Leseprobe: Sina Lippmann – “Wofür wir spielten”

Prolog

Das Unwetter kündigte seinen Auftritt mit einem tiefen Räuspern an. Als die ersten schweren Tropfen in die Oberfläche des Flusses klatschten, rafften wir Murmeln, Zinnsoldaten und den „König Forunculus“ zusammen, wieherten noch ein letztes Mal in Richtung Himmel und rannten mit zurück geworfenen Köpfen durch die Kornfelder in die rettende Deckung unserer Elternhäuser.
„Josephine, willst Du nicht mal mit der Annegret von nebenan spielen, das ist so ein nettes Mädchen?“ hatte meine Mutter am Morgen schon wieder gefragt.
Ich wollte davon nichts hören. Wollte nichts zu tun haben mit dem langweiligen Nachbarskind, das in Spitzensommerkleid und Lackschuhen einen Miniaturkinderwagen die Straße auf und ab schob, als wäre das Leben ein niemals endender Sonntagsspaziergang. Ich folgte lieber den Jungs-Banden meiner beiden großen Brüder. Sobald die Schule vorbei war, feuerten wir die Ranzen in die Ecken unserer Zimmer, bewaffneten uns mit Steinschleudern, Holzgewehren und Fesselseilen und begannen den Streifzug durch das Dorf. Ein ganzes Königreich gab es dort für uns zu erobern. Wir kletterten auf die Trümmer des abgerissenen Hauses am Ende der Straße und suchten unter den Steinen nach verborgenen Schätzen. Mit Tritten und Hieben rangelten wir um unsere Beute, als handele es sich um Stücke aus einem englischen Auktionshaus und nicht bloß um Glasscherben und Teppichreste. Unter Triumphgebrüll rannten wir hinunter zum Fluss. Wir bauten Weidenruten-Paläste an seinem Ufer, richteten sie mit unseren Fundstücken ein und gaben ihnen Namen – „Finsterkerker“, „Waffenhammerkammer“, „Trilliardenleuchtersaal“. Soldaten, Könige und Diener ließen wir aufmarschieren, während die Sonne gemächlich sank. Wir schwangen an Astschaukeln über dem wildgrünen Wasser und ließen uns mit dem Hintern zuerst hinein plumpsen, wir bewarfen uns im Sommer mit Matsch und im Winter mit Schnee, wir kugelten den Hügel hinab bis wir uns zu einem Knäuel ineinander verkeilt hatten. Wir waren Tiger und Bären, Cowboys und Indianer, wir waren Trolle und Drachen, Könige und Vagabunden. Wir lachten bis wir weinten, wir schrien, wir kämpften, wir fluchten, wir jubelten und fauchten.
Es gab keine Welt jenseits der von uns soeben erschaffenen.
Nur ein übler Wetterumschwung oder das ewig überraschende Einsetzen der Dämmerung konnte uns auf den Heimweg zwingen. Zerkratzt, verdreckt und niemals pünktlich schlichen wir von diesen Streifzügen nach Hause an den Abendbrottisch, begleitet von vorwurfsvollen Blicken unserer Eltern, die bereits in einvernehmlichem Schweigen nebeneinander auf der Küchenbank saßen und warteten.
Gegessen wurde, das war das oberste Gebot unseres Vaters, immer mit der gesamten Familie. So hockten wir drei vor unseren Tellern, mit Erdspuren unter den Nägeln und scharfkralligen Kletten im Haar. Nach außen taten wir schuldbewusst, aber heimlich zwinkerten wir uns zu, erfüllt von einer Glückseligkeit, wie sie wohl nur Eroberern neuer Kontinente bekannt sein dürfte.
Wenn wir später im Badezimmer standen, mit nackten Kinderfüßen auf eiskalten Fliesen und uns bettfertig schrubbten, spürten wir dann und wann einen plötzlichen Schmerz im Finger, den wir den ganzen Tag schon mit uns herumgetragen hatten, der sich aber erst jetzt seinen Weg bahnen konnte, die Baumkletterwagnisse, Drachenhöhlenbezwingungen und Flusswasserschlachten hinter sich schiebend. Da saß der Splitter. Kaum sichtbar und so tief ins Fleisch gebohrt, dass selbst ein Hantieren mit der Pinzette nichts gegen ihn ausrichten konnte.
„Der wächst sich raus“, sagte die Mutter dann zu uns.

Manche bleiben.

ERSTER TEIL

0.

Josephine sah zu, wie die Wischerblätter den Schnee in parallelen Halbkreisen von ihrer Scheibe schoben.
Unaufhörlich schabten sie ein Fenster zur Welt frei, dabei blieb am Ende jeder Bewegung ein winziger Rest Schnee zusammengepresst unten auf der Scheibe liegen, so dass die Freiflächen kaum merklich immer ein bisschen kleiner wurden.
Hinter ihr hupte es. Josephine zuckte zusammen, hob entschuldigend die rechte Hand und trat aufs Gaspedal. Die Uhr unterhalb der Tachonadel zeigte halb neun an, sie war spät dran und Herr Hofstätter wartete nicht gern. Erst als sie den Häuserblock am Stuttgarter Platz zum dritten Mal umkreiste, fand sie eine Lücke hinter einem Lieferwagen, in die sie ihren alten Ford Fiesta vorsichtig hineinmanövrierte.
Sie griff nach der für diese Temperaturen eigentlich zu dünne Jacke, holte den Plastiksack mit Putzmitteln aus dem Kofferraum und lief mit eingezogenem Kopf zum Haus ihres ersten Klienten für heute. Beim Anblick des Wetters wäre sie am liebsten im Bett geblieben, außerdem schmerzten bei der Kälte ihre Gelenke. Aber sie war auf das Geld angewiesen und Herr Hofstätter gab manchmal sogar ein Trinkgeld. Er stand schon in der offenen Wohnungstür, als sie das vierte Stockwerk der Leonhardtstraße Nummer 3 erreichte.
„Na, Fräulein Josephine, haben wir etwa heute ein bisschen zu lang geschlafen?“ Ein schelmisches Lächeln huschte über seine Mundwinkel. Er trug einen seidenen roten Morgenmantel und hatte sein weißes Haar sorgsam zurückgekämmt. Sie murmelte eine Entschuldigung, huschte an ihm und der großen Bücherschrankwand im Flur vorbei und machte sich in der Küche daran, die Spülmaschine einzuräumen. Einen Teller, Messer, Gabel, ein Wasserglas, ein Weinglas, manchmal dauerte es bis zum Ende der Woche, dass es sich überhaupt lohnte, die Maschine anzustellen. Herrn Hofstätters schwindende Sehkraft hatte dazu geführt, dass seine Töchter sich bei ihren seltenen Besuchen immer häufiger über Reste von Eigelb, Spuren von klebrigen Soßen und festsitzende Krümel auf dem Geschirr beschwert und schließlich den Kampf um den Kauf einer „tosenden Minna“, wie Herr Hofstätter die Spülmaschine verächtlich nannte, gewonnen hatten. Allerdings unter der Bedingung, dass er keinen näheren Kontakt zu ihr aufnehmen müsste. Das war zu einer von Josephines Aufgaben geworden, die sie an drei Tagen in der Woche erfüllte. An den anderen Tagen, außer am Sonntag, kam eine weitere Pflegekraft, der Josephine bisher aber nur ein einziges Mal per Zufall im Treppenhaus begegnet war, weil sie sich im Datum geirrt und statt am Freitag aus Versehen schon am Donnerstag gekommen war.
Eine junge Frau war das gewesen, Mitte zwanzig, schätzte Josephine, die in einem blau-weiß geblümten Sommerkleid und mit wippendem Pferdeschwanz vor ihr die Stufen mit leichten Schritten erklommen hatte. Als sie einige Stockwerke über sich dann das Klopfen an einer Tür und ein „Herr Hofstätter, ich bin es, Bettina, ihre Betreuerin“ vernahm, erkannte sie ihren eigenen Fehler und drehte leise auf dem Absatz um.
Sie sprühte das Spülbecken mit dem Küchenreiniger an, schäumte und schrubbte mit einem Schwamm so kräftig wie möglich und beobachtete dann, wie die Seifenblasen, vom Wasserstrahl gelenkt, langsam in den Abguss trudelten.
„Josephine, wo bleiben Sie denn? Lassen Sie das mal sein, ist doch alles sauber, soviel Dreck mache ich doch gar nicht.“
Herr Hofstätter hatte offenbar bereits in seinem Sessel im Wohnzimmer Platz genommen.
„Wir haben einiges zu tun, in der Sonntagsausgabe stehen immer besonders viele drin.“
Er hatte den „Tagesspiegel“ bereits aufgeschlagen, Josephine setzte sich neben ihn auf einen Stuhl und griff nach ihrer Lesebrille. Was in der Welt, im Sport und in Berlin passierte, interessierte Herrn Hofstätter schon lange nicht mehr. Das Feuilleton durfte sie gelegentlich vorlesen, aber am wichtigsten waren ihm die Todesanzeigen. Er brannte geradezu darauf zu erfahren, wen es erwischt hatte.
Besonders die 1930er Jahre, also die seinem eigenen Geburtsdatum am nächsten gelegenen, weckten seine Neugier. Die musste sie immer als erstes heraussuchen. Er legte großen Wert darauf, dass sie den Text vollständig und exakt vortrug, mehrfach wiederholte und seine Nachfragen zur Anzahl der genannten Trauernden, zum Ursprung des jeweiligen Bibelzitats und zur grafischen Gestaltung der Anzeige geduldig beantwortete. Manchmal kannte er jemanden, dann erzählte er ihr von seinen Erinnerungen an die Person. Bei jeder Anzeige spekulierte er ausführlich über die mögliche Todesursache und fragte Josephine nach ihrer Meinung. Ihre Spezialität wiederum war das Phantasieren über die berufliche Laufbahn der Verstorbenen, manchmal anhand von vorhandenen Hinweisen, oft aber dachte sie sich eine Karriere einzig und allein anhand des Namens aus. So hatte sich ein Spiel zwischen ihnen entwickelt, dass alle Mensch-ärgere-dich-nicht-Runden und Fotoalben-Durchsichten überdauert hatte.
„Na, dann wollen wir mal,“ sie breitete die Zeitung auf ihrem Schoß aus. Die Doppelseite sah mit den schwarzen Kästen der am gleichen Tag Verstorbenen selbst beinahe aus wie ein Friedhof. Die vermeintlich Wichtigen lagen in ihren großen Schriftgräbern und dazwischen gezwängt die sogenannten Normalsterblichen, fast als lägen sie in genau dieser Anordnung bereits unter der Erde. Nicht mal ganz am Ende konnte man sich seine Nachbarn aussuchen, dachte sie und glitt mit dem Zeigefinger über die Buchstaben.
Dann sah sie ihn.
Markus Weidenberger, in der linken unteren Ecke.
Nach kurzer schwerer Krankheit hat er die Bühne der Welt viel zu früh verlassen.
Geburtsdatum, Todestag, die Namen der traurig Zurückgelassenen, Ort und Uhrzeit der Beisetzung. Heute schon, um zehn Uhr. Darunter ein Segensspruch. Das blieb?
Von einem Leben? Keine sechzig, viel zu…was? Jung? Das interessierte den Krebs nicht.
Der hätte mich genauso erwischen können, ich bin ja nur ein paar Jahre drunter und geraucht wie die Schlote und ungesund gelebt hatten wir damals schließlich alle, dachte Josephine.
Sie hätte vielleicht zu ihm gehen sollen an dem Tag, als seine Vergissmeinnicht-Karte in ihrem Briefkasten lag. Auf der Rückseite: Von Herzen alles Liebe zu Dir. Ich bin sehr müde in letzter Zeit, aber ich schreibe endlich mein Leben auf. Ihr gehört zu dem Besten darin. Danke für die Lichtjahre. Markus von den Antigonisten. Diese Karten waren ihre einzige Verbindung geblieben, als alles andere längst aufgelöst war. Markus hatte nie aufgehört zu spielen. Puppentheater mit Kindern auf Neufundland, Straßentheater mit mexikanischen Frauen, denen die Töchter gewaltsam entrissen worden waren. Von jeder dieser Reisen hatte er ihr seine Pappbildergrüße geschickt. Sie bewahrte sie alle auf, hatte sie mit rot-grün-orange-blauen Stecknadeln in die Wand neben ihrem Bett gepiekt und sich beim Einschlafen an seine Fersen geheftet. So bretterte sie auf Markus´ Beifahrersitz durch die marokkanische Wüste, begleitete ihn als Rucksacktouristin zu den umwucherten Tempeln von Angkor Wat und bestaunte neben ihm die Eisberge auf ihrer behäbigen Reise vom isländischen Jökulsárlón-Gletscher ins Meer. Wie schaffen die einen derart weiten Weg, ohne dabei zu schmelzen, fragte sie sich.
„Was haben Sie denn, Fräulein Josephine, kennen Sie etwa jemanden?“ Erst als die Stimme von Herrn Hofstätter sie aus ihren Gedanken riss, bemerkte sie, dass es auf die Zeitung tropfte und den dazu passenden salzigen Geschmack auf ihren Lippen. Sie stand auf, zog sich ihre Jacke an und steckte die Todesanzeigenseite in die Tasche.
„Es tut mir sehr leid Herr Hofstetter, ich muss mich von jemandem verabschieden, der einmal sehr wichtig für mich war. Vielleicht schaffe ich es, am späten Nachmittag nochmal bei Ihnen vorbeizukommen. Verzeihen Sie mir bitte.“
Als sie an seinem Sessel vorbei zur Wohnungstür ging, streckte er seine in ihre Richtung. Darauf lag eine Packung Taschentücher und die weiße Rose, die gerade noch in der Vase auf seinem Wohnzimmertisch gestanden hatte. Beides nahm sie dankbar entgegen. Dann spurtete sie los.
Das Ensemble aus Engeln, Kreuzen und quadratischen Steinen schaute ratlos ins Weiß und schien sich nicht mehr ganz sicher zu sein, ob jeder noch an seinem richtigen Platz stand. Der Schnee hatte die Grenzen zwischen den Gräbern des Stahnsdorfer Waldfriedhofs über Nacht verwischt.
Josephine suchte Markus und wollte ihn zugleich auf keinen Fall finden. Efeu versuchte schnellstmöglich von hier zu entkommen und nutzte jeden Ast und jeden Rindenknoten der knorrigen Buche als Trittleiter in die Höhe. Auf einen Baumstumpf hatte jemand einen sehr kleinen Schneemann gepflanzt. Er reckte das mickerige Stöckchen im Arm drohend gen Himmel, als wollte er damit seinem alten Erzfeind dort oben den Kampf ansagen.
„Aussichtslos,“ rief sie ihm in Gedanken zu.
Sie wusste keine Richtung, also folgte sie den Spuren des Morgens am Boden. Einer Dame mit spitzen Absätzen, einem Vogel mit großen Krallen, einem Rollator mit jemandem im Schlepptau, einem Schlitten gezogen von einem Mann in Wanderschuhen, einem Eichhörnchen, zwei Fahrrädern. Die hatten sicher alle ein Ziel.
Der Ausgang kam in Sichtweite und damit die Möglichkeit eines Irrtums. Vielleicht war es doch nicht sein Name gewesen auf der Todesanzeigenseite des Tagesspiegels gewesen. Sie tastete nach der Zeitung in ihrer Jackentasche und wollte schon durch die hintere Friedhofspforte hinaus huschen, da lagen sie. Auf der linken Seite, ganz nah am Weg. Die monströsen Blumenberge und das schwarze Loch im Schnee. Sein Name auf allen Schleifen. Sie warf ihre einzelne weiße Rose zu den anderen frierenden Blüten, wo sie nun auch zusammenbrechen und verenden durfte.
Den Gottesdienst und die Beisetzung hatte sie durch die Spurensuche über den Friedhof versäumt. Das kam ihr gelegen, denn die Kirche bedeutete ihr schon lange nichts mehr und sie wollte mit ihm allein sein, mit ihm da unten in seiner Kiste. Sie hoffte, dass sie ihm die löcherige Jeans und den braunen Lederhut gelassen und ihn nicht in eines dieser weißen Nachthemden gesteckt hatten. Das wäre das falsche Kostüm für den letzten Auftritt gewesen. Sie blickte sich um, ging dann in die Hocke, als könnte er sie so besser hören.
Erst wusste sie nicht, was sie sagen sollte, schließlich flüsterte sie ihm zu:
„Gestern war ich im Deutschen Theater und habe mir ein Flüchtlingsstück von diesen Doku-Theater-Leuten angeschaut. Das hätte dir, glaube ich, gefallen. Wir Zuschauer haben mit Gießkannen, Eimern, Flaschen, sogar mit Schlauchboot und Paddel das Wasserstück von John Cage nachgespielt. Weißt du noch, diese irre Nummer, wo er in der Fernseh-Show auftritt, alles in Schwarz-Weiß damals. Cage rennt wie ein Verrückter durch die Gegend, hebt den Deckel von einem pfeifenden Wasserkessel hoch, stellt eine Vase in eine Badewanne und gießt die Blumen darin, versenkt einen Gong in der Wanne, schaltet den Mixer mit Eiswürfeln an, so dass sie anfangen wie wild darin zu tanzen. Dann der Blick vom Fernseh-Moderator, als Cage das Glas mit dem Wein selbst austrinkt und Stephan kippt in deiner WG vor Lachen fast von seinem Podest.
Im Theater sollte ich auf einen Wasserspritz-Hai aus Gummi drücken, einen langgezogenen quietschenden Ton hat das Biest von sich gegeben. Über Kopfhörer haben wir dazu die Geschichten von fünf Flüchtlingsjungen gehört, die erzählten, wie sie mit einem Schlauchboot, das viel zu klein für viel zu viele Menschen war, über das Mittelmeer gekommen sind.
Wie sie nicht aufhören durften zu paddeln, wie das Wasser knapp wurde, wie sie jeden Tag die Telefonnummer ihrer Mutter angerufen haben, die zu Hause geblieben war und wie dort seit drei Jahren niemand den Hörer abnimmt. Heute leben die Jungen in der Schweiz und sagen, es ist ihnen egal, wie das Land heißt, in dem sie leben. Iran, Griechenland oder Deutschland, Hauptsache sie sind in Sicherheit. Sicher ist nur der Tod, das hast du mir damals immer gesagt.“

Eine Drossel huschte unter den tief hängenden Zweigen einer Tanne hervor, hielt inne, schaute mit schwarzen Augen und geneigtem Kopf zurück in den Baum, strich sich mit dem Schnabel über den zerzausten Flügel und hüpfte davon.

Josephine griff in den Schnee, formte eine Eiskugel und schleuderte sie ins Zentrum des Blumenbergs.
„Au revoir, du verrückter Markus, ich werde dich schon nicht vergessen, keine Angst. Mach es gut.“
Langsam stand sie auf. Es hatte erneut zu schneien angefangen, dicke Flocken suchten Halt in ihren Haaren, auf ihrer Jacke, ihren Stiefeln. Sie spürte ihre Finger kaum noch, die Kälte hatte die Muskeln lahmgelegt. Sie schlug die Hände gegeneinander, wandte sich von Markus ab, wollte gehen.

Da standen sie.

Sylvie.
Tom.
Stephan.
Hans.

Ihre Splitter.


Die beste Zeit ihres. Als es mit ihnen zu Ende. Schlimmste.
Der Rest war. Schweigen. Aber ihre Gesichter, Stimmen, Gerüche. Jeden einzelnen Tag. All die Jahrzehnte. Kein. Jetzt waren sie plötzlich. Älter geworden. Sie ja schließlich.
Beinahe nicht erkannt, aber nur. Genauso wie. Damals.

Dichte Flocken fielen vor ihren Gesichtern. Wie eine Bildstörung im eigenen Blickfeld, dachte sie.
Der Grund unter ihr schwankte, taute, gab nach. Sie rannte weg, bedeckte sich mit schaufelweise Schnee, wartete, zu einer Mumie erstarrt, dass die anderen verschwinden würden.
Sie spuckte ihnen ins Gesicht, stieß sie alle ins offene Grab, warf Steine nach ihnen. Sie stürzte sich in ihre Arme. Nichts davon geschah.
Stattdessen versuchte sie sich an ihnen vorbei zu schieben, sich einen Weg durch ihren Halbkreis aus schwarzen Wintermänteln zu bahnen. Sie versuchte zum Friedhofstor gelangen. Fast war sie entkommen, setzte ihre Füße schon auf den Weg, der zum Ausgang führte, sog die eisige Winterluft tief in die Lungen. Da griff Stephan nach ihrem Handgelenk und machte die Flucht unmöglich. Seine Hand war warm und trocken, die Haut eines Elefanten. Dabei hatte sie immer gedacht, dass es ihn zuerst erwischen würde, dass er der erste von ihnen sein würde, den der Tod sich schnappt. Aber er schien den Tanz am Rande des Abgrunds, den er damals so intensiv getanzt hatte, halbwegs unbeschadet überstanden zu haben. Er zog sie zu sich heran. Immer noch die gleichen Eiswasseraugen.
„Josie, warte. Bitte.“

Black.

West-Berlin, 1987

1.

