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Leseprobe: Martina Berscheid – “Die Klassenkameradin”

Die Klassenkameradin // Martina Berscheid

1

Uwes Atem stank nach Bier und Einsamkeit.
„Hey, setzt du dich zu mir?“
„Keine Zeit.“
Eva schnappte sich den Spüllappen von der Theke und eilte zu dem Tisch am Fenster, den sie gerade abgeräumt hatte. Sie wischte über die hölzerne Platte, wo sich die Ränder von Biergläsern in den braunen Anstrich gefressen hatten, über Ecken und Kanten, von denen die Farbe abplatzte. Die Vorhänge verströmten den Geruch nach Tabak, obwohl hier schon lange niemand mehr rauchen durfte. Gelbstichig geworden, schleifte der ehemals weiße Webstoff träge über die Fensterbank. Wie zerschlissen er war. Darüber konnten auch die zweiundzwanzig Kornblumen nicht hinwegtäuschen, die sich auf der ausgefransten Borte aneinanderdrängten. Kreuzstich, mit ungeübter Hand eingestickt. Sie hatte sie schon oft nachgezählt, einfach so. Als könnte sich ihre Zahl ändern. Außer dem Wetter änderte sich gar nichts, weder hier in der Alten Buche noch in Kiesbach. Sie hätte jetzt Lust auf eine Zigarette. Oder einen Schnaps. Am besten beides, allein und weit weg. Als sie sich aufrichtete, stieß sie sich den Kopf an der Lampe. Sah aus wie ein Nachttopf ohne Henkel. Und dann noch orange.
Sie schob die Stühle an den Tisch. Die Lehnen hatten die Form von Herzen. Oder Pobacken, ganz wie man wollte. Heute waren wenige Gäste da, selbst am Stammtisch nur zwei. Wie sie da saßen, mit aufgefächerten Karten vor wichtigen Mienen, als ginge es um was. Die Schmelzers hockten in ihrer Ecke in einträchtiger Schweigsamkeit. Und dann natürlich Uwe, der sich am Tresen festklammerte. Immerhin war er noch nüchtern genug, um den Takt des Schlagers mitzuklopfen, der aus dem Radio dudelte. Jetzt eine ihrer alten Metalplatten auflegen. Sie hatte Gerda sogar gefragt, aber die hatte den Kopf gewiegt und gemeint: „Ich würd ja, aber die Gäste …“
„Eva! Zahlen, bitte“, rief Herr Schmelzer und wedelte mit seinem kunstledernen Portemonnaie. Wie die meisten Besucher der Alten Buche nannte er sie wie selbstverständlich beim Vornamen. Sie ging zum Ecktisch der Schmelzers. „Neun Euro neunzig.“
„Stimmt so.“ Er zählte ihr zehn Eineuromünzen in die Hand.
„Dankeschön“, sagte sie und zwang die Mundwinkel nach oben. Herr Schmelzer hakte beide Daumen hinter die Hosenträger, dehnte sie wie zwei Schleudern und ließ sie knallen.
„Gut war ‘s.“
Als ob er nicht zwei Wiener Würstchen aus dem Glas, sondern ein Rinderfilet verspeist hätte. Das Brot hatte er mal wieder liegen gelassen. Daneben klebte Senf wie ein frisch abgelegter Hundehaufen.
„Richte ich aus.“
Sie stellte das Bierglas, das Weißweinglas mit Frau Schmelzers pinkfarbenem Lippenabdruck und den Teller auf das Tablett. Frau Schmelzer drehte an ihrem goldenen Ehering und beobachtete jeden ihrer Handgriffe. Als wollte sie überprüfen, ob Eva alles richtig machte. Erst als sie fertig war, erhob sich das Ehepaar stühlequietschend.
„Schönen Abend noch“, wünschte er und watschelte, seine Gattin im Schlepptau, zum Ausgang.
„Ihnen auch.“
Eva trug das Tablett zur Theke. Uwe brabbelte unablässig auf Gerda ein. Sein fleckiges Hemd sonderte den Mief tagelang aufgesogenen Schweißes ab. Gerdas Hand zitterte am Zapfhahn. Ihr Unterarm war scheckig wie das Fell eines Leoparden. Zwischen ihren rostrot gefärbten Strähnen schimmerte die Kopfhaut. Dass die sich das noch antat, ganz allein, mit fast siebzig. Aber weil Gerda es sich antat, hatte Eva einen Job. Den sie brauchte. Uwe beugte sich vor. „Alles roger?“
Spuckeblasen zerplatzten an ihrem Hals. Sie presste die Lippen zusammen, trat einen Schritt zurück.
„Eva hat Feierabend.“ Gerda wies mit dem Kopf zur Tür. Ist doch nichts los, bedeutete ihr Blick. Hau schon ab.
„Schaaaade“. Uwes Oberlippe glänzte.
„Hier Uwe, dein Pils.“
Gerda knallte das Bierglas auf den Tresen, dass der Schaum über den Rand schwappte, und nickte Eva zum Abschied zu.

Draußen zog Eva die Tür hinter sich zu. Der Abend war drückend. Aschgraue Wolken ballten sich am Horizont. Darunter kauerte Kiesbach, eingepfercht von Feldern und Hügeln. Im Osten bohrten sich Hochspannungsmasten fischgrätig in den Himmel, im Westen erstreckten sich Wald und Wiesen. Kaum zu glauben, dass ein paar Kilometer dahinter die Stadt anfing. Sie fröstelte und zog die Strickjacke über. Trotz des aufkommenden Windes war sie froh, ein paar Schritte zu gehen. Sie holte das Handy aus der Tasche. Kurz vor neun. Keine Nachricht. Sie schaltete das Telefon aus. Für Matthias’ Kontrollanruf war es ohnehin noch zu früh. Der würde erst gegen 21.30 Uhr kommen, eine halbe Stunde, bevor die Buche schloss. Da war sie längst zu Hause. Die Straße führte abwärts am Bolzplatz vorbei. An seinen Rändern wuchs Unkraut. Wenige Schritte weiter begann der Wald. Auf dem Parkplatz davor tauchte ein roter Kleinwagen seine Schnauze in die Brennnesseln, als schämte er sich für die Rostflecken an der Kühlerhaube. So einen hatten sie auch mal, in grünmetallic. Es hatte sie geschmerzt, als Matthias den Wagen kurz nach Charlys Geburt gegen einen neuen Kombi eingetauscht hatte. Weil sie gewusst hatte, dass damit eine Zeit endete, bevor sie richtig begonnen hatte. Eva kramte in ihrer Tasche nach ihrem MP3-Player, nur um festzustellen, dass sie ihn vergessen hatte. Sie kickte gegen eine platt gefahrene Coladose. Scheppernd schlitterte sie über den Asphalt, bis ein Schlagloch sie bremste. Zu beiden Seiten der Straße markierten Zäune das Sperrgebiet des Spießertums. Dahinter standen weiß verputzte Häuser mit Blumenkästen vor den Fenstern, aus denen rosa Geranien quollen. Evas Geranien waren rot. Das Brummen eines Rasenmähers fräste sich durch die Stille. Um diese Zeit. Dabei wussten die Kiesbacher doch sonst immer, was sich gehörte und was nicht. An der Kreuzung zur Talstraße blieb sie stehen. Links oder rechts. Beide Wege führten nach Hause. Der Linke dauerte länger, der Rechte kürzer. Also links. Nach ein paar Schritten bereute sie ihre Entscheidung. Die Lauer, gelegentlich Besucherin der Alten Buche, tratschte mit ihrer Nachbarin. Die Stockrosen neben ihr beugten sich neugierig über den Zaun. Am liebsten wäre Eva umgekehrt. Nein, damit machte sie sich nur lächerlich.
„Diese schwüle Suppe macht mich fertig“, klagte die Lauer.
„Mich auch. Hoffentlich kommt heut Nacht mal was runter.“ Die Nachbarin deutete zum Himmel und verzog das Gesicht, als hätte sie Zahnweh. Die Lauer schnaubte zustimmend. „Letztes Jahr ist mir der Garten ersoffen, und diesen Sommer verdorrt alles.“
Zur Bekräftigung scharrte sie über ihren struppig gelben Rasen. Zwischen ihren Zehen wucherten violette Plastikblumen.
„Guten Abend“, sagte Eva laut.
Die Frauen zuckten zusammen. Die Lauer taxierte sie. Ihre aufgemalten Augenbrauen verliehen ihrem Gesicht einen Hauch von Spott.
„Grüßen Sie Ihren Mann“, rief sie. „Ich komme diese Woche noch zu ihm in den Laden. Brauche Karten für meinen Geburtstag.“
„Mach ich.“ Einen Dreck würde sie tun.
Als sie die Frauen vorbeiging, spürte sie deren Blicke im Rücken. Sie bog in eine Straße, die zum ursprünglicheren Teil Kiesbachs gehörte. Ausgemergelte Kletterrosen klammerten sich an altersfleckige Fassaden. In den Vorgärten lagen sich umgestürzte Gartenzwerge wund. Zu verkaufen, stand in roten Lettern auf einem Pappschild hinter einem blinden Fenster. Sie blieb stehen. Das wild wuchernde Gras und das spröde Holz des Balkongeländers erinnerten sie an ihr Elternhaus, das drüben in Hirschweiler gegen den Verfall kämpfte. Wie ihr Vater im städtischen Altenheim. Über den buckligen Dächern platzte der Himmel auf. Für einen Moment gewährte die Sonne dem Tag noch ein paar Strahlen, bevor sie sich wieder hinter schwarzen Wolken verschanzte. Der Wind frischte auf. Auf Evas Armen bildete sich Gänsehaut.
Sie zog die Strickjacke fester um sich und beschleunigte ihren Schritt. Ignorierte das strammstehende Männchen der Fußgängerampel, überquerte die Fahrbahn, ohne nach links und rechts zu schauen, um diese Zeit kam ohnehin kein Auto. Ihr Haus thronte auf einer Anhöhe. Sein größter Vorteil war, dass es nur eine Nachbarin gab. Eva ging an deren Hecke vorbei. Daneben, im Licht der Lampen, die den Weg zum Eingang flankierten, posierte das Haus. Schmal und hochbeinig, die Fenster mit blauen Rahmen, die Haustür lippenstiftrot. Sie hatte Matthias nie gesagt, dass sie beides scheußlich fand. Eine Vorstadtpomeranze, dachte sie. So wie ich. In der Ferne zuckte ein Blitz über den Himmel.
Die Haustür öffnete sich. Matthias’ Konturen zeichneten sich vor dem erhellten Flur ab.
„Da bist du ja schon. Ich hab gerade versucht dich anzurufen, aber dein Handy war aus.“
„Ich musste mir ein bisschen die Beine vertreten.“
„Okay. Aber ich mag es nicht, wenn du abends allein …“
„Es ist doch nicht mal dunkel.“
Sie blieb am Gartentor stehen, schaute Richtung Horizont, wo ein weiterer Blitz den Himmel zerriss.
Matthias kam auf sie zu. „Was ist?“
Seine Stimme vibrierte vor Ungeduld. Sie unterdrückte ein Seufzen und folgte ihm ins Haus.
„Hast du Hunger?“, fragte er.
„Ich muss duschen.“
Oben nahm sie ein paar CDs aus dem Regal, schnappte den Palyer und schloss sie sich im Bad ein. Sie entschied sich für Metallica, stellte den CD-Player an und regelte die Lautstärke so hoch, dass das Dröhnen der Bässe selbst das Rauschen der Dusche übertönen würde.
Und Matthias’ Rufe.
Eva warf ihre Kleider auf den Boden, stieg in die Kabine und drehte auf. Ließ sich berieseln, von der wunderbaren Mischung aus Wasser und Musik, so lange, bis der Ärger des Tages abgewaschen war.

2

Das Gewitter hielt sie wach. Eva starrte in die Dunkelheit. Vorsichtig, damit das Bett nicht quietschte und Matthias aufweckte, drehte sie sich auf die Seite. Es hatte keinen Sinn. Besser aufstehen. Ein Glas Wasser trinken. Oder ein Bier. Sie schlich zur Tür, schloss sie lautlos hinter sich. Auf Zehenspitzen tasteten sich ihre Füße durch den Flur, die Treppe runter, in die Küche.
Sie knipste die Lampe an und holte sich ein Bier aus dem Kühlschrank. Mit einem Schnapp sprang der Verschluss der Flasche auf.
Eva nahm einen gierigen Zug. Sie setzte sich an den Küchentisch, auf Charlys Platz, der seit sechs Wochen leer geblieben war. So lange hatte ihre Tochter sie nicht besucht. Sie legte die Hände auf das spröde Holz der Tischplatte. „Wenn du willst, kaufen wir einen Neuen“, hatte Matthias kürzlich angeboten.
Das kam nicht infrage. Der Tisch war das einzige Möbelstück, an dem sie hing. Er hatte schon in der Wohnung über Matthias’ Geschäft gestanden, in der sie anfangs zu dritt gelebt hatten.
Sie fuhr mit den Fingern über die raue Oberfläche, ertastete seine Narben: Kerben von Charlys Löffel, den sie von sich geworfen hatte, wenn sie ihren Brei nicht essen mochte, Buchstaben und Zahlen, die sich durch Papier ins Holz gedrückt hatten, Schnitte von abgerutschten Küchenmessern. Sie erinnerte sich an eine jener Nächte, in denen Charly als Baby stundenlang geschrien hatte, in denen Matthias aufgestanden war, damit sie ein paar Stunden Ruhe hatte. Die sie nicht fand. Sie hatte die beiden in der Küche gefunden, an diesem Tisch, sie schliefen, Vater und Tochter, Matthias hielt noch das Fläschchen in der Hand.
Er war ein guter Vater. Damals wie heute.
War sie eine gute Mutter?
Sie trank einen großen Schluck.
Es war auch eine schlaflose Nacht gewesen, in der sie an dem Tisch gesessen hatte, das weiße Plastikstäbchen in Händen, auf dessen Sichtfenster zwei rosa Streifen erschienen waren. Sie hatte sie angestarrt, und alles in ihr hatte „Nein!“ geschrien. Nicht jetzt. Nicht mit neunzehn. Matthias hingegen war überglücklich gewesen, er schien nicht den geringsten Zweifel gehabt zu haben, mit einundzwanzig der Vaterrolle gewachsen zu sein. Er hatte ihr einen Heiratsantrag gemacht. Ein paar Jahre später, nach dem Tod seiner Mutter, das Haus gebaut. Sie zahlten noch heute dafür. Und sie hatte alles geschehen lassen. Die Weichen waren gestellt, für dieses Leben. Und der Zug zuckelte dahin, durch die immer gleiche Landschaft, und sie wartete darauf, irgendwo anzukommen. Manchmal war sie nicht sicher, ob sie überhaupt eingestiegen war oder immer noch am Bahnsteig wartete. Aber ihre Tochter hatte Eva vom ersten Tag an geliebt wie niemanden sonst. Hatte die Zeit mit ihrem Kind genossen und versucht, tapfer zu sein, als Charly vor knapp zwei Jahren auszog. Und dennoch … Liebe und Schuld waren aus dem gleichen Stoff. Sie stand auf und blickte nach draußen. Ein paar Fenster waren erleuchtet, die Straßenlaternen glimmten. Der Donner grollte lauter, wütender. Das Gewitter tobte direkt über Kiesbach.
Unvermittelt trommelte Regen aufs Dach. Sollte das Kaff doch absaufen. Sie würde hier oben stehen und zusehen.
Ein weiterer Donnerschlag krachte. Und dann erloschen die Lichter. Draußen und drinnen. Eva blickte in die Schwärze. Sie fröstelte. Als wäre die Nacht ein Wesen, das ihre Haut streifte.
Ihre Finger umschlossen den Hals der Flasche. Vorsichtig setzte sie sie an die Lippen und trank sie bis auf den letzten Tropfen leer.
Vielleicht sollte sie wieder zurück ins Bett. Auch wenn sie nicht schlafen konnte.
Plötzlich hörte sie Schritte im Flur. Sie lauschte. Hatte sie sich getäuscht? Nein. Da kam jemand näher.
Ein Einbrecher? Unmöglich. Nicht bei diesem Wetter. Nicht mit Sicherheitsschlössern und Alarmanlage. Aber die brauchte doch Strom …
Sie hielt den Atem an. Die Tür öffnete sich mit einem Klicken. Stille. Zögerte er? Überlegte es sich anders?
Mach schon, dachte sie. Komm rein.
„Bist du da?“
Wie rau seine Stimme klang. Als wäre sie permanentem Widerstand ausgesetzt, an dem sie sich reiben musste.
„Ja, ich bin hier.“
„Wo genau? Wie du vielleicht bemerkt hast, haben wir Stromausfall.“ Ein heiseres Lachen.
„Ich stehe am Fenster.“
Sie horchte auf die Schritte, die sich ihr näherten. In ihrem Magen kribbelte es. Jetzt hörte sie ihn Luft holen. Ihre Nase erhaschte einen Hauch von Menthol.
„Da ist der Blitz irgendwo eingeschlagen.“
Sei still, dachte sie. Komm einfach her.
Er berührte ihren Oberarm. „Da bist du.“
„Und wer bist du?“, hörte sie sich sagen.
„Nur ein Mann.“
Obwohl es dunkel war, schloss sie die Augen. Nur ein Mann. Sie tastete hinter sich nach der Fensterbank, stellte die Flasche darauf. Dann zog sie ihn zu sich heran. Vergrub ihr Gesicht an seiner nackten Brust. Der Regen prasselte heftiger. Die Finger des Mannes wanderten ihren Arm hinauf, verharrten kurz auf der Schulter, strichen über ihren Hals. Seine andere Hand lag auf ihrem Rücken. Sie spürte die Wärme seiner Haut durch den dünnen Stoff des Nachthemdes. Sein Atem rauschte an ihrem Ohr, verlor sich in ihrem Haar. Seine Lippen waren warm und weich.
„Du schmeckst nach dem Bier, das ich heute Abend nicht hatte“, raunte er.
„Selber Schuld.“
Er lachte leise.
Wie einfach es war in diesem Moment. Ihn zu spüren, zu riechen und zu schmecken. Zu lieben.
Nicht denken.
Seine Hand fuhr unter den Saum des Nachthemdes.
Plötzlich hielt er inne. „Verdammt.“
Sie riss die Augen auf.
Im grellen Licht der Küchenlampe traten die Konturen des Raumes so scharf hervor, dass es wehtat.
Matthias blinzelte. Das Haar stand ihm in alle Richtungen ab.
Sein Gesicht war gerötet. Vor Scham?
Sie schob seine Hand weg, die noch auf ihrem Oberschenkel klebte.
Matthias trat einen Schritt zurück. Er räusperte sich. „Magst du noch ein Bier? Ich hol schnell zwei aus dem Keller …“
„Nee, lass mal. Ich hab das schon nicht vertragen.“
Sie wandte sich ab und schaute aus dem Fenster, wo ihr das Dorf höhnisch entgegenfunkelte.
Das Gewitter verzog sich mit einem resignierten Brummen, und der Regen hörte so hastig auf, wie er eingesetzt hatte. Sie öffnete das Fenster, atmete einen Schwall frisch gewaschene Luft.
„Gibst du mir die Flasche?“
„Was?“ Sie drehte sich um.
„Na ja, ich geh doch eh in den Keller.“
Sie reichte ihrem Mann die Flasche.
Er lächelte scheu. „Das eben …“
„Ich bin furchtbar müde“, log sie. „Gute Nacht.“
Auf wackligen Beinen ging sie an ihm vorbei. Sie stellte sich schlafend, als er eine halbe Stunde später ins Bett kam, und auch, als er am Morgen aufstand und ihr einen Kuss aufs Haar hauchte.

