen Woche an der See?
Ich rührte mich nicht. Und Claudia schob mir zwei Finger ins Haar, vom Ohr an aufwärts bis auf den Oberkopf. Ich drehte mich zu ihr hin, ihr Unterarm jetzt vor meinen Augen. Langsam zog sie ihre Hand zurück, und als läse sie meine Gedanken aus meinem Gesicht, sagte sie: Es gibt nur die eine Chance für uns, radikale Offenheit. Nichts sonst kann ich akzeptieren. Ihre Pupillen erweitert, das Blau an den Rand gedrängt, als wollten die Augen diese radikale Offenheit demonstrieren. Ich machte eine Bewegung, sie zu mir heranzuziehen, um sie zu küssen. Doch sie wehrte mich ab: Du denkst sicher: Hier hat sie gesessen, es ist erst einige Wochen her, und war nicht in der Lage, meine Nähe zuzulassen und jetzt … ja, Martin, es hat mich Überwindung gekostet, aber ich habe mich überwunden, und jetzt will ich dich ganz, auch mit deinen stillen Gedanken und mit dem, was dir Angst macht.
Ich rutschte ihr entgegen, ich ließ den Kopf an ihre Brust fallen, in die weiche Elastizität, die nicht eigentlich nachgibt und doch ein Versinken zulässt, und ich rang mein Widerstreben nieder, vorerst: Wenn wir morgen früh aufstehen, dann reicht die Zeit noch, bis ich in die Redaktion muss. Ja, sagte sie leise, dann stehen wir früh auf.

Claudia hatte nicht nachgefragt, weder am Abend, noch am nächsten Morgen. Wir fuhren kurz nach sechs los. Im Stadtpark wurde es morgens jetzt schon ruhiger, die Vögel nahmen es hin, dass der Sommer seinen Abschied nicht mehr ausschloss.
Ich wählte die direkte Verbindung, die A40, der aufsteigenden Sonne entgegen. Am Kreuz Dortmund/Unna weiter auf der A44. Claudia hatte bei unserem Start nur einen schnellen Blick auf das Display des Navi geworfen und geschwiegen. Wir schwiegen auch während der anderthalb Stunden, die wir unterwegs waren. Nur einmal, noch in Essen, hatte sie mich gebeten, bei einem Bäcker zu halten. Sie hatte zwei Becher mit Kaffee und eine Tüte Brötchen gekauft, und dann hatten wir geschwiegen.
Ich war betont rücksichtsvoll gefahren, nicht so sehr aus Vorsatz, sondern weil mir unser einvernehmliches Schweigen guttat, weil ich es so lange wie möglich ausdehnen wollte. Ich folgte dem Navi, Ausfahrt Soest. Wir rollten südwärts über die Bundesstraße 229. Rechts und links Felder, mal ein Dorf oder Industrieansiedlungen. Wir passierten die Brücke über den Möhnesee und kurvten dann am Südufer entlang.
Als wir die Autobahn verlassen hatten, war Claudias Haltung straffer geworden, sie blickte aufmerksam um sich, als wäre die Gegend ihr bekannt, als suchte sie nach Anhaltspunkten für eine Erinnerung, die nur ein wenig aufgefrischt werden müsste, um wieder völlig präsent zu sein. Ich fand den Parkplatz am See, unterhalb des Waldes. Hier hielt ich. Wir sahen uns an, und ich sagte: Wir müssen ein Stück laufen. Claudia nickte. Zu Hause hatte sie gefragt: Soll ich Sandalen anziehen oder die Ballerinas? Ich hatte mir die Ballerinas zeigen lassen, und ich hatte zu den Ballerinas geraten. Vorher hatte sie im BH vor mir gestanden und mir ein T-Shirt hingehalten, schwarz oder dunkelblau: Ob das den Ansprüchen unseres Ausflugs genügen würde?
Ich hatte nach Spuren von Spott in ihrer Miene geforscht, aber sie hatte zweifelnd die Brauen zusammengezogen, als wäre sie tatsächlich unsicher über die angemessene Bekleidung für einen Tag, der meinem Schicksal gewidmet sein sollte und damit unter Umständen auch ihrem. Wir hielten uns erst an den Weg, dann führte ich Claudia den Wiesenhang hinauf. Ich ging voran durch das warme Gras.