Josephine drückt die Klinke des Hoftors nach unten und bringt sich in Kontakt zur Stadt. Vorbei an dem Graffitivogel, der an der Hauswand sitzt, die Muskauer Straße entlang. Premierenabend. Auf dem Weg zum Theater muss sie noch einmal durch den Text. Sie lernt ihn immer im Gehen. Nur so verfangen die Worte, die Schritte pressen sie in ihre Hirnwindungen.
An gewöhnlichen Tagen zieht sie sich in ihre Rolle wie in ein Schneckengehäuse zurück, blendet den Weltrest völlig aus.
Andere Passanten halten sie wahrscheinlich für leicht verrückt, wenn sie beobachten wie sie, murmel, murmel, über rote Ampeln läuft, plötzlich mitten in der Bewegung stehen bleibt, zum Himmel blickt, murmel, murmel, auf dem Absatz kehrt macht, um dann, murmel, murmel, schnell in die entgegengesetzte Richtung weiterzulaufen. Manchmal trifft sie auf diesen Wortspaziergängen einen anderen Murmeler, als begegneten sich zwei Außerirdische zufällig auf der Erde. Ein kurzes Erkennungsnicken und weiter geht die Reise. Murmel, murmel. Es sind Zeiten höchster Konzentration, mühevoll und intensiv.
Aber heute ist kein gewöhnlicher Tag und das Premierenadrenalin macht ihren Körper federleicht. Etwas verschiebt sich, Welt und Text sind nur zwei Varianten desselben Gedankens.
Eine Tür fällt ins Schloss und einer alten Dame, die davor steht, ein 50-Pfennigstück aus der Geldbörse. Es rollt in Richtung Gulli im Rinnstein.
„O Grab, o Brautgemach, o unterirdische Behausung, die mich ewig in Gewahrsam hält, wohin ich gehe zu den Meinen, deren meiste schon Persephone im Totenreich empfangen hat, nachdem sie umgekommen.“
Josephine stellt geschwind ihren Schuh auf die Münze und gibt sie der Frau zurück. Die dankt. Weiter, weiter jetzt. Ein Mädchen mit blondem Pferdeschwanz läuft aufgeregt zu seiner Mutter, die ein Baby im Kinderwagen schiebt. In den Händen hält die Kleine einen toten Schmetterling, aufgebahrt.
„Doch starke Hoffnung heg ich, wenn ich komme, dass lieb ich komm dem Vater, und geliebt dir, Mutter, lieb auch dir, du brüderliches Haupt. Denn als ihr starbt, hab ich mit eignen Händen gewaschen euch, geschmückt und Güsse über eurem Grab gespendet; aber jetzt, da Polyneikes, deinen Leib ich habe hergerichtet, ernt ich solchen Lohn, und tat doch recht im Urteil der Vernünftigen, zu ehren dich.“
Da ist sie, die niedrige Bank vor dem Straßeneck-Haus, von der die rosa Farbe abblättert und die so aussieht als würde sie sich genauso verdrießlich wie vergeblich nach einem müden Passanten sehnen, der sich auf ihr niederlässt.
„Denn nie, wär ich von Kindern Mutter auch gewesen, noch wär ein Gatte mir im Tod dahingeschwunden, hätt ich den Bürgern trotzend diese Müh mir auferlegt. Stürb mir der Gatte, könnt ich einen andern finden, bekäm von ihm ein Kind auch, hätt ich eins verloren. Da aber Mutter mir und Vater ruhn in Hades´ Reich geborgen, gibt´s keinen Bruder mehr, der je mir wüchs heran.“
Ein Großvater zerrt seine Enkelin von den bunten Kaugummikugeln fort, die hinter den Plexiglasscheiben eines mit Aufklebern übersätem Automaten liegen und die sie wahrscheinlich so gern befreien würde.
„Und nun führt er mich weg, mit Händen so mich greifend, ohne Brautbett, ohne Hochzeit, nicht der Ehe Teil erlangend, nicht das Glück, mir Kinder großzuziehn, nein, so verlassen von den Lieben gehe ich, die Unglückselige, lebend in der Toten Gruft.“
Ein Löwenzahn, der sich durch eine Ritze im Asphalt gekämpft hat und nun seine Blätter in Richtung der Wasserpumpe reckt.
„Welches Recht der Götter hab ich denn verletzt? Was soll ich Arme noch zu Göttern aufblicken? Wen zum Beistand rufen? Denn – das alles ist jetzt klar – den Ruf unheilgen Tuns erwarb ich durch mein heilges Handeln.“
Da ist das kleine Kreuzberger Kieztheater, das sie für diese Inszenierung angemietet haben. Das Bettlaken-Transparent „Heute 20:00 Uhr – Premiere: Antigone-Variationen“ hängt schon über dem Eingang. Sie nimmt Kurs auf die schwere Metalltür und wechselt die Welten.

2.

Der Geruch macht wie immer den Auftakt. Das vertraute Elixier aus Adrenalin, Schweiß, Tränen, Zigarettenrauch und 100fach getragenen Kostümen, das sie nur vom Theater kennt und von dem sie vermutet, dass es sich bis auf kleine Nuancen an allen Bühnen gleicht.
Ein bisschen wie das Parfüm „Übersüßter Hagebuttentee und Scheuermilch“, mit dessen Hilfe auch Blinde erkennen sollen, dass sie es in die Jugendherberge geschafft haben.
Nur besser natürlich, dachte sie.
Ihre Augen brauchen einen Moment, um sich an die Dunkelheit zu gewöhnen, die Boden, Decke und Molton abstrahlen. Umrisse schälen sich aus dem Schwarz, die anderen sind bereits da. Sylvie, Markus, Stephan, Tom. Eine Zigarette wird herumgereicht.
„Hey Josie, alles klar bei Dir? Tom, der Black in der dritten Szene muss glaube ich früher kommen, eigentlich sofort nachdem Stephan den Stuhl umwirft.“
Alles wie immer offensichtlich. Markus hat noch hektisch-wirre Änderungsvorschläge für das Beleuchtungskonzept, die er in bester Dozentenmanier und in letzter Sekunde, vorträgt.
Seine Hände fliegen durch die Luft, unsichtbare Muster zeichnend. Tom nimmt es gelassen auf und will dann mal spontan gucken, was sich da so auf die Schnelle noch machen lässt. Sylvie, mit ihrer 1000Volt-Energie, von der Josephine nie weiß, wie sie in diesem fragilen Körper Platz findet, ohne ihn von innen zu verbrennen, rupft nervös an vermeintlich kaputten Haarspitzen. Vergnügt schaut Josephine aus der kurzen Distanz zu, wie sie versucht, sich ihre Ungeduld auf keinen Fall anmerken zu lassen. Stephan ist still und konzentriert, zieht den Zigarettenrauch tief in sich hinein, fokussiert einen Schmutzfleck auf dem Bühnenboden.
Er ist wahrscheinlich bereits nur noch Text und Rolle. Dabei stört man ihn besser nicht.
Josephine nickt ihrer kleine Theaterfamilie zu und geht schon mal in die Umkleide. Die anderen nicken zurück, sie kennen ihr Bedürfnis, eine Weile allein in der Garderobe sein zu wollen. Damit sie sich der Rolle ungestört nähern kann. Auf der Garderobenstange hängen schon der lange schwarze Ledermantel und das indigofarbene Seidennachthemd.
Schnell rein in die fremde Haut, die sie mit ihrem Körper ausfüllt. Sie schminkt sich selbst, wie alle hier. Viel schwarzer Kajal für Antigone. Ein letzter Blick in den Spiegel. Fertig.
Die anderen kommen herein, der Geräuschpegel in der engen Garderobe verdichtet sich.
„Hat jemand meine Haarspange…diese rote…ich hatte die doch gerade noch…verflixt…das gibt es…“
„Lässt du mich mal ganz kurz…ich habe da hinten…Stiefel…“,
Markus schiebt Sylvie vorsichtig zur Seite.
Reißverschlussschnurren.
„Ja, das ich sterben würd: Ich wusst es wohl – wieso auch nicht? – und hättest du es auch nicht öffentlich verkündet!“
Schnallenklipsen.
Dann sind sie soweit. Warm-Up hinter der Bühne. Sie stehen in einem kleinen Kreis, Markus gibt einen Ton, die anderen steigen ein bis sie sich auf derselben Frequenz begegnen.
„Mmmmmmmmmmmmmmmmmmmm.“
Sie kreisen die Schultern, die Hüften, das Becken, die Knie, die Knöchel, die Handgelenke, die Finger. Sie schreiben mit den Ellenbogen unsichtbare Wünsche auf den Vorhang, klopfen einander ab, die Brust, die Schenkel, die Rücken der anderen. Der Körper muss geschmeidig sein. Sie befreien auch die Stimme.
„Tatata. Papapa. Fafafa.“
„Hallo! – Sie da!“
„Warum? Wieso? Weshalb? Wer? Wo? Was? Wann?“
„Schhhhhhhhhhhhhh!“ „Brrrrrrrrrrrrrrrrr!“ „Ffffffffffffffffffffffffff!“ Lippenflattern.
Sie werfen Geräusche. Einen Soundball.
„Kawusch!“ „Kawusch-Razong!“ „Razong-Schnirp!“ „Schnirp-Hep!“ „Hep-Psssssst!“
Der Kopf muss wach sein. Sie assoziieren, stampfen mit den Füßen im Rhythmus.
„Blau“ – „Beere.“ „Blaubeere – taramtamtam.“ „Baum“ – „Schwein.“ „Baumschwein – taramtamtam.“ „Lampen“ – „Hut.“
„Lampenhut – taramtamtam.“
Josephines liebste Übung. Auf die besteht sie jedes Mal. Die anderen rollen gespielt mit den Augen, machen aber doch immer mit.
„Nur, weil sich Josie dann wieder freut wie eine Schneekönigin.“
Stephan zündet sich eine Zigarette an für einen schnellen Zug bevor der Lappen hochgeht.
„Toi, toi, toi!“
Dreimal bei jedem über die Schulter gespuckt.
Das Adrenalin kommt. Jetzt. Sie weiß es, hat es erwartet und ist überrascht wie beim ersten Mal. Ihr Blut im Kriegszustand.
Sie rettet sich mit ihrem Auftritt. Eine Flucht in die Dunkelheit, die heute von gerade einmal etwa zwanzig Augenpaaren bewohnt wird. Der Scheinwerfer knallt sein Licht auf Josephine. Die Zuschauer verschwinden im Schwarz. Sie ist zu Hause.
„Ja, ich gestehe die Tat und streite sie nicht ab.“
Pause. Atmen. Warten.
„Ja, dass ich sterben würd: Ich wusst es wohl – wieso auch nicht?“
Pause. Der Text kommt von ganz allein. Sie braucht jetzt keine Spaziergänge, keine Schneckenhäuser und kein murmel, murmel mehr. Ihre Stimme ist fest und klar, als Antigone gleiche Rechte für Frauen und Männer einfordert.
Die Zeit fliegt.
Josephine geht ab. In der Gasse steht Sylvie bereit für die nächste Szene, in der sie als Ismene, Antigones Schwester, sprechen wird. Sie steckt sich eine widerspenstige Haarsträhne unter die rote Spange, dann spannen sich ihre Muskeln und Sehnen. Es sieht aus, als würde sie größer werden, als hätte sie einen mutigen Entschluss gefasst. Als würden an all ihren Gelenken plötzlich strahlende Lichter entzündet. Mit einem großen Schritt geht sie auf die Bühne und Josephine in die Garderobe, um sich für ihre Medea-Rolle umzuziehen. Die starken Frauen sind heute im Mittelpunkt des Stücks, das sie als Monolog-Collage präsentieren.
Spot off. Ende. Geschafft. Entspannung. Der Glücksrausch am Ende vom Auftritt wird weggespült durch das nur freundlich verhaltene Klatschen des Publikums. Es klingt doch eher nach Mitleid als nach Begeisterung. Wieder einmal. Sie fassen sich an den Händen, Josephine greift die von Stephan, der rechts neben ihr steht. Seine Schultern hängen schlaff herunter, sein Blick ist gesenkt.
Gleichzeitig machen alle einen Schritt vor und blicken in fragende Gesichter. Tom schickt ihnen zwar ein aufmunterndes Zwinkern von seinem Lichtpult, aber noch während der Vorhang fällt, denkt Josephine, dass es so nicht weitergehen kann.
Und dann rasen ihre Gedanken schon in die Cuvrystraße.
Dort werden sie sich nächste Woche, wenn die „Antigone-Variationen“ abgespielt sind, einen neuen Raum anschauen.
Vielleicht kann dort alles anders werden.

3.

„Hier ist es“, sagt Markus, der über die Anzeige in der Berliner Morgenpost „Etwas in die Jahre gekommenes ehemaliges Bühnenhaus in Kreuzberg sucht Nachmieter, gern zum Spielen“ und nach stundenlangem Telefonzellen-Anstehen am Bahnhof Zoo tatsächlich diesen Ort gefunden hat. Markus wirft den Schlüsselbund, den ihm der Vermieter zur „Besichtigung in Eigenregie“ ausgehändigt hat, hoch in die Luft, fängt ihn wieder auf. Sie drängeln sich durch den Torbogen in den Hinterhof, vorbei an rostigen Fahrradständern, die unter einem löchrigen Wellblechdach stehen. Josephine folgt Markus die ausgetretene schmale Betontreppe nach oben.
„Welcher von diesen könnte denn wohl den Zugang zum Palast freigeben?“ Josephine zeigt ohne Zögern auf einen Eisenschlüssel mit hervorstechenden Zacken und tatsächlich passt er in die hellblaue Holztür. Es folgt ein kurzer Gang, dann stehen sie vor einer Metalltür. Hier passt erst der letzte Schlüssel aus der Versuchsreihe. Sie tasten nach dem Lichtschalter, finden aber nur die Hände der anderen.
„Ich hab ihn,“ Stephan triumphiert und mit einem Flackern gibt die Glühbirne den Blick ins Höhleninnere frei. Josephine sieht sich um. Es stand lange leer, es ist heruntergekommen.
Es wäre hirnrissig hier zu spielen, denkt sie. Und gleichzeitig wunderbar. Auf dem schwarzen PVC-Boden hat sich ein zusätzlicher Belag ausgebreitet, eine Schicht aus Staub, Abgeaschtem, Verschüttetem. Tom entzieht seine Schuhe dieser Mischung mit einem schmatzenden Geräusch.
Vereinzelt liegen Möbelstücke herum. Eine Matratze, deren buschiges Innenleben sich, in der Vergangenheit offensichtlich unterstützt durch die Arbeit verschiedener Nagetiere, nach draußen ergießt. Eine Stehlampe, deren Schirm so abgewetzt ist, dass sich sein Muster aus Schlingpflanzen mit Vögeln darin nur noch erahnen lässt.
Sylvie reißt das einzige Fenster an der Rückwand des Raumes auf, die Frühlingssonne macht das Theater hell.
Sie lassen sich auf einer Ansammlung wackliger Stühle nieder.
Stephan zündet sich eine Zigarette an.
„Also mir gefällt es. Ein bisschen räudig, aber das passt doch ganz gut zu uns.“
Markus, Tom und Sylvie stimmen sofort zu.
Josephine versucht sich den ganzen Dreck und Plunder wegzudenken, es sich vorzustellen mit Zuschauerreihen, einem kleinen Bartresen, einem neuen schweren Vorhang.
Wie sie vor ihrem Garderobenspiegel sitzt und sich die Wimpern tuscht während Tom an seinem Pult den letzten Lichtcheck macht, wie später die Leute zur Tür hereinströmen und an einem Bistrotisch mit der Kasse sagen: „Zweimal, bitte.“ Wie sie dann neugierig und gespannt auf ihren Stühlen sitzen und auf den Beginn der Vorstellung warten.
„Wir sollten es nehmen,“ sagt sie.
Eine Woche später stehen sie als neue Mieter mit Eimern, Besen, Wischlappen, Schrubbern und Putzmitteln am gleichen Ort und legen los. Einfach. Irgendwo. Sie werfen Flaschen, Matratze, Holzlatten, Kartons, leere Farbeimer, Stofffetzen, einen kaputten Fernseher in den Müllcontainer an der Straße und behalten die wenigen Dinge, die noch als Requisiten einsetzbar sein könnten. Tom findet in einer Kiste einen Baustellenscheinwerfer, der funktionstüchtig ist.
Es kommt Josephine vor, als würden sie einen gestrandeten Walfisch von seiner pockennarbigen Verkrustung befreien. Als Stephans Versuche scheitern, den Boden mit einem Wischlappen und Spülmittel vom Schmutz zu befreien, flutet er den Raum eimerweise mit Wasser, kippt eine ganze Flasche Lauge darauf und fegt die ganze Soße zur Tür heraus. Es wird nicht vollkommen sauber, aber es ist ein Anfang.
„Okay Leute, hört mal her, als erstes brauchen wir jetzt mal einen vernünftigen Namen.“ Markus winkt die anderen zu sich. Sie rufen durcheinander, wie sie jetzt heißen wollen.
„Theater im Hof”, „Bühne der Galanten”, „Forum B-West”, „New Off”.
Sie steigern sich, werden immer lauter, beschimpfen einander, verfluchen die Vorschläge der jeweils anderen, stimmen einander doch zu, stimmen ab, verwerfen die Ideen wieder. Dann beschließen sie, noch einmal alles fallen zu lassen und von vorn anzufangen.
„Theater der Antigonisten!“ ruft Sylvie in das Schweigen.
Das ist es. Das wissen sie alle sofort. Josephine denkt, das passt so gut zu ihnen, als wenn man zum ersten Mal erfährt, dass der unbekannte Vogel, der da so lustig ruft, tatsächlich „Kuckuck“ heißt. Sie kann es kaum fassen, dass sie bald ein eigenes Theater eröffnen werden.
Stephan hat für jeden ein Bier dabei. Sie stoßen an. Der Schaum läuft aus der Flasche und ihnen über die Hände. Nur noch ein letzter Schluck Zaubertrank und die große Schlacht kann beginnen.
Sylvie hat einen Sack voller Kostüme mitgeschleppt und kippt den Inhalt auf die neue Bühne. Da sind sie. Ineinander verschlungen, leuchtend, verknüllt, teilweise verdreckt.
Leonce und Lena, Kasimir und Karoline, Antigone und all die anderen. Das Verkleiden beginnt. Josephine zieht die weiten Röcke der Heiligen Johanna der Schlachthöfe über ihre Jeans, Tom ist plötzlich Hedda Gabler im Bademantel, Markus schlüpft in die Stiefel des jungen W. und stampft die Absätze wie ein Cowboy in den Böden, Sylvie ist Desdemona im Negligé, Stephan verwandelt sich in eine Hamletmaschine mit Kunststoff-Kettenhemd und Palästinensertuch.
„Mit diesem Rettich erdolche ich Dich!“ ruft er und schnellt mit einem Hirschgeweih in der Hand auf Tom zu. Der zuckt gespielt erschrocken zurück.
„Seins oder nicht seins!“ krakeelt Sylvie. Dabei fuchtelt sie Markus mit einem gebrauchten Taschentusch vor der Nase herum.
Sie tanzen im Licht des Baustellenscheinwerfers und singen aus all ihren Kehlen. „Yes I think to myself, what a wonderful world!”
Josephine hält inne. Ihr Atem jagt ihrem Herzschlag hinterher.
In der Luft tanzen Millionen Kristalle, der Staub rieselt aus den Ritzen. Sie schließt die Augen.
Nicht aufhören. Niemals. Bitte, denkt sie.

4.

Es ist der zehnte Abend von „Landschaft mit Argonauten – durch die Augen des jungen Woyzeck betrachtet“, ihr erstes Stück am neuen Ort in der Cuvrystraße ist. Josephine blinzelt durch den Vorhang in den Zuschauerraum. Höchstens zehn Gäste heute, mehr nicht. Davon sind die Hälfte Freunde, die aus Solidarität erschienen sind und von denen sie keinen Eintritt nehmen wollen. Es kommt fast niemand zu den Vorstellungen in ihrem kleinen Theater.

Das Geld, das ihnen die Eltern aus westdeutschen Kleinstädten jeden Monat nach Berlin überweisen, ist seit jeher schnell verbraucht. Es geht in die Raummiete, in die Kostüme, die sie sich auf Flohmärkten zusammensuchen, in das Holz, aus dem Tom seine minimalistischen Bühnenbilder sägt. Ich weiß, dass es dauern wird, dass wir einen langen Atem haben müssen, dass wir nicht aufgeben können, zumindest jetzt noch nicht, wo wir endlich einen eigenen Spielort gefunden haben. Die Inszenierungen der Stücke sind vielleicht zu ungewöhnlich, zu unvertraut, aber sie sind gut.
Das Andere hat es eh immer schwerer als das Angepasste. Aber wir wollen hier schließlich etwas erschaffen, das es so zuvor noch nicht gegeben hat, eine Avantgarde von neuen Inszenierungen und ungewöhnlichen Formaten, Stücke, die von den hohen Häusern der staatlichen Theater niemals gezeigt würden. Die Revolution braucht eben Zeit, bis ihre Qualität erkannt wird.

Josephine versucht geduldig zu sein und den anderen Mut zu machen, vor allem an Abenden wie heute.
„Es kommen auch andere Zeiten, seid zuversichtlich, an uns lag es nicht, wir waren toll,“ sagt sie.

Wir rasen direkt in den Abgrund, wenn nicht bald etwas passiert, denkt sie.

Das Stück ist zu Ende. Die Gäste, die keine Freunde sind, haben sich schon auf den Heimweg gemacht. Da entdeckt Josephine ihre beiden Kolleginnen aus dem Café „Muskau“, in dem sie tagsüber arbeitet am Tresen. Sie geht zu Katharina und Veronica, denen Tom gerade zwei Flaschen Bier rüberschiebt. Die Bar hat er selbst gebaut. In einer Nacht- und Nebelaktion hatten sie Holzlatten von einer Baustelle in der Schlesischen Straße geklaut und ins Theater geschleppt, wo Tom sie auf die Unterseiten gestapelter Bierkästen genagelt hat.
„Das ist ja super von euch, dass ihr es noch geschafft habt.“
„Du warst der Hammer, dein Aufruf zum Widerstand am Anfang, Josie ich hab echt fast geheult.“ Katharina strahlt über das ganze Gesicht.
„Und diesen Federfummel, wo hast du den aufgetrieben? Wenn es geht, würde ich mir ihn gern für die nächste Party im „Dschungel“ ausleihen.“ Veronica zupft an Josephines Kostüm.
Sie schwimmt in den Komplimenten der beiden, ist dankbar dafür. Sie sieht ihnen an wie stolz sie sind, eine Schauspielerin zu kennen. Eine, die auf einer richtigen Bühne steht und sei sie auch noch so klein. Zugleich denkt sie an den abendlichen Kassensturz, nach dem es vermutlich wieder nur für eine Pizza „Ali´s“ und eine Runde Bier für alle reichen wird.
Als Katharina und Veronica sich verabschieden und zum Ausgang gehen, lächelt Stephan ihnen aus seiner Ecke neben der Garderobentür zu. Seine Hände halten eine Bierflasche so fest umklammert, dass es fast so aussieht, als wäre sie sein letztes kostbares Besitzstück. Etwas, das er unbedingt gegen Diebe verteidigen muss.
„Komm, lass uns nach Hause gehen, Stephan“, Josephine will sich bei ihm unterhaken.
„Nein, geh du ruhig“, murmelt er, „ich muss noch in den Elefanten.“
Seine Augen fallen auf den Grund der Flasche.

5.