3

Nachdem Matthias endlich die Haustür zugezogen hatte, schlug Eva die Augen auf. Die Ritzen des Rollladens siebten das hereindrängende Sonnenlicht auf den Teppich. Sie stand auf, zog den Laden hoch und blickte in den blauen, gewitterfeuchten Morgen. Sie wollte hinaus, jetzt, sofort. Sie zog ihre Laufsachen an. In der Küche kippte sie eine halbe Flasche Wasser runter, stopfte einen Fünfeuroschein für den Bäcker in die Hosentasche und steckte ihren MP3-Player ein. Draußen war es warm, aber noch nicht zu heiß. Sie nahm den Pfad gleich neben dem Nachbarhaus, der fast zugewuchert war von Brombeergestrüpp. Charly hatte sich dort immer satt gegessen, war spätsommerlang mit verschmiertem Gesicht und schmutzigen Hosen nach Hause gekommen. Der Pfad stieg leicht an. Eva blieb stehen, blickte über das Dorf, das sich in der Sonne rekelte. Eigentlich sah es richtig malerisch aus, dieses Kiesbach, zumindest aus der Ferne.
Sie begann zu laufen. Matthias mahnte immer, dass sie sich zunächst aufwärmen müsse, er empfahl ihr Dehnübungen, glaubte wirklich, ihr Ratschläge geben zu können, obwohl er überhaupt keinen Sport trieb. Selbst die Sonntagsspaziergänge mit Charly früher waren ihm zu viel gewesen.
Sie schaltete den Player ein. Entschied sich für Smells Like Teen Spirit von Nirvana. Darauf folgte Thunderstruck von AC/DC. Die Musik durchdrang ihren Körper, dehnte sich aus, sie fühlte sich leicht und geerdet zugleich. Sie lief schnell, bis sie außer Atem war. Nach einer Biegung tauchte eine Bank auf, sie ließ sich darauf nieder, die große Runde würde sie heute nicht schaffen. Das Lied verklang und sie schaltete aus.
Wie so oft dachte sie an jene Tage in ihrer Jugend, an denen Matthias und sie nach einem Konzert in den frühen Morgenstunden nach Hause gefahren waren, trunken von Musik. An das Glücksgefühl, das längst verblasst war. Aber einen unauslöschlichen Abdruck in ihrem Inneren hinterlassen hatte. Wind fuhr durch die Zweige, Sonnenlicht hüpfte über die Blätter. Früher hatten sie manchmal zu dritt hier gesessen, hatten Brote gegessen, weil ihre Tochter Picknick liebte.
Da war sie auch glücklich gewesen. Manchmal. Sie stand auf, schaltete die Musik wieder ein. Dancing with myself von Billy Idol.
Der Pfad endete im Kiesbacher Neubaugebiet. Sie verlangsamte ihren Schritt. Vor einem Doppelhaus stieg ein Mann im Anzug in seinen SUV, während er telefonierte. Er starrte sie an, und jetzt erst wurde Eva bewusst, dass sie laut gesungen hatte.
Egal.
Sie grinste. Nickte dem Mann zu und bog in die Hauptstraße, dann in eine Nebenstraße und in noch eine, ein Umweg, aber sie wollte nicht an Matthias’ Laden vorbei. Der Morgen gehörte ihr, und dass sie ihren Mann jetzt nicht sehen wollte, das hatte nichts, gar nichts mit der letzten Nacht zu tun, und wenn doch, dann nur ein bisschen.
Keiner begegnete ihr, alle hatten schon die Rollläden heruntergelassen, sich verrammelt gegen die Hitze, als wäre sie ein Feind. Nur ein alter Mann im gerippten Unterhemd und Hosenträgern saß auf den Stufen seines Häuschens, eine Emailletasse schwankte in seinen Händen. Sie hob die Hand zum Gruß, und er zeigte ein fast zahnloses Lächeln.
Vor der Bäckerei schaltete sie die Musik aus. Sie kaufte zwei Müslistangen, und während die Verkäuferin mit dem Papier raschelte, fiel ihr Blick auf die Schokoladentafeln, die in einem Regal neben der Theke aufgereiht waren.
„Noch eine Nussnugat“, sagte sie, bezahlte, ließ sich eine Tüte und das Kompliment aufdrängen, wenn jemand sich Croissants und Schokolade erlauben könne, dann wohl Eva.
Draußen sah sie die Lauer, vermutlich auf dem Weg zu Matthias, um ihre dämlichen Geburtstagskarten auszusuchen. Es gab niemanden, der so oft etwas bei ihm kaufte wie sie, und Eva war klar, dass das nicht an dem immens hohen Bedarf der Lauer an Schreibwaren lag. Matthias lachte nur, wenn sie ihn darauf hinwies, dass die Lauer offenkundig auf ihn stand.
Sie bog in die nächste Straße, arbeitete sich durch das Labyrinth kleiner Gassen, bis sie ihr Haus erblickte.
Sie setzte an zum Endspurt. Oben auf dem Hügel war sie schweißgebadet. Sie zog die Stöpsel aus den Ohren und schloss die Tür auf.
Drinnen schrillte das Telefon. Eva hastete hinein, fand es auf dem Küchentisch und meldete sich.
„Wo warst du?“, fragte Matthias.
„Laufen.“
„Frau Lauer meinte, sie hätte dich im Dorf gesehen.“
„Da muss sie sich irren“, log Eva.
In ihr drin verhärtete sich etwas, gewann ein Gewicht, von dem sie dachte, es in der letzten halben Stunde verloren zu haben.
Matthias lachte. „Sie sieht halt viel und redet gerne.“
Vor allem mit dir, dachte sie. Ob Frau Lauers Heinz eigentlich davon wusste?
Eva ließ sich auf den Küchenstuhl sinken.
„Alles klar? Du sagst ja gar nichts.“
„Ich bin kaputt und brauche eine Dusche.“ Wie kratzbürstig sie klang.
„Verstehe.“ Er räusperte sich, sie wusste nicht, ob aus Verärgerung oder weil er sie nicht aufhalten wollte.
Vielleicht war es eine Mischung aus beidem.
„Ich komme nicht zum Mittagessen heim, ich will noch ein bisschen Buchhaltung machen. Könntest du mir aus der Stadt eine Pizza oder so mitbringen?“ Er machte eine Pause. „Nachdem du bei deinem Vater warst?“
Eva verrollte die Augen. Was sollte dieser Nachsatz?
„Ja. Mache ich. Nachdem ich bei meinem Vater war.“
„Super.“
„Ja.“ Leg endlich auf, dachte sie.
„Dann bis später.“
„Ciao.“
Jetzt Kaffee und Zucker, beschloss sie. Aber als sie die Tüte auspackte und ihr Blick auf Müslistangen und Schokolade fiel, verging ihr der Appetit. Sie würde die Tafel ihrem Vater mitbringen. Vielleicht würde er sich dann ausnahmsweise über ihren Besuch freuen.

4

„Setzen Sie sich doch“, flötete Frau Schmidt.
Wo sie nur diese Fröhlichkeit hernahm. Aber vermutlich war die genau so falsch wie die Zähne der meisten Patienten hier.
Nein, es hieß ja Bewohner. Darauf hinzuweisen, wurde Frau Schmidt nie müde, Bewohner hatte einen Ehrenplatz in ihrem Wortschatz.
Frau Schmidt schaute sie auffordernd an. Ihr rosiger Teint passte nicht zu dem hageren Gesicht. Sie hatte fast immer Dienst, wenn Eva ihren Vater besuchte, schob sich jedes Mal hinter ihr ins Zimmer, sprudelte ein paar Belanglosigkeiten heraus, die niemand hören wollte, und verließ den Raum erst, wenn sie sich ihrem Vater gegenüber gesetzt hatte.
Eva unterdrückte ein Seufzen und ließ sich auf dem Holzstuhl nieder, damit sie diese Frau endlich los wurde. Frau Schmidts Augen leuchteten kurz auf, als hätte sie Großes bewegt.
„Dann lass ich Sie mal allein.“
Mit vorgereckter Brust, an der sie ihr Namensschild trug, als wäre es das Bundesverdienstkreuz, verließ sie das Zimmer.
Die Tür klickte ins Schloss, und es wurde still. Als hätten sämtlich Geräusche die Gelegenheit genutzt, mit Frau Schmidt hinauszuschlüpfen. Eva schlug vorsichtig die Beine übereinander. Sie wusste nie, wie sie sich hinsetzen sollte auf diesen Stuhl. Die Sitzfläche war sehr schmal, Leute mit dicken Hintern mussten Mühe haben, ihn darauf unterzubringen, ohne dass er über beide Seiten quoll.
Sie legte die Hände auf die uringelbe Tischplatte und verschränkte die Finger. Ihr rechter Daumennagel war eingerissen. Mit dem Zeigefinger fuhr sie darüber.
Was sollte die Zeitschinderei.
Sie sah auf, direkt in die verschwommen blauen Augen ihres Vaters. Wie zwei zugefrorene Seen, mit einer dünnen Wasserschicht auf der Eisfläche. Er betrachtete ihre Finger. Seine Mundwinkel hingen herunter, die schrumplige Haut über den Wangenknochen erinnerte an geronnene Milch. Irgendjemand hatte sich die Zeit genommen, ihm ein sauberes Hemd anzuziehen, das struppige Haar zu waschen und zu kämmen, vielleicht Frau Schmidt, aber Eva empfand keine Dankbarkeit. Genau genommen empfand sie überhaupt nichts. Außer dem Wunsch, der Pflichtbesuch wäre schon vorbei.
„Na? Wie geht’s dir heute?“
Grässlich. Sie klang wie Frau Schmidt. Aber was sollte sie jemanden fragen, der zwar neunzehn Jahre im gleichen Haus gewohnt hatte, über den sie jedoch kaum mehr wusste als über den Briefträger.
Wie erwartet gab ihr Vater keine Antwort.
Ihr Po begann zu schmerzen, die vorderen Kanten der Sitzfläche drückten sich in die Unterseite ihrer Oberschenkel. Sie verlagerte das Gewicht, zog das rechte Bein vom linken Knie und rutschte so weit nach hinten, wie es der Stuhl zuließ. Die schmale Lehne begrü.te ihre Wirbelsäule mit der gewohnten Härte.
„Ich hab dir was mitgebracht.“
Sie fischte die Schokoladentafel aus ihrer Handtasche und schob sie auf die andere Seite des Tisches. Vaters Blick folgte misstrauisch ihrer Hand und verharrte auf der Tafel. Er kniff die Augen zusammen, als bemühte er sich, die weiße Aufschrift auf dem rosa Grund zu entziffern.
„Nussnugat. Deine Lieblingssorte.“
Und ihre auch. Der kleinste gemeinsame Nenner ihrer Vater-Tochter-Beziehung.
Sie blickte zum Fenster. Mochte das Wetter noch so schön sein, die Luft draußen frisch und klar, es war verriegelt. Sperrte die ranzige Raumluft ein, gegen die der Geruch nach Desinfektionsmitteln vergeblich ankämpfte. Draußen rotteten sich dunkle Wolken zu einer schwarzen Wand zusammen. Der blaue Himmel am Morgen hatte sein Versprechen nicht gehalten.
Wie lange saß sie schon hier? Sie schaute auf die Uhr.
Erst elf Minuten.
Diese kahlen Wände, schlohweiß, ohne Foto, Kunstdruck oder Poster. Ihr Vater duldete nichts davon. Nur ein Tisch und zwei Stühle, das Bett. Früher hatte sie Blumen aus dem Garten mitgebracht, um für ein bisschen Farbe zu sorgen, und sie in eine leuchtend rote Vase gestellt. Frau Schmidt hatte ihr jedoch beim dritten Mal gesagt, sie möge dies doch bitte lassen. Ihr Vater habe es nicht so mit Blumen. Was hieß, dass er die Vase jedes Mal mit Absicht umgestoßen hatte. „Das hat mit ihnen persönlich gar nichts zu tun“, hatte Frau Schmidt versichert, sich aber rasch abgewandt.
Wie gut, dass Eva das Heim wenigstens nicht bezahlen musste.
Ihre Mutter hatte alles geregelt. Sie sah sie vor sich, die handbeschriebenen Seiten, auf denen ihre Mutter alles aufgelistet hatte, die Versicherungen und Konten, und sie war erstaunt gewesen, über wie viel Geld ihre Eltern verfügt hatten. Oder besser gesagt, hätten verfügen können, wenn sie gewollt hätten. Aber bis auf drei Urlaube im Schwarzwald hatten sie sich nichts gegönnt. Als hätten sie darauf hingelebt, sich irgendwann einen Platz in diesem Heim erkaufen zu können. Erst sechs Wochen vor ihrem Tod, als hätte sie gewusst, dass ihre Zeit abgelaufen war, hatte ihre Mutter sie aufgeklärt, welches Vermögen sie und ihr Vater besaßen. Sie hatte verkündet, dass sie Eva das Haus – das sie selbst von ihren Eltern geerbt hatte – überschreiben wolle und Eva es nach ihrem Tod verkaufen möge, das Geld dürfe sie als Vorschuss auf ihr Erbe betrachten. Für ihren Vater sei gesorgt, der Verkauf der Eigentumswohnung würde die Kosten des Heimes langfristig decken. Außerdem wolle sie nach ihrem Tod verbrannt und ihre Asche solle in die Nordsee gestreut werden – damit Eva sich nicht um ein Grab kümmern müsse – und bei ihrem Vater solle alles genau so gehandhabt werden.
Eva hatte ihre Mutter ungläubig angeblickt. Sie hatte keine Ahnung gehabt, dass ihre Eltern eine Eigentumswohnung besessen hatten. Wie immer hatten sie sie von den wichtigen Dingen ausgeklammert, als ginge sie das nichts an. Und dann die Seebestattung: Ihr ganzes Leben lang hatten ihre Eltern keinen Strand gesehen, hatten Eva den Wunsch, wie alle anderen Klassenkameraden nach Spanien oder wenigstens an die Küste Deutschlands zu fahren, nie erfüllt. Und jetzt suchten sie sich das Meer als letzte Ruhestätte aus.
Natürlich waren die Pläne ihrer Mutter, vor allem ihre Voraussicht, vernünftig und bewundernswert – im Wissen um den eigenen baldigen Tod und den rapide fortschreitenden geistigen Verfall ihres Mannes so strukturiert und besonnen zu handeln.
Aber für Eva hatte dieses Regeln den Beigeschmack von Verrat. Sie hatten im elterlichen Wohnzimmer gesessen, und in Eva hatten Wut und Trauer miteinander gekämpft. Sie hatte auf die alberne Kuckucksuhr gestarrt, die ihre Mutter früher täglich abgestaubt hatte, und die Lippen zusammengepresst.
Warum hätte sie ihrer Mutter Vorwürfe machen sollen, am Ende ihres Lebens verhielt sie sich so, wie sie sich immer verhalten hatte, und stellte ihre Tochter vor vollendete Tatsachen, ebenso, wie ihr Vater es immer getan hatte.
Als Kind hatte Eva manchmal das Gefühl gehabt, ihre Eltern seien nicht Eheleute, sondern Zwillinge. Sie waren sich so ähnlich und schienen immer einer Meinung zu sein. Sie konnten stundenlang reden, ohne ein Wort an Eva zu richten, und wenn sie etwas sagte, schauten sie sie manchmal erstaunt an, als wäre ihnen gerade erst aufgefallen, dass sie eine Tochter hatten. Sie waren beide fast vierzig gewesen, als Eva geboren wurde, sie wusste nicht, ob sie lange ersehnt gewesen oder in Kauf genommen war: ein Störenfried, der nichts dafür konnte und dem man wohl oder übel hin und wieder Aufmerksamkeit schenken musste.
Wie gut es Matthias hingegen gehabt hatte. Zwar hatte er seine Eltern früh verloren, aber es waren herzliche Menschen gewesen, die ihrem Sohn ein liebevolles Zuhause geboten hatten. Eva hatte Matthias’ Vater nicht mehr kennen gelernt, aber seine Mutter hatte sie als ihre Tochter bezeichnet.

Ihr Rücken begann zu schmerzen. Dieser verdammte Stuhl. Sie rückte einen Zentimeter nach vorne, der Druck ließ nach, dafür schnitt ihr die Kante der Sitzfläche in die Haut.
Einmal hatte sie ein Kissen mitgenommen. Frau Schmidt hatte sie entsetzt angesehen. „Was wollen Sie denn damit?“ „Darauf sitzen“, hatte Eva geantwortet. „Was glauben Sie denn?“
Frau Schmidt war rot angelaufen und murmelte irgendetwas von
„Vorsichtsmaßnahme“ und ihr standardmäßiges „nicht persönlich“. Als Eva Matthias später beim Abendessen davon erzählte, lachte er und meinte: „Vielleicht hat sie gedacht, du wolltest deinen Vater ersticken“, und ihr blieb der Bissen im Hals stecken.
Daraufhin hatte sie sich bei der Heimleitung beschwert. Die Direktorin rutschte auf ihrem Stuhl herum, obwohl der gepolstert war und ergonomisch geformt. Frau Schmidt sei „speziell“, aber immer „besorgt um die Bewohner“ und „unersetzlich“.