Mit jedem Schritt scheuchte ich Schwärme von Insekten auf, die kopflos beiseitesurrten, perplex über diesen Angriff auf ihre bislang so harmonisch verlaufende Existenz. Ich spürte Claudia hinter mir, wie sie sich nach meinen Schritten richtete, wie sie der Schneise folgte, die ich in das Gras trat.
Wie ein Kind, schoss es mir durch den Kopf, vertrauensvoll wie ein Kind, das keine Wahl hat, das angewiesen ist auf den, der vor ihm her geht und den Weg weist. Einmal blieb ich stehen und sah mich um. Gleich traf mich der Schreck, als wäre ich Orpheus, der jetzt, mit diesem Zurückblicken, seine Euridike für immer verloren hätte. Doch Claudia, hinter mir mit erhitztem Gesicht, blickte fragend zu mir auf und drehte sich dann auch um. Unter uns der dunkle See, über uns der sommerliche Morgenhimmel mit einzelnen weißen Wolkenfeldern – die mustergültige Kulisse für einen gemeinsamen stimmigen Wanderausflug. Ich stieg weiter zum Wald hinauf, obwohl mir das Atmen schwer wurde und das Herz im Hals und in den Ohren wummerte. Als ich den Waldrand erreicht hatte, wandte ich mich nach links und spähte durch die erste Baumreihe. Ich erkannte ihn sofort. Vor zehn Jahren war ich das letzte Mal hier gewesen, und seitdem hatte er sich kaum verändert. In den gut drei Jahrzehnten, die ich ihn kannte, war er zwar kräftiger und höher geworden, trotzdem erkannte ich ihn jedes Mal wieder. Aber wie jedes vorherige Mal musste ich mich neu vergewissern, welcher Art er angehörte. Da, die Rotbuche, sagte ich. Meine Stimme rau. Und ich zeigte an den Stämmen des Waldrandes vorbei auf den Baum. Claudia nickte. Ihre Augen fragten. Sie verstand nicht.
Ich ging auf den Baum zu, ich presste den Rücken und die Arme an den Stamm, ich schloss die Augen. Ich wartete. Dann Claudias Stimme, hilflos, bittend: Mein Gott Martin, was willst du mir denn sagen? Ich hämmerte den Hinterkopf an den Stamm. Warum zum Teufel verstand sie es denn nicht? Und dann kam das, was ich hatte kommen sehen. Mich schüttelte ein Weinkrampf. Im Magen ballte er sich zusammen, zuckte unter den Bauchmuskeln, schnellte hoch und füllte die Kehle mit einem Druck, dem ich nicht standhielt. Ich rutschte den Stamm herab und rollte mich auf dem Waldboden am Fuß des Baumes zusammen.
Claudia war sofort bei mir, sie rüttelte meine Schulter: Martin, was ist hier passiert, schrie sie, sag es mir, du musst es mir sagen.
Sie trommelte mit den Fäusten auf mich ein, sie riss an meinem Arm herum, bis ich auf den Rücken rollte. Martin, sag es mir, schrie sie auf mich herab, hörst du mich, sage es mir. Ich öffnete die Augen. Sie weinte, sie hatte Angst. Ich zog sie zu mir herunter, doch sie stemmte sich dagegen. Du musst sprechen, brüllte sie, aussprechen musst du es. Ich richtete mich auf, ich stellte mich wieder an den Baum, presste Rücken und Arme gegen den Stamm. So, sagte ich leise, so hat sie mich gefesselt.
Gefesselt? Wer?
Ich antwortete nicht, ich sah sie nur an.
Rubina? flüsterte sie, du sagst, deine Mutter hat dich hier an diesen Baum gefesselt? Sie hatte es ausgesprochen. Es war gut, dass sie es ausgesprochen
hatte.
Es war November. Nebelig. Zwei Nächte. Zwei Tage. Dann haben sie mich gefunden. Claudia hatte die Hände vor das Gesicht geschlagen. Dort, hinter ihren Händen fragte sie: Wann? Wann war das?