Nach den Vorstellungen verschwindet Stephan immer regelmäßiger im „Grünen Elefanten“. Er sagt, er braucht das, um sich noch intensiver zu spüren. Außerdem könne er dort ein hervorragendes Rollenstudium betreiben, denn im „Elefanten“ würden sich all die düsteren Typen herumtreiben, die er so gerne spielt. Die Kneipe ist nur wenige Meter vom neuen Theater entfernt und nicht viel größer als das Wohnzimmer von Josephines Eltern in Niedersachsen. Ein bisschen erinnert sie die abgeschabte Teppichverkleidung aus goldenen Verschnörkelungen auf dunkelblauem Grund tatsächlich an das Sofa, auf dem ihre Mutter früher unter leisen Flüchen die aufgerissenen Hosen und löcherigen Strümpfe ihrer Kinder ausbesserte.
Im „Elefanten“ ist die Luft immer schwer. Tannenbaumförmige Salzkristalllampen sind unter geringelten Wollsocken versteckt, aus einem Stapel leerer Getränkekisten lugen zwei ausgestopfte Hasen hervor, ein Blechschild über der Tür kündigt „Natur und Terror“ an. In den Ecken Altäre mit Flohmarktfundseligkeiten. Lederne Drehhocker an einem Tresen, hinter dem sich eine Unzahl farbiger Flaschen auf verspiegelten Regalböden drängen. Uwe, hager und haarlos, mit massiven Ringen an den Händen und einer beinahe unsichtbaren Herzstein-Kette um den Hals, spielt Musik ausschließlich von Schallplatten und gibt der einzigen Überlebenden eines Rosenstraußes die Chance auf einen weiteren Tag im Wasserglas.
Über allem kreist wie der Suchscheinwerfer eines Leuchtturms zuckend eine rot angestrahlte Diskokugel.
Am Anfang hat Josephine Stephan ab und zu noch Gesellschaft geleistet, aber schon bald gemerkt, dass sie hier überflüssig ist. Mühelos findet er auch ohne sie seinen Platz an der Theke, zwischen Jochen, dem frisch geschiedenen UBahnfahrer und Martin, der Sozialpädagogik studiert. Er braucht nicht zu bestellen, ein Nicken gibt Uwe zu verstehen, dass es an der Zeit ist, ein Bier auf dem Tresen zu platzieren.
Wie bei einer präzise eingestellten Maschine verläuft Stephans Reaktion auf die sich stetig verdichtende Konzentration des Alkohols in seinem Körper. Erst findet er die Sprache und aus dem abseits der Bühne meist stillen, hageren jungen Mann wird eine Wortfeuermaschine. Silbe um Silbe türmt er auf und reiht Satz an Satz, bis ein schwankender Turm zu Babel ihn umgibt. Nach der siebten Flasche allerdings kommt dieses Gebilde ins Rutschen, die Vokale sind zu lang, die Endungen wollen nicht mehr vollständig herauskommen, die Kontrolle über die Reihenfolge der Konsonanten entgleitet ihm. Am Ende verliert er den Kampf, die ganze Konstruktion zerbricht. Mit einem leisen „uh“ sackt er in sich zusammen, seine blonden Haare kleben nass an der Stirn.
Erst in den Morgenstunden schafft Stephan es aus dem „Elefanten“, bleich und übel riechend, seine Augen zu Schlitzen verengt. Er schleppt sich in seine WG. Auf dem Küchensofa schläft er ein und bleibt dort liegen, bis ihn seine Mitbewohnerin Tine am Nachmittag weckt. Ihr verdankt er, dass er die Proben nicht jedes Mal versäumt. Nach einer Nacht im „Elefanten“ ist Stephan fahrig, vergisst häufig seinen Text. Das bringt ihn so auf, dass er mit den Händen hart gegen die Wände schlägt. Markus und Hans stützen ihn in seinen taumelnden Momenten. Sylvie versucht ihm starken schwarzen Tee zu beleben, Josephine reicht ihm ein volles Wasserglas nach dem anderen, während sie ihm das stinkende Haar aus der Stirn streicht. Sie hat Angst um ihn.
Wenn er es nicht hören kann, sagen die anderen, sie auch.
Wenn er es hören kann, sagen sie: „Stephan, verdammt nochmal, jetzt reiß Dich zusammen!“
Sobald er den Alkohol abgestoßen hat und der Nebel sich hebt, ist er brillant. Er scheint von innen zu leuchten, sie sehen sein Glühen auch ohne Scheinwerfer. Er stößt seine Faust in den Himmel, spuckt die richtigen Flüche an der richtigen Stelle in die Gassen, schnurrt ihnen allen verschwörerische Formeln ins Ohr. So tief taucht er in seine Rolle ein, dass er beinahe darin verschwindet. Seine Tränen sind meistens echt. Sobald der Vorhang sich senkt, geht er in die Knie.
Am fünften Abend des „Argonauten“-Stücks erscheint Stephan nicht zur Vorstellung. Dreißig Zuschauer sitzen auf den Bänken und schauen auf einen Vorhang, der sich nicht hebt. Stephans Part ist wichtig, sie können ihn nicht ersetzen.
Während Markus, Tom und Sylvie hinter der Bühne diskutieren und mit jeder Minute wütender werden, „warum ausgerechnet heute, wo endlich mal ein bisschen Publikum da ist“, rennt Josephine in den „Grünen Elefanten“ und findet Stephan mit auf dem Tresen abgelegten Kopf, ein Speichelfaden tropft aus seinem rechten Mundwinkel. Sie zieht ihn hoch, will ihn stützen, wegziehen, auf die Bühne bringen, den einzigen Ort, an dem er vor sich selbst in Sicherheit ist. Aber als sie die Ausdruckslosigkeit seiner Augen auffängt, kapiert sie auf einen Schlag die Sinnlosigkeit meines Vorhabens. Da ist heute kein Woyzeck. Sie legt seinen Kopf vorsichtig wieder ab, bittet Uwe um ein großes Glas Leitungswasser und kein weiteres Bier für ihn. Auf dem Rückweg zum “Theater der Antigonisten” sucht sie nach beruhigenden Worten, die die anderen davon abbringen könnten, mit ihrer Wut in den „Elefanten“ zu stürmen und Stephan trotz all seiner Trunkenheit doch noch auf die Bühne zu zerren. Die Vorstellung werden sie abblasen müssen.
Eigentlich hatten sie sich geschworen, das niemals zu tun.
Josephine tritt vor die Zuschauer und stammelt eine Entschuldigung, irgend etwas von einer plötzlichen und schweren Erkrankung ihres Hauptdarstellers, vom großen Bedauern des gesamten Ensembles, an diesem Abend das Stück leider nicht spielen zu können, von der selbstverständlichen Rückgabe der gezahlten Eintrittsgelder und einem Freigetränk an der Bar für jeden Gast. Sie bittet um Verständnis und verspricht eine neue Gelegenheit in der kommenden Woche. Beinahe flehentlich sagt sie, die Leute mögen doch ein andermal wiederkommen. Die Zuschauer erheben sich mit enttäuschten Gesichtern von ihren Plätzen und gehen in Richtung Bar oder gleich in Richtung Ausgang. Ein Mann mit blauem Kapuzenpullover und schwarzer Hornbrille berührt Josephine vorsichtig am Arm, bevor er durch die Tür geht.
„Hoffentlich ist es nichts Schlimmes, wünschen Sie dem jungen Mann doch bitte gute Besserung.“
Dieses Mitleid für etwas, das sie erlogen hat, ist Josephine unangenehm. Mit einer schnellen Bewegung schlüpft sie hinter den Vorhang, wo sich die anderen schon zur Krisensitzung versammelt haben. Wie versteinert starren sie vor sich hin, geben eine Zigarette im Kreis herum. Ein Pantomimenensemble aus traurigen Clowns, denkt sie.

6.

Josephine hatte von Markus´ Idee einer Zweitbesetzung für Stephan nichts hören wollen und stattdessen bei den anderen immer wieder gute Worte für ihn eingelegt. Nach dem heutigen Ausfall schmilzt ihr Widerstand. Sie will nach wie vor,

[…]

Leseprobe: Manuel Zerwas – “Der Bücherflüsterer”

Kapitel 2: Unter Günter Grass’ Rockzipfeln

[…]
Es konnte aber auch durchaus der Fall sein, dass ich mehrere Anläufe brauchte, bis eine erstrebte Szene erfüllende Umsetzung fand. Weil meine Bekanntschaft sich nicht auf meinen Wunsch einlassen wollte. Weil ich mit der Umsetzung nicht zufrieden war. Weil etwas schief gelaufen ist. Ich muss sagen, es ist oft etwas schief gelaufen. Die Szenen waren nicht selten etwas speziell. Nicht schlimm, nicht anstößig. Nicht unsittlich. Speziell. Nicht jede Frau wollte mitmachen. Oder selbst wenn, selbst wenn meine Partnerin zusagte, konnte trotzdem etwas schiefgehen. Die Möglichkeiten, dass es nicht so lief, wie ich mir die Szene vorstellte, waren groß. Viele Wege führen nach Rom, aber nur ein Weg führt zur erfüllten Vorstellung der zu erfickenden Passage.

Ich erinnere mich an eine Nacht, in die ich mit freudiger Erwartung eingetaucht war und dabei doch auch auf dem Glatteis der Unsicherheit schlidderte, mit wild rudernden Armen wie ein kleiner Junge, der das erste mal Schlittschuhe trägt. Denn die von mir angedachte Szene ließ viel Raum für Interpretationen. Wahrscheinlich reizte mich genau das daran, sie nachzustellen. Ich musste sie einfach ausprobieren, meine Phantasie war entfesselt, ich musste der Szene meinen eigenen Stempel aufdrücken, sie auf meine Art zum Leben erwecken, sie auf meine Art erficken. Die Szene des Buches ist so absurd, so schleierhaft und auf eigenwillige Weise doch so deutlich, dass ich sie unbedingt testen musste. Literaturprofessoren, Kritiker und Hobbyinterpreten erfreuen sich und verdammen und verzweifeln wahrscheinlich seit Jahrzehnten an dieser Szene, eine Szene, so skurril, so unmöglich und doch so aufregend. Immerhin handelt es sich um die Worte des vielfach kritisierten und vielfach gelobten, genialen und schlussendlich belohnten Günter Grass.
Viele seiner Werke sind nicht gerade unspannend hinsichtlich meiner Passion gestaltet, aber natürlich geht es um Die Blechtrommel. Und nein, es geht nicht um die ebenfalls spannende und beschämend anregende Szene mit der Spucke und dem Brausepulver. Es geht um eine Szene gleich zu Beginn des Romans. Der kleinwüchsige Schreihals und Meistertrommler Oskar Matzerath ist dabei noch gar nicht von Bedeutung. Vielmehr geht es um die Zeugung seiner Mutter Agnes. Legendenumwoben. Rätselhaft. Kurios. Unmöglich vielleicht. Und genau das zu testen, ob es möglich war, was Grass dem Leser da zu verkaufen anmaßt, darin sah ich meine Aufgabe. Den Akt an sich natürlich, ohne Zeugung eines Kindes! Um Himmels Willen!

Mehrere Anläufe waren notwendig, bis ich eine Frau gefunden hatte, die bereit war, die Szene mit mir nachzustellen. Auch diese Szene hatte nichts Skandalöses. Aber auch sie war speziell. Nicht üblich. Und nicht gerade einfach. Was ich bereits ahnte und was ich schließlich auch am eigenen Leib herausfinden sollte.
Die erste kurzweilige Bekanntschaft, der gegenüber ich mein Vorhaben äußerte, lachte zwar, lachte wirklich lauthals, ich glaube, sie lachte mich regelrecht aus, aber sie wollte es nicht ausprobieren.
Ich ziehe doch keine vier Röcke zum Vögeln an, lachte sie mir ins Gesicht. Was das denn solle. Was ich denn für einer sei. Erst ziehe ich sie aus und dann wolle ich sie wieder in vier Röcke stecken. Was für eine Idee. Entweder ich käme jetzt sofort zu ihr ins Bett und vögle sie auf anständige Weise, nämlich vollständig nackt, oder ich könne wieder gehen.
Ich war ein wenig enttäuscht. Aber der Versuchung einer schönen Frau konnte dann doch nicht widerstehen. Ich schlief trotzdem mit ihr.
Die zweite Dame, der ich mein Anliegen unterbreitete, konnte darüber ganz und gar nicht lachen. Sie nannte mich pervers und einen Freak, was mich wiederum wirklich ärgerte und wütend machte. Sie wollte nicht mitmachen, in Ordnung, natürlich war das in Ordnung. Schade, aber okay. Aber sie musste die Sache nicht mit dieser völlig ungerechtfertigten Vokabel pervers belegen. Ich hatte es ihr erklärt, ganz ruhig, auch überzeugend, meiner Meinung nach, ich zwang sie zu nichts, ich erklärte es ihr nur, aber sie wollte gar nicht auf mich hören. Während wir uns wieder anzogen, stritten wir miteinander, ich glaube, es flogen noch Beschimpfungen wie Wichser, Spießerin und kranker Rockfetischist durch ihr Schlafzimmer, ehe ich ihre Wohnung verließ, nicht ohne meinem Ärger mit einem lauten Zuschlagen der Tür Luft zu machen und dann auch noch, unten vor der Haustür, einen gefalteten Zettel in ihre Klingel zu stecken, so dass die Klingel ununterbrochen plärrte. Anschließend hastete ich davon, versteckte mich hinter einem Busch und kicherte leise in mich hinein, als sie genervt und schnaubend nach draußen kam, um ihre Klingel zu befreien. Du siehst also, ich habe meine kindliche Seite nie ganz verloren, auch nicht mit dreiunddreißig Jahren und ich bin stolz darauf. Das ist eine meiner Eigenschaften, die dir, ich weiß nicht wie, schnell an mir aufgefallen ist, als wir uns kennengelernt haben. Das hast du mir gesagt. Und das hat mich gefreut und dich auch.

Der dritte Anlauf sollte erfolgreich sein. Mehr oder weniger. Ich kannte Isabel flüchtig über einen Bekannten. Bei den wenigen Gelegenheiten, bei denen wir bisher aufeinander getroffen waren, hatten wir ein wenig geflirtet, mehr war dabei aber noch nicht herausgekommen. Auf einer Geburtstagsparty traf ich sie überraschend wieder. Diesmal unterhielten wir uns länger, wir tranken zusammen, lachten, ließen individuelle Erinnerungen miteinander verschmelzen, wir wurden etwas betrunkener, wir machten keinen Hehl aus dem gegenseitigen Interesse. Zudem war sie ebenfalls eine begeisterte Leserin. Jackpot.

Ich glaube, behaupten zu dürfen, dass ich ein reflektierender Mensch bin. Ich hinterfrage und ich bin realistisch: Ich sehe ganz gut aus. Ich bin kein Brad Pitt, auch kein Johnny Depp und natürlich ist das alles letztendlich sowieso sehr subjektiv und vom individuellen Geschmack abhängig. Aber mit meinem Aussehen bin ich ganz zufrieden und das ist viel wert. Ich weiß nicht, wie du das siehst oder gesehen hast, aber mit meiner angenehmen Durchschnittsgröße von einem Meter und neunundsiebzig, meinem leicht gelockten, braunen Haar, meinen einigermaßen markanten Wangen, über denen ich oft einen gepflegten Dreitagebart stehen lasse, kann ich doch ganz gut leben. Meine Figur ist auch in Ordnung. Ein großer Sportler bin ich nach wie vor nicht, das hat sich seit der Schulzeit nicht geändert. Ich versuche mindestens einmal die Woche schwimmen zu gehen, gehe tatsächlich alle drei Wochen und ansonsten ernähre ich mich halbwegs bewusst, gehe viel zu Fuß und nehme oft das Rad, anstatt das Auto. Das reicht nicht ganz, um einen sehenswerten Waschbrettbauch mein Eigen zu nennen, aber es reicht, um unerwünschten Kilogramm halbwegs entgegenzuwirken.
Mit meinem Äußeren bin ich bei den Frauen im Grunde relativ erfolgreich. Die Frauen fallen mir nicht reihenweise zu Füßen, sie drehen sich auch nicht auf der Straße nach mir um. Aber im Großen und Ganzen darf ich mich eine recht angenehme Erscheinung schimpfen. Hinderlich ist mir mein Erscheinungsbild zumindest in der Regel nicht.
Es steht auch außer Frage, dass sich nicht alle Frauen von meinem, so vermessen will ich sein, immensen literarischen Horizont, beeindrucken lassen. Aber ich bin zudem recht eloquent und kann mich belesen und intellektuell präsentieren. Ich weiß mich also auszudrücken. Und diese meine Vorzüge weiß ich dementsprechend einzusetzen.
Bei Isabel fielen meine literarischen Kenntnisse auf sehr fruchtbaren Boden. Meine Sprachgewandtheit war der Dünger, mein Aussehen Sonnenschein und Wasser. Mein als Frage getarnter Vorschlag, ob es nicht aufregend wäre, einmal zu versuchen, eine literarische Sexszene nachzustellen, konnte auf diesem Boden erfolgreich Wurzeln schlagen und keimen. Ich will nicht bestreiten, dass auch 150 der nahezu perfekt abgestimmte Alkoholpegel ein wenig förderlich war. Bei Isabel konnte ich wagen, meinen Vorschlag recht offen im Voraus zu äußern.

Ihre Lippen umspielte ein verführerisches Lächeln, ihr Augenaufschlag wurde etwas langsamer, ihr Blick intensiver. Ihre Hand, die zuvor schon mehrmals flüchtige Ausflüge über meinen Arm unternommen hatte, blieb diesmal auf meiner Schulter liegen.
„Und du hast wahrscheinlich auch schon eine bestimmte Szene im Sinn, nehme ich an?“
Ihre Pupillen waren wie zwei schwarze Tunnelöffnungen zu einem kleinen Paradies. Ihr glattes schwarzes Haar ein seidener Vorhang. Sie trug ein blaues Cocktailkleid, eine Farbe wie ein Ozean, der zum Eintauchen einlud. Ich sah sie einen Moment an, machte zwei oder drei Momente daraus und ihr Lächeln wurde größer.
„Was hältst du von Günter Grass?“
Sie hielt meinem Blick stand.
„Da fallen mir spontan die Masturbationsszenen aus Katz und Maus ein.“
„Ich weiß leider nicht, wo in der Nähe ein Schiffswrack aus dem Wasser ragt.“
„Außerdem“, sagte sie, „hätte ich da auch nicht allzu viel von.“
„Hast du Die Blechtrommel gelesen?“
Sie nickte. Ich wartete, ob sie selbst darauf käme. Sie sah sich um.
„Glaubst du, auf der Party gibt es Ahoi-Brause und Wodka?“
„Ich habe eher das erste Kapitel im Sinn“, sagte ich.
„Hilf mir auf die Sprünge.“
„Oskar Matzeraths Großmutter erntet Kartoffeln. Der Brandstifter Joseph Koljaiczek flüchtet vor dem Gesetz, stößt auf Anna Bronski, die vier Röcke übereinander trägt und ohne lange nachzudenken, lüftet sie ihre Röcke und der Flüchtende versteckt sich darunter. Anna seufzt mehrmals verdächtig, verdreht die Augen, ruft oder schreit vielleicht mehrmals die Namen von Heiligen. Neun Monate später wird Oskars Mutter Agnes geboren.“
Das Lächeln war nicht von Isabels Lippen verschwunden, wenn sich auch etwas Verwunderung in ihren Blick geschlichen hatte.
„Ich erinnere mich. Nur Andeutungen, nichts Konkretes, hab ich recht? Was unter den Röcken passiert, ist eindeutig uneindeutig.“
Ich nickte. Sie auch.
„Viel Raum für Interpretation.“
Ich nickte wieder. Ihr Blick ließ mich nicht los. Der Funke hatte übergeschlagen, das konnte ich sehen.
„Ich habe mehrere weite Röcke zu Hause. Lange nicht mehr getragen.“
Himmlische Worte. Ich sagte nichts, ich hatte das Gefühl, sie musste den letzten Schritt gehen. Vielleicht hielt ich die Luft an, während ich wartete und bis sie endlich sagte: „Wir könnten ja mal testen, ob sie mir noch passen.“

Ich war ziemlich aufgeregt. Was genau mich erwartete, konnte ich noch nicht sagen. Wie Isabel schon festgestellt hatte, die Sätze des Buches stachen nicht unbedingt durch konkrete Details hervor, ganz im Gegenteil. Das machte es ja auch so spannend. Wie genau ich vorgehen, wie genau das ganze überhaupt funktionieren sollte und konnte, war mir eigentlich noch etwas schleierhaft. Aber ich blickte der Sache optimistisch und erregt entgegen.
Ich verschwendete meine Blicke nicht lange auf die Einrichtung ihrer Wohnung. Es war beinahe wie im Film. Wir küssten uns vor ihrer Wohnungstür, während sie gleichzeitig versuchte, mit dem Schlüssel ins Schloss zu treffen. Wir küssten uns weiter, während wir durch den Flur stolperten, ich glaube, irgendetwas ging dabei sogar zu Bruch, wir ließen unsere Jacken fallen, ohne unsere Münder voneinander zu trennen. Als wir in ihrem Schlafzimmer ankamen, hatten wir beide keine Schuhe mehr an, wir hinterließen eine Brotkrumenspur aus Kleidern, mein Hemd und ihr blaues Kleid waren bereits auf der Strecke geblieben. Ihr BH fiel zu Boden, ich nahm ihre Brüste in beide Hände, sie waren groß, die linke ein wenig kleiner als die rechte und Isabel öffnete fingerfertig meinen Gürtel und entledigte mich meiner Hose.
Dieses Vorspiel kommt in der literarischen Vorlage selbstverständlich nicht vor. Wir erfahren nichts über die Brüste von Oskar Matzeraths Großmutter, die zu diesem Zeitpunkt ja noch keine Großmutter ist, die beiden küssen sich nicht, ziehen sich nicht gegenseitig aus. Aber ein wenig Spielraum war an diesem Abend durchaus angebracht, ohnehin fiel es uns beiden schwer, uns zurückzuhalten. Ehe Isabel auf die Idee kam die Sache mit den Röcken außen vor zu lassen, zog ich mich mit einer nicht geringen Willensanstrengung von ihr zurück.
Wir standen uns gegenüber, schwer atmend, verführerische Blicke, wie auch immer verführerische Blicke aussehen, ich glaube, man kann solche nicht angemessen beschreiben, das ist eine Sache des Moments.
„Lass uns die Szene ausprobieren“, sagte ich dann und kurz hatte es den Anschein, als wollte sie mir widersprechen, sich lieber gleich auf mich stürzen, was mir natürlich auch schmeichelte. Dann ging sie jedoch zu ihrem Kleiderschrank. Sie schob einige Kleiderbügel zur Seite, wühlte in ihren Klamotten und auch auf die Gefahr hin in Klischees zu verfallen, ging ich davon aus, dass ihr Schrank eine Fundgrube immensen Inhalts sein musste. Ich wartete geduldig. Vorfreude und Spannung hielten meine Erregung am Leben, nährten sie wie Blumennektar einen zitternden Schmetterling.
Es dauerte ein paar Minuten, bis Isabel die vier Röcke hervorgeholt hatte. Nach dem dritten fragte sie, ob das nicht genüge, aber es gelang mir, sie zur weiteren Suche zu animieren, indem ich ihr sagte, wir wollten den alten Grass doch nicht enttäuschen, woraufhin sie lachte und wieder in ihrem Schrank abtauchte.
„Soll ich mich wirklich wieder anziehen?“
Ihr Blick war herausfordernd. Ich nickte langsam. Wieder schien sie zu überlegen. Dann zog sie einen Rock nach dem anderen an.
Ein neuer modischer Trend wurde damit sicherlich nicht kreiert, per se bot Isabel im Grunde keinen allzu anregenden Anblick, wie sie da vor mir stand, mit nacktem Oberkörper und vier Röcken übereinander, die ihre Hüfte ziemlich breit wirken ließen, unförmig irgendwie, ihre Kontur sah aus, wie eine nicht ganz realistische Holzschnitzerei. Trotzdem steigerte sich meine Erregung erneut, da ich eine Frau vor mir hatte, die äußerst willig war, diese literarische Szene mit mir zu erficken.
Ich ging zu ihr, küsste sie, führte sie, ließ sie sich auf die Bettkante setzen. Dann tauchte ich ab.