Neunzehn Minuten. Immerhin. Eva schaute zu ihrem Vater, der sich nicht gerührt hatte. Wie hielt er das aus, die ganze Zeit auf diesem Stuhl zu verharren?
Plötzlich bewegte er den rechten Arm, dann den linken. Sein Blick klarte auf, als hätte er jetzt erst begriffen, was da vor ihm auf dem Tisch lag. Seine Finger, lang und gekrümmt, tasteten sich an die Schokoladentafel heran. Es sah aus, als starteten zwei Spinnen einen Angriff.
Seine Mundwinkel zuckten. Er grub die Fingernägel in das Papier. Zog daran, zerrte, zeriss. Aus seinem Mundwinkel tropfte Speichel. Eva schluckte aufsteigende Übelkeit hinunter.
„Soll ich dir helfen“, murmelte sie, aber er ignorierte sie.
Seine Finger bohrten sich in die Tafel, silberne und rosafarbene Papierstreifen flatterten über den Tisch. Er keuchte vor Anstrengung. Jetzt lag die Schokolade frei. Er umklammerte sie, hob sie an den Mund und biss hinein. Kaute mit offenem Mund. Seine Zähne färbten sich braun, Spucke tropfte herunter, kleckste auf das saubere Hemd.
Eva legte beide Hände auf die Ränder der Sitzfläche, schloss die Finger um das Holz, an dieser Stelle rissig wie ihr Daumennagel. Ein Splitter stach in ihre Haut.
Plötzlich erstarrte ihr Vater. In Zeitlupentempo streckte er den Arm aus, stierte auf die angebissene Schokolade, öffnete die Lippen. Ein Laut entfuhr seinem Mund, erst leise, bis er Fahrt aufnahm, an Höhe gewann, in einem schrillen Schrei gipfelte. Er schleuderte die Tafel von sich, sein Brüllen kondensierte zu einem Wort.
„Gift“, schrie er, „Gift“.
Eva sprang auf. Der Stuhl schrappte über das Laminat, kippte und knallte auf den Boden.
„Sei still“, rief sie. „Verdammt, das ist nur Schokolade.“
Sie eilte um den Tisch herum, fasste ihn an der Schulter. Er schrie und schlug nach ihr.
Die Tür wurde aufgerissen. Frau Schmidt stürmte herein, das Gesicht noch stärker gerötet als sonst. Besitzergreifend legte sie den Arm um Evas Vater, und er ließ es geschehen.
„Was haben Sie gemacht?“ Frau Schmidts Unterlippe zitterte drohend.
„Ich habe ihm Schokolade mitgebracht. Seine Lieblingssorte.“
Eva hob die angebissene Tafel auf und feuerte sie auf den Tisch.
Frau Schmidts Augen verengten sich. „Aber das ist eine andere Marke. Sie wissen, wie wichtig Gewohnheiten und Rituale für ihren Vater sind.“
„Und Sie gehen mir auf die Nerven.“
Der Satz war heraus, bevor sie nachgedacht hatte.
Frau Schmidt riss die Augen auf.
„Sie mögen Ihre Arbeit wunderbar machen, kein bisschen unter Zeitnot leiden und meinen Vater besonders ins Herz geschlossen haben. Schön.“ Eva trat einen Schritt nach vorne. „Aber hören Sie auf, mich wie eine Idiotin zu behandeln.“
Frau Schmidt schnappte nach Luft, aber sie schwieg. Evas Vater war ganz still. Reglos hing er in den Armen der Pflegerin.
Eva holte ihre Tasche und wandte sich zum Gehen. Bevor sie die Tür hinter sich zuzog, erhaschte sie noch seinen Blick. Er grinste verschlagen.
Sie knallte die Tür hinter sich zu.
Draußen holte sie tief Luft. Ihre Wut fiel in sich zusammen.
Leichter hatte sie es sich mit diesem Ausbruch nicht gemacht.
Ein Feuerwehrauto näherte sich mit Geheul, brauste an ihr vorbei. Warum konnte das Altersheim nicht abfackeln, dachte sie und schämte sich sofort.
Sie würde auch nächste Woche wieder hierherkommen, durch die langen Flure laufen bis zu Zimmer A19 und eine Stunde auf dem harten Holzstuhl absitzen, während ihr Vater die weißen Wände oder seine Finger oder was auch immer betrachtete, es kam selten vor, dass er mit ihr sprach. Sie war seine Tochter, und Töchter machten das. Brave Töchter sowieso.
Wieso ließen sie sich nicht übermalen, diese Muster, nach denen man sich verhielt, wieso fühlte man sich schlecht bei dem Wunsch, sie zu verändern. Sie war ihren Eltern gegenüber nie laut geworden. Aber manchmal hatte es in ihr gebrodelt, als Zwölfjährige, wenn ihre Mutter ihr noch immer das Haar zu Zöpfen flocht und sie sich furchtbar dafür schämte, als Vierzehnjährige, wenn ihr Vater ihr verbot, eine Geburtstagsfeier zu besuchen, die länger als zwanzig Uhr dauern würde, und manchmal, auf dem Schulweg, wenn niemand in der Nähe gewesen war, dann brüllte sie so laut sie konnte oder verzog sich in ihr Zimmer und hörte auf ihrem Walkman Fear of the dark von Iron Maiden, so laut bis knapp unter der Schmerzgrenze.
Gut, sie hatte gelernt, Widerworte zu geben.
Aber mehr auch nicht.
Die Uhr der nahe gelegenen Kirche schlug zweimal. Halb sechs.
Sie könnte den früheren Bus erwischen, wenn sie sich beeilte.
Der Wind stieß ihr in den Rücken und schob sie vorwärts. Sie ging die Straße hinab in die entgegengesetzte Richtung zur Bushaltestelle. Spülwassergraues Licht versickerte zwischen den Dächern. Eva bog in eine Seitenstraße und von der in eine Gasse, in der sie noch nie gewesen war. Mit jedem Schritt, den sie sich vom Altersheim entfernte, fühlte sie sich besser.
Die Gasse war so schmal, dass kaum ein Auto durchpasste. Gleich aussehende Häuschen reihten sich aneinander. Steingraue Fassaden, braune Türen, schmucklose Fensterbänke. Siamesische Mehrlinge. Nur eines trotzte dem Einheitsbild.
In die Vorderfront war ein Schaufenster eingelassen.
„Schallplatten und CD’s“, stand auf der Scheibe, darunter hingen Tourplakate diverser Metalbands.
Genau das, was sie jetzt brauchte.
Ein auf schwarzem Samt drapierter Totenkopf in der Auslage grinste sie an. Eva grinste zurück und drückte die Tür auf.

5

Sie hatte Zigarettendunst erwartet, gemischt mit dem Geruch nach Staub und einem herben Aftershave. Aber auf der niedrigen Verkaufstheke verglimmte ein Räucherstäbchen neben einer altmodischen Ladenkasse und verströmte zitrusartiges Aroma.
Daneben stand ein knallorangefarbenes Telefon. Mit Wählscheibe!
Der Raum glich einem überdimensionierten Wohnzimmer. An einer Schmalseite machte sich ein Sofa mit zerschlissenem moosfarbenen Cordbezug breit, daneben baute sich ein Ständer mit Musikzeitschriften auf. Tourplakate und Bandposter hingen an den Wänden. Außerdem gab es mehrere Regale, vollgestopft mit Büchern und DVDs sowie Kisten mit Schallplatten und CDs.
Sie griff wahllos hinein. Iron Maiden, Guns `n Roses, Queen.
Von irgendwoher ertönte Musik. Metallica.
Sie lächelte. Als hätte jemand ein Zimmer für sie eingerichtet, in der ihre Jungendzeit wieder auferstand.
„Bin gleich da“, rief eine männliche Stimme.
Sie kam aus einem Raum hinter der Theke, der durch einen roten Samtvorhang abgetrennt war. Kurz darauf erschien ein hochgewachsener, kräftiger Mann, Eva schätzte ihn auf Mitte vierzig. Er hatte das braune Haar zu einem Zopf gebunden. Aus dunklen, von buschigen Brauen überdachten Augen blickte er sie mit einer Mischung aus Neugier und Freundlichkeit an.
„Hi“, grüßte er. „Kann ich helfen?“
Er kam mit schweren Schritten hinter der Theke hervor, trotz der Hitze trug er Stiefel. Dazu eine abgewetzte helle Jeans und ein schwarzes T-Shirt.
„Berufskleidung“, kommentierte er ihren Blick. „Wenn ich hier im Anzug stehen würde, nähme mich doch keiner ernst.“
„Wohl kaum“, nickte Eva.
Er schaute an sich herab. „Könnte schlimmer sein, oder?“
„Allerdings. Leopardenleggings zum Beispiel.“
Sie lachten beide, und die Erinnerung an den hässlichen Vorfall mit ihrem Vater schrumpfte zu einem kleinen Punkt, der sich in ihrem Gedächtnis verlor.
„Aber ehrlich gesagt trage ich sowieso keine Anzüge. Es sei denn, zu einer Hochzeit oder einer Beerdigung.“ Er lächelte.
„Suchst du was Bestimmtes?“
Sie schüttelte den Kopf. „Ich bin zufällig vorbeigekommen und war neugierig“, gab sie zu.
„Okay“, meinte er. „Kommt leider nicht allzu häufig vor, dass sich jemand in das Gässchen hier verirrt, es sei denn, jemand hat mich empfohlen.“
„Das kann ich ja ab sofort tun.“
„Nur zu. Ich bin übrigens Kai.“
„Eva.“
Er streckte ihr die Hand hin. Seine Haut fühlte sich rau und kühl an. Für einen Moment war sie befangen.
„Machst du eigentlich auch Musik?“, fragte sie schnell, damit es nicht auffiel.
Er winkte ab. „Ich hab als Sechzehnjähriger mal mit E-Gitarre angefangen.“
„Und?“
„Naja, mein Gitarrenlehrer meinte, ich sollte es vielleicht besser mit Blockflöte probieren.“
Sie musste lachen.
„Und du? Irgendwie musikalisch unterwegs? Als Frontfrau einer Frauen-Rockband oder so?“
„Nein. Dort könnte ich höchstens als Triangel-Spielerin mitmachen.“
Ihr Handy klingelte. Einmal, zweimal.
Sie holte es hervor, schaute auf das Display, von dem ihr der Name ihres Mannes entgegen blinkte. Nicht jetzt. Sie drückte seinen Anruf weg.
„Die machen uns alle zu Sklaven“, meinte Kai.
Darauf wollte sie lieber nicht eingehen. „Ist ein toller Laden“, sagte sie stattdessen.
„Naja.“ Er seufzte. „Eher ein Hobby.“
„Hobby?“
„Seit ich vierzehn bin, steh ich auf Rock und Metal, querbeet, alte und neue Sachen. Das hier ist so was wie mein Wohnzimmer, und hin und wieder kommt jemand zu Besuch.“ Er lächelte.
„Ich könnte den Raum sogar noch größer machen.“
Kai deutete auf die Wand, die sich gegenüber des Sofas befand und in die eine schmale Tür eingelassen war.
„Die ist nur eingezogen. Dahinter stapeln sich noch jede Menge DVDs und anderer Kram. Ich komm einfach nicht nach. Aber was quatsch ich dich voll … Magst du einen Kaffee oder so?“
„Danke nein.“
Sie zögerte, unsicher, ob ihre nächste Frage nicht zu persönlich war – sie kannte den Mann ja überhaupt nicht -, aber dann dachte sie, dass sie sie eigentlich genau aus diesem Grund stellen konnte.
„Aber mit dem Hobby verdienst du genug …“
Er winkte ab. „Ich bin in der glücklichen Lage, dieses prächtige Anwesen mein Eigen zu nennen. Fast zumindest. Gehörte meinen Großeltern, aber meine Eltern haben es mir überlassen. Gegen eine Minimiete. Deswegen bin ich mit dem kleinen Zeh in der Gewinnzone.“
Er machte eine Pause, als wäre er nicht sicher, ob er den Satz aussprechen sollte, der bereits auf seiner Zunge wartete.
„Eigentlich bin ich Grundschullehrer.“
„Was?“ Sie prustete los. „Entschuldigung.“
„Doch wirklich. Im Laden bin ich deswegen nur am Dienstagnachmittag und an Samstagen.“
„Gut zu wissen. Danke für die Info.“
„Gerne. Die ganze Zeit habe ich schon überlegt, wie ich das so dezent wie möglich verpacke.“
Sie schmunzelte.
Hinter ihr öffnete sich die Tür. Sie drehte sich um, ein Pärchen um die fünfzig trat ein, grüßte Kai freundschaftlich.
„Ich muss jetzt gehen“, behauptete sie.
Kai schnitt eine Grimasse, die so viel bedeuten mochte wie: Da kann man nichts machen.
„Moment noch …“ Er drückte ihr einen dünnen Stapel knallrotes Papier Postkartenformat in die Hand. „Vielleicht kannst du die weitergeben.“
Eva betrachtete die selbst gedruckten Flyer mit aufgedrucktem Totenkopf und Kais Adresse.
„Mach ich gerne.“
„Danke.“
„Ja dann.“
„Man sieht sich?“
„Bestimmt“, antwortete sie und verließ den Laden.

Portrait Martina Berscheid

„Die Klassenkameradin“

Evas Leben scheint nach außen hin vollkommen normal: Ehemann, Haus, Tochter – ein Leben im Kleinstadtidyll. Doch Eva fühlt sich eingeengt durch den Alltag in einem kleinen Örtchen, durch ihren Ehemann, dessen Fürsorge und Kontrollzwang sie erdrücken, durch ein Leben, das so viel weniger bietet, als Eva sich in ihrer Jugend ausgemalt hatte. Auf einem Klassentreffen trifft sie schließlich die selbstbewusste Agnès – eine Femme Fatale, deren extravagantes Leben auf sie einen unwiderstehlichen Reiz ausübt. So sehr, dass Eva beginnt, ihren Lebensstil zu kopieren. Als Agnès auf Geschäftsreise geht und Eva ihre Wohnung hütet, schlüpft sie in die Rolle der „Vivian“, und taucht ein in Agnès‘ Welt des Rausches und des Vergnügens. Doch es ist nicht alles Gold, was glänzt. Nach und nach eröffnen sich dunkle Geheimnisse, die unter der schillernden Fassade von Agnés‘ Leben schlummern…

Martina Berscheid – Kandidatin Fiktion fetzt

Martina Berscheid, Jahrgang 1973, hat Biologie studiert, war in einem Softwareunternehmen für PR-Texte zuständig und hat als Alltagshelferin gearbeitet; derzeit tätig im Einzelhandel/Gesundheitsbranche. Schreibt seit Jahren mit Leidenschaft; Publikationen in Literaturzeitschriften und Anthologien; 2015 Hans-Bernhard-Schiff-Literaturpreis der Stadt Saarbrücken. Veröffentlichung eines Erzählbands und eines Romans. Sie lebt in Homburg/Saar und arbeitet derzeit an verschiedenen neuen Projekten.

Hier gehts zum Beitrag auf dem Blog Fiktion fetzt

Interview mit der Longlist-Autorin

Du stehst auf der Longlist des Blogbuster-Preises. Hättest Du damit gerechnet? 

Dass ich auf der Longlist stehe, freut mich ungemein! Das ist schon etwas Besonderes, das ich mir natürlich erhofft habe. Aber das Niveau beim Blogbuster ist hoch, ich wusste, dass das nicht einfach wird. Als ich die Nachricht von Karo bekam, dass mein Manuskript ihr Favorit ist, war es eine tolle Überraschung.

Warum hast Du Dich gerade bei „Fiktion fetzt“ beworben? 

Karo hat in ihrer Vorstellung geschrieben, dass interessante Figuren sie in ihren Bann ziehen, dass sie zerrissene Charaktere mag – und damit hatte sie mich. Denn auch ich liebe widersprüchliche, zweifelnde, in jedem Fall aber solche Figuren, mit denen ich mich identifizieren und deren Motive und Handlungen ich nachvollziehen kann. In meinen Texten lege ich deswegen besonderen Wert auf die Charaktere und deren Entwicklungen sowie zwischenmenschliche Beziehungen.

Blogbuster ist ein etwas anderer Literaturwettbewerb. Was hat Dich gereizt, daran teilzunehmen?

Dass Blogger sich mit den Texten auseinander setzen. Sie sind ganz wichtig im Literaturbetrieb, unterstützen mit Leidenschaft AutorInnen und Literatur, von denen sie begeistert sind, und ich glaube, dass sie sehr gut das Neue, Besondere oder Individuelle in der Literatur aufspüren.

Die erste Hürde ist genommen, welche Chancen rechnest Du Dir aus, auch die Fachjury zu überzeugen?

Ich denke schon, dass ich – wie alle anderen TeilnehmerInnen auch – Chancen habe. Das kann ich aber nicht in einer Zahl ausdrücken. Großartig ist es, auf der Longlist zu stehen, weiter zu kommen wäre grandios. Ich bin gespannt.

Wie lange hast Du an dem Romanmanuskript geschrieben und was hast Du bisher schon unternommen, um einen Verlag zu finden?

Die reine Schreib- und Überarbeitungszeit lag bei ca. 2 Jahren. Ich habe das Manuskript bisher ein paar Agenturen angeboten. Zwei antworteten ausführlicher. Auch wenn sie das Manuskript aus diversen Gründen nicht annahmen, fanden sie es interessant und gut geschrieben.

Was wirst Du zusammen mit Deinem Blogger noch unternehmen, um Dich und Dein Manuskript zu promoten?

Ich denke, da werden wir uns noch ein paar Dinge einfallen lassen. Ich werde auf meiner Facebook-Seite Werbung machen, und Karo hat sicher auch noch ein paar Ideen in petto.

Leseprobe: Kristin Lange – “Die Gefahr des Gelingens”

Leseprobe zu: Kristin Lange, die Gefahr des Gelingens

Anmerkung zur Leseprobe: Der Roman erzählt abwechselnd aus der Perspektive des Mannes und der Frau. Die Parts der Protagonistin sind anfangs noch sparsam eingestreut und kurz. Als zweite Leseprobe habe ich daher ein Stück aus der Mitte gewählt, das einen aussagekräftigen Eindruck von der Stimme der Frau vermittelt und gut zum Anfang passt.

Leseprobe 1, der Romananfang:

I

Mai 2000

„Möwe vier sieben, kommen.“
Erik drückt die Empfangstaste. „Möwe, kommen.“
„Schienenunglück mit Personenschaden zwischen Kiel und Preetz, Suizid vermutet, auf Höhe der Kleingartenkolonie am Kuckucksweg ‒ sorry, Erik, ihr seid am nächsten dran.“
Bitte nicht. Bitte endlich nach Hause. Kaffee, duschen.
Er angelt sich das Sprechteil. „Moin, Roland. Ist verstanden, sind unterwegs.“
Ulli neben ihm am Steuer stöhnt. Erik fummelt mit dem Sprechteil an der Halterung, rutscht ab, flucht, kriegt das Ding eingehängt und drückt eine Statustaste.

Der Waldboden federt unter seinen Schuhen, als sie aussteigen. Den Ablauf kennt Erik. Der Strom in der Oberleitung ist abgeklemmt, der Streckenabschnitt gesperrt. Zwischen Kiel und Plön geht in den nächsten Stunden gar nichts mehr.
Ein einsamer Sanitäter lehnt am Rettungswagen, auf dem Dach kreiselt das Blaulicht, nutzlos und wie vergessen. Auf den Gleisen steht ein Kurzzug. Hinter den Scheiben morgenmüde Schemen, sie alle mit einem unschönen Ruck in den Gliedern und einer Lautsprecherstimme in den Ohren: Personenschaden, Verzögerung, Schienenersatzverkehr, die Deutsche Bahn bedauert das.
Den Ablauf kennt Erik. Gewöhnen wird er sich nie daran.
Er setzt die Mütze auf und tritt auf den Sanitäter zu, der sich beim Versuch, ein Gähnen zu unterdrücken, fast den zartbeflaumten Unterkiefer verrenkt.
„Moin. Rieper. Was haben wir hier?“
„Moin. Mommsen. Mann gegen Regionalexpress.“ Der Junge zieht an seiner Zigarette, kneift die Augen gegen den Rauch zusammen und grinst. „Eins zu null für den RE. Keine Rückrunde.“
„Okay.“ Erik überlegt einen Moment. „Und Sie sind hier für die Späße zuständig?“
Der andere antwortet nicht.
„Ist der Leichnam geborgen?“
Der Junge nuschelt etwas von „Kollegen suchen“, und „Bestatter verständigt“, zieht ein letztes Mal an der Kippe, lässt sie dann fallen und drückt sie mit dem Absatz seiner Profilschuhe in den weichen Boden.
„Und der Zugführer?“, fragt Erik weiter. „Wo finde ich den?“
„Sie. Zugführerin.“ Der Junge weist mit dem Kopf Richtung Rettungswagen, ohne Erik anzusehen.
Erik geht um den Wagen herum zum Heck. Eine stämmige Mittfünfzigerin mit erdbeerroten Strähnchen im Aschblond hockt auf der Kante der Ladefläche und zittert trotz der Wärmedecke um ihre Schultern. Eine Notärztin steht bei ihr.
Nachdem er die Personalien der Frau aufgenommen hat, beginnt sie stockend zu berichten. Die letzte Fahrt vor Schichtende; auf einmal steht da einer. „Das kommt vor, hat normalerweise nichts zu sagen, trotzdem kriegt man jedes Mal Zustände.“ Ihre Rede gerät in Fluss. „Der hat noch einen Schluck aus seiner Flasche genommen. Die Flasche abgestellt, sich hingelegt. Auf den Bauch, ganz in Ruhe, Hals auf die Schienen, Gesicht zu mir. Ich hab sofort eine Schnellbremsung eingeleitet, natürlich hab ich das, aber wissen Sie, wie lange es dauert, bis …“ Sie bricht ab und blickt ihn an.
Ja. Weiß Erik.
„Der hat mich angeguckt, die ganze Zeit angeguckt.“ Ihre Stimme schwankt. „Der hatte einen Bart, oder?“
Das mit dem Bart scheint ihr wichtig, sie fragt ein paar Mal danach, dann bricht sie in Tränen aus. Die Ärztin legt ihr eine Hand auf die Schulter.
„Wir wissen es noch nicht“, sagt Erik. Er schaut einen Moment auf die weinende Frau hinunter. „Wie kommen Sie denn nach Hause?“
„Die Lebensgefährtin weiß Bescheid“, sagt die Ärztin. „Sie ist unterwegs.“
Oh, okay. Erik verabschiedet sich von den Frauen und macht sich auf den Weg entlang der Gleise zu Ulli, der sich dem kleinen Suchtrupp angeschlossen hat.