Ich war elf.
Sie ließ die Hände herabfallen. Martin, sagte sie eindringlich, so etwas überlebt ein Kind nicht.
Ich klebte an dem Baum, mit dem Rücken, mit den Armen: Sie wollte nicht, dass ich sterbe. Sie war immer wieder hier. In hellem Sonnenlicht. Sie leuchtete in dem Licht. Um sie herum war alles dunkel, aber sie leuchtete. Und sie hat getanzt und gelacht und gesungen. Wenn sie nicht da war, habe ich auf sie gewartet. Und der Baum hat mir Tropfen abgegeben. Sie rannen den Stamm hinunter. Aber hauptsächlich habe ich gewartet, und dann kam sie auch immer. Aber ich hatte mich vollgepinkelt und in die Hose geschissen, mehrmals, immer auf den alten Brei noch einen drauf. Claudia riss mich weg. Sie weinte an meiner Schulter. Sie fror. Sie zerrte mich weg, weg von dem Baum, in die Sonne. Wir setzten uns an den Wiesenhang. Sie hielt meine Hand, sie streichelte meinen Handrücken, wie meine Mutter ihren gestreichelt hatte, und sie wollte alles wissen. Alles: Warum? Und ich? Und Rubina? Und überhaupt, wie es weitergegangen sei?
Die Sonnenwärme auf meinem Rücken sickerte durch die Haut, rieselte in mich hinein, und mit bemerkenswertem Gleichmut antwortete ich: Krankenhaus, zwei Wochen Krankenhaus. Lange nur im Nebel und ganz allmählich: die Wärmedecken, die Infusionen, die Schwestern, mein Vater, meine Oma, manchmal auch Robert. Robert hatte es aus ihr herausgelockt. Ich nehme an, sie konnte es nicht mehr trennen, Vergangenheit und Gegenwart, es vermischte sich. Und das verwirrte sie, oder es war schon die Verwirrung selbst. Sie kam dann in die Psychiatrie. Und seitdem ist sie dort? Claudia legte sich meine Hand an die Wange. Sie war ungefähr so alt wie du. Robert hat sie vor Jahren dort oben in den Norden verlegen lassen. Und dann sagte ich: Sie hatte mir vorher mein Lieblingsessen gekocht, Hefeklöße mit Kirschen. Das war Robert aufgefallen. Und warum? fragte Claudia in meinen Handteller hinein, warum hat sie gerade das getan? Wegen Gero? Oder wegen ihres kleinen Bruders? Weil sie damals ein Kind war und mit allem nicht fertig geworden ist? Sie hatte ja mein Buch gelesen, und nun legte sie sich alles zurecht. Das ging ganz mühelos, ganz schnell war aus einer Geschichte meine Geschichte geworden. Sie legte es sich zurecht, wie jeder, der es gelesen hatte und sich dann mich, den Autor, ansah und sich alles zurechtlegte. Doch dass sie alle, die mich auf diese Weise ansahen und meine Mutter auf noch schlimmere Weise angesehen hatten, dass sie alle daran beteiligt waren, auf den Gedanken kamen sie nicht.
Aber eine Geschichte brauchten sie, auf die sich alles zurückführen ließ. Anderenfalls müssten sie es ja aushalten, dass alles willkürlich geschah, dass sie uns ablehnten, weil ihnen unser Aussehen nicht passte, unser Anderssein. Das würden sie vor sich nicht vertreten können, nicht mit ihren liberalen Anschauungen, mit ihrer aufgeklärten Toleranz. Deshalb brauchten sie Geschichten, Geschichten, die ihnen taugliche Ursachen lieferten. Auch Claudia hatte eine Geschichte gebraucht, um mit sich selbst klarzukommen. Vor vier Jahren, da hatte sie das, was sie für ihre Geschichte gehalten hatte, aufgeschrieben. Deshalb saßen wir hier nebeneinander im Gras, hinter uns der Wald mit dem Baum und unter uns der Stausee. Weil sie diese Geschichte aufgeschrieben hatte, und ich sie gelesen hatte. Denn eine Geschichte wird erst zur Geschichte, wenn jemand sie gelesen hat.