Sie ihrer Unterwäsche zu entledigen war nicht allzu schwer. Meine eigene loszuwerden dafür allerdings umso mehr. Ich hatte nicht gerade viel Platz. Und sehen konnte ich auch nichts. Ich befand mich in einer lichtlosen, stickigen und warmen Höhle, ein verlockender Geruch ging von ihrer Scham aus, vermischt mit dem Geruch der etwas muffigen Röcke, die wohl seit längerer Zeit nicht mehr aus dem Kleiderschrank befreit worden waren.
Ich küsste sie ein wenig auf den Innenseiten ihrer Oberschenkel und streichelte ihre glatten Beine. Dann versuchte ich, meine Boxershorts auszuziehen. Ich trat ihr gegen das Schienbein und sie gab einen kurzen Schmerzenslaut von sich, lachte aber gleich darauf und fragte mich, ob da unten alles in Ordnung wäre.
„Selbstverständlich, alles bestens.“
Mein Rücken protestierte, mit dem Kopf hing ich im Stoff des untersten Rocks. Sie schlug mir ihr Knie gegen die Stirn. Ich zerrte an meiner Unterwäsche.
„Ich kann deinen Fuß sehen“, sagte sie.
Ihre Stimme klang etwas dumpf, immerhin befanden sich vier Lagen Stoff zwischen uns. Beziehungsweise, nur zwischen unseren Gesichtern. Meine Nase streifte ihre Schamhaare. Ich zog meinen Fuß wieder nach innen, machte einen kleinen Hopser, sie konnte sicherlich den Umriss meines Kopfes durch die Röcke sehen, dann war ich endlich mein letztes Kleidungsstück los.
„Bekommst du genügend Luft da unten?“
Nein, dachte ich.
„Klar doch“, sagte ich.
Ich küsste ihre Knie.
„Glaubst du wirklich, das wird was?“
Ich war mich nicht mehr ganz sicher, aber ich küsste weiter ihre Beine und fragte mich, was Oskar Matzeraths Großvater, der ja auch noch kein Großvater war, unter den vier Röcken wirklich getrieben hat. Küssen war kein Problem, aber wie ich letztlich einen Schritt weiter kommen sollte, war mir noch nicht klar. Aber irgendwie muss er es ja geschafft haben. Immerhin hat er ihr im Buch einige tiefe Seufzer entlockt. Dahingehend war von Isabel bisher noch nicht viel zu vernehmen.
„Was treibst du denn da unten?“
Sie klang ein wenig ungeduldig.
Ich sagte nichts, sondern drang mit meinem Gesicht noch tiefer in die Dunkelheit vor, fuhr mit den Händen ihre Kniekehlen entlang, ihre Oberschenkel, ließ meine Zunge über ihren Venushügel wandern. Sie begann zu stöhnen. Zumindest klang es danach, so weit die Schalldämmung der vier Röcke es zuließ. Meine Erregung ließ mich meine Rückenschmerzen und die unbequeme Sitzposition vergessen. Ich achtete sehr darauf, dass kein Teil von mir, egal welcher, unter den Röcken hervorlugte, schließlich befindet sich Joseph Koljaiczek auf der Flucht vor der Polizei und darf sich keinesfalls verraten.
Es wurde immer heißer in meiner kleinen, feuchten Höhle. Ich schwitzte. Mir war, als befände sich in unmittelbarer Nähe ein heißer, Dampf ausstoßender Geysir. Isabel stöhnte mittlerweile lauter und häufiger, ich merkte, wie sie feucht wurde, vielleicht tropfte aber auch Kondensflüssigkeit von meiner Stirn und ihren Röcken. Es war wie in einer Sauna, die stickige und stehende Luft, vermischt mit der Hitze der Erregung, entfachte eine schwüle Glut, einen heißen Brodem, auf lediglich, ich weiß auch nicht, eineinhalb Kubikmeter Raum. Aber auch meine Erregung wuchs, ich war in der Szene, wir waren in der Szene, noch am Anfang quasi, der Ausgang war noch immer etwas ungewiss, aber wir waren drin, in der literarischen Vorlage, wir wandelten auf den richtigen Pfaden und machten sie uns zu eigen. Es wurde Zeit, dass es einen Schritt weiterging.
Ich nahm meine Hand von ihren Schamlippen und streckte sie unter den Röcken ins Freie. Da draußen war es regelrecht kalt.
„Kannst du mir bitte ein Kondom geben?“
Sie stöhnte, kicherte, stöhnte noch einmal, dann schien sie nach etwas zu greifen, ein Präservativ in viereckiger Verpackung landete auf meiner offenen Handfläche. Ich riss die Packung mit einer Hand und Zähnen auf, mit der anderen Hand fuhr ich vorsichtig über ihre Klitoris. In der Dunkelheit konnte ich nicht erkennen, wie rum ich das Gummi aufsetzen musste. Ich hielt es mir dicht vor die Augen, ich sah nichts. Ich hielt es mir noch näher und traf mir damit ins Auge.
Es half nichts, ich brauchte kurz Licht. Die Gefahr war zu groß, das Kondom erst falsch herum aufzuziehen. Dann bräuchte ich ein neues. Ein beflecktes Kondom zu benutzen, so gering die Gefahr vielleicht auch war, kam nicht in Frage. Ich wollte nicht Urheber des Stammbaums eines wirklichen Oskar Matzerath werden.
Ich ließ von Isabels Kitzler ab und kämpfte mich unter den Röcken hervor. Zu meinem Glück erwarteten mich im Schlafzimmer keine Polizisten. Die frische Luft war himmlisch.
Isabel richtete sich auf und sah mich fragend an.
„Ich konnte nicht sehen, wie rum ich das Ding anziehen muss.“
Sie lachte.
Ich holte schnell nach, was mir in der herrlichen Höhle unmöglich gewesen war und wollte erneut in die Tiefen der Röcke vorstoßen. Isabel nahm mein Gesicht in ihre Hände.
„Willst du nicht lieber hier oben bleiben? Es war ja 375 zwischenzeitlich ganz nett, was du da unten gemacht hast, aber so langsam wäre ein wenig mehr ganz schön. Ich weiß nicht so genau, was du da unten noch vorhast.“ Ich hielt inne, hielt die vierfache Stoffdecke über meinem Kopf, kurz davor abzutauchen. So genau wusste ich das ja auch nicht. Aber ich war guten Mutes.
„Ich krieg das schon hin.“
„Sicher?“
„Klar.“
Ich verschwand wieder in der Dunkelheit. Ich versuchte meinen Körper auf dem engen Raum zurechtzurücken.
„Aua!“
Ich trat ihr auf die Füße.
„Entschuldige.“
Ich versuchte mein Becken anzuheben. Die Brückenposition, bei der ich auf Händen und Füßen stand und meinen Penis nach oben zu strecken versuchte, wollte mir nicht gelingen. Ich war zu ungelenkig und der Platz reichte auch nicht aus. Umsetzen. Neue Position. Mein Kopf stieß schmerzhaft gegen ihr linkes Knie.
„Langweilig.“
In ihrer Stimme lag etwas Belustigung, aber leider nicht mehr allzu viel, sie klang eher etwas ungehalten und, vielleicht noch schlimmer, wirklich gelangweilt. Keine guten Voraussetzungen. Ich musste etwas tun.
Ich begab mich in den Schneidersitz und begann erneut, sie oral zu befriedigen. Nach einigen Sekunden schien sie wieder etwas besänftigt. Die Seufzer waren zwar leiser und zaghafter als zuvor, aber ich war wieder im Spiel. Dann ein neuer Versuch. Schnell, ich hatte nicht allzu viel Zeit. Isabel musste bei Laune gehalten werden. Schwerfällig hievte ich mich auf die Knie, reckte meine Hüfte in die Höhe, aber ich kam bei weitem nicht hoch genug. Zwischen unseren Geschlechtsteilen klaffte eine lustlose Lücke von mindestens dreißig Zentimetern Luft. Wie sollte ich unter den Röcken meine Hüfte nach oben bekommen? Umpositionierung. Rücken auf den Boden. Mein Becken robbte näher heran. Ich versuchte mich an einer Art Kerze, aber meine Beine standen zu sehr in der Luft. Meine Hüfte kam zwar höher, ich glaube für eine glücksberauschte Sekunde streifte die Spitze meines Penis ihre Schamhaare. Aber wohin mit meinen Beinen? Meine Füße verhedderten sich in ihren Röcken. Ich rollte mich wieder ab, ein ungesundes Knacken in meinem Nacken. Der erneute Versuch einer Brücke, diesmal aber nur mit einem Arm als Stütze. Schon etwas besser. Ich kam höher. Mein Schwanz streifte kurz ihre Schamlippen, rutsche aber sofort wieder am Ziel vorbei. Noch einmal, ich vollführte so etwas Ähnliches wie einen Stoß nach oben. Schwanz klatschte gegen Oberschenkel, einmal links, einmal rechts. Ich tastete mich weiter vor, aber die Position war anstrengend, unbequem auch, lange würde ich das nicht halten können, ich befürchte, ich stocherte mit meinem Ding auch nur in der Nähe des Ziels herum, ohne tatsächlich allzu viel zu bewirken. Eine überforderte Wünschelrute zitterte zwischen meinen Beinen, die die Richtung zwar kannte, das Gesuchte witterte, aber an der schlussendlichen Durchführung scheiterte. Joseph Koljaiczek wird im Buch als eher klein beschrieben, vielleicht liegt darin sein Vorteil, vielleicht steht er sogar gebückt unter den Röcken oder er war einfach sehr gelenkig.
Mein Arme und meine Beine zitterten, meine Muskeln protestierten, der Geist war willig, überaus willig sogar, williger war ein Geist vielleicht nie gewesen, aber das Fleisch war schwach, ein Teil des Fleisches zumindest, das meiner Muskeln in Armen und Beinen, das Fleisch zwischen meinen Beinen hingegen pochte und pulsierte und bemühte sich ungehemmt weiter. Nachdem mein Penis für eine halbe Sekunde den Weg zwischen Isabels Schamlippen gefunden hatte, danach jedoch erneut auf Zehntelstrecke verloren ging, schien sie die Geduld zu verlieren. Sie erhob sich kurz, lüftete eine wenig ihre Röcke und ließ sich dann regelrecht auf mich fallen. Ich lag jetzt auf dem Rücken, mein Kopf lugte unter den Röcken hervor. Gierig sog ich frische Luft in meine Lungen. Sie setzte sich auf mich, führte mich in sie ein und begann mich wild zu reiten. Aus ihrem Eifer sprach eine zu lang strapazierte Geduld. Auch meine Füße lagen jetzt wieder im Freien, ihre Röcke lagen auf meiner Brust. Isabels Hände krallten sich in meine Seiten. Ich wollte protestieren, wollte es noch einmal versuchen, ich war doch kurz davor, ich wusste, dass es machbar war, aber ich kam nicht zu Wort, wollte auch gar nicht mehr, konnte nichts mehr sagen, überließ mich ihr völlig. Einmal rutschte einer der Röcke noch über mein Gesicht, ich schmeckte ein paar Fussel auf der Zunge, dann kam ich und ich glaube, sie auch.

Die Szene aus der Blechtrommel habe ich nicht noch einmal ausprobiert. Ich habe länger darüber nachgedacht, habe mich auch mit Isabel darüber unterhalten, danach, wir lachten beide sehr viel, mit ihr konnte ich gut darüber reden. Wir mutmaßten, ob Joseph Koljaiczek nicht doch lediglich Cunnilingus ausübt, das hatte ja bei uns in der Praxis recht gut funktioniert. Vielleicht findet im Buch keine wirkliche Penetration statt, denn wie sollte das funktionieren, wie sollte es möglich sein, unterhalb der vier Röcke die beiden Becken dafür nah genug zueinander zu bringen, noch dazu verborgen, ohne dass Außenstehende, die es bei Isabel und mir glücklicherweise nicht gegeben hatte, etwas davon mitbekamen? Anna Bronskis Stöhnen ist ja kein hinlänglicher Beweis, dass es zum tatsächlichen Akt gekommen ist. Aber irgendwie muss es doch funktioniert haben. Denn schließlich wird Anna Bronski ja schwanger. Die einzige Möglichkeit, die mir noch einfallen will, wie eine Schwangerschaft ohne wirklichen Koitus zustande kommt, ist die, dass Koljaiczek Anna mit Mund und Hand bespielt, während er mit seiner anderen Hand an sich selbst herumspielt. Er ejakuliert sich auf die Hand reibt dann damit erneut über Annas intimste Zonen. Aber dieses Szenario mutet mir selbst für einen Günter Grass zu unwahrscheinlich an. Ich will lieber glauben, dass es wirklich möglich ist. Zumindest in der Phantasie von Günter Grass. Leider kann ich ihn nicht mehr fragen. Ich stelle mir gerne vor, dass er sich über meinen Leserbrief zwar gewundert, aber gefreut hätte, wie eine Art literarischer Doktor Sommer.
Isabel und ich beließen es bei diesem einen Versuch. Und ich beließ es generell bei diesem ersten und einzigen Test dieser Szene. Spaß gemacht hat es letztendlich auf jeden Fall.
Nebenbei, der erste Satz aus der Blechtrommel beginnt so: „Zugegeben: ich bin Insasse einer Heil- und Pflegeanstalt …“.
Klasse!

Mir stellt sich die Frage, ob du so viele Details vielleicht gar nicht hören willst. Zu viel Information, zu umfassend mein Bericht und meine Beichte. Aber ich schrieb dir bereits, dass ich nichts auslassen werde. Du sollst alles wissen. Ich habe beschlossen, mich dir völlig zu öffnen und dir alles darzulegen. Für mich gehört dazu, dass ich dir alles sagen muss. Verzeih mir, wenn es für dich zu viel sein sollte und verzeih mir auch meine Bitte, trotzdem alles zu lesen, alles anzuhören. Ich habe die Hoffnung, dass du mich am Ende besser verstehst. Dass du vielleicht nicht alles gutheißen wirst, wahrscheinlich sogar, aber dass du zumindest akzeptierst. Dass du mir meine anfängliche Verheimlichung verzeihst. Und ich denke, dass deine Fantasie immer noch schlimmer sein könnte, als meine Beichte der Wirklichkeit. Ich denke, es ist besser für dich, alles zu wissen, anstatt viel zu mutmaßen. Diese ehrliche gedankliche Rekonstruktion meiner Passion, diese unbeschränkte Offenheit, das alles ist nur für dich. Weil du etwas mit mir gemacht hast, was ich vorher nicht kannte.
Ich sah dich damals im Bus und glücklicherweise sahst du mich auch. Wie hättest du mich auch nicht sehen können, so wie ich meinen Kopf verrenkt habe, um die Buchtitel lesen zu können, die du auf deinem Schoß balanciert hast? Und als ich bemerkte, dass du mich bemerkt hast, wie ich versuchte die Titel zu lesen, war ich kurz wie erstarrt, versteinert wie ein Gargoyle, wie ein Troll bei Tagesanbruch, ich saß zwei Plätze neben dir, nach vorne gebeugt, meinen Hals gereckt und starrte auf deine Bücher und blieb genauso sitzen und es war genauso unbequem wie es ausgehen haben muss. Dein Blick war irritiert und gleichzeitig belustigt und nicht abgeschreckt oder ungehalten darüber, was diesem Spinner einfalle, einfach so unverhohlen auf deine Bücher zu starren. Und ohne deinen Blick zu ändern, machtest du diese kleine Geste, diese kleine Bewegung, die in mir den unbestimmten aber unwiderruflichen Wunsch weckte, dich kennenlernen, deine Stimme hören und deine Geschichte erfahren zu wollen. Du schobst deinen wankenden Bücherstapel ein klein wenig zur Seite, so dass ich die Titel besser lesen konnte. Dann hast du weggesehen, nicht ohne auf deinen Lippen ein sehr feines, ein sanftes, nur für den genauen Beobachter zu erkennendes Lächeln zu hinterlassen. Es war ein ganzer Stapel literaturwissenschaftlicher Werke und diese Tatsache entzündete sofort einen Funken in mir. Sogleich schossen mir allerlei Mutmaßungen durch den Kopf, in welcher Verbindung du wohl mit Literatur stehen mochtest. Dann machte der Bus eine ruckartige Bremsung, wir wurden durchgeschüttelt und deine Bücher brachen wie ein Jenga-Turm zusammen, bei dem man das falsche Holzstäbchen gezogen hatte. Ich half dir beim Aufsammeln der Bücher, die zwischen Schuhe, Haltestangen und Einkaufstüten geschliddert waren. Und als wir alle wieder beieinander hatten, dankest du mir mit diesem bezaubernden Lächeln und sagtest dann gleich, du müssest hier raus und ich, ich verließ einfach mit dir den Bus und dann standen wir auf der Straße, ich übergab dir deine restlichen Bücher und du bedanktest dich erneut und fragtest mich, ob ich hier überhaupt auch hatte aussteigen müssen und ich sah mich um, grinste verlegen und sagte, nein.

Kapitel 3: Einfach ein Vater

Dir alles zu sagen heißt wohl auch, noch weiter zurück zu gehen, auch die Vergangenheit zu ergründen, zu beleuchten. Eine biographische Spurensuche. Ob dies wichtig oder aufschlussreich ist, ich weiß es nicht genau. Ich vermute schon. Was sind wir anderes, als das Produkt unserer Vergangenheit? Wir, unsere Person und unser Charakter, sind doch letztlich eine unzählige Ansammlung von Erinnerungen und Erfahrungen. Und wenn ich dir versichere, alles zu sagen, dann gehört dies auch dazu.
Vielleicht liefere ich dir auch lediglich noch mehr Informationen über meine Person. Mein Wunsch ist es, dass du dir ein eigenes Urteil bildest. Und dass du mich noch besser kennenlernst, alles an mir. Ehe du mir hoffentlich die Chance gibst, mit dir gemeinsam alles weitere von der Welt kennenzulernen.
Ich will versuchen, dir meine Kindheit aus den Augen des Kindes zu schildern, das ich damals war. Um meine damaligen kindlichen Gedanken besser verstehen zu können. Um besser mit mir in diese Geschichte meiner Vergangenheit einzutauchen und sich besser in diese einfühlen zu können.

Meine Mutter wollte immer noch mehr Kinder haben. Das sagte sie mir zumindest häufig. Damit versuchte sie mir, als ich noch Kind war, wohl zu begründen, warum sie so oft Sex mit meinem Vater hatte.
„Ich hätte so gerne noch ein Kind, Alexander. Deshalb sind Papa und ich so oft zusammen.“
Das war ihrer Meinung nach wohl eine hinreichende Erklärung. Und was sollte ich das als plus minus Sechsjähriger auch weiter hinterfragen?
Aber es klappte nicht. Warum, wusste angeblich niemand. Biologisch gesehen gab es weder bei meiner Mutter noch bei meinem Vater Hindernisse. Sagte sie. Allerdings schien ihr Wunsch nach weiteren Kindern weitaus größer als seiner. Sie probierten es sehr häufig. Ich glaube sogar, fast jeden Tag und jede Nacht. Sie schienen nicht müde zu werden. Irgendwann später, als ich älter war und die biologischen Funktionen der nächtlichen Schreie aus dem Schlafzimmer eindeutig interpretieren konnte und kannte und verstand, stellte ich mir die Frage, wie viel Sperma meine Mutter eigentlich in diesen Jahren in ihrem Körper aufgenommen hatte? Das war eine Vorstellung, die mir nicht behagte, die mich jedoch immer wieder hinterlistig anfiel, wie ein Ninja oder ein Guerillakämpfer. Wie viele Billionen von Spermien mussten durch die Vagina meiner Mutter geflossen sein? Und nie kam dabei ein Bruder oder eine Schwester für mich heraus. Manchmal konnte ich sie hören, vor allem meine Mutter, auch wenn sie sich Mühe gaben, den Geräuschpegel gering zu halten. Aber wenn meine Mutter zu laut wurde, konnte ich die Stimme meines Vaters vernehmen, wie er sie ermahnte, leiser zu sein, sonst würde ich sie noch hören. Einmal erwischte ich sie abends im Wohnzimmer. Ich konnte nicht einschlafen und bin mit schweren Augen aus meinem Zimmer getrippelt, das Platschen meiner nackten Füße auf dem Boden in den eigenen Ohren. Und dann sah ich sie auf meinem Vater sitzen, einander zugewandt, sie sprang auf und ab, er hatte ein verzerrtes Gesicht, was ich etwas unheimlich fand. Sie bemerkten mich nicht und ich stand etwa eine Minute als stummer Beobachter hinter dem Sofa, ehe ich genauso stumm wieder kehrt machte und mich zurück in mein Bett legte. Vielleicht hatte Gott keinen weiteren Zuwachs für die Familie Portereit geplant. In unserer Familie glaubte allerdings niemand an Gott, also machte ihm auch niemand einen Vorwurf, noch wurde er um etwas gebeten. Meine Mutter allerdings sprach später, nachdem sich meine Eltern getrennt hatten und mein Vater aus meinem Leben verschwand, davon, dass die Einstellung meines Vaters Schuld gewesen sein musste. Er wollte kein weiteres Kind. Sagte sie. Und auch  wenn er wohl alle körperlichen Voraussetzungen erfüllte und den erforderlichen Ertüchtigungen häufig und regelmäßig mit meiner Mutter nachging, wollte er kein weiteres menschliches Wesen daraus entstehen sehen. Sagte sie. Er hätte es wohl hingenommen, aber er war auch froh, dass es nicht dazu kam. Und das war nach Meinung meiner Mutter der Grund, der transzendentale, übernatürliche, nicht weiter zu erklärende Grund, für das Ausbleiben einer erfolgreichen Fusion von Ei und eines der unzähligen zappelnden und fleißigen Spermatozyten. Sagte sie. Auch das schien ihr gegenüber ihres jungen Sohnes als hinreichende Erklärung. Und das war es für mich auch.