„Hier rüber, Erik, wir haben ihn.“
Erik beeilt sich, über die rutschenden Geröllbrocken zu dem Grüppchen zu gelangen und sieht zuerst eine Jacke neben den Gleisen liegen, die hat es dem Typen vom Leib gerissen. Er hebt den Fetzen auf und geht weiter zu Ulli, der neben einem Körper kauert, oder dem Großteil eines Körpers.
Die beiden Sanitäter nicken ihm zu und gehen dann in normalem Schritttempo Richtung Waldweg zurück.
In den Resten der Jacke findet Erik die Brieftasche und ein Tabakpäckchen. Aus Gewohnheit drückt er den Tabak, fühlt einen Knubbel Dope. Der Ausweis in der Brieftasche zeigt das Foto eines Mannes mit Oberlippenbart und schmalem, landläufig attraktivem Gesicht.
„Jürgen Möllner“, liest er vor. „Wohnort Kiel, Geburtsort Kiel, Geburtsdatum 11. November 1956.“ Sein Jahrgang. Er räuspert sich. „Besondere Kennzeichen: zwei fehlende Fingerglieder an der linken Hand.“
Ulli schaut an dem Leichnam hinunter, nickt, passt. „Brief?“
Ein Tütchen Fisherman’s Friend. Ein mitgewaschenes Papiertaschentuch. Ein Kassenzettel von Aldi.
Kein Brief.

Jürgen Möllners Kopf finden sie dreißig Schritte weiter. Er ist ins Geröll zwischen zwei Bahnschwellen geraten und hat zu Eriks Erleichterung nur noch wenig Ähnlichkeit mit etwas, was einmal gesprochen oder gelacht hat.
Erik nimmt die Mütze ab und betrachtet das Nichts, das von dem Gesicht übrig ist. Dabei versucht er, alle anderen Gedanken auszuschalten. Das macht er immer, bei jedem Toten. Eine halbe Minute nur für den, der da liegt, in der sonst nichts passiert.
Auf dem Rückweg zum Funkstreifenwagen finden sie eine leere Bierflasche, aufrecht im Schotter neben den Gleisen. Am Brombeergestrüpp lehnt ein schwarzes Herrenrad, Marke Asbach, halb zur Seite gerutscht.
Angeführt von einem Zugbegleiter macht sich ein versprengtes Trüppchen Fahrgäste auf den Weg Richtung Straße. Zwei oder drei der Leute haben Handys gezückt und telefonieren.
Die Sonne ist höhergestiegen, die Strahlen werfen Streifen und Schattenmuster auf die Stämme der Buchen und auf den von Samenhülsen übersäten Weg. Ein roter Mazda ist eingetroffen. Eine Frau hält der Zugführerin die Beifahrertür auf und hilft ihr hinein. Dann geht sie um den Wagen herum und steigt ein, und der Mazda schleicht über den Waldweg davon.
Bis zum Eintreffen der Kollegen von der Kripo gibt es hier nicht mehr viel zu tun. Erik lehnt sich an den Passat, schließt die Augen und saugt den Geruch nach Sonne und Holz und zerfallendem Laub ein. Ein waldiger Geruch, er muss grinsen, weil ihm kein besseres Wort einfällt.
Aus dem offenen Wagenfenster dringen abwechselnd Ullis Murmeln und das Krächzen des Funkgeräts. Darüber zwitschert hell und durchdringend ein Vogel, setzt ab, beginnt von Neuem.
An Eriks linkem Ohr surrt eine Mücke vorbei. Er verscheucht sie und öffnet die Augen. Die Bäume bilden ein Dach hoch über seinem Kopf. Durch die Lücken schimmert ein Stück blasser Himmel, von fedrigem Dunst überzogen.
Maigrün, denkt er. Waldmeistergrün, Ahoj-Brausetütchengrün. Bestimmt gibt’s hier Waldmeister. Wenn man den erkennen würde.
„Meta oder Henrike?“, fragt Ulli. Er hat die Beifahrertür geöffnet und streckt den Kopf heraus.
„Hm?“
„Es gibt eine Meta Möllner in Kiel-Dietrichsdorf und eine Henrike Möllner draußen in Kitzeberg“, erklärt Ulli geduldig.
Ein dezentes Stechen an Eriks linker Halsseite. Er schlägt mit der flachen Hand zu und besieht den schwärzlichen Brei an seinen Fingern.
Meta klingt mehr nach Mutter. Ist auch näher dran.
Er bückt sich und wischt die Hand am Gras ab. „Meta.“

Der Passat holpert über ein Schlagloch. Ulli und ihn hebt es von den Sitzen, und Ulli stößt sich den Kopf am Wagendach. Erik bremst ab, schaltet vom dritten in den zweiten Gang.
Wieso müssen wir das jetzt auch noch machen?, meldet sich der blöde Bulle in Eriks Kopf.
Weil es sonst jemand anders machen muss, antwortet der gute Bulle.
Na toll. Es war gerade Schichtende, als Roland uns angepiept hat. Das heißt, wir haben seit ziemlich genau …
… einer Stunde Feierabend, ja.
Also warum?, fragt der blöde. Wir sind beide scheißmüde, ich brauche einen Kaffee und eine Dusche und …
Hab ich doch gerade gesagt. Weil es sonst zwei andere arme Schw…
Ja. Und?
Das wäre auch nicht besser, global und universell gesehen. Wir haben ihn gefunden. Sie wird Fragen haben, die Mutter. Wenn sie es ist. Und außerdem ‒
Was?
Nichts. Schon gut. Tatsache ist, wir können das.
Du Guter. Ach, übrigens: heute ist Muttertag.
Idioten, alle beide. Erik biegt vom Waldweg auf die Landstraße und klappt die Sonnenblende herunter. „Ulli?“
„Hm?“
„Heute ist Muttertag.“
„Kacke.“ Ulli versetzt seiner Sonnenblende einen Schlag nach unten.
„Ulli, wieso müssen wir das machen? Wir haben seit einer Stunde Feierabend, und …“
„Darum.“ Ulli nimmt die Brille ab und reibt sich mit beiden Händen die Augen. Er setzt die Brille wieder auf. „Guck nach vorn.“
Darum. Darum ist Ulli sein Freund, seit mehr als dreiundzwanzig Jahren.
Die verwahrloste Ladenzeile da vorne kennt Erik von einem Einsatz im letzten Herbst, als ein paar Kids es für eine gute Idee hielten, in dem verwinkelten Komplex ein Lagerfeuer anzuzünden. Die gekachelten Wände sehen aus, als würden sie von den Graffiti oder ihrem eigenen Echo zusammengehalten.
Gockelgrill, Schnellreinigung, alles tot und verrammelt. Eine leerstehende Bierkneipe, deren gesprungenes Leuchtschild weniger an die lustigen Samstagabende erinnert, die hier vielleicht vor hundert Jahren stattgefunden haben, als an die Sonntagvormittage danach.
Überhaupt macht die Gegend einen verkaterten Eindruck. Eine öde Kreuzung, drumherum Sechziger- und Siebziger-Jahre-Wohnblocks, die vermutlich als Wohnverbesserung galten, wenn man aus den miefigen Löchern in Gaarden und Alt-Dietrichsdorf hierher zog. Ein paar Alibi-Grünflächen und ‒ einziger optischer Lichtblick ‒ der Wasserturm, dessen Rumpf immerhin nette Schiffsmosaike schmücken.
Ulli späht durch die Windschutzscheibe und dirigiert ihn auf einen kleinen Parkplatz. Erik stellt den Motor ab, Ulli löst seinen Gurt. Einen Moment lang starren sie beide auf das Hochhaus, dann seufzt Ulli und öffnet die Tür.
Zehn Meter Plattenweg bis zum Eingang. Die Haustür geht auf, als sie sich nähern, und eine junge Frau mit schwarzgefärbten Haaren und welpenhaft klobigen Turnschuhen bugsiert einen Zwillingsbuggy mit zwei Einjährigen hinaus. Ulli beschleunigt seinen Schritt und hält der Frau die Tür auf. Sie schlüpft unter seinem Arm vorbei und streift ihre Uniformen mit einem Blick.
Eine Klingelleiste. Namen bis in den Himmel hinein. Hansen, Yildiz, Bräuer, Teschner.
Und Möllner, zwölfte Etage links.
Erik klingelt. Wartet, den Blick auf die Placken Moos gerichtet, die das Plexiglas des Vordachs zieren.
Ein Knacken, ein Krächzen aus der Sprechanlage.
Sie nehmen die Mützen ab. Erik senkt den Mund zum Lautsprecher.
Er hasst es. Scheiße, wie er es hasst.

„Tja. Was soll ich dazu sagen.“
Die Küche, in der Meta Möllner, Ulli und er beisammen sitzen, ist tadellos aufgeräumt. Läppchen überm Wasserhahn, Wischspuren auf der Wachstuchdecke. Der einzige Zeichen von Liederlichkeit ist eine benutzte Tasse auf dem Tisch. Glas Nescafé daneben, eine Zeitung, die bei einem angefangenen Kreuzworträtsel aufgeschlagen ist, Bleistiftstummel in der Mittelfalz.
Frau Möllner ‒ wohlgenährte plusminus siebzig Jahre, fein gelegtes Grauhaar mit kräftigem Gelbstich und um den Mund ein paar Kerben, die nicht wirken, als stammten sie von übermäßigem Lachen ‒ Frau Möllner also fingert ein Papiertaschentuch aus dem Ärmelaufschlag ihres Morgenmantels, tupft sich damit über die Mundwinkel und lässt die Hand mit dem Tuch wieder in den Schoß sinken.
Aus einem Nebenzimmer dringt Fernsehgebrabbel, nicht recht zu orten, aber eindeutig innerhalb der Wohnung. An der Wand über dem Küchentisch tickt eine Uhr, eine altmodische Messingsonne, die ihre Strahlen in alle Richtungen stößt.
Meta Möllner knetet ihr Tüchlein in der Hand.
Tick.
Tack.
Tja. Was soll sie dazu sagen?
Wenngleich Erik durchaus mit ein paar Sätzen aus dem Fundus aushelfen könnte. Das kann nicht sein. Wo ist er, ich will zu ihm. Warum hat er das getan?
Die Gründe aber, warum Frau Möllner aus allen denkbaren Sätzen gerade diesen gewählt hat, gehen ihn nichts an, und schon gar nicht ist es seine Aufgabe, darüber zu urteilen. Vielleicht war Jürgen Möllner einer, der seiner Mutter die Rente herausgeprügelt hat. Und Erik, der gern etwas tut, auch wenn es nichts mehr zu tun gibt, überlegt, ob es für die  Hängeschränke, mit denen Frau Möllner in den Sechzigern hier eingezogen sein muss, eine Farbbezeichnung gibt. Erbsgrau. Staubgrün.
„Frau Möllner.“ Ulli auf der Eckbank räuspert sich. „Gibt es jemanden, den Sie anrufen möchten? Der herkommen kann oder Bescheid wissen sollte?“
Sie blinzelt ihn aus wässrigblauen, leicht geröteten Augen an. „Die Henrike vielleicht? Meine Tochter?“, schlägt sie in einem Tonfall vor, als böte sie Gebäck an.
Ulli nickt bedächtig. Frau Möllner seufzt, stemmt sich vom Stuhl hoch und geht in den Flur, wo sie sie telefonieren hören. Nach ein oder zwei Minuten wird ihre Stimme lauter und scharf. „Ja“, sagt sie. „Ja.“ Und wieder: „Ja.“
Dann Stille, eine Tür klappt und die Wohnung scheint Frau Möllner verschluckt zu haben.
Erik steht auf, dehnt die Glieder und geht ein paar Schritte zu einer schmalen Balkontür. Der Blick geht über die benachbarten Wohnblocks und die Kreuzung. Hinterm Wasserturm verläuft in schnurgerader Linie die Kaistraße bis hinunter zum Ostufer, wo die Portalkräne der Werft sich erheben, beinahe farblos im sonnigen Glast.
Die Hälfte der Balkonbreite nimmt ein Wäscheständer ein, dicht an die niedrige Brüstung gerückt. Kurzärmlige XXL-Karohemden hängen schlaff zwischen geräumigen Büstenhaltern. Daneben, in der Ecke, ein Kübel mit etwas Ersticktem oder Vertrocknetem darin.
„Hat Roland noch wen erwähnt?“ Er dreht sich zu Ulli um. „Der hier gemeldet ist? Sie wohnt nicht allein.“ Er nickt Richtung Balkon: „Wäscheständer. Männerkleidung.“
„Hey.“ Ulli stülpt anerkennend die Unterlippe vor. „Sherlock.“
Erik bewegt die Schultern, um die Nackenmuskeln zu lockern und kehrt auf seinen Platz zurück. Der Fernseher ist jetzt deutlicher zu hören. Ein Kindersender, KiKa oder was. Plötzlich findet er das Geplärr unerträglich laut, und er möchte nur noch raus hier. Raus aus dieser Wohnung und fort von der Alten, die nichts mit dem Tod ihres Sohns anzufangen weiß. Raus auch aus der Uniform, die ihm an manchen Tagen wie verseucht  vorkommt. Er will duschen, sich in seiner gemütlichen Küche einen Kaffee kochen, sich mit Kopfhörern aufs Bett legen und diesen Mist hier vergessen.
Er wechselt einen Blick mit Ulli. Er kennt ihn gut genug, um zu wissen, dass es ihm ähnlich geht. Dass er genau wie Erik weiß, dass sie noch bleiben müssen, wenigstens so lange, bis sie einigermaßen sicher sein können, dass Frau Möllner ihnen kein Theater vorspielt und fröhlich kollabiert, sobald sie zur Tür hinaus sind.
Ein Geräusch in seinem Rücken, ein Luftzug. Ulli fixiert einen Punkt hinter ihm, und Erik dreht sich um.
In der Küchentür steht oder besser sitzt ein Mann, sitzt reglos und starrt Ulli und Erik an. Sein Alter ist schwer zu schätzen, vielleicht Mitte Dreißig oder knapp darunter, sein Gesicht wie von fehlender Mimik unverbraucht. Er ist fett, hundertzwanzig Kilo Minimum. Er trägt ein Karohemd, das in den Gummibund seiner Jogginghose gestopft ist, und seine Hände umfassen die Räder eines Rollstuhls.
Erik probiert ein Lächeln. Der Mann lächelt nicht zurück, sondern wendet den Kopf und blickt hoch zu Frau Möllner, die hinter ihm aufgetaucht ist, angetan mit einer Stoffhose und etwas, das Eriks Mutter früher Waschbluse nannte.
„Ach, Michael, was machst du denn hier“, sagt sie tadelnd aber nicht direkt unfreundlich.
„Polizisten“, sagt der Mann.
„Ja.“ Sie tritt einen Schritt beiseite. „Geh mal wieder ins Wohnzimmer.“
„Gleich kommen die Seelöwen“, sagt der Mann. Seine Sprache ist verwaschen.
„Geh mal wieder ins Wohnzimmer“, wiederholt sie. Sie macht eine Bewegung auf ihn zu. „Ich komme gleich.“
Der Mann setzt gehorsam zurück und rollt in den Flur.
Frau Möllner geht zur Tür und schließt sie. „Der Michael, mein Sohn.“
Mein Sohn. Nicht mein anderer Sohn

Sie setzt sich. Die Messingsonne tickt.
„Kommt Ihre Tochter her?“, fragt Ulli.
„Die.“ Frau Möllner macht eine wegwerfende Handbewegung. Wieder fummelt sie ihr Taschentuch hervor, wischt sich über die Lippen und lässt das Tuch im Blusenärmel verschwinden. „Mit der Henrike ist nicht viel los.“
Ulli gibt einen Laut zwischen Räuspern und Seufzen von sich.
„Ich müsste mich dann auch wieder um den Michael kümmern“, sagt Frau Möllner.
Die Seelöwen, richtig. Erik legt die Hände auf die Tischplatte, nickt Ulli zu und erhebt sich.
Wie vorhin führt Frau Möllner sie durch den nach Staubsaugerluft und Hausschuhen riechenden Flur. An der Wohnungstür gibt Ulli ihr seine Karte, sie nimmt sie und schließt die Tür sacht, aber mit Nachdruck hinter ihnen.

Hast du Lust zu vögeln?, will er Ulli fragen, als der Fahrstuhl mit ihnen nach unten ruckelt. Er lässt die Pointe aus, studiert weiter stumm die mit Edding hingeschmierten Sprüche und Kritzeleien auf der Aluverkleidung der Kabine.
Im Foyer hat jemand zwei kalkgeränderter Übertöpfe und ein paar weihnachtliche Keramikfiguren zu einem Stillleben drapiert. Daneben liegt ein handgeschriebenes Pappschild, zu verschenken.
„Brauchst du noch Deko für zu Hause?“ Ulli weist mit dem Kinn auf das Ensemble, und Erik grinst, dankbar für den dünnen Witz.
Das Sonnenlicht blendet ihn, als er aus der Betonkühle des Hochhauses ins Freie tritt. Dass die Frau, die über den Parkplatz aufs Haus zueilt, zu Ulli und ihm will, bemerkt er erst, als sie fast vor ihm steht.

True blue before sunrise …
Worte eines halbvergessenen Liedes. Bläue, ans Fenster geschmiegt.
Schwalben rufen silberne Bögen in die Luft. I’m so happy here.
Auf Rikes Bauch schnurrt ein Traum. Weißt du noch, als ich gestiefelt war und sprechen konnte?
Sweet dreams, baby. Später Glocken. Und Rehe, äsend.
Und da hinein ein Lärm. Durch die Landschaft geht ein Riss. Mumin springt vom Bett, und Rike stolpert die Treppe hinunter zum Telefon.
„Hallo?“
„Jürgen ist tot“, lautet der erste Satz, den Mutter nach über fünfundzwanzig Jahren an sie richtet.
Überm Stuhl die Kleider von gestern. Shorts, das verschwitzte Top. Die Gartenflipflops vor der Tür. Mit den Füßen hinein und zum Auto.
Sieben Minuten von Haustür zu Haustür. Auf ihrer Hirnhaut Rehe, am Rand eines Traums zurückgelassen.

Leseprobe 2, ca. Romanmitte. Nach einer verpatzten Urlaubswoche hat Rike sich zu Hause eingeigelt und reagiert nicht auf Eriks Anrufe.