Und dann war ich der Meinung, auch ich müsste eine Geschichte aufschreiben, und allmählich und ganz beiläufig wurde diese Geschichte jetzt zu meiner Geschichte. Denn zu Hause, auf meinem Tisch, da lag ein Foto, ein altes Foto. Und dieses Foto war plötzlich zu einem Beweisstück geworden, mit einem Mal bezeugte es die Geschichte, die ich geschrieben hatte. Und dann gab es noch die alte zerbrochene Frau, die mein Mutter gewesen war und die, wie jeder andere auch, nur ein einziges Leben gehabt hatte und die um dieses einzige Leben betrogen worden war. Auch sie machte aus einer hingeschriebenen Geschichte meine Geschichte.
Klammerte auch ich mich auch an Geschichten fest? Würde ich es sonst nicht ertragen – wie meine Mutter es nicht ertragen hatte?
So starrte ich vor mich hin, ohne auf Claudias Fragen zu antworten. Vielleicht waren ihre Fragen auch keine an mich gerichteten Fragen gewesen, denn sie griff, ohne dass ich etwas gesagt hatte, einen meiner Gedanken auf, und ich erkannte, dass ich sie wieder einmal unterschätzt hatte, und ich spürte eine schnelle warme Zuneigung für sie. Eigentlich, überlegte sie und deponierte meine Hand auf ihrem aufgestellten Knie, eigentlich sind wir ja schuld, ich meine wir – sie streckte den Arm und wies ins Tal hinunter – oder vielmehr die Vorfahren von denen, von den Deutschen, weil sie solche Ansichten, ich meine: solche Vorurteile in die Welt gesetzt haben.
Sie tat sich schwer, sich auszudrücken. Sie musste sich in Acht nehmen, in meiner Gegenwart keine abwertenden, keine diskriminierenden Begriffe zu gebrauchen. Das reizte mich. Obwohl mir eben noch warm geworden war, obwohl ich mich gerade noch darin bestätigt gesehen hatte: Sie ist anders, sie versteht es, mit ihr wird alles anders. Obwohl es mir so offenkundig erschienen war, reizte mich nun jedes Wort, das sie gesagt hatte, und ich fragte grob: Zigeuner stehlen kleine blonde Kinder, das meinst du mit Ansichten ?
Sie nickte: Das meinte man doch damals … Das meint man auch heute noch, erwiderte ich erbarmungslos. Sie wollte doch nicht geschont werden, warum also sollte ich Rücksicht nehmen auf ihre Feinfühligkeit? Das glaube ich nicht, behauptete sie und streichelte wieder über meine Hand auf ihrem Knie.
Ich zog die Hand zurück: Was du glaubst, zählt wenig, ich kann dir versichern, ich weiß, dass es so ist. Und außerdem, ändern würde sich für mich sowieso nichts. Ich bin das Kind meiner Mutter, und beide sind wir Verlorene, an die Zeit Verlorene.
Es klang einmal mehr sehr pathetisch, doch so war es nun einmal, es ging nicht ohne Pathos. Claudia schüttelte den Kopf. Nein, sie war nicht amüsiert, sie nahm mein Gerede ernst. Und sie gab nicht auf: Es würde etwas ändern, beharrte sie, für deine Kinder würde es etwas ändern, und für alle anderen Kinder auch. Vielleicht hatte sie recht, vielleicht auch nicht. Ich mochte nichts mehr dazu sagen, und eine Weile saßen wir still nebeneinander in der Sonne. Bienen, wie im Formationsflug, schossen über die Gräser hinweg, ein Käfer erklomm mühsam einen Halm, der sich unter dem Gewicht zum Boden neigte und den Käfer fallen ließ. Claudia stieß ihn mit dem Fingernagel an, sodass er wieder auf die Beine fand. Die ersten Segler, hingespritzte weiße Sprenkel auf dem dunklen See, legten Ferienstimmung nahe. Das Signalhorn eines Zuges wehte, wie ein dünner Faden eingesponnen in den leichten Wind, zu uns herauf.