Mit vier Jahren lernte ich lesen und mit fünf Jahren schreiben. Auf meinen eigenen Wunsch hin. Meine Mutter brachte es mir bei, weil ich so gerne vorgelesen bekam. Schon als Kleinkind bettelte ich um Geschichten und Erzählungen jedweder Art. Allerdings war sie abends, wenn ich ins Bett ging, oft nicht zu Hause, da sie als Krankenschwester arbeitete. Und mein Vater, als er noch da war, wollte und konnte nicht gut vorlesen. Also musste ich mich wohl oder übel selbst darum kümmern. Das hatte auch nichts mit Hochbegabung zu tun, lediglich mit einem starken Willen und einem noch stärkeren Wunsch, in diese abenteuerliche und endlose Welt der Geschichten einzutauchen. Dementsprechend fiel es mir recht leicht und ich lernte sehr schnell. Das Verlangen nach den Geschichten beflügelte mich, sorgte für eine für ein Kind meines Alters ungewöhnliche Konzentration. Ich wollte wissen, was diese Zeichen auf den Buchseiten bedeuteten, diese seltsamen Striche und Punkte, die scheinbar unermessliche Geheimnisse beinhalteten, ich wollte sie ihnen entlocken, ich musste diese Schätze unbedingt bergen. Meine Mutter war beeindruckt und stolz. Mein Vater nahm die Neuigkeit, dass sein Sohn schon lesen und schreiben könne, noch bevor er in der Schule war, mit einem Kopfnicken zur Kenntnis. Ich meine mich zu erinnern, dass er mir auch kurz zulächelte, als ich stolz ein Buch in der Hand hielt und die ersten drei Sätze daraus langsam, aber recht flüssig vorlas. Dann stand er auf, ging zum Kühlschrank und holte sich ein Bier. Auf dem Rückweg zum Sofa fuhr er mir kurz über meine braunen Locken, was sich toll anfühlte und mir als Lob von seiner Seite aus genügen musste. Meine Eltern waren beide keine allzu großen Leser, aber trotzdem erkannte zumindest meine Mutter die Bedeutung frühkindlicher Förderung durch die Literatur. Unterstützt wurde sie dabei von meiner Tante, ihrer Schwester, die eine große Literaturliebhaberin war und der ich sicherlich auch einen großen Teil meiner Vorliebe für Bücher zu verdanken habe. Dazu später mehr. Immer wenn sie abends Gelegenheit dazu hatte, las mir meine Mutter vor. Angefangen haben wir mit den klassischen Märchen. Noch heute kenne ich sie alle. Und immer lauschte ich wie gebannt, wenn es um Prinzessinnen, sprechende Tiere oder böse Stiefmütter ging. Ich war fasziniert und beglückt. Ich sog die Worte in mich ein. Welche kluge Idee von Hänsel und Gretel, eine Spur aus Steinen und Brotkrumen zu legen. Wie genial von Rapunzel, ihr Haar aus dem Turmfenster zu hängen, damit der Prinz daran empor klettern konnte. Und wie mutig von dem anderen Prinzen, sich durch das dichte Dornendickicht zu kämpfen und dann noch die Geistesgegenwart zu besitzen, Dornröschen zu küssen, um sie aus dem Schlaf zu wecken. Ich war fasziniert von diesen fremden Geschichten, diesen fremden Welten, in denen das Fremde doch so selbstverständlich war. Und ich war begeistert von der Vorstellung, dass es da Menschen gab, die sich diese Geschichten ausgedacht hatten. Sie mussten die wahren Zauberer sein, die unter uns normalen Menschen wandelten. Sie erfanden Geschichten! Jeder Abend, an dem meine Mutter mir nicht vorlas, war ein großes Drama. Nicht selten gab ich mich vor dem Schlafengehen ausgiebigen Schreikrämpfen hin, wenn meine Mutter arbeiten musste und mein Vater mir nicht vorlesen wollte. Ich bettelte, ich weinte, ich machte Versprechungen mein Zimmer aufzuräumen – er blieb hart. Er wollte und konnte nicht gut vorlesen, war seine Standardantwort. Und dass ich mich ja zusammenreißen sollte, sonst würde es was setzen. Er schlug mich zwar nie, aber er las mir auch nie vor. Leise weinte ich mich in den Schlaf, an die bereits bekannten Abenteuer denkend, nach denen ich so sehr schmachtete und auch an jene, die mir entgingen. Schnell lesen zu lernen war für mich also eine nahezu lebenswichtige Notwendigkeit. Und als ich diese komischen Zeichen dann endlich entschlüsseln konnte und sie sich in Buchstaben, Worte und Sätze verwandelten, nahm ich mir alles vor, was mir zwischen die Finger kam. Märchen, Walt-Disney-Bücher, Fünf Freunde, Janosch, Kochbücher und Fernsehzeitschriften. Einmal fand ich im Schlafzimmer meiner Eltern ein Erotikmagazin. Beim Durchblättern der dünnen Seiten dachte ich mir Gründe und Geschichten aus, warum darin alle nackt waren. Und ich überlegte mir, was die Worte bedeuten konnten, die ich noch nicht kannte. Klitoris interpretierte ich als ein bestimmtes Körperteil der Frau, welches sehr kitzlig war, womit ich ja gar nicht so verkehrt lag. Ficken bedeutete so viel wie miteinander lachen und spielen, auch nicht schlecht eigentlich, und ein Vibrator war ein neues fremdländisches Küchengerät. Oft verstand ich nicht alles, was ich las, ich war einfach noch zu jung dafür. Offensichtlich. Aber das machte mir nichts aus. Die unendliche Geschichte las ich mit sieben. Ich war mir sicher, auch wenn mir nicht alle Zusammenhänge des Inhalts einleuchteten, dass ich es mit einer wunderbaren Geschichte zu tun hatte. Ich erfreute mich an dem, was ich verstand und las es später noch einmal und dann noch einmal, bis ich es verstand. Ich liebte den Drachen Fuchur und die riesige Schildkröte Morla und die kindliche Kaiserin und ich fürchtete mich vor dem bösen Werwolf Gmork. Ich las in meinem Bett unter der Decke, ich las auf dem Klo, ich las in der Küche auf dem Boden sitzend und mit dem Rücken gegen den Kühlschrank gelehnt, unter dem Esstisch, draußen auf der Wiese, in der Pausenhalle der Schule, im Schwimmbad, in der Badewanne. Später las ich am liebsten in der Bibliothek, in der meine Tante arbeitete. Meine Mutter unterstützte mich, mein Vater nahm es hin. Meine Mutter fragte mich oft nach dem Inhalt meines momentanen Buches und ich berichtete ihr mit Freude und Übermut, schilderte ihr die Figuren, wollte ihr unbedingt zeigen, wie spannend das Buch sei und ihr deutlich machen, was mir daran so sehr gefiel. Mein Vater fragte nie danach. Manchmal ergriff ich die Initiative und versuchte ihm etwas aus den Büchern zu erzählen. Entweder hörte er mir stumm zu und nickte in regelmäßigen Abständen und dachte sicherlich an etwas ganz anderes. Oder er stoppte mich nach ein paar Sätzen und sagte mir dann, er habe dafür momentan keine Zeit. Ich hatte nie das starke Bedürfnis, ihn besonders stolz zu machen. Ich suchte nicht übermäßig seine Nähe. Ich hatte nicht das Gefühl, dass mir etwas Grundlegendes fehlte, in der Vater-Sohn-Beziehung. Zumindest würde ich heute mein Verhältnis zu ihm mit diesen Worten beschreiben. Als Kind konnte ich meine Gedanken und Gefühle natürlich nicht in solche Worte fassen, aber ich glaube, dass ich damals so dachte und fühlte. Es war nun einmal so, wie es war. Auf jeden Fall hätte ich mich gefreut, wenn mein Vater mehr Interesse gezeigt hätte. Wenn ich mit ihm hätte reden und mich ihm anvertrauen können. Wenn er meine Begeisterung für Bücher und Geschichten geteilt hätte. Aber dem war nicht so. Ich akzeptierte das. Ich verstand nicht so richtig. Aber ich akzeptierte. Ich kann nicht sagen, dass er ein schlechter Vater gewesen war. Aber auch nicht, dass er ein guter war. Er war einfach ein Vater. Und irgendwann war er halt nicht mehr da. Der Verlust traf mich, aber nicht allzu hart. Ich hatte meine Bücher.

Und ich hatte meine Mutter. Ich liebte sie und sie liebte mich. Da bin ich mir sicher. Und sie zeigte es mir zwar mehr und häufiger, als es mein Vater getan hatte, aber von einer übermäßig liebevollen und innigen Beziehung kann auch hier nicht die Rede sein. Sie sagte mir, dass sie mich lieb hatte, manchmal. Sie küsste mich auf die Stirn, ab und zu. Sie fragte mich nach meinem Tag, nach dem Buch, das ich gerade las. Sie brachte mir das Lesen bei, wofür ich ihr auf ewig unendlich dankbar sein werde. Aber nicht selten kam mir unser Verhältnis etwas oberflächlich vor. So wie mein Vater eben mein Vater war, war es nun mal eine Tatsache, dass sie meine Mutter war, nur dass sie ihre Rolle ein wenig ernster nahm. Aber eben nur ein wenig. Vielleicht kann man es so am besten beschreiben: ich war nun einmal ihr Sohn und seinen Sohn hatte man nun einmal lieb. Es gehörte sich, dass man ihm ab und zu sagte, dass man ihn lieb hatte, dass man ihn ab und zu auf die Stirn küsste und dass man fragte, welches Buch er gerade las. Eine Pflichterfüllung mit einer gewissen Wärme, aber ohne Feuer. Warum sie unbedingt weitere Kinder haben wollte, verriet sie mir nie. Ich konnte damals nur mutmaßen. Der Gedanke, dass ich ihr vielleicht nicht genügte oder nicht gut genug war, kam mir erst so spät, dass er mich gar nicht mehr so sehr treffen konnte. Kurz bevor ich ohnehin die Wahrheit erfuhr. Meine Hauptthese bezüglich ihres nicht nachlassenden Kinderwunsches, die ich mit etwa zehn Jahren entwickelte, konnte ich natürlich nicht beweisen: Ich war irgendwann der Meinung, dass es sich bei ihrer Liebe um eine Art Rechnung handeln musste. Nach dem Prinzip: Je mehr Kinder, desto mehr Liebe. Mit jedem Kind, würde ihre Liebe wachsen. Exponentieller Wachstum sozusagen. Ein Kind bedeutete ein 805 wenig Liebe. Zwei Kinder hätten doppelt sie viel Liebe bedeutet, drei Kinder gleich ein Vielfaches mehr an Liebe. Allerdings blieb ich Einzelkind. Also gab es auch nur ein wenig Liebe. In Mathe war ich auch nie so gut. Die Wahrheit kam, wie gesagt, etwas später.

Meine Eltern trennten sich, als ich acht Jahre alt war. Gründe und Erklärungen kenne ich nur jene, die meine Mutter mich wissen lassen wollte. Mein Vater zog an einem Freitag aus. Kurz nachdem ich von der Schule heimkam. Den Schulweg ging ich schon alleine, er betrug keine zehn Minuten. Ich stand vor unserer Haustür und wollte gerade zweimal kurz und einmal lang klingen, mein persönliches Klingelzeichen, als sich die Tür bereits öffnete und mein Vater, beladen mit einem großen Koffer, mich fast umgerannt hätte. Bis heute denke ich manchmal darüber nach, wie ich seinen Blick von damals deuten soll. Es war Überraschung, da bin ich mir sehr sicher, aber keine freudige, und trotzdem glaubte ich, auch eine Spur Dankbarkeit darin lesen zu können. Vielleicht hat sich diese Interpretation aber auch über die Jahre in meinen Kopf geschlichen und festgesetzt. Wollte er verschwinden, ohne sich von mir zu verabschieden? Bedeutete ich ihm so wenig? Oder wollte er es mir dadurch einfacher machen? So wie Möbius in Die Physiker, der seinen verrückten Weltraumfahrerpsalm über seine Familie niederregnen lässt, um ihnen den unwiderruflichen Abschied zu erleichtern. Eine kompromisslose Trennung, ohne Lebewohl, ohne Tränen und ohne verlegene Worte, die niemals, niemals, niemals die richtigen Worte sein können. Verschwinden, als hätte es ihn nie gegeben. Als ob das möglich wäre. Momentan gebe ich mich der Ansicht hin, dass er ohne Abschied gehen wollte, aber dann im Grunde schmerzlich dankbar dafür war, dass es doch nicht so gekommen ist. Für einen kurzen Moment weilte sein Blick auf mir und obwohl ich erst acht Jahre alt war, oder weil ich schon acht Jahre alt war, ist mir dieser Tag und dieser Moment sehr gut in Erinnerung geblieben, schmerzhaft eingebrannt in mein Gedächtnis. Oder eher geschnitzt, wie mit einem Taschenmesser in eine Holzbank, denn der Tag und der Moment zogen sich lange hin, als hätten sie beschlossen, nicht zu enden oder zumindest die Gesetze der Zeit nicht zu beachten. Sein Blick weilte auf mir und er fühlte sich schwer an, wie ein Gegenstand, ich konnte ihn auf meinem Kopf und meinen Schultern spüren. Dann lud er seinen Koffer in sein Auto. Ich blieb dabei wie angewurzelt stehen, drehte nur meinen Kopf und folgte seinen Bewegungen. Dann kam er zurück und kniete sich vor mich. Er sah mir in die Augen und ich konnte mein Gesicht in seinen eigenen sehen, was mir damals wie ein Wunder anmutete. Er legte seine Hände auf meine Schultern, strich mir über die weichen Kinderwangen, legte seine Hände wieder auf meine Schultern. Seine Augen waren Zeugnis für den Kampf der Worte, der in seinem Kopf tobte. So weit ich mich erinnern kann, war er nie ein Mann großer Worte gewesen. Was erwartete ich also? Man hätte zwar meinen können, auch wenn man sonst nicht mit übermäßiger Eloquenz oder mit einem Überfluss an Redseligkeit gesegnet war, dass eventuell in einem solchen Moment zumindest ein paar bedeutende Worte den Weg von seinem Kopf über seine Zunge gefunden hätten, und wenn es nur dieses eine Mal in seinem Leben gewesen wäre. Aber alles, was er sagte, während eine ganze Zeit lang das Gewicht seiner Hände auf meinen Schultern meinen Körper schwer werden ließ, war: „Ich wünsche dir ein tolles Leben, mein Sohn.“ Das war’s. Dann drehte er sich um, stieg in sein Auto und fuhr los. Es war ein Freitag, die Sonne bellte, irgendwo schien ein Hund und ich hatte keine Hausaufgaben auf.

[…]

Portrait Manuel Zerwas

„Der Bücherflüsterer“

Alexander ist Buchhändler und hat eine geheime Leidenschaft: Er liebt es, erotische Szenen aus Romanen nachzuempfinden. Da er die Frau fürs Leben noch nicht gefunden hat, ist Alex immer wieder auf der Suche nach Partnerinnen für diese Abenteuer, allerdings stößt er bei einigen Szenen auch auf Hindernisse. Denn was zwischen den Zeilen hocherotisch wirkt, kann zwischen den Laken schnell zu Peinlichkeiten führen. Als Alex dann Maria kennenlernt, ist es Liebe auf den ersten Blick, doch mit einer unbedachten Lüge stößt er sie völlig vor den Kopf und nur eine schonungslos ehrliche Lebensbeichte kann das zerstörte Vertrauen vielleicht wieder herstellen…

Manuel Zerwas – Kandidat Lesen…in vollen Zügen

Manuel Zerwas, geb. 1987 in Speyer, Studium in Landau und Mainz, Master of Education. Ein Jahr Erzieher in einer Kindertagesstätte. Seit 2015 Lehrer an Gymnasien für Deutsch und Sport. Reist gerne (z.B. Kuba, Südafrika, Indonesien, …) und spielt Gitarre und Ukulele in zwei Bands. Seit 2013 diverse Veröffentlichungen in Zeitschriften und Anthologien. Preisträger Junges Literaturforum Hessen-Thüringen 2013. Sein Lyrikband »Sinn im Unsinn« erschien 2014 im Brot & Kunst Verlag. Martha-Saalfeld-Förderpreis 2015 für sein Romanmanuskript »Das Gute zuletzt«. Im Sommer 2016 sind seine Geschichten aus dem absurden Alltag eines Kita-Erziehers erschienen: »Jonas, nimm den Dinosaurier aus der Nase!« (Schwarzkopf & Schwarzkopf).

Foto: Lena Csercsevics

Hier gehts zum Beitrag auf dem Blog Lesen…in vollen Zügen

Interview mit dem Longlist-Autoren

Du stehst auf der Longlist des Blogbuster-Preises. Hättest Du damit gerechnet?

Nö. Aber gehofft habe ich. Und dann gewartet.

Warum hast Du Dich gerade bei „Lesen…in vollen Zügen” beworben?

Andreas Satz „Anderen meine Lieblingstitel schmackhaft zu machen liegt mir also im Blut“ hätte von meinem Protagonisten stammen können. Auch ihre Ablehnung des „öden Einheitsbreis“ – der ja im Grunde auch mal gut schmecken kann – hat mich angesprochen, ebenso ihr gesamter Blog.

Blogbuster ist ein etwas anderer Literaturwettbewerb. Was hat Dich gereizt, daran teilzunehmen?

Ein etwas unkonventioneller Roman für einen etwas unkonventionellen Wettbewerb… Ich glaube zudem, dass Literaturbloggerinnen und -blogger vielleicht noch etwas offener für ungewöhnliche Geschichten sind als größere Publikumsverlage. Oder es sich auf jeden Fall erlauben können.

Die erste Hürde ist genommen, welche Chancen rechnest Du Dir aus, auch die Fachjury zu überzeugen?

Ich hoffe einfach, dass die Jury es ein bisschen handhabt wie mein Protagonist, der ja selbst eine Buchhandlung besitzt. Der, genauso wie Andrea es ja geschrieben hat, etwas bevorzugt, das man nicht schon tausend Mal gelesen hat. Na dann, bitte sehr …

Wie lange hast Du an dem Romanmanuskript geschrieben und was hast Du bisher schon unternommen, um einen Verlag zu finden?

Mein Protagonist mit seiner Passion hat schon längere Zeit sein Unwesen in meinem Kopf getrieben und mich immer wieder gezwungen, Notizen zu machen. Bis er mich dann innerhalb eines Jahres dazu gebracht hat, seine Geschichte, seine Lebensbeichte, aufs Papier zu bringen.

Was wirst Du zusammen mit Deiner Bloggerin noch unternehmen, um Dich und Dein Manuskript zu promoten?

Das Manuskript wurde als amüsant bezeichnet. Ich denke, mir oder uns fallen noch ein paar lustige Ideen ein …

Mein Favorit für den Blogbuster Award

von Andrea Schuster – Lesen in vollen Zügen

Letztes Jahr wurde ich gefragt, ob ich nicht Lust hätte, bei der Bloggerjury des Blogbuster Award mitzumachen.
Hier können Autoren ihre noch unveröffentlichten Romane einreichen, eine Jury aus zehn Bloggern liest sich dann durch Leseproben, Exposés und Manuskripte und jeder kürt einen Favoriten, der dann auf die Longlist und damit weiter an die Fachjury wandert.
Dem Gewinner winkt ein Verlagsvertrag bei Eichborn, aber auch Titel vergangener Staffeln, die zwar am Ende nicht das Rennen machten, haben auf diesem Weg doch noch oft Verlage gefunden. – Eine wirklich schöne Aktion also… Klar wollte ich da dabei sein!

Nach der Frankfurter Buchmesse begannen nach und nach die ersten Leseproben bei mir einzutrudeln und Anfang des Jahres folgte dann nochmal ein ganzer Schwung.
Es waren viele spannende Ideen dabei, einiges, was ich mir sofort als Buch hätte vorstellen können und anderes bei dem ich schnell merkte, daß ich nicht so wirklich warm damit wurde.

Ein Titel aber brachte mich schon beim Exposé laut zum Lachen: „Der Bücherflüsterer“ von Manuel Zerwas.
Wenn ich vor schwierigen Entscheidungen stehe, dann wähle ich gerne, was mich am meisten amüsiert; auch wenn ich damit in diesem Fall einen extrem unkonventionellen Titel gewählt habe.

Den gesamten Beitrag gibt es auf Lesen…in vollen Zügen.

Leseprobe: Kerstin Meixner – “Am Fuß des Berges”

ZWEITES KAPITEL

Ein letzter Herbstabend zu zweit auf dem Balkon, kurz bevor die erste Bombe fällt

Draußen wird es jetzt wieder früher dunkel. Sie sitzt auf dem Balkon und raucht. Hinter den Häusern auf der gegenüberliegenden Straßenseite ist die Sonne schon fast verschwunden. Den Geschmack von selbstgebackenem Butterkuchen hat sie noch immer im Mund, daran ändern auch die Zigaretten nichts. Sie zählt die Fenster, in denen das Licht angeht. Irgendwann kommt Ilija von der Arbeit heim, setzt sich neben sie und raucht ebenfalls. Seit etwa einem Jahr zieht er die Krawatte nicht mehr aus, sobald er nach Büroschluss in der U-Bahn sitzt. Er lockert sie nur so weit, dass er sein Hemd darunter aufknöpfen kann und man seine Brusthaare sieht. Bis in seine späten Zwanziger hat er an der Überzeugung festgehalten, man könne ein Roter Stern Belgrad-Trikot in allen Lebenslagen tragen, aber diese Zeiten sind nun vorbei. Sie wirft einen heimlichen Seitenblick auf die dichten, dunklen Haare auf der vom Sommer gebräunten Haut, die sich an der hellen Knopfleiste vorbeidrängen. Seine Brust gefällt ihr immer noch, aber ohne Krawatte fände sie sie schöner. Ilija bemerkt ihren Blick und lächelt. Marko und Faizah werden bald zu Hause sein. Dann werden sie alle zusammen essen. Marko wird ihnen halbwahre Geschichten über seine Stunden im Wettbüro erzählen, Faizah wird sie fragen, wie es bei ihrer Familie gewesen ist und Ilija wird mit nichts über seinen Tag herausrücken. Was in seinem Leben passiert, während er Krawatte trägt, gehört zu den Geheimnissen, die er für sich behält. Er erzählt über Begegnungen, die er in der U-Bahn hat, über die alte Frau mit dem Vogelkäfig auf dem Rollator, die versucht Stadttauben zu fangen, und darüber, dass er irgendwann einmal die Gaststätte Zum goldenen Eck kaufen wird, die auf seinem Arbeitsweg liegt, und dass er dann den ganzen Tag davor sitzen und den armen Gestalten nachblicken wird, die sich zu ihren Jobs schleppen, weil er selbst längst ausgesorgt haben und die Gaststätte nur zum Spaß besitzen wird, um schlechte Coverbands auftreten zu lassen. Alle, die ihn kennen, finden Ilija unterhaltsam und das stimmt, aber dass sie ihn kennen ist nur eine Illusion. Manchmal kommt sie darüber ins Grübeln, ob er schon immer so gewesen ist oder er einmal andere Anlagen gehabt hat, aber im Grunde ist auch das nutzlos.

»Woran denkst du?«, fragt Ilija plötzlich und bläst seinen Zigarettenrauch über ihren Kopf hinweg. »Ich denke darüber nach, ob es einen Menschen gibt, mit dem ich tanzen gehen würde, obwohl ich wüsste, dass vielleicht gleich Bomben fallen werden und ich zu Hause dann sicherer wäre.«

»Ihr Deutschen.«

Er schüttelt den Kopf. »Bist du deswegen mit uns befreundet? Weil wir etwas über Bomben wissen?« Sie nimmt eine neue Zigarette aus der Packung. »Nein. Ich bin mit euch befreundet, weil wir alle schon miteinander gefickt haben.«
Sie wählt den Ausdruck bewusst, denn sie weiß, dass Ilija der einzige von ihnen ist, dem sowohl die Tatsache als auch das Wort etwas ausmachen. »Bitte«, sagt er schulterzuckend und blickt in den Himmel, wo man jetzt die ersten Sterne sehen kann, »es ist trotzdem eine komische Frage, die du dir da stellst.« »Wäre es denn weniger seltsam, wenn sie mir jemand anderes stellen würde?« »Nein», antwortet Ilija ernst. »Es bleibt einfach eine merkwürdige Sache, die du da wissen möchtest.«

Schweigend sitzt er einige Minuten neben ihr, den Kopf in den Nacken gelegt, die Augen geschlossen, die Hände zwischen seinen Oberschenkeln ruhend. Sie nimmt ihm die Zigarette aus den Fingern, bevor er sich an dem herabgebrannten Stummel verbrennen kann. »Ich bin nämlich heute bei meiner Großmutter gewesen«, sagt sie. »Mein aufrichtiges Beileid«, kommentiert Ilija teilnahmslos, ohne die Augen zu öffnen. »Und die hat dich auf so komische Gedanken gebracht?« Sie nimmt einen letzten Zug von seiner Kippe, dann drückt sie den Rest im langsam überquellenden Aschenbecher aus. »Sie hat mir erzählt, dass sie meinen Großvater am Anfang gar nicht hat leiden können, als er ihr Patient im Lazarett war.« Überrascht öffnet Ilija nun doch die Augen. »Aber ich dachte, das sei die eine echte Liebesgeschichte, die deine Familie hat?« Sie lacht und blickt auf das Brusthaar, das tatsächlich die Luft anzuhalten scheint.