Tag Zwei. Sie niest und hat Halsschmerzen, es passt ihr in den Kram. Sie spielt krankes Kind, bestreicht Zwiebäcke mit Butter und Erdnussmus, krümelt das Sofa voll.
Liest ihre Lieblingsmärchen. Die Gänsehirtin am Brunnen, Von einem, der auszog, das Gruseln zu lernen. Und das Märchen vom Waldhaus: Schön Hühnchen, schön Hähnchen, und du, schöne bunte Kuh? Was sagst du dazu?
Duks, sagen die Tiere.
Dass sie immerzu duks sagen, denkt Rike. Das hat doch damals schon kein Kind begriffen. Duks, was bedeutet das denn?
Es klopft an der Tür. „Ich fahre ins Dorf“, ruft Mimi von draußen. „Brauchst du was?“
„Gott, Mimi, komm rein“, ruft Rike zurück.
„Bist du krank?“, fragt Mimi, als sie in der Stube steht.
„Duks“, sagt Rike. Sieht Mimi ins Gesicht, lacht. „Entschuldigung.“
Sie steht auf und gibt Mimi zehn Mark. „Bihunsuppe und Butterkekse, bitte. Und Wick Vaporub.“
Mimi nimmt den Schein und steckt ihn ein. Bleibt stehen, die Hand auf der Klinke. „Und, du und Erik?“
„Was, ich und Erik?“
Mimi sieht sie an.
„Nichts“, sagt Rike. „Beziehungsweise alles.“ Atmet durch. „Also, alles nichts.“
Mimi nickt weise.
Mittags Suppe und Kekse. Unsere kleine Farm im Fernsehen und sowas wie Glück.
Einmal das Telefon. Erik. Dass man reden muss, wenigstens reden und über die Gründe und fair.
Die ersten kommen gegen sechs. Sie hat sie total vergessen. Im letzten Jahr haben sie in Gruppen zu viert und zu fünft vor Rikes Tür gestanden: „Wir sind die bösen Geister und mögen gerne Kleister.“
„Ja, aber Kleister ist aus“, hat sie gesagt. Hat ratlos getan und in die niedlichen, geschminkten Gesichter geschaut. „Ich hab bloß das hier.“ Sie hat die Geschenkbeutel mit dem Naschzeug genommen, die sie vorbereitet und auf dem Balken aufgereiht hatte, und allen einen davon überreicht.
Jetzt wandeln sie am Fenster vorbei und zuerst zu Mimis Haus. In Gedanken geht Rike ihre Vorräte durch, stellt sich vor, wie sie jedem Geist eine keimende Kartoffel oder eine Handvoll rohe Nudeln in die Hand drückt.
Sie löscht das Licht und ignoriert das Klopfen, hält sich die Geister vom Leib. Auf dem Weg zurück zur Straße ziehen sie mit ihren Laternen und Taschenlampen die Einfahrt hinunter, eine schwankende Karawane, ein betrunkener Hexensabbat.

Tag Drei. Ihr Spiegelbild fasziniert sie: bleich und wie hingerotzt, die Haare wirr, auf die ungute Art. Sie drückt Zahnpasta auf die Bürste und steckt die Bürste in den Mund.
Dass er dort war. Erik. Dass er mit Ulli in dieser Scheißküche von damals gesessen und mit Mutter gesprochen und die Uhr getickt hat. Ob es diese Uhr war? Plötzlich hat sie Lust, ihn anzurufen und zu fragen.
„Hör bloß auf“, würde er sagen. „Diese gruselige Sonne, die hat getickt wie blöd.“
Was, wenn die Jahrzehnte verschmelzen würden? Wenn alle Menschen, die je in einem Raum waren, gleichzeitig dort wären? Dann käme Rike an einem x-beliebigen Sonntagmorgen in die Küche, wo sie alle um den Tisch sitzen: Familie Möllner, winzig und wie durch ein Weitwinkelobjektiv, auf den alten Stühlen mit den Stahlrohrbeinen und den Plastikbezügen.
Gesichtslos. Vielleicht, wenn es Fotos gäbe? Manchmal, wenn man Gesichter nicht mehr vor Augen hat und an bestimmte Fotos denkt, dann sieht man die Menschen wieder vor sich.
Aber so: nur Skizzen. Mutti nichts als heruntergezogene Mundwinkel. Jürgen in Trainingshosen, später Armeehosen, die dunklen Haare ein eigenartiger Kontrast zu der blassen Haut. Der Micha ein Pinselstrich aus blond und Lachen. Eigentlich eher ein Geruch. Sein warmer, leicht pupsiger Kleinkindergeruch.
Und der Vater. Eine Kasperpuppe, die Züge wie geschnitzt, die schmalen Lippen ins Gesicht gekerbt. Der ganze Mann in den viel zu nüchternen Sonntagmorgen gezwängt wie in einen schlecht sitzenden Anzug. Klopapierfetzen am Kinn, eine Mischung aus Rasierwasser, Restausgeh-Pomade und Restpromille ausdünstend.
Eine arme, dumme Sau. Und so mächtig damals, Rike spuckt den Schaum aus und spült nach.
An diesem speziellen Morgen aber wäre etwas anders als sonst. Zwei Polizisten säßen am Tisch, unrasiert, die Augen hohl vor Erschöpfung nach einer viel zu langen Nachtschicht. Sie hätten die Mützen abgenommen und vor sich auf den Tisch gelegt. Den Grund ihres Besuchs hätten sie noch nicht genannt.
Es gäbe noch keinen Grund. Jürgen ist ja da und matscht mit seinem Marmeladenbrot herum. Der Alte beobachtet ihn gereizt. Gleich nach dem Frühstück wird Jürgen verduften, zum Fußball, als er das noch durfte, später irgendwelche Dinger drehen mit seinen Kumpels ‒ und da, auf einmal doch sein Gesicht, eine Sekunde lang sein Jungsgesicht, deutlich wie auf einem Foto: So sah er, so sah Jürgen aus!
Der dunklere der beiden Polizisten hebt den Kopf und sieht Rike an der Tür stehen. Er lächelt ihr zu, wie man eben einem fremden Kind zulächelt, das dasteht und einen unverwandt anstarrt. Und es fühlt sich an, als könnte sein dreißig Jahre späteres Lächeln dem Mädchen, das sie war, etwas nützen.
Als könnte Rike schon mal die Hand durch die Jahrzehnte strecken.

Tag Vier. Die Kolleginnen haben einem Gabentisch an Rikes Platz aufgebaut. Schokoladenkäfer krabbeln auf bunten Blättern herum oder lugen unter ihnen hervor. Etwas Großformatiges in buntem Papier, von dem Rike ahnt, was es ist, weil sie es neulich bewundert hat.
Richtig, die Bibliotheken der Welt, ein irre teurer Band. Rike drückt das Buch an ihre Brust. „Ihr seid komplett verrückt, wisst ihr das?“
Ja, wissen sie. Sie strahlen. Aber jetzt sie. Endlich erzählen soll sie. Von Schweden. Und mit dem Magen, das ging dann? Geregnet, igitt, richtig nasskalt? Na, dann macht man sich das miteinander warm, was? Haha. Hier ging das eigentlich, mal einen Tag geschüttet, aber sonst und nee und ja und doch …
Das ist das Gute an Frauen. Das Gute an Gesprächen.
Der erste Leseransturm rauscht vorüber. Rike öffnet die Datei „Vorlesewettbewerb“ und überträgt die Anmeldelisten in eine Excel-Tabelle. Nach der Frühstückspause versieht sie einen Schwung Neuzugänge mit Kennnummern, speichert sie im Rechner ab, Autor, Titel, Code, schöne blöde Routinearbeit, genau richtig, um die Gedanken schweifen zu lassen.
Wie er sie zum ersten Mal hier abgeholt hat. Wie er zur Tür hereinkam und Maja leise: „Hui!“ sagte, noch bevor sie begriff, dass dieser Mann zu Rike wollte.
Sie schaut zum Ausleihtresen. Maja wirft ihr einen heimlichen Blick zu und verdreht die Augen. Dr. Pauli hat sie am Wickel, er hat seine literarischen Altherrenfantasien ausgelesen und möchte jetzt gern mit jemandem darüber reden. Rike tut, als prüfte sie den Nagel ihres Mittelfingers, pustet sacht darüber, und Maja blickt rasch fort und beißt sich auf die Unterlippe.
Rike stapelt die Neuerscheinungen auf dem Rollwagen, damit der Praktikant sie nachher einsortieren kann. Dann geht sie zum Klo, schließt sich ein und setzt sich auf den Deckel.
Wie Erik bei ihr den Rasen mähen wollte. Ganz am Anfang, als er noch meinte, er müsste sich bei Mimi und ihr beliebt machen. Wie sie ihm im Schuppen den Mäher zeigte und er lange dastand, das Ungetüm betrachtete und dann sagte: „Wusstest du, dass es keine erotischere Geruchsmischung gibt als die von Benzin und Waschpulver?“
Sich zu ihr umdrehte. Wie er sie gestreichelt, ihr Haar gestreichelt hat. Und dann sie auf der Waschmaschine, und ihr Kleid und seine Hände und Mimi beim Augenarzt.
Oder wie er Mimi und ihr den Witz von der Birne erzählt hat, die um den Apfelbaum fliegt, in Kreisen herum und immer herum. „Haha“, rufen die Äpfel. „du kannst ja gar nicht fliegen, du bist doch eine Birne.“
An der Kabinentür, genau in Sitz-Augenhöhe, klebt seit Anbeginn der Zeiten ein Bildchen. Die Person, die es ausgeschnitten und dorthin geklebt hat, muss gemeint haben, dass es nett ist, wenn einem beim Pinkeln der junge Gerard Depardieu zusieht, mit milden Augen, ein Lamm im Arm.
Es ist nett.
Der Klorollenhalter hängt an zu losen Schrauben an der Wand. Unter dem Waschbecken steht ein WC–Reiniger, sanfte Power für Ihr Bad, und Rike kann nicht aufhören, an den dummen Kalauer zu denken. An die Birne, die den Apfelbaum umkreist. „Natürlich kann ich fliegen“, ruft sie. „Ich bin doch die Birne Maja.“
Rike muss lachen. Und endlich, endlich beginnt es ihr zu gruseln.
„Du Schöne“, flüstert sie. Schließt die Augen und legt die Arme um sich. Streichelt ihre Schultern und wiegt sich vor und zurück. „Du Schöne.“

Der fünfte Tag. Immer wieder hört sie das Band ab. „Ey, Rike, dieses kleine Zögern, bevor du sagst: Tschüs, Erik.“ Seine heisere, betrunkene Lache. „Wahnsinn.“
Zum Schluss: „Tschüserik.“ Dreimal, fünfmal. Nochmal.
Die vierzig Geschenke, in der Küche verteilt. Rike hat sie seit dem Geburtstag nicht angerührt. Das Pixibuch, der Stein, die Radieschensamen.
Die Bodylotion. Rike schraubt die Tube auf und drückt sich einen perlmuttfarbenen Wurm auf die Hand. Reibt die Handrücken gegeneinander und saugt den Geruch ein. Ein sanfter Duft, wie Nebel, der sich an die Scheibe schmiegt. Weil Erik keiner ist, der hingeht und irgendetwas kauft, damit er was zum Geburtstag hat. Weil er einer ist, der sich durch tausend Tester schnuppert, bevor er sagt: Das ist sie, das ist meine Rike.
Das macht den Unterschied, denkt Rike. Ob einer an den Testern schnuppert ‒ und wie seltsam manche Sätze sind.
Der Bilderrahmen lehnt am Tischbein. Sie hebt ihn auf und legt ihn vor sich hin. Mit dem Zeigefinger fährt sie über eine winzige Stelle, wo das Holz abgesplittert ist. Ein kaum sichtbarer Makel, das Glas selbst ist sauber und heil.
Sie sucht Cutter und Lineal heraus, legt eine Zeitung als Unterlage zurecht. Nimmt das Bild mit dem fliegenden Gänseschwarm von der Wand neben dem Ofen, trägt es zum Küchentisch und löst es aus dem Halter.
Das Passepartout ist nur wenige Millimeter zu groß für den Rahmen, Erik hat Augenmaß bewiesen. Sie passt das Bild neu ein, hängt es an seinen Platz zurück und tritt einen Schritt zurück.
Und alles in ihr wird ruhig und gut. Es ist Herbst auf dem Bild, richtig Herbst. Perfekt eingefasst vom mahagoniroten und mit Gold überhauchten Holz erfüllt der Schwarm den Abendhimmel, und Rike glaubt, das Rauschen der Flügelschläge zu hören, das heisere Trompeten, mit dem die Gänse sich verständigen.
Duks, sagen die Tiere aus dem Märchen. Der Sommer war. Wer jetzt alleine ist, ist selber schuld. Du hast ihn ausgesperrt wie einen Hund.
Was soll ich jetzt tun?, fragt Rike.
Ihn wieder einlassen.
So einfach? Und du, schöne bunte Kuh, was sagst du dazu?
Viel zu verlieren hast du nicht, Rike. Und Erik, der kann verzeihen. Der kann Dinge verzeihen, noch bevor sie geschehen sind. Hast ihn doch danach ausgewählt.
Das wusste ich nicht, sagt Rike.
Jetzt weißt du es, sagen die Tiere.

Portrait Kristin Lange

„Die Gefahr des Gelingens“

Der Roman beginnt mit einem Notruf, der nach einem Schienensuizid abgesetzt wurde und zu dem der Polizist Erik gerufen wird. Erik lernt in der Folge Rike, die Schwester des Suizidenten, kennen. Erik und Rike verbringen einen glücklichen Sommer miteinander, doch die Erinnerungen an den gewalttätigen Vater und an Erlebnisse in der Kindheit und Jugend holen Rike immer wieder ein, so dass sie sich von Erik immer mehr distanziert, gleichzeitig jedoch Angst hat, ihn zu verlieren.

Kristin Lange – Kandidatin Travel without moving

Kristin Lange wurde 1966 in Krefeld geboren und beschloss, ein wenig zu bleiben. In einer Grundschule im Ostwestfälischen lernte sie, dass es unsere Fähigkeit zu lesen und zu schreiben ist, die die Welt im Innersten zusammenhält ‒ und dass ein Satz wie der letzte nicht wahr sein muss, bloß, weil ihn jemand hinschreibt. Ein Germanistikstudium brach sie ab, bevor es ihr den Spaß am geschriebenen Wort vollends verderben konnte. Kristin Lange ist Buchhändlerin, lebt mit ihrem Mann bei Kiel und schreibt für den 42er Blog. Einige ihrer Kurzgeschichten erschienen in Anthologien.

Hier gehts zum Beitrag auf dem Blog Travel without moving.

Interview mit der Longlist-Autorin

Du stehst auf der Longlist des Blogbuster-Preises. Hättest Du damit gerechnet?

Ja. Nein. Ich weiß nicht. Ein bisschen. Dann wieder nicht. Aber so sehr gehofft, seit Romy Henze um das Gesamtmanuskript gebeten hat!

Warum hast Du Dich gerade bei „Travel without moving“ beworben?

Die Antwort darauf steht tatsächlich in Romy Henzes Vorstellung für den Blogbuster-Preis. Alle zehn Blogger und Bloggerinnen haben sich ja jeweils zu ihrem Lese-Beuteschema geäußert, und da waren viele Aussagen dabei, die sich für mein Empfinden gut mit meinem Projekt vertragen. Romys Profil habe ich mir durchgelesen und bei jedem einzelnen Satz gedacht: Ja. Ja. Ja. Deswegen und auch wegen der wunderbaren Lektüreauswahl auf „Travel without moving“ stand da am Ende ein einziges großes, dickes, fettes: Passt.  

Blogbuster ist ein etwas anderer Literaturwettbewerb. Was hat Dich gereizt, daran teilzunehmen?

Literatur-Blogger sind zum einen höchst erfahrene Leser, zum anderen sind mittlerweile die Blogs unleugbar ein fester und wesentlicher Bestandteil der Literaturszene. Damit sind die Blogger das perfekte Brückenglied zwischen Autor und Agentur oder Verlag. Für mich ist das ein einmaliges Konzept, von dem alle Beteiligten nur profitieren können, und darum stand es für mich außer Frage mitzumachen.

Die erste Hürde ist genommen, welche Chancen rechnest Du Dir aus, auch die Fachjury zu überzeugen?

Zehn Prozent.

Obwohl. Das sieht irgendwie mickrig aus. Und wer möchte schon mickrig…Dann vielleicht fifty-fifty? So nach dem Motto: Kann, kann nicht?
Aber dann kann ich auch achtzig schreiben. Achtzig ist cool. Achtzig wirkt selbstbewusst und …
Naja. Vielleicht auch eher dösig als selbstbewusst. Weil: Es sind ja bisher fünf, am Ende dann zehn Leute auf der Longlist, alle mit derselben Hoffnung wie ich. Und wenn von denen jeder eine Achtzig-Prozent-Chance hat, dann wären das, Moment … Puh, knifflig, aber ich meine, das haut hinten und vorne nicht hin.
Also. Nochmal neu. Im Prinzip muss man doch nur hundert durch zehn … Mist. Mist!

Wie lange hast Du an dem Romanmanuskript geschrieben und was hast Du bisher schon unternommen, um einen Verlag zu finden?

Schon vor Jahren begann der Traum Gestalt anzunehmen, einen Roman ‒ speziell diese Geschichte ‒ zu schreiben. Was sich ja soweit erstmal schön anhört. Das eigentliche Elend fing an, als mir klar wurde, dass ich nicht einfach einen Roman, sondern möglichst einen guten Roman schreiben will! Die Geschichte war lange Zeit eine Hydra. Wenn ich einen Kopf abschlug, sprich: ein Problem löste, poppten sieben neue auf. Aber die Sache war mir wichtig, und irgendwann habe ich mir geschworen, so lange an dem Roman zu schreiben, bis er aussieht wie etwas, was ich selbst gerne lesen würde. Nochmal würde das nicht so lange dauern, denn auf dem Weg dahin habe ich zwangsläufig viel über das Romanschreiben gelernt. Zunächst vor allem, wie es nicht geht, später ein bisschen, wie es eben doch geht. Hey, das passt zu meinem Romanthema, der Liebe! Da lernen wir im Idealfall ja auch dadurch, dass wir lernen, wie sie nicht funktioniert, etwas darüber, wie sie vielleicht doch funktioniert ‒ auch wenn der Satz stilistisch ziemlich verhauen ist.

Was ich unternommen habe? Da stehe ich noch ganz am Anfang, habe mich seit Weihnachten erst bei einer Handvoll Agenturen beworben ‒ ohne Resonanz bisher.

Was wirst Du zusammen mit Deinem Blogger noch unternehmen, um Dich und Dein Manuskript zu promoten?

Ich habe auf alles Lust, worauf Romy auch Lust hat. Ein Interview, in dem wir das Projekt auch inhaltlich vorstellen. Worum geht es, was treibt die Menschen in meiner Geschichte an, was beglückt sie, was quält sie? Ein Video, eine kleine Lesung, die Vorab-Veröffentlichung einer Leseprobe, alles geht.

Mein Favorit beim Blogbuster-Preis 2020

von Romy Henze – Travel without Moving

„Das Problem ist, dass man letzte Male selten erkennt und sich daher kaum an sie erinnert.“

Vor ein paar Tagen gab es einen Beitrag von mir, in dem ich euch meine drei angeforderten Manuskripte vom Blogbuster-Preis 2020 kurz vorgestellt habe, und nun habe ich alle drei Romane fertiggelesen und mich entschieden:

Mein Favorit ist Die Gefahr des Gelingens von Kristin Lange.