Claudia brach unser Schweigen: Es ist so schön hier. Es ist alles so paradox, so unbegreiflich paradox. Weil es so schön sein kann. Und gleichzeitig so unerträglich. Ich stand auf. Ich musste zurück, ich wollte nicht zu spät kommen.

26 Notausgang

Ich erledigte meine Arbeit, schrieb sogar eine längere Rezension zu der schon im Frühjahr erschienen Novelle von Siegfied Lenz. Warum ich gerade heute mich dazu entschloss, darüber weigerte ich mich Rechenschaft abzulegen. Dabei war der Inhalt in seinen Einzelheiten mir schon weitgehend entfallen.
Ich ignorierte das Erstaunen meiner Kollegen, von denen erwartungsgemäß keiner sich dazu äußerte, die aber auch nicht darauf verzichteten, ihrer Verwunderung mit dem Klicken von Kugelschreibern oder dem Scharren von Fü.en Ausdruck zu verleihen.
Ich schrieb gegen schon längst erschienene Rezensionen an, die beinahe allesamt die kleine Liebesgeschichte zwischen einem Schüler und seiner Lehrerin lobten, aber ein Manko an Leidenschaft konstatierten. Diesen Punkt griff ich auf, und ich verteidigte eben diese fehlende Leidenschaft einer ersten Liebe, die ja nicht fehlte, sondern nicht ausdrücklich hervorgehoben war. Ich verteidigte sie mit der Begründung, nur so, gezügelt in der Ausdrucksweise, sei für den Erzähler eine solche ungleiche Liebesbeziehung überhaupt darzustellen. Ich las mir den Artikel anschließend nicht ein einziges Mal durch, aber ich spürte durchaus, dass während des Schreibens eine unheilvolle Stimmung in mir aufgezogen war. Ich führte es auf meinen Ausflug mit Claudia am Morgen zurück, dieses Gefühl der Gefahr, der Gefahr des Verlassenwerdens, des Ausgeliefertseins, ohne sich rühren zu können. Und wie jedes Mal, wenn diese Bedrohung heraufzog, bot sich auch dieses Mal nur die eine Möglichkeit, ihr zu entrinnen: sich ihr früh genug zu entziehen, es gar nicht erst so weit kommen zu lassen, plötzlich verlassen dazustehen. Auf das Rechtzeitig kam es an, auf den richtigen Zeitpunkt, einem Fortgeschicktwerden zuvorzukommen.
In dieser Gemütsverfassung, die ich nicht in klaren gesonderten Gedanken formulierte, die mich aber wie eine düster-diffuse Aura begleitete, ging ich durch den späten Sommerabend nach Hause. Dort würde Claudia auf mich warten, so hatten wir es vereinbart, erst am nächsten Vormittag wollte sie zurückfahren.
Claudia hatte eine Flasche Rotwein geöffnet, sie hatte ein Abendessen zubereitet und den kleinen Tisch in meiner Küche gedeckt. Ich betrachtete eingehend eine Schüssel mit Salat, und Teller, auf denen sich Tomaten unter zerlaufenem Käse duckten, und ich dachte: Henkersmahlzeit. Ich erschrak. Und gleich darauf erschien mir diese Eingebung als die logischste und präziseste, die mir heute zugeflogen war. Ich beobachtete Claudia, wie sie den Wein eingoss, wie sie immer wieder unsicher mit den Augen meine Richtung suchte, ohne mich wirklich anzusehen. Sie verbirgt etwas, vermutete ich. Und was sich hinter dem Etwas versteckte, das brauchte ich nicht lange zu analysieren, das erklärte sich mir von selbst. Ich hob das Weinglas, und ohne auf Claudias Geste, mit mir anzustoßen, einzugehen, trank ich es aus. Ich setzte es ab und stellte mich ans Fenster: die Straßenlaternen, der dunkle Park dahinter, schwarz, eine mondlose Nacht. Was für eine sinnlose Einrichtung, dachte ich, Tag Nacht Tag Nacht. Und ein ganzer Planet mit allem, was darauf war, hatte sich dem angepasst, seit Millionen von Jahren, und da er sich diesem Unfug nicht hatte entziehen können, hatte er alles dafür getan, es zu einer zweckvollen Institution zu erheben.