»Ist es ja auch, keine Sorge. Sie hat nur nicht gewusst, dass sie sofort in ihn verliebt war.«

»Interessant.«

»Er wollte immerzu tanzen gehen, auch wenn man mit Bomben rechnen musste, und sie ist mitgegangen und hat sich gleichzeitig darüber aufgeregt.«

»Natürlich.«

»Aber sie ist eben trotzdem immer mit ihm mitgegangen und da habe ich mich gefragt, ob es wohl einen Menschen gäbe, dem ich so folgen würde.«

»Reike, ich würde mit dir tanzen gehen, selbst wenn die Flieger schon unterwegs zu uns wären.«

»Du hängst aber auch nicht besonders am Leben.«

Ilija lacht auf. »Da hast du vollkommen recht«, bestätigt er ihre Aussage und verschränkt die Arme grinsend vor der Brust, »deswegen kenne ich solche Dilemmata nicht.«

In reinen Fakten ausgedrückt ist Ilija ein in Belgrad geborener, aber in Deutschland aufgewachsener, mathematisch hochbegabter Mann Mitte Dreißig, der als Risikobewerter für einen großen Versicherungskonzern arbeitet. Schon nach dem Abitur hatten sich verschiedene Universitäten für ihn interessiert, aber Ilija war zunächst für zwei Jahre zurück nach Serbien gegangen, hatte seine Familiengeschichte erforscht und war dann mit einem Begabtenstipendium wieder zurück nach Berlin gekommen, auch, weil er es dann doch erleben wollte, dass Deutschland sich einmal bei ihm anbiederte. In den ersten Fünfundzwanzig Jahren seines Lebens ist er zweimal beinahe gestorben und einmal beinahe Vater geworden, außerdem ist er ein passabler Sänger und ein hervorragender Fußballtorwart. Er fasst sich gerne in Listen zusammen und verschweigt den Menschen die Zusammenhänge, in denen die darin enthaltenen Informationen über ihn zueinander stehen. Die Restunsicherheit, die andere seine Person betreffend verspüren, amüsiert ihn.

»Meine Großmutter will jetzt ihr Erbe regeln«, sagt sie, als Ilija schon fast aufgestanden ist, um sich etwas zu essen zu machen. Überrascht setzt er sich wieder hin. »Und da fragt sie ausgerechnet dich?« Sie zuckt mit den Schultern.

»Ich habe mich nicht erkundigt, ob ich ihre erste Wahl war.«

»Und gibt es denn wenigstens etwas zu erben?«

»Ihr Haus auf dem Land. Aber nur wenn ich dort auch leben wollen würde. Also bekomme ich kein Haus.«

»Ich würde mit dir aufs Land ziehen.«

»Soweit kommt es am Ende noch.«

Ilija schaut sie beleidigt an. »Ich habe dir heute gesagt, dass ich mit dir tanzen gehen würde, selbst wenn bald Bomben fallen würden und du willst nach all unseren Jahren zusammen nicht einmal mit mir auf dem Land wohnen. Das ist erschütternd.« Sie lehnt sich nach vorne und küsst ihn auf den Mund. »Ich würde nur nicht wollen, dass die Stadt ohne schlechte Coverband-Abende im goldenen Eck auskommen muss.« Ilja lächelt und zieht sie in seine Arme. »Also, bleiben wir hier.«

FÜNFTES KAPITEL

Drei Kinder, von denen eines noch neu ist und zwei nur im Rückblick existieren

Im Gegensatz zu Faizah weiß Reike in beiden Fällen, von wem das Kind gewesen wäre. Sie hat sich beigebracht, wenig über die Vergangenheit nachzudenken, aber die fortschreitende Schwangerschaft ihrer Freundin macht es schwieriger für sie. Sie ertappt sich jetzt häufiger dabei zurückzublicken.

Sie war gerade erst Sechzehn geworden, verbrachte den Sommer zwischen Mittlerer Reife und Oberstufe wahlweise am See, auf den Bänken vor dem Bahnhof oder auf der Terrasse hinter ihrem Haus und hatte mit noch niemand anderem als Ilija geschlafen, als sie feststellte, dass ihre Regel ausblieb. Ihre beste Freundin Hannah, die der einzige Mensch war, mit dem sie darüber sprach, war der Ansicht, das Ganze werde sich mit Sicherheit in ein paar Tagen schon als falscher Alarm herausstellen, aber Reike hatte kein Interesse an dieser Form des Selbstbetrugs gehabt. Sie klaute in einem Drogeriemarkt einen Schwangerschaftstest und pinkelte im nächstgelegenen McDonald’s auf das kleine Stäbchen, bis sowohl ihre Hand als auch die weiße Plastikhülle vor Pisse glänzten. Als nach drei Minuten zwei blaue Streifen im Sichtfeld erschienen, ging sie zurück in den Drogeriemarkt, klaute eine neue Packung, die weiter oben im Regal lag, und fragte die Kassiererin, ob es vielleicht im Geschäft ein WC gäbe, das sie benutzen dürfe, da sie gerade mitten im Laden zum ersten Mal ihre Tage bekommen habe und nun nicht so recht wisse, was sie tun solle. Die Kassiererin hatte Mitleid mit ihr. Sie zeigte ihr die Angestelltentoilette, brachte ihr Tampons und Binden und fragte, ob sie ihr noch irgendetwas erklären solle. Reike bedankte sich, nahm die Tampons zur Tarnung mit und machte in der Kabine den zweiten Schwangerschaftstest. Als er ein rotes Pluszeichen anzeigte, weinte sie hemmungslos, denn sie hatte gehofft, dass das Klo bei McDonald’s vielleicht einfach so vollgepinkelt gewesen sei, dass der Test von dem Urin einer anderen Frau positiv geworden war. Sie blieb einige Minuten lang zusammengekauert auf der Kloschüssel hocken, einen Arm fest vor den Bauch gedrückt, von dem sie nun wusste, dass ein Baby in ihm wuchs, dann verließ sie die kleine Kabine, wusch sich das Gesicht und ging zur Kasse, wo sie der Verkäuferin die leere Packung des zweiten Schwangerschaftstests auf das Laufband legte und sie mit so provozierender Kälte anstarrte, dass diese ohne zu lächeln von ihr wissen wollte, ob sie es bitte passend habe.

Zwei Wochen erzählte sie niemandem außer Hannah von der Schwangerschaft und erlaubte Ilija, der zu dieser Zeit von nichts anderem redete, als davon, nach dem Abitur wieder zurück nach Belgrad zu gehen, nicht mehr, sie anzufassen. »Ich verstehe es nicht, hast du einen anderen?«, fragte er sie immer wieder, wenn sie ihre Hand aus seiner zog oder sich wegdrehte, wenn er einen Arm um ihre Hüfte legen wollte. »Ich brauche keinen anderen, wenn ich schon auf dich keinen Bock habe«, antwortete Reike ihm schroff und hoffte, Ilija werde einfach verschwinden, bevor er merkte, was mit ihr los war. Die Sommerferien waren fast zu Ende und auch wenn sie die Schwangerschaft früh bemerkt hatte, wusste sie, dass sie nicht mehr viel Zeit hatte, wenn sie die Sache, wie sie es nannte, regeln wollte, ohne für große Aufregung zu sorgen. Abgewiesen zu werden jedoch, war ein Umstand, mit dem Ilija seit frühester Kindheit vertraut war und mit dem er sich schnell arrangierte, also blieb er trotzdem. Er versuchte nicht mehr, ihre Hand zu halten oder seinen Arm um sie zu legen, aber er tauchte einfach weiterhin im Garten ihrer Eltern auf, sprach von Belgrad, las oder rauchte schweigend ein paar Zigaretten und ging dann wieder nach Hause. Erst, als sie ihm sagte, es sei Schluss zwischen ihnen, kam er nicht mehr.

Hannah hatte ihr die Telefonnummer eines Mädchens besorgt, das vor ein paar Jahren auf ihre Schule gegangen und in der gleichen Situation wie Reike gewesen war. Von ihr bekam sie die Adresse eines Arztes, der ihr gerne helfen wollte, wie er es formulierte. Seit dem letzten Sommer hatte Reike ihr Geld gespart, um Ilija möglichst bald in Belgrad besuchen zu können, sollte er wirklich gehen, jetzt hatte sie es sich auszahlen lassen, um sein Kind wegmachen zu lassen. Und alle Leute, die sie aus der Schule kannte und denen sie nicht rechtzeitig aus dem Weg gehen konnte, fragten sie erstaunt, warum Ilija und Reike so plötzlich Geschichte geworden waren.

Früh am Mittwochmorgen in der Woche ihres Abtreibungstermins fand sie ihren Exfreund unerwartet vor ihrem Haus sitzend vor, wo er die ganze Nacht gewesen war, weil er so viel Angst davor gehabt hatte, dass sie ihn vielleicht gerade für etwas Schreckliches verstieß, das er getan hatte und an das er sich nicht erinnern konnte, dass er sich am Abend vorher nicht getraut hatte, zu schellen, um sie danach zu fragen.

»Sag mir bitte, warum Schluss ist«, bat er sie, »es war doch alles so schön bis vor kurzem.« Reike setzte sich auf den Bordstein, von dem er aufgestanden war, als er sie aus dem Haus hatte kommen sehen, und blickte zu ihm auf.

»Und welchen Sinn hat es, dass es schön ist, wenn du sowieso weggehen willst? Dann lass es uns doch lieber jetzt beenden.«

»Wegen Belgrad, meinst du? Belgrad ist doch nur Gerede. Spinnerei. Was soll ich denn da?«

Er lächelte erleichtert. »Also, sei bitte wieder meine Freundin.« Reike hatte gehofft, dass es einfacher sein würde, aber eigentlich hätte sie wissen müssen, dass Ilija es einem selten leicht machte. »Es ist nicht nur Belgrad«, sagte sie, »es sind viele Dinge.« Aber ihr fiel nichts ein, was sie noch hätte aufzählen können und was von Bedeutung gewesen wäre, denn tatsächlich war es sehr schön gewesen, mit Ilija zusammen zu sein. Schweigend hatten sie nebeneinander auf dem Bordstein gesessen, Ilija hatte abwechselnd auf seine Hände oder hinüber zu den Häusern auf der anderen Straßenseite geguckt und Reike hatte ihren Arm fest vor ihr Baby gepresst, das es bald nicht mehr geben würde. Als sie ihm schließlich doch erzählte, dass sie schwanger sei, aber von einer Freundin bereits eine Adresse habe- von einem Arzt, der das regeln könne, ohne dass es jemand erführe- fing Ilija an zu weinen und fragte sie, ob sie sich denn nicht mehr daran erinnern könne, wie sie einmal zusammen Dirty Dancing gesehen hatten, und dass er ihr nicht würde helfen können, wie Baby damals Penny nach der stümperhaften Abtreibung geholfen hatte, als alles schief ging, weil er niemanden kenne, der Arzt sei, und den er im Notfall würde holen können. Also hatten sie mit ihren Eltern gesprochen. Ihr Vater hatte Ilija einige Schläge verpasst, noch bevor er seine Tochter angeschrien hatte, und anschließend den weiteren Verlauf in die Hand genommen, ohne Reike ein einziges Mal zu fragen, ob sie das Kind vielleicht doch behalten wolle. Ilijas Vater hatte zunächst nur erfahren, dass ein fremder Mann seinen Sohn geschlagen hatte und dann warum und nie wieder ein Wort darüber verloren.

Seit diesem Tag hatte Reike die Familie ihres Freundes nicht mehr besucht. Für die Schule hatte man ihr ein Attest aufgrund einer zu behandelnden Pilzinfektion in der Scheide geschrieben. Ihre Lehrerin hatte versucht, nicht darauf zu reagieren, aber doch angeekelt die Nase verzogen und keine weiteren Fragen gestellt. In der ersten Woche nach den Ferien war ihr Baby tot gewesen.

Fünf Jahre später war sie von Marko schwanger gewesen. Sie hatte ihn am Ende ihres ersten Semesters an der Universität auf einer Party kennengelernt, zu der sie eigentlich mit einem Kommilitonen gekommen war, den sie seit einigen Monaten regelmäßig traf, aber Marko hatte einen Blick, der so etwas schnell vergessen ließ. Bereits am Ende der Nacht hatte sie ihn mit in ihre neue, noch halbleere Wohnung nehmen wollen. Stattdessen hatten sie schon in dem kleinen Park am Ende des Campus Sex miteinander gehabt. Marko war trotzdem mit ihr nach Hause gekommen, hatte sich das zu vermietende Zimmer angesehen und am nächsten Vormittag hatte sie all ihre Aushänge an den Informations-brettern der Universität wieder abgehängt, damit er es sich nicht doch noch anders überlegte, falls jemand des Zimmers wegen anriefe und ihm so eine Ausstiegsmöglichkeit böte. »Nur besitzen, besitzen darfst du mich nie wollen«, hatte er gesagt, als er seine Sachen in die Wohnung gebracht hatte und sie hatte genickt und es auch so gemeint. Es war da schon drei Jahre her gewesen, dass sie das mit dem Besitzen aufgegeben hatte.

Als sie festgestellt hatte, dass sie möglicherweise zum zweiten Mal in ihrem Leben schwanger sein könnte, war Marko noch nachts losgefahren, um einen Test zu besorgen. Sie machte ihn in ihrem eigenen Bad und er saß bei ihr und wartete das Ergebnis in solcher Gelassenheit ab, dass sie wirklich zu glauben begonnen hatte, sie würden eine Familie gründen können. Die Zuversicht hatte bis in die sechste Woche angehalten. Reike hatte die Blutung erst bemerkt, als sie aus der Dusche gestiegen war und sich abgetrocknet hatte. Sie hatte Marko auf dessen Arbeitsstelle angerufen, der sofort gekommen war, und sie zu ihrer Gynäkologin gebracht hatte. »Das passiert bei ersten Schwangerschaften leider häufig«, sagte eine Frau in der Praxis zu ihr, die erkannte, was mit ihr los war, und Reike nickte stumm und versuchte nicht zu weinen.

Einen Monat später hatte Ilija plötzlich vor der Tür gestanden. Er war mittlerweile Informatikstudent, auch wenn er nie in irgendwelche Seminare ging. »Kann ich bei dir pennen?«, hatte er gefragt, als seien keine drei Jahre vergangen, seit sie sich das letzte Mal begegnet waren. Sie hatte ihm gesagt, dass sie das zunächst mit ihrem Mitbewohner besprechen müsse. Marko hatte Ilija einige Augenblicke gemustert, vor allem die eng sitzende Hose zwischen dessen Beinen, dann hatte er zustimmend genickt und dem Neuen die Hand gereicht.

Als sie an einem Dienstag drei Monate später früher als geplant von ihrem Job in einem Biergarten nach Hause gekommen war, war ihr Ilija nackt aus Markos Zimmer entgegengekommen. »Tut mir leid«, hatte er sich verlegen nuschelnd entschuldigt, aber sie hatte nur mit den Schultern gezuckt und gesagt, dass sie es verstehe. Marko hatte einen Blick, bei dem man mehr als eine Sache vergessen konnte.

Gemeinsam hatten die Jungs kurz nach ihrem Hochschul-abschluss schließlich Faizah mit in die Wohnung gebracht und sie in der ersten Zeit untereinander geteilt, als sei sie ein besonders schönes Diebesgut, das keiner für sich allein behalten dürfe. Faizah jedoch war nicht dafür gemacht, sich herumreichen zu lassen, wie es anderen gefiel. Wie Marko ließ sie sich nicht besitzen, damals noch nicht, sie eroberte lieber selbst. Und so war Reike eines Abends von der Uni nach Hause gekommen und hatte Faizah nackt und mit gespreizten Beinen auf ihrem Bett sitzend vorgefunden, ein selbstverständliches Lächeln in ihrem Gesicht, das sich erst in einen anderen Blick verwandelte, als auch sie sich ausgezogen hatte.

Marko ist fest davon überzeugt, sie habe sein Kind nicht bekommen können, weil sie Ilijas nicht bekommen hat. Er erzählt gerne von bedingten Wahrscheinlichkeiten, die er im Wettbüro beobachten könne und die den Menschen häufig erst hinterher bewusstwürden. Unmittelbar nach der Fehlgeburt hatte Reike geglaubt, dass eine solche Feststellung das Ende sein müsse, aber Marko hatte trotzdem weiterhin sowohl mit ihr als auch mit Ilija geschlafen. Jetzt jedoch hatte er ein gemeinsames Schlafzimmer mit Faizah und das Babybettchen für ihr Kind in seinem Schlafzimmer aufgebaut.

Sie selbst und Ilija blieben außen vor und manchmal machte es Reike Angst, sich in dieser Konstellation wiederzufinden. Marko und Ilija hatten noch einige Male am Nachmittag miteinander geschlafen, aber da es Faizah zu stören schien, hatten die Männer damit aufgehört und Ilija hatte zufrieden damit gewirkt, dass all das Durcheinander nun beendet war. Vielleicht hatte er schon seit langem mehr zum Schein dieses Leben geführt, damit er bei ihr bleiben konnte. Sie fragte ihn nie danach.

Wäre Ilija es gewesen, der Faizah fest in seinem Schlafzimmer aufgenommen hätte, sie würde ihn wohl vermisst haben. An Marko dachte Reike jedoch nie und an Faizah hatte sie mit dem Sichtbarwerden der Schwangerschaft das Interesse verloren, weil sie mit dicken Brüsten, in die die Muttermilch schoss, nichts anzufangen wusste.

Am Abend sitzt Reike allein auf dem Boden des Balkons und raucht ihr letztes Gras. Wenn Faizah wüsste, dass noch Drogen im Haus sind, sie würde sie vermutlich rausschmeißen, auch wenn sie es eigentlich nicht darf, weil ihr Name als Hauptmieterin in den Mietvertrag eingetragen ist. Diese Tatsache jedoch würde weder Faizah noch sie interessieren, wenn es soweit käme. Bevor sie schwanger geworden war, hatte Faizah spät in der Nacht oft Albträume gehabt. Dann war sie aufgewacht, hatte den Körper neben sich gesucht und ihre Haut, denn sie schlief immer nackt, so fest gegen die fremde Wärme gedrückt, dass es einen beinahe erstickt hatte. Mit der Schwangerschaft wurden die Träume nicht weniger schlimm, aber sie umarmte nun in der Dunkelheit ihren wachsenden Bauch und vergaß die fremden Körper neben sich. Manchmal treibt diese Tatsache Marko hinaus auf den Balkon, doch heute bleibt drinnen alles still. Er versteht nicht, dass es egal gewesen wäre, von wem Reikes zweites Baby war. Sie hatte das zweite nicht auf eine Welt bringen können, auf der es das erste nicht gab und sie hatte es schon als Sechzehnjährige gewusst, dass es so sein würde – schon als sie von ihrem Vater zur Abtreibung ins Krankenhaus gebracht worden war. »Du bist noch jung, das wird sich noch ändern«, hatte der Arzt gesagt, als sie ihn nach einer Sterilisation gefragt hatte, »es wäre unverantwortlich, dir das wegzunehmen, deswegen ist es verboten.« Doch sie hatte Recht behalten. Mit den Vätern hatte es nichts tun. Marko aber glaubte ihr nicht und vielleicht war Faizahs Kind in Wahrheit Ilijas Tochter und er nahm sie ihm aus Rache weg.

»Wenn Faizah dich sieht, schmeißt sie dich raus.« Ilija ist im Rahmen der Balkontür erschienen und blickt zu ihr herunter. »Lass uns zusammen nach Belgrad gehen«, schlägt Reike ihm vor. Ilija lacht. »Na, aus dem Land jagen wird sie dich schon nicht. Und ob ich mit dir mitgehen würde…« Er wiegt den Kopf abschätzend grinsend hin und her, bis er erkennt, dass sie nicht gescherzt hat. Er setzt sich neben sie. »Was sollen wir denn in Belgrad?« Sie hat darauf keine Antwort.

»Aber etwas Eigenes, das können wir uns auch hier besorgen. Nur für uns. Zwei Zimmer, Küche, Bad. Das schaffen wir selbst mit unseren Gehältern.«

»Es war ja nur so ein Gedanke«, sagt sie, »aber wenn du das natürlich möchtest.« Ilija seufzt. »Warum klingt es immer, als wäre ich der Trostpreis in deinem Leben?« Sie zieht seinen Kopf auf ihren Schoß. Er rollt sich zusammen wie ein Embryo und drückt seine Stirn gegen ihren Pullover. Wenn er in ihren Bauch kriechen könnte, er würde es jetzt vermutlich tun. Sie streichelt seinen Kopf. Seine dunklen Locken sind härter als Faizahs weiche Haare und Marko hat nun schon bald eine Glatze. Sie summt leise vor sich hin. »Ich verstehe eben nur nicht, warum es jetzt nicht so sein kann, dass Faizah Marko hat und du hast mich«, sagt Ilija. »Ich muss noch etwas rauchen«, antwortet sie. Er reicht ihr den Joint. Sie hält ihn noch in der Hand, als Faizah nach Hause kommt, aber sie bekommt es nicht mehr mit.

Portrait Kerstin Meixner

„Am Fuß des Berges“

Reike, Faizah, Ilija und Marko wohnen zusammen – und leben zugleich in einer polyamoren Viererbeziehung. Reike und Ilija kennen sich bereits aus Schulzeiten, da waren sie schon mal ein Paar; Reike wurde damals schwanger und ließ das Kind abtreiben, Ilija ging danach für ein paar Jahre nach Belgrad. Die neue Beziehung mit Marko rutschte ins Problematische, als sie das gemeinsame Kind verlor – und Ilija plötzlich wieder vor der Tür stand. Als die beiden Männer aus dem Trio mit dem Neuzugang Faizah ein Quartett machten, wurde alles harmonisch. Erstmal. Denn selbst wenn man sich für eine offene Beziehungsstruktur ohne Besitzansprüche entscheidet: So einfach ist das nicht immer. 

Kerstin Meixner – Kandidatin Fräulein Julia

Kerstin Meixner, geb. 1980, arbeitet seit 2003 freiberuflich als Nachhilfelehrerin. Veröffentlichungen u.a. in den Zeitschriften PS- Politisch Schreiben, Mosaik, KLiteratur und Karussell sowie der Anthologie all over heimat. Geförderte Teilnahme an der Klasse diese sprache ist aus fleisch und stein gebaut der Schule für Dichtung, Wien. 3. Platz beim Kurzprosawettbewerb zeilen.lauf. Im November 2019 mit dem Jugendtheaterstück Irgendwo rechts von Kabul auf der Shortlist des Brüder-Grimm-Preises des Landes Berlin

Hier gehts zum Beitrag auf dem Blog Fräulein Julia

Interview mit der Longlist-Autorin

Du stehst auf der Longlist des Blogbuster-Preises. Hättest Du damit gerechnet? 

Von dem Moment an, in dem das ganze Manuskript angefragt wird, hofft man natürlich, dass man es schafft, aber es gibt so viele Faktoren, die letztendlich den entscheidenden Ausschlag geben können, da habe ich mich ans Rechnen nicht herangewagt.

Warum hast Du Dich gerade bei „Fräulein Julia“ beworben?  