Der Roman hat mich mitten ins Herz getroffen, vereinigt in sich mehrere Themen, die ich wichtig finde und über die man meiner Meinung nach viel mehr sprechen und aufklären sollte, und ist zudem von Anfang bis Ende authentisch, lebensnah, psychologisch fundiert und eindringlich erzählt.

Der Roman beginnt mit einem Notruf, der nach einem Schienensuizid abgesetzt wurde und zu dem der Polizist Erik gerufen wird. Erik lernt in der Folge Rike, die Schwester des Suizidenten, kennen.

Erik und Rike verbringen einen glücklichen Sommer miteinander, doch die Erinnerungen an den gewalttätigen Vater und an Erlebnisse in der Kindheit und Jugend holen Rike immer wieder ein, so dass sie sich von Erik immer mehr distanziert, gleichzeitig jedoch Angst hat, ihn zu verlieren.

Hier geht es zum vollständigen Beitrag auf dem Blog Travel without moving.

Leseprobe: Sylvia Wage – “Grund”

GRUND

1 – Der Brunnen

Mein Vater lag tot auf dem Grund des Brunnens.

Das ist ein guter Anfang. Für ein Märchen. Denn anständige Märchen beginnen stets grausam. Der Held, natürlich reinen Herzens und gut bis in die Fußknöchel, sieht sich der Vernichtung gegenüber. Mordanschläge, eskalierende Väter, dämonische Stiefmütter, Vertreibung und Hass, Verlust der liebenden Mutter/Eltern, Abwertung, Degradierung, Abscheu.

Eine hoffnungslose Ausgangslage scheint ein guter Anfang für eine Geschichte, was mir recht ist, denn wenn ich mit einem dienen kann, dann mit Hoffnungslosigkeit.

Mein Vater lag tot auf dem Grund des Brunnens.
Es war sechs Uhr morgens und ich starrte auf seinen abgemagerten Körper. Er lag auf der Seite, in Feinrippunterhemd und Jogginghose. Beides fleckig, beides zu groß. Er lag da, den Daumen im Mund, wie es kleine Kinder tun, genau so, wie er jeden Morgen dalag, wenn ich hereinkam und nach ihm sah. Nur, dass er heute tot war. Ich wusste es, noch bevor mein Blick auf ihn fiel, noch bevor ich die wenigen Schritte zum Brunnen ging, noch bevor ich das Licht anschaltete. Der Tod begrüßte mich, als ich die Hand auf die Klinke der Kellertür legte, er nickte mir freundlich zu und ich nickte zurück.

Mein Vater lag tot auf dem Grund des Brunnens.
Und ich zögerte. Nur einen Lidschlag lang, aber später werde ich sagen, dass es ein sehr tiefes Zögern war und ich in diesem Moment wirklich alles hätte anders entscheiden können und – wenn ich ein guter Mensch wäre – es auch anders entschieden hätte. Doch da mir nie die Gelegenheit gegeben wurde, ein guter Mensch zu werden, griff ich in meine Jackentasche, holte das Telefon heraus und rief meine Schwestern an.

2 – Die Schwestern

Gut. Ich habe gelogen.
Es war gar kein Brunnen.
Aber das Loch im Keller sah nun mal genau so aus, wie man sich einen Brunnen im Märchen vorstellt, in welchen die Helden hinabsteigen, um in eine andere Welt zu gelangen. Ganz genau so.
Rund dreieinhalb Meter tief und mit einer hübschen hüfthohen Umrandung aus Natursteinen. Der Flaschenzug darüber war vielleicht ein bisschen zu modern für einen märchenhaften Brunnen, aber auf den ersten Blick fiel das kaum auf.
Das Loch hatte alles, was ein Brunnen braucht, mal abgesehen vom Wasser. Es war nicht einmal sonderlich feucht oder klamm auf dem Grund. Das Stroh, auf dem die Matratze meines Vaters lag; eine recht gute Matratze, wie ich hinzufügen möchte, zwar schon ein wenig in die Jahre gekommen, aber anständigem Federkern mache das nichts aus, hatte mir Tante Bärbel versichert, als sie eines Morgens mit eben dieser Matratze vor dem Haus stand – jedenfalls, das Stroh musste nur alle halbe Jahre getauscht werden, so trocken war es da unten. Aber trotz des fehlenden Wassers gefällt mir die Idee eines Brunnens besser. Loch. Loch kann alles sein. Eine Höhle. Oder etwas, das Holzwürmer in Tische fressen. Loch an Loch und hält doch, was ist das? Ins Loch wird man gesteckt und kommt wieder raus. Doch niemand kehrt als der zurück, der er einst war, wenn er in einen Brunnen hinabgestiegen ist.

Ich dachte also über Löcher nach und meine Schwestern standen neben mir und schauten über die Brunnenumrandung hinab zu Papa. Ich konnte noch nie sehr lang bei einer Sache bleiben, stets huschten meine Gedanken hin und her, als wären sie Glühwürmchen auf Koks. Wuschwusch – flitzten sie, vom Kleinen zum Großen, von hier nach da, doch irgendwann fiel mir das Schweigen meiner Schwestern auf.
Beide starrten mit nahezu identischem Gesichtsausdruck auf den dürren, ausgemergelten Körper am Grund des Brunnens. Kein Entsetzen, keine Überraschung lag in ihren Gesichtern, nur Leere. Und kein Laut kam von ihnen. Es war still wie an einem kühlen Morgen, einem, der gerade noch Nacht ist, kurz bevor die Dämmerung die Vögel wecken wird.
Obwohl der Ausdruck meiner Schwestern äußerlich so völlig gleich schien, war ihre Energie doch grundverschieden. Während Elli, ich wusste es genau, schon erste Überlegungen zur Lösung des Problems anstellte, versuchte Thea, Schmerz zu empfinden. Trauer. Über den Verlust des Vaters.

Vielleicht hätte ich Thea nicht anrufen sollen.
Aber eine gutes Märchen brauchte nun mal völlige Hoffnungslosigkeit – und niemand konnte mir so zielgenau jede Hoffnung nehmen wie Thea.
„Woher zum Teufel kommt dieser Brunnen?“, fragte Elli irgendwann in die Stille und das Wuschen meiner Gedankenglühwürmchen hinein.
„Ich habe ihn gegraben“, sagte ich.
„Wann? Verfickte Scheiße! Wann?“
„Als ich elf war.“

3 – Lügen

Und das war natürlich wieder eine Lüge. Ich lüge andauernd, aber das brauchen gute Geschichten: Lügen und Hoffnungslosigkeit.
Aber diese Lüge war zu offensichtlich: nicht einmal der Held eines wirklich guten Märchens kann mit elf Jahren einen dreieinhalb Meter tiefen Brunnen im Keller eines Einfamilienhauses auf einem Hügel am Rande einer nichtssagenden Kleinstadt graben. Schon gar nicht unbemerkt von seinen großen Schwestern.
Korrekt war also: Ich begann mit dem Graben, als ich elf war. Genau wie mit dem Lügen.
Natürlich werde ich vorher schon gelogen haben, geflunkert. Geschummelt. Wie Kinder das eben so tun. Nein, Mami, ich habe den Kuchen nicht gegessen, nicht den Fernseher eingeschaltet und keinesfalls die Gummibärchen vom Dirk mit der dicken Brille geklaut usw.

Jedoch: in dem Augenblick, in dem ich mit der frisch gestohlenen Pflanzschaufel in den Keller unseres Hauses ging, durch die Waschküche, an dem Eingeweckten in Gläsern und den übriggebliebenen Kohlen vorbei, ganz nach hinten, da, wo meine Großmutter Zeug sammelte, bis mein Vater in seinem Ordnungssinn das Gerümpel verbot, und ganz hinten nun nur noch ein recht ansehnlicher großer, leerer Raum war, der Boden gestampfte Erde, hart und trocken; in dem Augenblick, in dem ich begann, mit der Pflanzschaufel den Boden abzukratzen, an ein Graben war nicht zu denken, vorerst, und mir mit dem Dreck die Hosentaschen füllte, um dann ebenso leise und unbemerkt wieder aus dem Keller hinauszuschleichen, und dann draußen meine Taschen zu leeren: in diesem Augenblick begann die erste echte Lüge. Und außerdem begann mein Leben.

„Scheiße nochmal“, sagte Elli, „was soll das heißen? Mit elf? Wieso gräbst du mit elf Löcher in den Keller?“
„Einen Brunnen“, sagte ich, „kein Loch.“
„Hat das Ding Wasser?“
„Nein …“
„Dann ist es ein Loch.“
Über meine große Schwester muss man wissen, dass sie schon früh Verantwortung übernehmen musste und sich diese dann nie wieder nehmen ließ. Elli hatte das Sagen, Elli traf die Entscheidungen und Elli verlangte Antworten.
„Wen interessiert der Brunnen?“ Thea kreischte. Und fing an zu weinen. Beides gleichzeitig. Auch etwas, das nur Thea konnte. Direkt aus dem Nichts in ein Kreischheulen verfallen. „Papa …“, keifte Thea. „Papa!“

Während Thea also heulte, stellte ich mir vor, ich würde meiner Therapeutin davon erzählen. Ich hatte eine sehr nette Therapeutin, sie war mütterlich-rundlich mit hübschen blonden Locken und einer Brille, die es schwer machte, ihr in die Augen zu sehen. Ich stellte mir vor, auf der Couch zu liegen und ihr zu erzählen, wie mein Papa mausetot am Grund des Brunnens lag und meine eine Schwester mich anfauchte, warum ich hier einen Brunnen gegraben hätte und die andere dramatisch, wie eine Dreijährige, die kein Eis bekommt, kreischte – und meine Therapeutin würde lächeln und sagen: „Sie immer mit Ihren Geschichten.“
Und ich würde fragen: „Warum glauben Sie mir nicht? So war es, ganz genau so.“
Dann würde sie für einen Moment die Brille abnehmen und sich die Augen wischen, aber so abgewandt, dass ich keinen Blick hineinwerfen könnte, und mir dann voller Ernst erklären, dass Menschen so nicht reagieren. „Schock“, würde sie sagen, „Ihre Schwestern wären geschockt. Sie könnten die Situation weder erfassen noch glauben, und in dem Versuch, die Lage zu beherrschen, würden sie sich zuallererst um Ihren Vater bemühen, also unter anderem … doch viel wichtiger ist die Frage: Warum erzählen Sie solche Geschichten? Was macht das mit Ihnen?“
Ja, ich habe eine sehr nette Therapeutin. Leider hat sie keine Ahnung von Menschen.

Thea heulte noch immer, Elli war davon genervt, traute sich aber nicht, Thea anzufahren oder gar sie zum Schweigen zu bringen. Deswegen lehnte sie mit verkniffenem Mund an der Brunnenumrandung und sah mich böse an.
„Ich hasse dich“, sagte sie zu mir. „Ich habe dich schon immer gehasst.“

Dass meine Therapeutin keine Ahnung von Menschen hat, zeigte sich zum Beispiel darin, dass sie eben bemängeln würde, in meiner Geschichte würden die Schwestern sich nicht – nach einer angemessenen Zeit für das Überwinden des Schocks, versteht sich – um meinen Vater bemühen. Sagen wir: Elli, die Große, sich nicht in den Brunnen hinab lassen, um nach dem Puls des Vaters zu tasten, und Thea, die Kleine, zum Telefon greifen, um den Notarzt und die Polizei zu verständigen, oder mindestens: dass nicht beide auf mich einbrüllten, warum ich dies getan hätte bzw. nicht getan hätte – und bei all dem, was meine Therapeutin sich da zusammendenken würde, fiele ihr für keinen Moment ein, dass meine beiden Schwestern gar nicht im Keller sein dürften.

Nehmen wir an, Sie – Sie wären Ende dreißig/Anfang vierzig, hätten eine Karriere und eine Familie. Ein Haus und einen Mann oder keinen Mann, dafür aber einen wichtigen Termin, und Kinder haben Sie auch noch. Und einen Hund. Dann ruft eines Morgens um sechs Uhr, Sie schlafen noch oder vielleicht sind Sie gerade dabei Kaffee aufzusetzen, jedenfalls, es ist noch früh, der Schlaf sitzt Ihnen in den Augen, den Knochen, dem ganzen Körper und dann ruft Sie das Geschwisterchen an und sagt: „Hey du, komm mal rum, Papa ist tot.“

Ein Papa, der, und das ist jetzt wichtig, vor über zwanzig Jahren verschwand. Dessen Fallakte längst verstaubt in irgendeinem Archiv liegt, ein Papa, den Sie sehr vermisst haben oder zumindest sich verpflichtet fühlten, ihn zu vermissen, jedenfalls ein Papa, von dem man nicht wissen kann, ob er tot ist, und auch wenn er es wäre, kein Grund bestünde ‚mal eben rumzukommen‘ und es letztlich einfach nur dieses Geschwisterchen ist, das immer mit seinen seltsamen Geschichten und Lügen daherkommt und nichts hat – keine Familie, keine Karriere, kein Haus. Keinen Hund. Natürlich würden Sie nicht lachend den Hörer auflegen und egal wäre es auch nicht, aber Sie würden zuerst ein paar Fragen stellen. Ungläubig. Und zwischen Besorgnis und Verärgerung schwanken, Sie würden zusehen, dass Sie recht bald rausfahren könnten, in das Elternhaus auf dem Hügel am Rande der nichtssagenden Kleinstadt, natürlich würden Sie nachsehen, was da nun wieder los ist, allein schon, weil die Mutter ja auch da ist und wenn das Geschwisterchen mal wieder durchdreht …
Sie würden Termine verschieben, Babysitter besorgen, vielleicht jemand anderen vorschicken, sie würden die Schwester anrufen, ob sie das auch schon gehört hat, was da wieder los ist. Sie würden vieles. Vielleicht. Je nach Temperament und Charakter.
Aber Sie würden nicht: Meine Worte hören, ohne eine weitere Frage zu stellen ein klares, direktes ‚Komme‘ aussprechen, auflegen, sich krank melden/die Kinder dem völlig überforderten und verärgerten Partner übergeben (heute musst du, mir ist egal wie, krieg‘s hin, Notfall), den aufmerksamen Blicken des Hundes keine Beachtung schenken, in die erstbesten Jeans schlüpfen, in das Auto springen und hierher fahren.
Niemand würde.

Meine Schwestern taten aber genau das.
Und auch das hatte wie alles seinen Grund.

4 – (Un)Sichtbarkeit

Wer graben will, muss unsichtbar sein.
Nicht dass ich vorher sichtbar gewesen wäre. Ich bin das mittlere Kind. Und meine Schwestern sind die mit den strahlenden Persönlichkeiten, meine Mutter hatte mit anderen Dingen zu tun und – nun ja – ich will nicht schlecht über meine Familie sprechen. Es hat sich ja keiner so ausgesucht. Meine Familie war wie etwas, das das Meer angespült hat. Sicherlich gab es für alles einen Grund, eine Erklärung, aber letztlich waren es die Strömungen und Winde des Schicksals, die uns zusammen an den Strand warfen, und da waren wir nun und mussten irgendwie zusammen leben. Meine Persönlichkeit war von je her farblos. Ich spreche nicht viel, ich kann nicht viel, aber immerhin genug, um nicht weiter aufzufallen. Das Netteste, was man über mich sagte, war, was für ein unkompliziertes Kind ich doch sei. Und ein solches war ich tatsächlich und deswegen beachtete mich niemand. Was aber eben nicht heißt, dass mich niemand beobachtete. Da war Papa, dessen Blick wir stets im Nacken spürten, Mama, die uns, wenn es sich fand, plötzlich und aus dem Nichts heraus mit Liebe überschüttete, und meine Schwestern, die neidvoll und hungrig nicht allein jede Zuwendung mitzählten, sondern auch jede Ablehnung. Es ist ein gravierender Unterschied zwischen Beachtung und Beobachtung.
Deswegen ist unsichtbar auch das falsche Wort. Unsichtbar hieße ja, ich wäre verschwunden, und wenn ich verschwunden wäre, hätten meine Schwestern mich im gleichen Augenblick gesucht. Mich aufgespürt und ausgequetscht, was ich mir traue, was ich mir erlaube, dieses Haus, dieses Leben zu verlassen.
Auch durchsichtig wäre falsch, denn durchsichtig ist viel zu merkwürdig, als dass man es übersehen könnte – im Prinzip musste ich genau das Gegenteil von unsichtbar werden. Undurchschaubar. Den Menschen eine feste Fassade bieten, über die ihre Augen hinweghuschen konnten und sich versichern, dass absolut alles in Ordnung ist. Aber zu glatt und perfekt durfte die Fassade nicht sein, nichts verabscheuen Menschen mehr, als jemanden, der ein feiner Kerl ist und gut klarkommt, nein, man muss die anderen etwas finden lassen, was sie bemängeln und kritisieren können, was sie ändern wollen.
Dann übersehen sie das Offensichtliche.

Wie ein Zauberer muss man das Verborgene ganz offen vor aller Augen tun – und nur dafür sorgen, dass die Blicke auf etwas anderes gerichtet sind. Und ich sage es ebenso offen: Unsichtbar zu sein ist eine Kunst, und ich beherrsche sie wie kein Zweiter. Fragen sie meine Therapeutin, möchte ich hinzufügen – aber dafür müsste sie mich ja sehen können.
So begann ich mein Leben als Grabender.
Das klingt ganz wunderbar, möchte ich meinen: mein Leben als Grabender. Es klingt nach Bedeutung, einem Ziel, einer Aufgabe. Die Wahrheit war jedoch, wie alles in dieser Welt, ernüchternd. Denn es war schlicht so, dass ich, wann immer sich die Gelegenheit bot, in den Keller ging und meine Hosentaschen mit Dreck füllte, und sie dann später, irgendwo draußen, stets an einer anderen Stelle, wieder ausleerte. Ansonsten blieb es wie gehabt – ich ging zur Schule, ich brachte den Müll raus, ich stritt mich mit meinen Schwestern und versuchte, meinen Eltern aus dem Weg zu gehen, so gut das möglich war und ohne dass es ihnen auffiel.

5 – Stellst du dich absichtlich blöd?

„Thea, hör auf zu heulen.“ Elli reichte es jetzt.
Thea hörte schlagartig auf – verschränkte aber die Arme vor der Brust und sagte: „Es ist doch aber Papa!“
„Eben“, sagte ich und jetzt sahen mich beide erst an und dann sehr schnell irgendwo anders hin.
„Wir haben ein Problem“, sagte Elli und an sich war es vollkommen überflüssig dies auszusprechen, aber sie sagte es auch nur, damit meine Stimme nicht mehr im Raum hing. „Irgendjemand eine Idee zur Lösung?“
Thea verdrehte die Augen. „Am Ende zählt doch eh nur, was du willst.“

Wir ließen ihr Schmollen ein paar Minuten so stehen, dann wurde Thea unsicher und sagte: „Wir müssen die Polizei rufen.“
„Wozu?“, sagte Elli.
„Na, weil man das so macht: die Polizei rufen.“

Machte man das so? Wahrscheinlich schon. Wenn man ein rechtschaffener Mensch ist und entdeckt, dass das Geschwisterchen einen Brunnen gegraben hat und auf dem Grund dieses Brunnen der eigene Vater liegt – dann ruft man die Polizei. Und sagt Sätze wie: „Ich verstehe nicht, wie das geschehen konnte. Wir waren doch eine ganz normale Familie!“

Wenn ich auch nur für einen Moment geglaubt hätte, dass meine Schwestern rechtschaffene Menschen seien, dann hätte ich die Polizei auch gleich selbst rufen können. Oder meine Sachen packen und mich davonstehlen. Oder die Leiche entsorgen. Jedenfalls hätte ich mir die Anrufe sparen können und all das Menschliche, was jetzt hier unten stattfand, gleich mit.
„Wieso hast du uns eigentlich angerufen?“, fragte Elli, der wohl Ähnliches wie mir durch den Kopf ging.
„Weil ich die Leiche nicht allein entsorgen kann.“
Auch das wieder eine Lüge – mir wäre schon etwas eingefallen, es drängte ja nicht. Ich hätte Papa in kleine Häppchen zerlegen können und Stück für Stück verteilen, ich hätte seinen inzwischen so leichten Körper vielleicht sogar im Ganzen aus dem Haus bringen können oder – die einfachste Lösung – den Brunnen über ihm zuschütten. Und die Sache vergessen.