Ich drehte mich um. Claudia stand neben dem Tisch, mit hängenden Armen, und sah mir ängstlich entgegen. Ich blickte über sie hinweg auf die Küchenuhr über der Tür, und ich sagte über sie hinweg: Bevor unser beider Leben im Chaos versinkt, ist es besser, wir gehen getrennte Wege. Es war illusorisch, zu glauben, wir hielten so etwas wie Glück füreinander parat. Was wir einander anzubieten haben, ist nur unser Leid, und damit ist man besser allein. Claudia starrte mich an. Ich war ihr zuvorgekommen, sie schien überrumpelt.
Das meinst du jetzt nicht ernst … Sie versuchte zu lachen.
Mir fiel nur ein prosaisches Doch bitterernst ein. Du schickst mich also weg? Ihre Augen aufgerissen, ihre Lippen beinahe ohne Bewegung. Ich sorge für unsere Sicherheit, für meine und deine. Ich antwortete ruhig. Ja, ich war ruhig, ich war gefasst. Nur der Magen rebellierte, und das Herz, das Herz sowieso. Sicherheit? Was für eine Sicherheit? stieß Claudia hervor. Damit wir uns gegenseitig das Leben nicht noch schwerer machen … Ich suchte hinter mir Halt mit den Händen an der Fensterbank.
Hatte ich ein Mal darüber nachgedacht, wie Claudia reagieren könnte? Wie sie es aufnehmen würde? Welche Gefühle es auslösen würde? Ich war einem Impuls gefolgt. Ohne eine Überlegung, blindlings. Es ist für uns beide besser, wir gehen getrennte Wege … Ich hatte das ausgesprochen, was ein Mechanismus, der vor langer Zeit in meinem Leben einmal in Gang gesetzt worden war, von Zeit zu Zeit hochspülte, damit ich es in Worte formulierte.
Dass Claudia sie hören würde, dass sie eine Wirkung bei ihr hervorrufen würden, daran hatte ich keinen Gedanken verschwendet. Es überraschte mich ja selbst, das, was ich da so beherrscht gesagt hatte, auch wenn mir diese Worte, einmal ausgesprochen, folgerichtig und klar erschienen. Und hätte ich mich mit den Konsequenzen beschäftigt, hätte ich mich in Claudia versetzt, hätte ich mir eine Vorstellung gemacht … es wäre überflüssig gewesen. Denn mit dem, mit dem, was dann passierte, hätte ich ohnehin nicht gerechnet. Claudia griff sich mein Weinglas, mein leeres Weinglas, und schleuderte es auf mich. Ich wich ihm aus, es zerbarst mit einem Knall an der Fensterscheibe, Bruchstücke trafen mich im Nacken.
Und sie brüllte, die Augen schwarze Inseln in dem bleichen Gesicht, sie brüllte: Du schickst mich nicht weg, hörst du, mich jagst du nicht davon wie die anderen Frauen, bring mich um, wenn du mich loswerden willst, dann bring mich um, dann musst du mich umbringen …
Ich glotzte sie an, und ohne einen Sinn fiel mir nichts anderes als die Nachbarn ein: Es war bereits nach Mitternacht, jedes Wort würde man hören können, über uns, unter uns. Doch niemand klopfte mit dem Besenstiel an die Decke, niemand rief uns zur Räson. Wir standen uns gegenüber, Claudia mit vorgestrecktem Kopf, erschreckend bleich, mit bebenden Schultern, und ich, der ich hervorbrachte: So geht es doch nicht …
Was ich damit meinte, ob das Zusammenleben so nicht ginge oder ob eine Trennung so nicht zu bewerkstelligen sei, ich wusste es nicht. Ich wusste nur, Claudia hatte irgendwie die Spielregeln missachtet. Wo blieb das Weinen, das sich verletzt Zurückziehen? Wo blieb die Beschimpfung: Schuft, feiges Arschloch und was ich mir sonst noch hatte anhören müssen? Stattdessen: Bring mich um. Und es war noch längst nicht zu Ende: Ich bring mich nicht um. Ihre Stimme schrillte durch das stille Haus: Denk nicht, dass ich dir den Gefallen tue und mich umbringe. Du musst es machen …