Ich habe mir die letzten Blogeinträge angeguckt und hatte das Gefühl, mein Text und Julia könnten gut zusammenpassen. Dann habe ich mir ihre Selbstbeschreibung angeguckt: Sie kann die Zunge nicht rollen – ich auch nicht, also haben wir schon mal eine Gemeinsamkeit. Sie mag keinen Käse (nein, wirklich nicht) und ich liebe Käse so sehr, dass ich jedes Jahr zu Weihnachten eine Käseplatte von meinen Kolleg:innen geschenkt bekomme, da haben wir dann auch gleich einen Unterschied. Wenn man das über jemanden feststellt, bin ich immer sofort gespannt auf die Person und ihre Meinung zu Texten, Theaterstücken etc., daher habe ich mich bei ihr beworben.

Blogbuster ist ein etwas anderer Literaturwettbewerb. Was hat Dich gereizt, daran teilzunehmen? 

Häufig hat man in laufenden Wettbewerben nur wenig Möglichkeiten zu einem Austausch über die oder eine Präsentation der eingereichten Texte, wenn überhaupt. Das ist hier anders und ich freue mich sehr darauf.

Die erste Hürde ist genommen, welche Chancen rechnest Du Dir aus, auch die Fachjury zu überzeugen? 

Das übersteigt meine persönlichen Algorithmusfähigkeiten enorm, aber ich bin sehr gespannt.

Wie lange hast Du an dem Romanmanuskript geschrieben und was hast Du bisher schon unternommen, um einen Verlag zu finden? 

Die Grundidee und die ersten Kapitel hatte ich schon vor einer Weile geschrieben, den Stoff dann aber noch einmal zur Seite gelegt. Vor einem halben Jahr habe ich einen Workshop zum Plotten belegt und danach ging die Arbeit am Rest des Textes relativ schnell innerhalb weniger Monate. Einen Verlag oder einer Agentur zu finden, habe ich bisher noch nicht versucht.

Was wirst Du zusammen mit Deinem Blogger noch unternehmen, um Dich und Dein Manuskript zu promoten?

Ich denke, bis auf ein virtuelles Käsefondue und Zungenrollen werden uns noch einige Dinge einfallen, auch wenn wir noch nichts Konkretes besprochen haben.

Leseprobe: Franziska Gänsler – “Kahn”

Kahn // Franziska Gänsler

1

Es war die Mutter, die ihn schützte und der Vater, den er fürchtete, und so war es immer gewesen. Die Wut kam plötzlich über den Vater, über ein Stuhlbein, über die Art, wie der Sohn die Kirschen aß. Dann klappte etwas auf in seinem Gesicht und ein Zucken durchlief die Familie.
Kahn war das einzige Kind und wenn der Vater über die eigenen Grenzen trat, zu den Wänden, dem Fußboden, der Wohnung, dem ganzen Haus wurde, dann sah Kahn zur Mutter, die still blieb wo sie saß oder stand. Ihr Blick, irgendwo auf der Brust des Vaters, auf den weißen Händen in ihrem Schoß. Bis die Tür schlug und sie allein zurückblieben. Erst dann legte sie ihm die Hand auf den Kopf, bevor sie die Scherben, die Asche, die kleinen, krummen Reste ihrer Zigaretten auffegte, ihr Haar kämmte.
Dann saßen sie später zusammen am Fenster und sahen zu, wie dünne Regenschnüre auf das Gras fielen und der Schreck verschwand hinter blinden Flecken, hinter der still gesagten Wiederholung: Wir lassen den Kopf nicht hängen.
Dann stand am nächsten Tag auf dem Tisch ein Blumenstrauß und eine Karte, auf der, in winziger Handschrift, die Signatur des Vaters saß wie eine Fliege. Die Mutter lächelte und drehte die Vase mit der linken Hand, die rechte auf Kahns Bein und langsam schoben sich die Wände, die Fenster, die Teppiche wieder in ihre gewohnten Winkel.
Der Krieg war da schon lange vorbei, aber der Vater trug an den Sonntagen, auf dem Weg zur Kirche, das schwarze Kreuz auf der Brust, unter dem Jackett, an einem gestreiften Band. Bevor sie das Haus verließen, während die Mutter ihren Sonntagsmantel anzog, beugte er sich tief zu Kahn, die Hand am Kreuz. Sein Lächeln, die warmen, glatten Hände, so nah. „Tapferkeit vor dem Feind. Vergiss das nicht.“
Der Vater im Krieg, der sechzehn Kameraden aus dem Feuer geholt hatte. Der von der Universität nach Hause lief, zu seiner Mutter, den Schwestern, durch die brennende Stadt, den zerbombten Friedhof, aufgesprengte Särge, die aus der Erde ragten.
Tapferkeit vor dem Feind.
Der Vater, der nun jeden Tag um 07:30 das Haus verließ um anderen zu helfen. Kahn sah ihn dann, neben der Mutter im grauen Türrahmen, wie er die braunen Stufen des Mietshauses hinunter schritt, und im gleichfarbenen, braunen Anzug mit geradem Rücken im Dämmerlicht der unteren Etagen entschwand. In seiner rechten die Aktentasche, darin der steife, weiße Kittel, das Stethoskop.
Wie er der Wohnung floh, die ihm eng war und wie die Mutter und Kahn oben blieben und schon an seine Wiederkehr dachten.
„Er heilt die Kranken“, so erklärte die Mutter was der Vater den Tag über tat, und Kahn sah eine lange Zeile verletzter Menschen, die sich vor dem Schreibtisch des Vaters aufreihten. Der Vater, die gewaschenen Hände, die tasteten, urteilten, schließlich das rechte Medikament, die rechte Behandlung verschrieben.
Das eiserne Kreuz lag dann in einer flachen Holzkiste in der obersten Schublade im Nachtkästchen, neben einer weiteren Schatulle, die der Vater an manchem Abend hervorholte und Kahn zu halten gab. Darin, glänzend und schwer, in einem aufgeschlagenen Tuch, seine Sauer 38H.
Nie blickte der Verabschiedete sich um. Auf dem letzten Absatz, auf dem Kahn von dem Anzug nur noch eine Seite der gedrehten, braunen Schulter sah, endete die Existenz des Vaters und den Rest des Tages gehörte sich der Sohn allein und dem leisen Räumen der Mutter.
Wie eine Kette stiller Waben reihten sich die Stunden in der Wohnung aneinander, angezeigt und verändert nur durch das Wandern der Lichtfelder auf den Fußböden.

Im Winter war die Welt vor den Fenstern weiß und die Wohnung lag zwischen den beschneiten Dächern ringsum. Wenn sie dem Vater dann frühs von der Tür aus nachsahen, dann zog der seinen Schatten im Lampenlicht in einen dunklen Morgen.
Im Sommer wurde der Plastikboden weich, Staub stand in der Luft und die Sonne fiel durch Scheiben, an die in der Hitze die Fliegen schlugen und dann, schwer auf der heißen Fensterbank, starben. Kahn roch das Holz der Möbel und die gelben, dicken Buchseiten, die er hinter dem Sofa auf dem Boden liegend durchblätterte. Unten spielten dann Kinder im Hof und Kahn lag auf dem Rücken und hörte zu.
Wie eine Festung erschien ihm diese Wohnung, warm und abgeschlossen, hoch oben und fern von allem, was fremd und laut war.
Er und die Mutter, als würden sie mit ihren Bewegungen Linien auf das selbe Blatt Papier zeichnen. Aneinander vorbei, durch die Stühle, die Kommoden, den langen Flur, die vier kleinen Räume. Sie war sie und er war er, und doch hatten sich in der hohen Wohnung vom ersten Tag an ihre Wesen miteinander verwebt, war Kahn vom ersten Tag an auch sie und sie auch er, spürte er mit der Mutter mit, wusste er nicht, wo er selbst endete und die Mutter begann.
Und doch: „Du bist wie dein Vater“. Die Mutter sah ihn an, von ihrem Lehnstuhl aus, auf dem sie die Nachmittage verbrachte. Sie trug ein helles, schmales Kleid. Vom Fußboden gesehen, standen ihre weißen Waden überkreuzt vor ihrem Oberkörper in flachen, weißen Schuhen. Darüber, ihr weiches Gesicht. „Du bist wie er.“, in ihrem Blick die Hände des Vaters, die ihr halfen, die kleine Kette in ihrem Nacken zu schließen. Die Blumen. Die ordentlichen Striche, mit denen er markierte, wie oft die Seiten einer Schallplatte gehört wurden. Die kleine Handschrift, die die Ausgaben der Familie notierten.
Später saß Kahn neben der Mutter am offenen Fenster. Erdbeeren lagen auf einem Porzellanteller, bemalt mit einem Ring blauer Blüten, auf dem Schoß der Mutter. In der rechten Hand hielt sie ein gefaltetes Tuch, das vom Saft der Beeren dunkel und feucht war. Der Rauch, der langsam zwischen ihnen nach oben zog, ein weiches, weißes Band. Unten im Gras spielten nur noch zwei der fremden Kinder. „Was wünscht du dir?“, fragte die Mutter. Es war der 28. Juli, Kahns fünfter Geburtstag. Das größere Kind schlug mit einer Schaufel auf einen Eimer, das Klopfen drängte sich in den Nachmittag. “Ich will, dass alles immer so bleibt wie es ist.” Die Mutter drückte die Zigarette in den Aschenbecher und legte ihre kühle Hand auf seinen Kopf. „Wir haben ja alles hier.“, sagte sie. „Wir haben ja alles.“

Um sechs Uhr deckte die Mutter den Tisch. Um halb sieben kam der Vater. Kahn, hinter dem Sofa mit einem Buch, hörte wie der Schlüssel im Schloss drehte, hörte wie glatte Sohlen abgestreift wurden, hörte wie die Aktentasche auf den hölzernen Schemel neben der Tür gestellt wurde. Kahn roch den Teppich. Er sah die Haare, die Staubflocken hielten, Krumen, tote Fliegen.
Als die Mutter rief, kroch er hervor und lief ins Esszimmer, in dem der Vater schon am Tisch saß, mit hochgerollten Hemdsärmeln und einem Schweißfilm auf der Stirn. Über die offene Balkontüre zog Wind von der Straße nach oben, wölbte die Gardine. Ihr Schattenmuster schob sich in Rauten in den Raum, wölbte den Boden und den Tisch und das weiße Hemd.
Während Sie aßen, sank der Abend langsam vor die Scheiben, er trug einen süßen Geruch in die Wohnung. Der Tag löste sich auf, bis er als warme Erinnerung aus dem Zimmer zog und der Vater sich an den Geburtstag des Sohnes erinnerte.
Die Mutter hatte schon die Teller abgetragen und stand spülend in der Küche, ihr langer Schatten krumm unter der fahlen Lampe, als der Vater sich anzog, Kahn die Sandalen hinschob und ihn mit sich nahm, das braune Treppenhaus hinunter, in die Dunkelheit der Etagen, des Hofs, der Stadt. Der Asphalt war noch warm, die Luft schon kühl. Es gab kein Ich mag nicht gegen die Begeisterung des Vaters, nur das Heimweh nach der spülenden Mutter, dem Bett, der weißen Decke, dem Kissen.
Der Vater führte ihn vorwärts, bergab, und die Wohnung lag bald hinter Kreuzungen und Bäumen.
Es wurde lauter, sie tauchten in eine Menge ein, braune Hosenbeine und weiße Waden, die Luft klang von vielen Stimmen, der sü.e Duft, nach Zuckerwatte und Popcorn, war jetzt stark und dicht. Die Hand des Vaters zog ihn voran und blieb stehen, löste sich von ihm und Kahn blieb allein in der Dämmergesellschaft fremder Schuhe und Kniekehlen. Rufen, Lachen und Gesang sank durch Haare und Stoffe wie durch Astwerk auf den Waldgrund. Die Mutter, im weißen Kleid und den müden Augen – weit fort. Und der Gedanke an den langsamen, ruhigen Tag – wie ein fremdes Leben. Da aber fand die Hand ihn wieder und zog ihn voran und die Furcht wich der Erleichterung. Die Beine lichteten sich. Von einer weißen Plattform hob ihn der Vater in die hohe Kammer eines Riesenrads. Es war dunkel geworden. Langsam schoben sie sich über die Fremden, über die Häuser, über die Stadt. Der Mond stand tief, unter ihnen umschlossen bunte Lichtpunkte das Feld aus weißen Scheiteln und grauen, braunen, schwarzen Hüten. Die Stimmen und Klänge waren jetzt fern, getrennt von ihnen, die in der Gondel im Himmel hingen. Er und der Vater, eng nebeneinander auf der einen Seite, gegenüber ein Einzelner, ein eleganter, schmaler Mann mit Hut in einem schwarzen Wollanzug. Der Vater gab Kahn Gebäck aus einer Papiertüte und bot sie dann, hoch oben, auch dem Fremden an, der schweigend kurz den Kopf schüttelte. Unter ihnen, die Stadt, die Erfolge des Vaters. Sein Zeigefinger, der in die Nacht stieß. Hier – die Klinik. Dort – die medizinische Fakultät. Da – das Haus, in dem er geboren war und da die Kirche, in der er die Mutter geheiratet hatte. Der Vater faltete sein langes Leben vor dem kurzen des Sohnes auf und ereiferte sich, wie er der Mann geworden war, wie er sich zu dem Mann gemacht hatte, der er jetzt war – entgegen aller Widrigkeiten, die das Elternhaus, die Kindheit und das Leben ihm dargebracht hatten. Nach vorn, immer nach vorn.
Wie er als Stillgeborener, als Nichtschreiender auf die Welt gekommen war. Wie er dann – schon tot geglaubt – geschrien und gelebt hatte. Wie er gelernt hatte, die Welt wie eine Gebrauchsanweisung zu lesen und zu befolgen. Wie er alle anderen überholt hatte.
Im Krieg den Aufstieg geschafft, das eiserne Kreuz! Sechzehn Kameraden, die ihm das Leben verdankten. Er, der dann von der Front zurückgekehrt war um sich dem Studium zu widmen, er, der Unzählbare in seiner Funktion als Mediziner behandelt und geheilt hatte.
In der Kabine war es dunkel und unter der breiten Krempe sah man von dem Fremden nur den Mund, wie eine Kerbe in die Haut geschlagen. Er reagierte nicht auf Vater und Sohn, nur sein Hals war, als der Vater vom Krieg sprach, um ein kurzes Stück verrückt.
Die Kammer hatte ihren Gipfel überschritten und näherte sich wieder der Dichte von Köpfen und Körpern. In der Nähe definierten sich schon Münder und Augenhöhlen, Hälse und dann greifende, haltende Finger. Die Stimmen wurden lauter, einzeln brachen Namen und Gelächter für kurze Momente durch den allgemeinen Lärm. Der Vater, Kahn und der Fremde tauchten ein, durchkreuzten und wurden der Menge dann wieder enthoben, in den kühlen, stillen Himmel.
Diesmal, als sie fast ganz oben angekommen waren, hielt das Rad in seinem Umlauf inne und für eine Minute wiegten sie über der Stadt. Die Dächer lagen silbern und fremd aufgereiht unter ihnen und Kahn suchte die Wohnung und die Mutter. Ein helles Quadrat, hoch und einsam in einer schwarzen Wand. Unter dem Dach, könnte man es anheben, die Mutter im Bett, wie von oben in ein Puppenhaus gelegt. Die Wände, dünne Trennlinien zum leeren Wohnzimmer, zur Küche, zum Kinderzimmer. Kahns leeres Bett, in dem er sonst um diese Zeit schon lange schlief. Er, im Riesenrad, der wie ein Spielender auf diese kleine Welt, die kleine Mutter, hinab sah.
Das Rad lief wieder an. Der Vater, der Großzügige, der gut gelaunte, las die Gebrauchsanweisung und sprach den Fremden noch einmal an. „Der Junge hat Geburtstag.“, sagte er und streckte wieder die Tüte aus. Der Fremde nickte, aber der Mund harrte weiter stumm über der Stadt und seine Hände lagen ihm steif und knochig im Schoß. Der Vater schob sich ein kleines Stück dem Fremden entgegen. „Können Sie nicht sprechen?“, die Härte in seinem Ton wurde zur Härte in Kahns Brust, der stille Atem, darunter das Herz. Neben sich, der schnelle Umschwung im Vater, schwarzes Wasser, das stieg und stieg. Kahns Blick lag auf den glänzenden Schuhspitzen des Vaters, tief unter sich auf dem Grund der Kabine, auf den Händen des Alten, die sich kurz hoben und das Jackett öffneten.
Die Stimme des Fremden war leise und rau, sie hing danach zwischen den engen Bänken, zwischen den Männern. Kahn erwartete die Welle, das Brechen der schwarzen Wand. Doch, das Rad lief wieder an und der Vater schwieg. Auch der Mann im Anzug saß nun wieder still, und dann, unten, stieg er grußlos in die Menschenmenge und verschwand.
Vater und Sohn fuhren noch einmal in die Höhe und wieder hinunter, aber das Fest war beendet.
Kahn achtete auf jede Bewegung des Vaters, wartete auf eine Auflösung, eine Richtung, der er folgen konnte, doch der Vater blieb stumm.
Ohne ein Wort hob er ihn unten aus der Gondel und schob ihn, hart, durch den schwülen Wald aus Waden und Stoff. Als sie wieder an die frische Luft kamen, lag die Straße vor ihnen.
Sie führte heimwärts. Den Hang hinauf, zur Wohnung, zum Bett, zur Mutter.
Vor ihnen kreuzte einer im Schein einer Laterne ihren Weg. Ein Einzelner, mit Hut, tief gebeugt, schreitend, der Mann aus dem Riesenrad. Die Schritte des Vaters wurden schneller. Er zog Kahn mit sich und als der Vordere um eine Ecke bog, zwang er den Sohn hastig voran, dass sie den Verfolgten nicht verloren. Sie folgten dem Mann in die schmale, fremde Gasse. Bald wuchsen die Häuser dicht und hoch um sie und der Mond fand nur noch dünne Löcher zwischen den Kabelsträngen. Aus den Häusern dampfte es und Wäschestücke hingen aus den Fenstern. Wieder schlossen fremde Beine ihn ein, drängten ihn vorwärts. Der Grund war schlammig, Abwasser sammelte sich, Gestank machte die Luft zu dick, sie einzuatmen. Die Männer trugen, trotz der gestauten Hitze, lange Mäntel und Hüte, schoben sich um ihn, schwarze Wände, aus denen, hoch oben, ernste, unbewegte Köpfe ragten. Knöchel reihten sich in geraden, blassen Bögen aus Lederschuhen, sie zogen wie auf Schienen. Die Hand des Vaters schob Kahn an den Rand und dann weiter, in Eile, vorwärts.
Manche Häuser hatten zur Gasse keine Mauern. Davor saßen Frauen auf Schemeln, über ihnen leuchteten nackte Glühbirnen. Aus den Häusern drängte es auf die Gasse, Innen und Außen lösten sich auf, alles war eins. Leise Stimmen strömten mit den Schritten der Männer. Die Frauen saßen still und starrten, und vor ihren Plastikschuhen liefen Essensreste in Kanälen.
Manche hielten Babys an ihre Blusen gepresst, von denen sah man nur die zerdrückten Köpfe.
Wie Wächterinnen saßen sie vor ihren offenen, gefliesten Wohnräumen, in denen auf den Böden, auf Tüchern, Fleisch, Kartoffeln und Rüben lagen. Dahinter standen Betten an Wänden, in denen weißhaarige Alte lagen. Einer saß auf seiner Bettkante, mit dem Fuß angelte er nach einem Schuh, der unter dem Bett lag. Ein Kind kroch eine Treppe hinunter. Beide bewegten sich langsam und taub und als Kahns Blick sie traf hielten sie still und blickten scheu und erschrocken zurück.
Er stolperte, die Hand des Vaters hielt. Blieb bindende Schnur zu allem, was so bleiben sollte, wie es war.
Sie trieben den Fremden bis die Straßen wieder breit und leer waren, sie kreuzten Plätze, umschattet von hohen, kahlen Kirchtürmen und tiefen Pappeldächern. Ihre Schritte hallten weit über die Flächen, in die Gehwege, Kahns undeutlich und schnell, die des Vaters einzeln und fest. Fenster zerrannen zu tausenden über ihnen. Nie schlossen sie zu dem Fremden auf. Nie sprach der Vater ein Wort, nur seine Finger schlossen sich um Kahns Hand und sein Blick drang in den verfolgten Rücken. Der Andere trug seine Gestalt rastlos durch die schlafende Stadt, er wechselte Straßenseiten, er passierte Brücken und Gärten, Schaufenster und Bänke, Licht und Schatten. Seine weißen Hände hielt er auf dem Rücken geknotet und in den dunklen Abgründen der Fassaden war es irgendwann nur noch dieser harte Fleck heller Haut, dem sie folgten.
Irgendwann, eine weiße Fassade, eine Mauer, ein halbrunder Durchgang. Spitze, schwarze Blätter aus einem verborgenen Garten, die gegen den Nachthimmel standen. Der dumpfe Klang einer Kapelle durch geschlossene Fenster. Der Alte blieb stehen, den Hut im Weiß leuchtender Buchstaben. Der Vater zog Kahn jetzt dichter an den Buckel heran.
Im näher dringen warf er schon von oben seinen Schatten auf die weißen Handknochen, die ihren Weg markiert hatten.
Zum ersten Mal drehte der Fremde sich zu ihnen um, der Hals krümmte sich nach oben und das Licht erhellte sein ganzes Gesicht. Ein Gesicht, weiß unter dem Hut, trübe Augäpfel über einer groben Nase. Der Blick des Alten stieß in das wartende Gesicht, als wären sie sich zuvor nie begegnet, als wäre die Nacht, die Verfolgung, Verschwendung gewesen.
Er senkte den Kopf wieder in den Schatten und drängte zurück. „Nun gehen Sie doch zur Seite.“ Vom Vater, in einer Stimme, die wie die eines Jungen klang: „Verzeihen Sie.“
Als er sich an ihnen vorbei schob roch es nach altem Obst, Tabak und Staub. Dann war der Alte im Durchgang verschwunden. Nur die Blattspitzen bewegten sich, während alles andere still stand.
Kahn und der Vater in der leeren Gasse. Der Vater hatte die Hand des Sohns losgelassen. Es lag etwas Unklares über ihnen, im Licht der Buchstaben, langsam entziffert, das Wort Palacio, das keinen Sinn ergab. Kahn wartete. Die Füße in den Sandalen, auf dem kalten Asphalt. Er fasste nach oben, die Hand des Vaters hing leer in der Luft, griff nicht zurück.
Sie standen still.
Dann von oben: „Du wartest hier.“
Es waren die ersten Worte, die der Vater seit der Fahrt im Riesenrad an ihn richtete. Sie klangen fern, wie aus großer Höhe in einen Schacht gesagt, als kämen sie aus Kahns eigenem Kopf. Er spürte den Vater davongehen, verschwinden in den fremden Eingang, in das Halbrund, das in den dunklen Garten führte. Du wartest hier. Die Musik war verstummt, aus den fernen Fenstern, Stimmen, Gelächter. Die plötzliche Angst, verlassen zu sein an diesem fremden Ort, den Vater verloren zu haben. Bis die Furcht vor der Gasse größer wurde, als die Furcht vor dem Zorn des Vaters.
Die Schritte in den dunklen Durchgang, der fremde Geruch. Dann, endlich, der Rücken, die vertrauten Hände, eng im Schatten der kalten Mauer. Dahinter lag ein Hof im Licht goldener Laternen. Große Palmen in steinernen Wannen mit schweren Blüten, die Brunnenfigur eines Knaben, der einen Fisch hielt. Kahn sah, was der Vater sah. Da stand der Fremde, im Hut, im Anzug, nicht mehr allein. Vor einem hohen, schwarzen Tor stand ein anderer in einem weißen Hemd, in der Hand der glühenden Punkte seiner Zigarette.
Worte die unverständlich blieben. Der Vater blieb im Dunkel, als der Andere auf den Alten zu trat.
Der Vater blieb im Dunkel, als eine Hand den Alten griff, als sein Zurückweichen ein Stolpern wurde.
Der Vater blieb im Dunkel, eng an der kalten Wand, als der Alte auf den Boden schlug.
Der Hut ging dabei verloren, der Kopf des Alten, kahl, ein schwerer Ball unter den Tritten, glänzende Schuhspitzen, die den grauen Kopf trafen, als sollte dieser vom Rest des Körpers abbrechen.
Aus dem Dunkel des Durchgangs scheint der Angreifer wie eine Hand, eine Hand, die ihren Schatten groß an eine Wand wirft, eine Geschichte, ein Spiel.
Dann, Rufe, die von der Gasse durch den Gang hallen, der Einzelne, der kein Ende findet, bis von dem Fremden nur noch der Hut und der leere schwarze Anzug auf dem Boden zurückbleibt, aufgespreizt, wie hingeworfen.
Darüber die Hand. Ihr Schatten zieht sich über die ganze Fassade, ein Hundekopf, ein Wolf, über den Fenstern deren weiches Licht durch die Spitze feiner Gardinen drang. Der, den sie verfolgt hatten, lag still.