Der Grund, aus dem ich meine Schwestern angerufen hatte, war, dass ich es ihnen schuldete. Sie hatten das Recht auf ein Ende. Oder zumindest das Recht auf die Chance zu einem Ende – denn nicht einmal ich, obwohl ich seit über zwanzig Jahren darüber nachdenke, kann auch nur ansatzweise erahnen, ob das, was mit uns ist, was uns hierher gebracht hat, je endet. Ob es einen Grund gibt, auf den man die Vergangenheit betten und zur Ruhe kommen lassen kann.
Wie dem auch sei – ich schuldete meinen Schwestern den Versuch. Und auch das ist etwas, was meine Therapeutin nicht verstehen würde, weshalb ich es ihr bei Gelegenheit erzählen sollte.

Sie denken jetzt bestimmt, dass wir wohl keine sehr schöne Kindheit hatten, meine Schwestern und ich. Aber das stimmt nicht, es war schon ganz in Ordnung. Es gab sie für uns, die guten Zeiten, nur waren sie recht kurz. Es waren jene Stunden des Tages, in denen wir mit Mama allein waren – und Mama nicht mehr nüchtern, aber auch noch nicht betrunken. Dann spielten wir im Garten. Und das Lachen meiner Mutter war hell. Wir spielten Verstecken und Fangen. Oder Mama tanzte mit uns. Sie zeigte uns Walzer und Polka, Foxtrott und Discofox. Das alte Radio plärrte seine Melodien in den Garten und Mama wirbelte uns herum, das Glas Sekt in der einen Hand und die andere in fester Führung um uns gelegt. Nicht dass ich je zum Tanzen taugte, meine Schwestern waren weit begabter darin, die Füße an die richtigen Stellen zu setzen und sich in den Hüften zu wiegen. Vielleicht lag es daran, dass mein Blick stets auf die Flasche gerichtet war und ich wusste, mit jedem Schluck würde die Laune meiner Mutter schlechter werden, und wenn sie die zweite Flasche öffnete, würden ihre Schritte unsicher und ihr Griff uns nicht mehr halten. Meine Schwestern aber tanzten ausgelassen, als könnte der Augenblick ewig dauern, als gäbe es das Danach nicht. Das Danach, das von Tag zu Tag, von Monat zu Monat schneller kam und irgendwann trank Mutter keinen Sekt mehr, sondern gleich Korn und Wodka. Und dann wurde nicht mehr getanzt.

„Die Steine“, sagte Elli.
„Was für Steine“, fragte Thea, aber Elli beachtete sie gar nicht. Wandte sich ganz mir zu.
„Wo hast du die Steine her?“
Sie meinte die wunderschöne Umrandung des Brunnens. Es waren prächtige Natursteine, Granit und Gneis, nur gehalten vom eigenen Gewicht und der geschickten Schichtung, die mich Monate gekostet hatte.
„Wie hast du bitte diese Steine herbekommen? Mit elf?“
„Ich sagte, ich habe angefangen zu graben, als ich elf war – nicht, dass ich mit elf damit fertig wurde.“ Mein Augenrollen brachte sie in Rage, ich wusste es und ich wusste auch, dass das mies von mir war – aber ich kann es nicht leiden, wenn Menschen nicht mitdenken.
„Vergiss die Steine“, sagte Thea. „Wir müssen die Polizei rufen.“
„Spinnst du?“ Elli war wieder ganz und gar die große Schwester. Zwei Worte und es war klar, wer hier das Sagen hatte – egal, wie viel Thea noch reden würde. Oder kreischen.
„Wir können nicht … das hier … man muss doch … wir …“ Thea rang um Worte. Aber es war kein verzweifeltes Ringen.
Verzweiflung ist etwas, das hinter uns liegt. Jeder Mensch bekommt ein gewisses Maß für sein Leben mitgegeben. Irgendwann ist es aufgebraucht, bei dem einen früher, dem anderen später. Dann bleibt nur die Wut, die endlos ist, und der mühsame Kampf, sie zu kontrollieren. Und genau das war es, was wir drei noch gemeinsam hatten, was uns fest, unauflösbar verband: Die Wut. Und die Fähigkeit, sie zu kontrollieren.

„Also keine Polizei?“, fragte Thea.
„Stellst du dich absichtlich blöd?“, fragte Elli.
Der gesunde, der normale Mensch wird sich jetzt fragen, was in aller Welt daran blöd sein soll, die Polizei zu holen, wenn man sein Geschwisterchen dabei ertappt (na gut, das Geschwisterchen offenbart), dass es den Vater umgelegt hat.
Zwar nicht direkt, immerhin hatte ich ihn ja nicht erschlagen, sein Tod konnte durchaus als ein natürlicher bezeichnet werden, aber dennoch würde der Umstand, dass ich ihn Jahrzehnte in einem selbst gegrabenen Brunnen gehalten hatte, bei seinem Tod wohl eine Rolle gespielt haben. Kurzum: ich hatte mich schuldig gemacht. Meine Schwestern dagegen waren unschuldig. Und nun war es eigentlich an der Zeit, dem Recht und Gesetz auf die Sprünge zu helfen.
„Ich werde mich in diese Scheiße nicht reinziehen lassen!“, kreischte Thea.
„Du bist in der Scheiße geboren“, sagte Elli.
Und dann stritten sie, so, als wäre ich gar nicht da. Ich setzte mich neben den Brunnen, lehnte mich an die kühle Natursteinumrandung und dachte mir: „Hey, ganz wie früher“. Und dann huschten meine Gedankenglühwürmchen ins Irgendwo. Wut und Kontrolle. Je wütender meine Schwestern waren, um so mehr konnte ich mich darauf verlassen, dass sie die Kontrolle nicht verlieren würden.

6 – Wozu der Brunnen?

Man könnte meinen, ich hätte beim ersten Stich der Pflanzschaufel schon gewusst, was daraus werden sollte, ich einen Plan, mindestens aber eine Vision meines Tun gehabt hätte – und vielleicht stimmt das. Vielleicht aber auch nicht. Das mit dem Wissen ist so eine Sache.
Wahrscheinlich wird der Forensiker, der mich im Gefängnis befragt, davon ausgehen, dass ich zu graben begann mit dem festen Vorsatz, meinen Vater auf den Grund des Brunnen zu stoßen und ihn dort jämmerlich verrecken zu lassen. Was mit Sicherheit falsch ist. Denn dafür war ich bei weitem nicht mutig genug. Wütend genug vielleicht, aber nicht mutig genug. Und es fehlte mir an Kontrolle. Mein ursprünglicher Plan war, mir ein Grab zu schaufeln. Mich hineinzulegen und darin zu streben.

„Denken Sie manchmal über Suizid nach?“, fragte mich einmal meine Therapeutin.
„Oh ja“, sagte ich.
„Seit wann?“
„Nun, etwa seit der zweiten Klasse.“

Das war die Zeit, in der meine Mutter von Sekt auf Korn umstieg. Aber das war nicht der Grund. Auch nicht ihr Schweigen, wenn wir von der Schule kamen, ihr leerer Blick, mit dem sie auf dem weinroten Sofa im Wohnzimmer unseres unbedeutenden Hauses auf dem Hügel am Rande der unbedeutenden Stadt saß. Auch nicht der mehr und mehr anwachsende Ärger des Vaters, welcher wahrscheinlich völlig berechtigt war, wenn man ehrlich ist. Wer will schon nach harter Arbeit in ein Zuhause kommen, in dem drei Kinder streiten und die Frau sich stöhnend erhebt, um das Abendessen zu kochen. So wenig meine Mutter tat, mal abgesehen vom Trinken, wenn mein Vater nicht daheim war, so fleißig war sie, sobald er durch die Tür trat. Als wäre sie schlagartig nüchtern. Sie kochte, putzte, werkelte im Garten. Aber sie lachte und tanzte nicht. Und sie stöhnte. Immerzu. Leise. Der Vater kam heim, brachte den geschwisterlichen Streit zum Verstummen und prüfte die Hausaufgaben. Er berief sich gern darauf, dass unser aller vorzeigbare Leistungen in der Schule nur darauf zurückzuführen seien, dass er uns prüfte. Härter und strenger als jeder Lehrer. Ja, nun, sicher – auch nach seinem Verschwinden wirkte der uns indoktrinierte Anspruch fort und aus meinen Schwestern ist ja auch etwas geworden.

Mit dem Korn endete das Tanzen. Aber das war auch die einzige offensichtliche Veränderung, wenn man davon absah, dass meine Schwestern heranwuchsen und Elli, die damals die Dreizehn erreichte, so schön war, dass die Sonne selbst sich verwunderte, wenn sie ihr ins Gesicht schien. Aber anders als in Märchen, in welchen schönen Mädchen nach mehr oder weniger Prüfung ein Prinz beschieden ist, also auf die Hoffnungslosigkeit ein Wunder folgt, so blieb uns nur die Scheiße, in die wir hineingeboren waren. Also konnte ich auch sterben. So meine feste Überzeugung, bis mir beim Graben – etwa da, als das Loch groß genug war, ein richtiges schönes Grab, rechteckig und six feet under – aufging, dass vielleicht ich, ich ganz allein, für dieses eine märchenhafte Wunder sorgen konnte. Dafür müsste ich aber in einen Brunnen hinabsteigen. Von da an dachte ich noch immer jeden Tag an Selbstmord, aber auf eine andere Weise. Nicht mehr gleich und sofort, sondern als einen Abschluss. Als das gute Ende eines Märchens. Wie es sich gehört. Denn wenn die Prinzessinnen erlöst sind, ist keine Rede mehr von den Gnomen und Feen, die das Ihre dazu beigetragen haben.

„Warum zum Teufel sollten wir dir helfen, die Leiche zu entsorgen?“, kreischte Thea.
Theas Kreischen. Wie gesagt, eine merkwürdige Sache. Seit sie geboren wurde, erfüllte sie meine Welt mit aus dem Kehlkopf gepressten Lauten. Dem Baby Thea kann man solches sicher nachsehen, aber die restlichen sechsunddreißig Jahre voller Lärm hätten nicht sein müssen. Auch hier und heute musste es nicht sein.
„Was glaubst du eigentlich, was du hier machst? Spinnst du …“ Thea keifte mit einer Art Kopfstimme, ich kann das kaum wiedergeben, es war wirklich eine besondere Form des Schrei-Sprechens, das nervig-penetrant-eindringlich war, aber eben nicht laut. Ganz und gar nicht laut. Theas Kreischen war der manifestierte Wutanfall eines Kindes, das genau wusste, dass ihm Übles blühte, wenn die Eltern es hörten.
„Wie macht man das eigentlich?“, fragte Thea, plötzlich mit ganz normaler Stimme. „Rollt man so ne Leiche wie bei der Mafia in einen Teppich? Und kaufen wir den Teppich neu oder hat jemand einen alten?“
„Hier rollt überhaupt niemand irgendwas“, sagte Elli. „Du machst Kaffee und wir frühstücken mit Mama. Falls was zu essen im Haus ist.“
Der letzte Satz fiel zusammen mit einem verächtlichen Blick auf mich, in dem ganz und gar herrliche neununddreißig Jahre geschwisterlicher Feindschaft lagen. Ich quittierte ihn mit einem Lächeln und dem Vorschlag, eine Frittata zuzubereiten.

7 – Frühstück im Oktober

Habe ich erwähnt, dass es ein Mittwoch war? Einer im Oktober? Herrlicher Goldsonnenschein und reichlich raschelndes Laub auf den Wegen, es hatte seit Tagen nicht geregnet – ich musste sogar noch einmal gießen im Garten. Viel war nicht mehr an Zucchini und Landgurken, aber dennoch wäre es schade gewesen, dieses letzte Gemüse des Jahres vertrocknen zu lassen. Es war Oktober und noch einer dieser Tage, an denen man auf der windgeschützten Terrasse sitzen und frühstücken konnte. Mit einer Decke über den Beinen. Mama hatte ich zusätzlich noch in einen Schal eingeschlagen, so, wie man es mit kleinen Kindern macht, und nun saß sie da, sah auf das goldene Licht des Vormittags im Oktober und schmatzte zufrieden an eingeweichter Brezel und Zucchiniomelett. Elli aß nichts, Thea dafür um so mehr. Auf Ellis Blick hin sagte Thea: „Wenn ich mal bedient und bekocht werde, dann esse ich auch. Kommt selten genug vor.“ Ich goss Elli Kaffee nach, schob Mama zwei Tabletten in ein Stück Leberwurst, welches ich ihr dann unauffällig auf den Teller legte.
Täuschung und Lüge. Und Unsichtbarkeit. Gäbe ich Mama das Stück Leberwurst offen, dann wäre sie sofort misstrauisch. Viel war von ihrer Persönlichkeit nicht mehr übrig, aber das tiefe Misstrauen der Familie gegenüber hielt sich wacker durch die gesamte Demenz. Sie würde die Wurst nehmen, mich mustern und sie dann lächelnd in den Mund schieben, ein „Hmhm“ intonieren, die Tabletten herauslutschen und so unauffällig es ihr möglich war in die nächste Pflanze spucken.
Auch wenn sie nach und nach alles vergaß, die Zeit, die Menschen, die Lieder ihrer Kindheit: dass die verdammte Leberwurst seltsam war, würde sie sich merken. Wobei merken das falsche Wort ist – es würde sich ihr einprägen, Kerben hinterlassen auf dem Rest, der von ihr geblieben ist. Mit der Leberwurst ist es wie mit allen Lügen, man muss da sehr genau aufpassen. Mit der Wahrheit ist es einfacher, die will niemand hören. Die wird weggewischt wie Vogelscheiße am Fenster. Restlos weggeputzt, bis nichts mehr davon bleibt.
Ebenso verhält es sich mit dieser Geschichte. Nehmen wir an, meine Schwestern hätten während dieses Frühstücks auf der windgeschützten Terrasse an jenem Oktobermorgen erkannt, dass es das einzig Richtige wäre, die Polizei zu rufen, und dann bestürzt ihre Aussagen gemacht: Thea, wortreich nach Gründen für „all das“ suchend und Elli, stiller und klarer, betonend, wie wichtig es sei, dem Papa ein würdiges Begräbnis auszurichten, wo er doch nun schon kein würdiges Leben gehabt hatte.
Da wäre die Last, die mit einer solchen Tat, mit einem solchen Geschwisterchen einhergeht, eine Last, die einen ganzen Roman füllen könnte. Es war schließlich der Vater! Der eigene Vater! Usw. Sie wissen schon. Und dann vielleicht eine fulminante Flucht und ein cleverer Kommissar, eine Jagd durch halb Europa. Roadmovies sind ja etwas sehr Schönes, weil der Held zugleich in Bewegung und auf sich selbst zurückgeworfen ist. Deswegen gibt es in Märchen so viele Reisende.
Ich habe es mir durchaus überlegt, wirklich, an jenem Oktobermorgen, als ich Mama dabei zusah, wie sie heimlich, also zumindest glaubte sie, sie tue es heimlich, die Leberwurst im Ganzen, so ohne jedes Brot darunter, vom Tellerrand naschte. Ich habe es mir ganz ernsthaft überlegt. Ob es nicht besser wäre, die Geschichte so enden zu lassen und dem forensischen Psychiater, der mich im Gefängnis befragt, nachdem der clevere Kommissar mich geschnappt hat, zu erzählen, es sei halt nie ganz einfach zu Hause gewesen …
Ja. Ich habe es mir überlegt. Es wäre ein Ende gewesen und nur darum geht es ja: ein Ende zu finden. Die Dinge zu Grunde zu legen.
Aber dann sagte Mama in den Oktobersonnenschein hinein, ganz ruhig und nebensächlich, aber so, dass wir alle es hören konnten: „Der war nicht gut. Ich hab euch das nie gesagt. Das gehört sich nicht, dass man so was sagt. Merkt euch das, man sagt das nicht den Kindern. Aber er war nicht gut.“ Und sie trank ihren Kaffee und summte eine Melodie, ich denke, es war ein Walzer.

8 – Steine und Katzen

„Wo hast du die Steine her?“, fragte Elli beim Abwasch. Wir hatten keinen Geschirrspüler in unserem Elternhaus. Mein Vater demonstrierte stets seine Abneigung gegen jede Art von Haushaltsmaschinen. Damals, vor seinem Verschwinden, waren Geschirrspüler noch weit davon entfernt, selbstverständlich zu sein, aber dafür gab es einen legendären Streit, ob ein neuer Staubsauger notwendig sei oder ob wir Kinder nicht ‚die paar Teppiche‘ mit dem Klopfer bearbeiten könnten, so, wie er es auch als Kind getan hatte. Die Einführung der Waschmaschine hatte ich verpasst, das war vor meiner Geburt, aber ich kann mir gut vorstellen, wie Papa dastand, groß und gutaussehend, und die Vorzüge des Waschbretts pries. Jedenfalls wirkte der Glaube an den Fleiß der Hände fort, war nicht mit dem Vater verschwunden, und so gab es keinen Geschirrspüler, weil solcherlei Faulheit noch immer nicht denkbar war.
Selbst einem verschwundenen Vater konnte man sich nur schwer widersetzen.

„Wo hast du die Steine her?“, fragte Elli beim Abwasch.
„Ausgegraben.“
„Ach? So schöne Steine hat es hier?“
„Ja. Wusste ich auch nicht. Haben sich nach und nach angesammelt.“
„Das war dann nicht dumm, die für die Umrandung zu nehmen.“
„Danke.“
Jeder zweite Satz von Elli an mich, geschätzt natürlich und im Rückblick der Jahre, lautete und lautet: „Gott, bist du blöd“. Von daher war ‚nicht dumm‘ ganz weit oben auf der Liste der Komplimente. Und das freute mich.

Aber wie konnte es denn möglich sein, dass ich einen Brunnen gegraben hatte. Im Keller eines kleinen Hauses auf dem Hügel am Rande der unbedeutenden Kleinstadt. Das voller Menschen war und kein einziger dieser Menschen bekam etwas davon mit. Und meine Schwester, meine kluge, erfolgreiche, wunderschöne ältere Schwester lobte angeblich nur wenige Stunden, nachdem sie den Vater tot auf dem Grunde des Brunnens gesehen hatte, meine Steinsetzerkunst. Meine Therapeutin würde lachend den Kopf schütteln, damit ich ihren Blick ganz sicher nicht sehen konnte, und sagen: „Sie und Ihre Geschichten. Wofür steht der Brunnen?“

Nun. Der Brunnen steht für einen Brunnen. Und zu sagen, dass keiner von dem Brunnen wusste, ist nur eine weitere Lüge. Was aber nicht heißt, dass jemand davon wusste. Denn mit dem Wissen ist es so eine Sache.