Und dann flog das zweite Weinglas, ihr Glas, aus dem sie noch nicht getrunken hatte. Es prallte gegen meine Brust und zersprang auf dem Küchenboden vor meinen Füßen, und es markierte seine Flugbahn mit einer roten Spur über das Tischtuch, über die Teller mit dem K.seüberbackenen, wie ein Makel in einem Stillleben. Ich stand vor dem misslungenen Stillleben, ungerührt und fest entschlossen. Ich war mir meiner Sache sicher, verdammt sicher. Ich hatte den Notausgang gefunden, ich war gerettet, und was immer noch geschah, mir würde es nicht geschehen. Claudia mir gegenüber, mit kaltem Blick, ebenso unbeirrt wie ich, darauf wartend, dass ich sie aus dem Weg räumte. Bring mich um, hatte sie geschrien, und nun versperrte sie mir den Weg zur Tür, ich war gefangen in meiner Küche. Nur über meine Leiche, nur über meine Leiche, skandierten ihre Augen, die sonst so empathisch blau leuchtenden Augen, die jetzt unerbittlich schwarz auf den Mörder in mir lauerten. Und dann sackte sie zusammen, neben dem Tisch. In mir Panik: Hatte ich es getan? Nein, niemals, ich hatte mich doch überhaupt nicht gerührt. Claudia am Boden, ihre Handflächen klatschten auf die Fliesen, irrsinnig schnell, sie schrie und weinte, Unverständliches, Verzweifeltes.
Und in mir zerriss etwas. Ein klemmender Reißverschluss wurde gewaltsam aufgerissen, und alle Bedrückung, alle Trauer, alle Verzagtheit und Mutlosigkeit quoll hervor. Ich war allen Ernstes dabei zu morden, nicht mit meinen Händen, nein, ich mordete mit dem Wahnsinn, der sich in meinem Leben eingenistet hatte, der mir aufgezwungen worden war, der uns aufgezwungen worden war. Es war das erste Mal, dass ich uns dachte, ein solidarisches Uns. Ich sah sie mit ihren Wagen durch die feindseligen Städte ziehen, ich sah sie zusammengetrieben und verschleppt, und ich sah sie, wie sie auch heute kämpften und sich verzeifelt behaupteten, allen Anfeindungen zum Trotz. Wir, zu denen auch ich gehörte und die ich auf eine anständige Art zu vertreten hatte.
Ich stürzte zu Claudia hinunter, ich hielt sie, ich weinte, dass es mich schüttelte. Sie griff sofort nach mir, und wir umklammerten einander, während wir auf den Abgrund zutaumelten. Und so knieten wir miteinander, als an der Tür geklingelt wurde.
Wir schreckten hoch und lauschten. Es wurde an die Tür gehämmert, und jemand rief: Machen Sie auf, sonst müssen wir die Polizei verständigen. Bestürzt löste ich meine Arme von Claudia, doch sie rappelte sich auf. Vielleicht fühlte sie sich verantwortlich, sie hatte den Lärm gemacht, und sie war die Frau, einer Frau geschah Gewalt, sie musste sich zeigen, sie musste die Besorgnis zerstreuen.
Sie wischte sich mit einer Serviette über das Gesicht und strich ihr T-Shirt glatt. Ich hörte, wie sie die Tür öffnete und wie sie jeder möglichen Frage vorgriff: Es tut uns leid, wir hatten einen heftigen Streit, aber jetzt ist alles in Ordnung.
Ich hörte eine Stimme aus dem Hausflur, fordernd: Wo ist
Herr Heuser?
Und dann Claudia, mit heiser geschriener Stimme: Martin, kommst du bitte.
Mir war klar, das war mein Ende hier, ich würde mir eine andere Wohnung suchen müssen, kein Park mehr vor den Fenstern, kein bequemer Fußweg in die Redaktion. Ich stand neben Claudia in der offenen Tür, vor uns das Rentnerehepaar von unten, in gestreiften Bademänteln. Ich stammelte etwas von einem fürchterlichen Missverständnis, brachte mehrere Bitten um Entschuldigung für die Ruhestörung hervor.