Wieder, die Rufe, schon nah am Durchgang, Stimmen, die kaum älter klangen als die der Kinder im Hof. Die Hand beugt sich über den Anzug, schlägt ihn auf, fischt in den Taschen, dreht sich dann. Im Näherkommen kurz das Knacken eines Feuerzeugs, eine Flamme vor einem jungen Gesicht. Der Vater drängt zurück, doch da ist die Wand.
Im grauen Hof markiert die Glut der Zigarette das Nahen, Glut, die von der Brust zum Gesicht zieht. Rauch, ein dünnes weißes Band, steigt still nach oben.
Draußen startet ein Auto, für einen Moment fahren die Lichtkegel durch den Durchgang, auf den Hof, wie Zeiger drehen sich ihre Schatten mit dem Licht. Der Anzug auf dem Boden, ein leeres Bündel.
Vom Eingang tönen jetzt die Stimmen der Freunde, Gelächter.
Der Einzelne bleibt vor ihnen stehen. Nah vor dem Vater, zuckt er nach vorn, der Vater zurück. Der Fremde lacht. Wieder das Knacken des Feuerzeugs, die Flamme zwischen den Gesichtern, dem Vater, dem Fremden. Der Blick des Vaters ist der der Mutter, liegt tief auf der fremden Brust.
Seine Hand ist kalt, sie drückt Kahn nach hinten.
Gelächter. Etwas fällt vor ihnen auf den Boden, Metall, eine Münze.
„Könnten Sie die Ambulanz rufen, da hinten ist einer gestürzt.“
Das Lachen, das lachende gelbe Gesicht hinter der Flamme. Die kleinen Zähne.
Der Vater bückt sich. An der Hand, in der die Zigarette glüht, vorbei. Glatte Schuhspitzen, die weißen, langen Finger des Vaters am Boden, die suchen, finden, aufheben.
Endlich wich der Fremde zurück. Endlich, Schritte die sich entfernen, Stimmen, Gelächter das in der Gasse verschwand, dann Stille.

Erst dann, als sie allein waren, trat der Vater, der Arzt, aus dem Schatten. Er stieß mit der Schuhspitze an den Anzug. Aus einem Ärmel, eine weiße, einzelne Hand. Kahn bleibt hinter ihm. Sieht, wie sich vor dem Vater aus dem Dunkel ein weißes Gesicht dreht, auf der Stirn, am Haaransatz, eine Linie wie ein H, aus der es blutet. Mühsam öffnet der Alte seinen Mund, graue Zähne über den Pflastersteinen, hustet schwarze Flecken auf den Boden, auf den Schuh des Vaters.

Der Vater weicht zurück, dreht sich. Sein Blick trifft den Sohn, der nicht geblieben war, wo er sollte. Etwas gräbt sich in diesem Moment in das Gesicht des Vaters, etwas, was sich in Kahn festsetzt und bleibt. Er umschlingt das braune Hosenbein und vergräbt sein Gesicht in dem harten Knie. Will um Verzeihung bitten und weiß nicht wie.
Der Vater greift ihn von oben, reißt ihn herum.  In seinen Händen steckt die brechende Wand. Ein „DU“ fährt auf Kahn hinunter, eine Hand, die ihn davon stößt. Dann jagt der Vater davon, kein Blick zurück. Hinter ihnen, die Stille des Alten im Licht der Laternen, vor dem Jungen, der den Fisch hält. Als eine Tür schlägt wird der Vater schneller. Kahn steht auf, hinterher, durch den Durchgang, die Gasse, die Nacht. Die schwarze Spucke des Alten wie Schimmel auf dem Schuh des Vaters, langsam verlaufen und getrocknet. Kommt und geht im Takt der Schritte.

Irgendwann blieb der Vater stehen. Erst da erkannte Kahn das Haus, als er den Schlüssel im Schloss sah, die Hand des Vaters, die ihn drehte, das braune Treppenhaus im Morgenlicht. An seinem Rücken klebte das nassen Hemd, darunter, dunkle Felder auf den Armen, blaue Flecken, die noch rot waren, bald violett, gelb wurden.

Kahn wurde krank. In den Tagen die folgten, lag er alleine zwischen Schlaf und Wachen unter einer schweren Decke. Manchmal hörte er, wie die Eltern im Nebenzimmer aßen. Das Schaben ihrer Messer und Gabeln mischte sich mit dem Wirren der Gassen, der Beine, der Hände, die sein Zimmer füllten.
Das Riesenrad.
Die große, große Hand.
Das Dunkel vor der kalten Wand.
Der Fremde, das Feuerzeug.
Der Alte, am Boden.
„DU“.
Die Geräusche, die Hitze, sie brachen aus seinem Geist, lauter und schneller bis er schlief und hochschreckte, bis er rief aber sein Hals bitter war und die Zunge zwischen den Zähnen klebte und kein Laut kam. Die Mutter brachte ihm, wenn sich die Wohnungstüre hinter dem Vater geschlossen hatte, kaltes Wasser und in Milch eingeweichtes Brot. Sie saß dann kurz an seinem Bett, legte die kühle Hand auf seine Stirn, sie gab ihm zu trinken und zu essen, sie lüftete die Decke. Einmal fragte er sie, was mit ihm sei.
„Du bist nur krank. Das geht vorbei.“ und sie ging und er versank wieder in der Enge seiner Erinnerungen.
Mittags, wenn die Sonne langsam durch das geöffnete Fenster stieg, hing davor ein nasses Küchentuch, das im Wind schlug und Kälte brachte. Er schwitzte und fror.
Vom Vater sah er nur einmal, abends, durch den Türspalt, im Dunkel des Gangs, einen weißen Arm.
Er war nur krank und es ging vorbei. Nach einer Woche hörten die Träume auf, bald konnte er wieder aufstehen und mittags mit der Mutter am Fenster sitzen. Die Welt war die selbe geblieben. Die Fliegen starben, draußen war es heiß, die Wiese färbte sich braun, Wolkenbänder drückten auf den Hof. Kinder spielten, Kahn und die Mutter aßen Beeren, hörten sie singen und sahen sie rennen.
Alles war gleich und doch schien Kahn das Leben anders. Etwas hatte sich verändert und es dauerte eine Weile, bis er erkannte, dass es der Vater war. Wenn er jetzt um 07:30 in die Tiefe des Treppenhauses entstieg, krümmte sich der braune Rücken und die Haustür schloss sich zaghaft und leise hinter ihm. Abends aß er schweigend und saß dann, die Zeitung haltend, auf dem Sofa. Er sprach nicht mehr. Wie aus Einzelteilen zusammengesetzt, aus Händen, einem unbeweglichen Kopf, einem steifen Körper. Er reagierte nicht, wenn man ihn ansprach, er bewegte die Augen nicht, wenn er las. Der, zu dem der Vater sich gemacht hatte, zu dem er sich, gegen alle Widrigkeiten, die ihm das Elternhaus, die Kindheit, das Leben bereitet hatte, gemacht hatte, war verschwunden.

Einmal fragte Kahn die Mutter, ob denn auch der Vater nun krank war. Sie sah ihn aus dem Lehnstuhl heraus an, dann nickte sie. „Er ist zu weich für die Welt.“ sagte sie irgendwann.
„Er kommt schon zurück.“

In diesem Sommer waren die Nachrichten voll von der Geschichte eines verschwundenen Geschwisterpaars, Heinrich und Elfriede Rössle. In einem Randbezirk der Stadt waren beide in einer Nacht aus dem Kinderzimmer in der elterlichen Wohnung verschwunden und seitdem nicht mehr aufgetaucht. Das Radio zählte die Tage, an den Nachmittagen wurde täglich eine Sondersendung übertragen, Eltern und Lehrer sprachen. Heinrich, der Schmetterlinge sammelte, der über den Winter einen verletzten Vogel aufgezogen hatte. Die Mutter drehte jedes Mal das Radio lauter und blieb dann, nach vorne gebeugt sitzen, bis die Sendung vorbei war. Ihr Mitgefühl galt den Eltern. „Lass du mich nie allein.“, und er sah die Mutter an seinem leeren Bett stehen, mit dem gleichen konzentrierten Blick, der sonst dem Radio galt.
Ein Bild der Geschwister wurde über die Zeitungen verbreitet. Sie standen darauf auf einem grauen Wiesenhügel, im nahen Hintergrund scharfe Berghänge. Er in kurzen Lederhosen und die Schwester in einem bestickten Kleid. Der Bruder legte den Arm um die Schultern der Schwester, in der freien Hand hielt er einen kleinen karierten Pappkoffer. Für Kahn war es das Bild ihrer Abreise, eine Postkarte, ein Abschiedsgruß.

Die Geschwister Rössle wurden ein Fixpunkt in diesen Wochen. Abends im Bett, wenn die Eltern nebenan schwiegen, dachte sich Kahn, wie die zwei Kinder hoch in den Bergen auf der Wiese lebten, der kleine Koffer voll mit Beeren und Schmetterlingen. Jeder der abgezählten Tage, ein Sieg.

Am Donnerstag der zweiten Woche nach dem Verschwinden der Geschwister wachte er zum ersten Mal auf, als die Eltern im Wohnzimmer die Lichter ausschalteten. Er hörte, wie sich die Schlafzimmertüre schloss. Er lag wach und beobachtete die Äste, die die Straßenlaternen auf die Zimmerdecke zeichneten. Er dachte sich Heinrich, der neben der schlafenden Schwester lag, über ihnen der Himmel.

In der zweiten Nacht, in der er erwachte, stand er auf. Die Wohnung lag stumm um ihn, wie gezeichnet. Da gab es plötzlich keinen, der ihn sah. Er strich durch den Flur, in die Küche, ins Wohnzimmer.
Die Schuhe des Vaters neben der Haustüre.
Die Schürze der Mutter am Nagel in der Wand.
In den Schränken pressten sich Kleider, Hemden, Mäntel auf Bügeln, Tassen und Teller, in Pappkisten, eingeschlagen in Stoffe und Papier. Bücher hinter Glastüren.
In der Küche, im Zeitungsständer das Bild der Geschwister.
Heinrich und Elfriede auf der Bergwiese, während unten die Stadt schlief. Kahn, am Fenster, während unten die Stadt schlief. Auf der Fensterbank, im Staub, lagen die harten Körper der gestorbenen Fliegen. Er sammelte sie in der linken Hand, mit der rechten hob er sie an den Flügeln hoch.
Er setzte sich in den Lehnstuhl der Mutter. Die Fliegen knirschten zwischen den Fingern, die Wohnung roch noch leicht nach dem Tag, nach Kaffee, Rauch und Waschmittel.
Die silbernen Wände, kurze Schatten, nichts bewegte sich.
Seine Beine auf dem kalten Leder, irgendwo bellte ein Hund. Er griff die Lehne mit der rechten Hand, wie die Mutter es tat und wartete.
Der Hof als leeres Quadrat unter dem Küchenfenster.

In einer Nacht fand er nur eine einzelne Fliege. Er trug sie zum Lehnstuhl, in der Häuserwand gegenüber waren die Fenster schwarz.
Unten im Innenhof, die helle Laterne.
Irgendwann. Die Buben trugen in der freien Hand jeweils ein Köfferchen, kurze Hosen, dünne weiße Beine. Kahns Herz schlug schneller, aber es war nur die Familie vom Metzger. Die Frau zog die Zwillinge um die Ecke, vom Hof.
Kaum waren die drei verschwunden, da ging beim Metzger das Licht an. In dem hellen Viereck stand der große weiße Tisch, der Metzger, in der weißen Schürze legte weiße Teller rund herum.
Männer betraten den Raum weiter hinten, durch die braune Holztür.
Sie sammeln sich um den Tisch, sie reihen sich vor dem Fenster auf. Ihre Köpfe sind leer umzeichnete Schablonen mit weißen Ohren. Sie sitzen in einer Reihe um einen Tisch. Über ihren Köpfen hängt eine bunte Girlande aus Papier. Sie spannt sich durch das ganze Zimmer, eine rote dünne Schnur aus bunten Rauten. Der Tisch ist mit einem Laken belegt, Kahn sieht ihn von oben, ein weißes Feld mit den runden, weißen Tellern. Der Metzger steht und spricht, die anderen hören ihm zu. Kahn denkt sich die tiefe Metzgerstimme, er war schon manchmal mit dem Vater in seinem Geschäft gewesen. Die Mutter fragt dann abends, beim Essen, nach dem Metzger. Sie hat Angst vor ihm, aber sie fragt und sie schaudert, wenn der Vater antwortet.
Wenn die Zwillinge im Hof spielen, schließt die Mutter die Fenster. Der Metzger spricht, während es draußen hell wird. Die anderen tragen Anzüge, nur der Metzger trägt seine weiße Schürze. Die anderen essen von den weißen Tellern, während der Metzger spricht.
Einer isst nicht, sein Teller bleibt weiß. Erschrocken erkennt Kahn ihn, den Mann aus der Nacht, aus dem Hof. Kahn denkt, dass er sich alles merken muss, jedes Gesicht, jede Geste.
Er fixiert die Köpfe, aber da sehen sie alle gleich aus. Sie wechseln die Plätze. Dann singen sie, er kann sie nicht hören, aber er sieht die Münder, er sieht wie sie alle sich zusammen öffnen und schließen. Nur der Fremde sitzt dazwischen und bleibt still, sein Blick, unter der Hutkrempe, durch das Fenster, über den Hof, zu Kahn.
Die Männer sitzen und ihre Münder bewegen sich und Kahn sitzt hinter der schwarzen Scheibe und kann nicht weg, kann nur abwarten. Bis sie aufhören und aufstehen und das Fenster verlassen.
Zurück bleibt ein leerer Tisch, weiß, mit einem weißen Teller.

In seinem Rücken öffnete sich leise die Schlafzimmertüre der Eltern. Kahn, dicht hinter der hohen Lehne, bleibt unsichtbar. Leise Schritte im Flur, dann das leise Schließen der Haustüre. Der Vater steigt im Hemd die braune Treppe nach unten während Kahn und die Mutter noch schlafen.

Portrait Franziska Gänsler

„Kahn“

Kahn verliert bereits in der Kindheit seinen Vater, der sich mit einer Pistole das Leben nimmt. Der Vater diente im Krieg als Soldat, galt als Held, wirkte als Mediziner. Als Jahre später die Mutter stirbt, kehrt Kahn zurück in die Heimatstadt und wird mit der Vergangenheit der Familie konfrontiert – vor allem nach der Begegnung mit Magdalena, einer jungen Frau, die in einem Café bedient. Der Text entwickelt vor allem durch seine klare Sprache, teils aus kurzen Sätzen beziehungsweise Fragmenten bestehend, einen großen Sog und zeichnet sich durch wiederkehrende Symbole und die Psychologie des Protagonisten aus. 

Franziska Gänsler – Kandidatin Zeichen & Zeiten

Franziska Gänsler wurde 1987 in Augsburg geboren. Nach einigen Jahren in Berlin, wo sie Kunst und Anglistik studierte, ist sie inzwischen, neben dem Schreiben, vor allem in der Kunst- und Kulturvermittlung tätig, hat einen dreijährigen Sohn und pendelt zwischen Wien und Augsburg.

Foto: Lina Schubert

Hier gehts zum Beitrag auf dem Blog Zeichen & Zeiten

Interview mit der Longlist-Autorin

Du stehst auf der Longlist des Blogbuster-Preises. Hättest Du damit gerechnet? 

Ich habe versucht nicht zu viel darüber nachzudenken, aber ich hab darauf gehofft.

Warum hast Du Dich gerade bei „Zeichen & Zeiten“ beworben? 

Ich hatte bei Constanze Matthes das Gefühl, dass das gut zu mir passt. Ich mag die Auswahl an Autoren und Texten, die sie auf „Zeichen & Zeiten“ bespricht und bei den Büchern, die ich selbst gelesen habe, treffen ihre Worte oft ziemlich genau das, was auch meine Gedanken beim lesen waren. Da dachte ich, vielleicht kann sie mit dem, was ich schreibe, auch was anfangen.

Blogbuster ist ein etwas anderer Literaturwettbewerb. Was hat Dich gereizt, daran teilzunehmen?

Ich habe die ersten beiden Staffeln des Blogbuster verfolgt, war damals aber noch tief im unfertigen Manuskript. Mir gefällt am Konzept des Wettbewerbs, dass es nicht eine einheitliche Jury gibt, sondern, dass die Teilnehmer eine gewisse Wahlfreiheit haben und dass es dadurch zu einer persönlichen Vernetzung zwischen den Bloggern und den Autoren kommt. Nachdem ich „Kahn“ dann im Sommer vorerst zu Ende geschrieben hatte, lag es nahe, dass ich es in dieser Staffel einreiche.

Die erste Hürde ist genommen, welche Chancen rechnest Du Dir aus, auch die Fachjury zu überzeugen?

Ich denke bei so einer Auswahl gibt es ziemlich viele Faktoren und die Jury muss sich da irgendwie einig werden. Ob „Kahn“ dann ein gemeinsamer Nenner ist, kann ich echt gar nicht einschätzen.

Wie lange hast Du an dem Romanmanuskript geschrieben und was hast Du bisher schon unternommen, um einen Verlag zu finden?

Ich hab ca fünf Jahre an dem Manuskript gearbeitet, aber es ist immer viel parallel passiert. Ich wurde in der Zeit selber Mutter, da hat sich dann eine Weile weniger getan. Mein Blick auf den Text, insbesondere auf Kahns Mutter, hat sich dadurch verändert und das hat die Geschichte dann auch wieder beeinflusst und vorangebracht. Ich hatte anfangs was ganz anderes mit ihm vor, aber Kahn hatte irgendwie eigene Pläne und ich musste mich dem nach und nach fügen.

Mit Verlagen war ich bisher nicht in Kontakt.

Was wirst Du zusammen mit Deinem Blogger noch unternehmen, um Dich und Dein Manuskript zu promoten?

Das weiß ich noch nicht.

Blogbuster 2020: Mein Favorit

von Julia Schmitz – Fräulein Julia

Puuuh, es ist geschafft! Nach einem harten Kopf-an-Kopf-Rennen habe ich meinen Favoriten für die Longlist des Blogbuster-Preis ausgewählt!

Zum Ende hin wurde es noch zu einer richtigen Herausforderung: Nachdem ich vor kurzem meine persönliche Shortlist aus drei Manuskripten ausgewählt hatte, war klar, dass ich mich für eins davon entscheiden muss. Und das war gar nicht leicht!

Zwei der Texte standen sich Nase an Nase gegenüber und verwickelten mich in eine erbitterte Diskussion – beide mit ziemlich überzeugenden Argumenten. „Ich bin sprachlich perfekt ausgefeilt, mich musst du kaum noch lektorieren und den Spannungsbogen halte ich auch!“, rief mir das eine entgegen; „Ich bin absolut am Puls der Zeit“ hielt das andere dagegen.

Ich grübelte – ausgestreckt auf dem Sisalteppich liegend, im Kopfstand an der Wand stehend, mit Wärmflasche eingekuschelt in meinen Lesesessel. Und dann entschied ich mich. Für:


Kerstin Meixner
Am Fuß des Berges


Worum geht es und warum habe ich diesen Text ausgwählt?

Das erfahrt ihr im Blogbeitrag von Fräulein Julia

Meine Blogbuster-Kandidatin oder Von zwei, die es verdient hätten

von Constanze Matthes – Zeichen & Zeiten

Eine Qual ist diese Wahl nicht. Eher schleicht sich ein Gefühl der Betrübtheit ein, nachdem ich mich entschieden hab, wen ich im Blogbuster, den Preis der Literaturblogger, in die nächste Runde entsende.  Nach der Premiere 2017 nahm ich nun zum zweiten Mal als Bloggerin an dem Wettbewerb teil. Von fünf der insgesamt sieben Kandidaten, die an meine Blog-Tür geklopft haben, ließ ich mir das jeweilige Manuskript zusenden. Eines las ich mit Spannung sogar zweimal, gleich im Anschluss widmete ich mich einem zweiten Text komplett, der mich nicht minder fasziniert. Beide sind thematisch sehr verschieden. Doch beiden würde ich viele Leser wünschen. Also, was nun? Für den alles entscheidenden Entschluss ließ ich mir einige Tage Zeit, entschied jedoch, dass ich beide Verfasser in meinem Text würdige.

Mit der Vergangenheit konfrontiert

„Kahn“ von Franziska Gänsler ist jener Text, den ich zweimal las. Der gleichnamige Held verliert bereits in der Kindheit seinen Vater, der sich mit einer Pistole das Leben nimmt. Der Vater diente im Krieg als Soldat, galt als Held, wirkte als Mediziner. Als Jahre später die Mutter stirbt, kehrt Kahn zurück in die Heimatstadt und wird mit der Vergangenheit der Familie konfrontiert – vor allem nach der Begegnung mit Magdalena, einer jungen Frau, die in einem Café bedient. Der Text entwickelt vor allem durch seine klare Sprache, teils aus kurzen Sätzen beziehungsweise Fragmenten bestehend, einen großen Sog und zeichnet sich durch wiederkehrende Symbole und die Psychologie des Protagonisten aus. Franziska Gänsler ist mit ihrem Manuskript „Kahn“ meine Kandidatin für die nächste Runde und die Longlist im Blogbuster-Reigen.

Den ganzen Beitrag gibt es auf dem Blog Zeichen & Zeiten.