Misstrauische Blicke ruhten auf meinem Hemd. Das ist Rotwein, erklärte ich schnell, und Claudia dazwischen, beinahe sanft: Wie gesagt, wir hatten einen heftigen Streit. Der Nachbar strich sich über das graue müde Gesicht: Herr Heuser, wir kennen Sie als hilfsbereiten, freundlichen Mann. Was sollen wir denn jetzt denken?
Und wieder Claudia mit zarter, wenn auch rauer Stimme: Hatten Sie denn nie eine Auseinandersetzung? Haben Sie sich nie gestritten?
Die Nachbarin zog ihren Mann am Ärmel: Komm, wir sollten wieder runtergehen.
Der Mann war noch nicht überzeugt: Können wir Sie jetztohne schlechtes Gewissen allein lassen?
Ich dankte ihnen, ich weiß nicht wofür. Dafür, dass sie Claudia und mich vom Küchenboden aufgehoben hatten? Der Nachbar hob abwehrend die Hand und wandte sich zur Treppe, seine Frau hakte sich bei ihm unter. Claudia wartete, bis sie um den Treppenabsatz verschwunden waren, und schloss leise die Tür. Wir fielen beide auf mein Bett, und dort lagen wir nebeneinander, nur unsere Hände berührten sich. Es gab nichts, was wir uns hätten sagen können. Also lagen wir stumm nebeneinander. Nur Claudia sagte einmal: Wir sollten morgen Blumen besorgen und die Leute zum Kaffee einladen.
Und ich dachte, dass sie wohl heute meinte.

27 Das Meer

Schaumflocken, gerade der Brandung entkommen, fliehen über den Sand, bringen sich in Sicherheit vor der nächsten Welle. Das zurücklaufende Wasser will mich zu Fall bringen, schwemmt mir den Sand unter den Fü.en weg. Ich ziehe mich einige Schritte zurück und sehe auf das Meer hinaus, auf das Blau, das unentwegt seine Farbe ändert und sich am Horizont mit dem diesigen Blau des Himmels mischt und das so unbegreiflich blendendweiße Wellenkämme hervortreibt. Und ich frage mich, wie man jemandem, der es nicht kennt, das Meer beschreiben soll, ohne in Kitsch und Klischees abzusinken. Vielleicht ist das Meer nicht in erster Linie Farbe, sondern Kraft, Wucht, die gegen das Land anläuft, das Land, das die Gewalt des Meeres sanft auffängt, wenigstens hier am Strand. Oder es ist Schall, urtümliches brausendes Gedonner, im Einklang mit dem Wind, mit den Schreien der Seemöwen. Oder es ist Beständigkeit, es ist Alter, es ist Millionen an Jahren währende Stetigkeit. Ich pfeife nach dem Hund, der einen Schwarm Seevögel aufscheucht. Er stürmt auf mich zu, mit angelegten Ohren, ein glückliches Hundegrinsen im Gesicht. Hinter mir höre ich das Lachen der Kinder, von den Böen in Fetzen gerissen. Ich bleibe stehen und bücke mich lobend zu dem Hund hinunter.
Ich drehe mich um: Claudia zwischen den Kindern, der Wind drückt ihr das Haar dicht an den Kopf. Ich blicke wieder auf das Meer hinaus. Irgendwo dort hinten entscheidet es sich, das Meer, Sekunde für Sekunde, immer wieder entscheidet es sich, dem Land entgegenzurollen und sich umgehend wieder zurückzunehmen, und das seit Millionen von Jahren auf die immer gleiche Weise, in ununterbrochener
Beharrlichkeit.
Und ich denke das, was gewöhnlicherweise an dieser Stelle gedacht werden muss: Wie elend klein in der Zeit und wie sprunghaft ist dagegen ein Menschenleben, ist dein Leben …
Aber warum füllt es dann, jedes einzelne Leben, bei dieser Winzigkeit, mit seinen Sehnsüchten und Ängsten eine ganze Welt?