Es gab in unserem Hause immer eine Katze. Ich bin mir nicht sicher, ob es all die Jahre dieselbe war, sie sah aber immer gleich aus und hieß immer Miez. Eine dreifarbige Katze, weil dreifarbige Katzen Glück bringen. Meine Mutter konnte mit den ‚Viechern‘, wie sie alle Tiere zusammenfassend zu bezeichnen pflegte, wenig anfangen, meine Schwestern liebten die Katze, mir war sie weitgehend egal – aber mein Vater war ganz und gar vernarrt in sie. Jeden Tag, wenn er von der Arbeit kam, begrüßte er die Katze. Er strich ihr über den Kopf, kontrollierte, ob Wasser in ihrem Napf war und öffnete unter großem Zeremoniell und Worten wie „Ja, hast du Hunger? Hm? Magst du was fressen? Fressi? Ja? Fressi?“, welche allesamt von der Katze lauthals bemaunzt wurden, eine Dose eines recht teuren Katzenfutters und servierte ihr die Mahlzeit. Später dann lag sie auf seinem Schoß, wenn er die Nachrichten sah. Man kann durchaus sagen, mein Vater liebte die Katze. Kurz bevor ich mit dem Graben begann, verschwand sie. Mein Vater suchte sie, rief ihren Namen in den Abend, in die Nacht und den nächsten Morgen hinaus, ließ Mama das ganze Haus absuchen und uns Kinder jeden in der Nachbarschaft fragen, ob sie denn die Katze gesehen hätten und ob sie nicht in ihren Garagen und Schuppen und Kellern nachsehen könnten, vielleicht wäre die Katze darin. Doch alles blieb erfolglos.
Am dritten Tag tauchte ein Erpresserbrief auf, wie in einem alten Krimi war das Schreiben mit aus der Zeitung ausgeschnittenen Buchstaben verfasst und darin wurde ein Lösegeld von eintausend Mark gefordert, sonst würde es der Katze übel ergehen. Der Brief enthielt eine ausführliche Beschreibung, was mit der Katze genau geschehen würde, wenn die gewünschte Summe nicht binnen drei Tagen unter einem Baum im nahen Wäldchen abgelegt würde – und es waren Dinge, die ich hier nicht aufführen möchte. Drohungen, die einem sehr dunklen Geist entstiegen sein müssen, schlichte Taten allesamt, aber von klarer, unaufhaltsamer Brutalität.

Ich schauderte, als Vater uns den Brief vorlas. Warum er das tat, habe ich nie verstanden, aber ich verstehe eh wenig, was ich jedoch begriff, war seine Aufforderung an Mama – sie erfolgte sofort nach dem Vorlesen des Briefes. Den er einfach nur las ohne ein weiteres Wort dazu zu sagen, ja, nicht einmal eine Regung zeigte sich in seinem Gesicht, er las ihn vor, als wäre es ein Brief von Oma, geschwätzig über ihren Garten und das Dorf erzählend; und seine einzige Reaktion war die Aufforderung an Mama, umgehend eine neue Katze zu besorgen. Bei Himmelweihers hätte es gerade einen Wurf und da sei sicher eine dreifarbige dabei. Ich verstand, dass ich mich geirrt hatte – mein Vater liebte diese Katze nicht. Nicht genug, als dass er es zugelassen hätte, über sie verwundbar zu sein. Mein Vater, begriff ich, war unantastbar. Also beschloss ich, mir mein Grab zu schaufeln. Die Katze tauchte am nächsten Tag wohlbehalten und hungrig auf, mein Vater begrüßte und fütterte sie. Und alles war wie immer.

Manches ist ganz eindeutig – das weiß man oder man weiß es nicht. Ich zum Beispiel weiß, warum der Himmel blau ist, wie man Pudding kocht, und kann den Zinseszins berechnen. Keine Ahnung habe ich, wie die Hauptstadt von Estland heißt. Aber das könnte ich nachschlagen.
Völlig anders verhält es sich mit dem, was zwischen uns geschieht.
Nehmen wir Elli, die neben mir steht und abwäscht. Weiß ich, wovon sie spricht? Von den Steinen, natürlich, und doch weiß ich es nicht. Selbst wenn sie jede Emotion dieses Augenblicks in Worte fassen würde, jeden Gedanken und Hintergedanken aussprechen, wüsste ich es nicht. Und mehr noch: selbst das, was ich wissen könnte, den Worten und Wörtern entnehmen und dem dazwischen herauslesen – wenn ich alles wissen könnte: Würde ich es wissen wollen?
Ich nehme nicht an, dass sich Elli ernsthaft für die Steine interessierte. Wie gesagt, ich weiß es nicht, aber ich nehme es an, immerhin hatte sie noch nie Interesse an Steinen gezeigt. Es war nur ein Versuch, mit mir über das Unaussprechliche zur reden.

9 – Aus Gründen

„Ihre Mutter trinkt?“, fragte meine Therapeutin in einer unserer ersten Sitzungen, als das Grundbiografische erzählt und abgeklärt war. Sie formulierte dies als Frage, aber natürlich war es eine reine Feststellung. Eine Eigenheit meiner Therapeutin ist, auch noch das Offensichtlichste als Frage zu formulieren, es mir förmlich wie einen Ball zuzurollen und mich somit jede, absolut jede Aussage selbst treffen zu lassen. Sie war wie eine überdimensionale Qualle und alles, was man auf sie warf, verschwand in ihr und ploppte irgendwann als Frage wieder heraus.
„Ihre Mutter trinkt?“, frag-feststellte meine Therapeutin und beugte sich dabei nach vorn.
„Na, nee, nu nicht mehr“, murmelte ich und begann an einem der Couchkissen herumzuzupfen. Eigentlich sollte ich liegen während der Sitzungen, aber ich sah immer zu, dass ich möglichst und mindestens zur Hälfte saß. Die Füße auf der Couch, den Oberkörper schräg, so dass es durchaus wie ein Liegen war, aber eben nicht ganz.
„Ihre Mutter ist trocken?“
„Zumindest trinkt sie nicht mehr.“
„Ähm? Bitte?“
„Danke?“
„Also gut – fragen wir anders: Seit wann trinkt ihre Mutter nicht mehr.“
„24. Dezember 1993.“
„Ihr Mutter hörte an Weihnachten mit dem Trinken auf? Wieso das?“
„Weil sie keinen Grund mehr hatte, um zu trinken?“
„Was?“
„Was?“
„Wie bitte?“
„Äh?“
Das ging noch ein wenig weiter so hin und her, sie wurde ärgerlich, sie wird immer ärgerlich, wenn sie glaubt, ich würde mich ‚dumm stellen‘. Was ich ihr nie vermitteln konnte, war, wie dumm ich wirklich war und wie wenig ich mich so stellte. Seien wir ehrlich, ein kluger Mensch, nicht einmal ein einigermaßen schlauer oder genauer noch: ein jeder, der nicht ganz blöd war, hätte niemals, in gar keinem Fall getan, was ich getan habe.

Aber meine Therapeutin hatte irgendwann beschlossen, ich sei einigermaßen klug und wisse, was ich tue und sage, und deswegen maß sie meinen Worten Bedeutung bei, versuchte sie zu verstehen und heraus kam dann eine ihrer Fragfeststellungen: „Ihre Mutter hatte also keinen Grund mehr zu trinken?“
„Sehen Sie“, sagte ich und setzte mich nun endgültig von der Couch auf, beugte mich nach von, verschlang die Finger ineinander und fuhr mit den Daumen wechselseitig die Handflächen entlang, „alle fragen immer nach dem Grund, warum Mama aufhörte zu trinken. Also – ‚alle‘ soll heißen, ‚alle‘, die je darüber reden oder reden würden, dass Mama mal getrunken hat. Deswegen sind ‚alle‘ nicht so sonderlich viele, wenn man es genau nimmt, denn die meisten, die es wissen oder wissen müssten, tun ja so, als hätte Mama nie getrunken. Also nicht mehr, als man eben so trinkt. Ein Gläschen Wein bei einem guten Anlass.“
Meine Therapeutin nickte, und ich dachte mir, ich kann jetzt auch so tun, als wäre ich der Überzeugung, sie hätte verstanden, was ich sagte, was ja durchaus auch möglich sein konnte, man weiß es ja eben nie, was zwischen den Menschen ist.
„Jedenfalls, die wenigen, die über das Trinken je sprachen, das wären dann Tante Bärbel, Elli und Sie – also sie alle fragen: ‚Warum trinkt sie nicht mehr? Was ist der Grund?‘ Vielleicht ist das ja auch wirklich so, dass Menschen einen Grund brauchen, damit sie aufhören – aber Mama. Nein, Mama brauchte immer einen Grund, um zu trinken. Und wenn es keinen Grund gab, so trank sie nicht. Deswegen stimmt es auch nicht, wenn man sagt, sie hätte aufgehört.“
„Verschwand nicht Ihr Vater an Weihnachten?“, fragte meine Therapeutin und begann in ihren Notizen nach meinen genauen Angaben zu Papas Verschwinden zu kramen. Dieses Mal war es eine echte Frage, sie wusste es nicht.
„Ja.“
„An jenem Weihnachten?“
„Ja.“
„Also war Ihr Vater der Grund für das Trinken Ihrer Mutter? Wollen Sie mir das sagen?“
Will ich das?
Was musste mein Vater getan haben, was musste er für ein Mensch gewesen sein, um als ein eindeutiger, legitimer Grund für das Trinken meiner Mutter zu gelten?
Und was musste er getan haben, was muss er für ein Mensch gewesen sein, damit es einen Grund gab, ihn auf dem Grund eines Brunnens zu versenken?

Portrait Sylvia Wage

„Grund“

Die Geschichte von selbst ist schnell erzählt: Am Grunde eines Brunnens liegt ein toter Mann, hineingestoßen von einem seiner Kinder – allerdings schon vor Jahrzehnten, gestorben ist er erst kürzlich. Von oben schauen seine mittlerweile erwachsenen Kinder herab und verhandeln, wie nun mit der Leiche zu verfahren sei…Aber wie man sich denken kann, ist das natürlich nur die äußerste Schicht des Textes. Zwischen den Zeilen geht es in schwindelerregende Tiefen hinab in die Geschichte einer völlig zerrütteten Familie. Es geht um Herrschsucht, Alkoholismus und häusliche Gewalt; auf mehreren metaphorischen Ebenen erzählt von einer äußerst unzuverlässigen Figur, die ihre Leser von Beginn an mit völlig absurden Behauptungen konfrontiert. Es ist ein Spiel mit der Gutgläubigkeit der Leser und ein Test, wie weit sie zwischen die Zeilen dringen wollen.

Sylvia Wage – Kandidatin Bookster HRO

Sylvia Wage, *74 geboren in Zwickau, gelebt in Dresden, gestrandet in Berlin. Tätig in der Öffentlichkeitsarbeit im Bereich Pharma und Biotech, engagiert in der lokalen Kulturpolitik, Bonner Literaturpreis-Trägerin und festes, gelegentlich prägendes Mitglied im Berliner Literaturlabel zuckerstudio waldbrunn.

Hier gehts zum Beitrag auf dem Blog Bookster HRO.

Interview mit der Longlist-Autorin

Du stehst auf der Longlist des Blogbuster-Preises. Hättest Du damit gerechnet?

Wenn man sich vor Augen hält, dass Bookster HRO innerhalb weniger Wochen 29 (neunundzwanzig!) Exposees und Textauszüge gelesen hat – und das mit einer konsequenten Ernsthaftigkeit und Achtsamkeit für jeden einzelnen Text, die ich sehr bewundere und schätze – dann ist Longlist etwas Besonderes und nix, womit man ‚rechnen‘ kann. Es gibt viele großartige Erzähler*innen und Texte – und der Wettbewerb beweist das.

Warum hast Du Dich gerade bei „Bookster HRO” beworben?

Ehrlich gesagt war es ein Satz, der den Ausschlag gab – Bookster schrieb:

„Wenn man eine tragische Geschichte mit einem Augenzwinkern erzählt, entsteht beim Leser ein seltsam ambivalentes Gefühl – genau das suche ich in jedem Buch.“

Da finde ich mich wieder, sowohl im Lesen als auch im Erzählen.

Blogbuster ist ein etwas anderer Literaturwettbewerb. Was hat Dich gereizt, daran teilzunehmen?

Es ist dieses Aufeinandertreffen von Bloggern und Autoren aus verschiedenen Welten mit sehr unterschiedlichen Erwartungen und Herangehensweisen an das Erzählen; geeint aber in ihrer Begeisterung für Buch, Geschichten, Sprache. Daraus ergibt sich die Chance auf Begegnungen und Erfahrungen jenseits des eigenen Tellerrandes. Ich mag das. Sehr.

Die erste Hürde ist genommen, welche Chancen rechnest Du Dir aus, auch die Fachjury zu überzeugen?

‚Ausrechnen‘ klingt immer nach Kinderfreibetrag in der Steuererklärung. Wrgs.

Die wirklich guten Geschichten, in Büchern wie im Leben, sind ja jene, die man weder berechnen kann noch die berechnend sind. Ich freue mich einfach aufs nächste Kapitel.

Wie lange hast Du an dem Romanmanuskript geschrieben und was hast Du bisher schon unternommen, um einen Verlag zu finden?

Der Unterschied zwischen dem Schreiben und dem Verfassen von Texten ist (für mich), dass es beim Schreiben eben gerade nicht um das geht, was man direkt sagen kann, was man strukturieren, erarbeiten und tippen kann.
Schreiben meint, eine Form, eine Sprache für das Unaussprechliche zu finden; Worte um das Unsagbare zu machen.

Der Prozess des Schreibens beginnt sehr weit vor dem Moment, in dem man sich an den Rechner setzt. Ich kann nicht sagen, wie lange mich die Figuren und Überlegungen zum GRUND wie Geister begleitet haben – das Aufschreiben selbst, wenn ich denn das ‚Wie‘ gefunden habe, das geht recht schnell und ist eher abhängig davon, worin ich sonst gerade noch verstrudelt bin. (Spoiler: Vieles. Zu vieles. Echt viel zu vieles.)

Was wirst Du zusammen mit Deiner Bloggerin noch unternehmen, um Dich und Dein Manuskript zu promoten?

Bookster HRO wird mit Sicherheit noch das ein oder andere auf seinem Blog erzählen – dort vorbeizuschauen lohnt sich ja eh immer.

Ansonsten: im Sommer wird es definitiv eine der inzwischen legendären Berlin-Grünau-Open-Stage-Garten-Lesungen geben, rund um den Blogbuster, und eingeladen sind alle, die Grünau finden (ja, das ist noch Berlin, nein, das ist noch nicht Brandenburg) und/oder irgendwas über/mit/für/um den Blogbuster zu lesen/erzählen/berichten haben.

Heureka! Mein Favorit für den Blogbuster Preis 2020

von Karolin Hagendorf

Vor ein paar Monaten erreichte mich eine E-Mail, die mir eine wichtige Frage stellte: Karo, hättest du Lust, in diesem Jahr Teil der Bloggerjury für den Blogbuster Preis zu sein?

Hatte ich natürlich! Denn wo bekommt man sonst schon einmal die Möglichkeit, so aktiv am Literaturbetrieb mitzuwirken?

Wer die Wahl hat…

Ich muss ganz ehrlich sagen: Ich hatte vorab ein wenig Angst, dass überhaupt keine Leseproben bei mir eingehen würden. So wie man im Sportunterricht immer fürchtete, dass man in kein Team gewählt wird. Schließlich ist Fiktion fetzt kein Blog, der eine riesige Leserschaft hat und zudem habe ich hier in letzter Zeit viel über viktorianische Detektive gebloggt, was, wie ich fürchtete, bei einem Preis für deutschsprachige Gegenwartsliteratur eher abschreckend wirken könnte. Aber es sind dann doch einige Leseproben bei mir gelandet – 16 insgesamt. An dieser Stelle einmal vielen Dank an alle Autorinnen und Autoren, die ihr Vertrauen in mich gesetzt haben. Die Leseproben waren unglaublich vielfältig – von erotischen Abenteuern, Coming-of-Age Geschichten, bis zu gesellschaftskritischen Romanen war alles dabei.

Ich ging an die Sache heran, wie bei einem Besuch im Lieblingsbuchladen. Die Leseproben waren gewissermaßen die Klappentexte der Bücher, die man dort aus den Regalen zieht. Manche las ich ganz, bei anderen merkte ich schnell, dass sie nicht zu mir passen würden. Im Buchladen mache ich es dann so, dass ich die Bücher, deren Klappentexte mich überzeugen, in eine stille Ecke trage und dann in aller Ruhe darin schmökere. Das habe ich auch hier getan. Vier Leseproben haben mich besonders angesprochen und so habe ich die Autor:innen um die kompletten Manuskripte gebeten.
Es war eine ziemlich ungewöhnliche Leseerfahrung für mich. Denn normalerweise lese ich „fertige“ Bücher. Dies hier waren jedoch weitestgehend unlektorierte Manuskripte. Das bedeutete eine kleine Umstellung. Aber es war in jedem Fall eine interessante Erfahrung und es machte unglaublich Spaß, darüber nachzudenken, wie der Roman wohl bei der Veröffentlichung aussehen könnte.

Die Spannung steigt

Nun dachte ich aber natürlich, dass ich mich, wenn ich die Manuskripte erstmal vor mir habe, schnell entscheiden könnte. Man kennt das ja: Man liest ein paar Seiten und merkt dann: Das ist nichts für mich. Hier war das jedoch erst einmal nicht der Fall. Vor allem sprachlich überzeugten alle vier und immer, wenn ich dachte: „Ja das wird mein Favorit“, las ich ein paar Seiten vom nächsten Buch und dachte davon dasselbe. Bis ich mit den Büchern ca. zur Hälfte durch war, hatte ich also keinen klaren Favoriten ins Auge gefasst. Dann jedoch setzte einer der Romane zum Überholmanöver an. Ich merke immer, dass ich ein Buch mag, wenn mich Story und Charaktere auch beschäftigen, während ich das Buch grade nicht lese. Wenn ich also während des Tages darüber nachdenke, wie es wohl weitergeht. Und – oh ja – bei diesem Roman wollte ich unbedingt wissen, wie die Geschichte ausgeht, wollte weiterlesen, bis nichts mehr vom Buch übrig war.

AND THE WINNER IS…

Welcher Roman war es also, der mich so in den Bann gezogen hat? Wen möchte ich für den Blogbuster Preis ins Rennen schicken? Ganz klar:

Die Klassenkameradin von Martina Berscheid!

Worum geht es in diesem Roman?
Evas Leben scheint nach außen hin vollkommen normal: Ehemann, Haus, Tochter – ein Leben im Kleinstadtidyll. Doch Eva fühlt sich eingeengt durch den Alltag in einem kleinen Örtchen, durch ihren Ehemann, dessen Fürsorge und Kontrollzwang sie erdrücken, durch ein Leben, das so viel weniger bietet, als Eva sich in ihrer Jugend ausgemalt hatte. Auf einem Klassentreffen trifft sie schließlich die selbstbewusste Agnès – eine Femme Fatale, deren extravagantes Leben auf sie einen unwiderstehlichen Reiz ausübt. So sehr, dass Eva beginnt, ihren Lebensstil zu kopieren. Als Agnès auf Geschäftsreise geht und Eva ihre Wohnung hütet, schlüpft sie in die Rolle der „Vivian“, und taucht ein in Agnès‘ Welt des Rausches und des Vergnügens. Doch es ist nicht alles Gold, was glänzt. Nach und nach eröffnen sich dunkle Geheimnisse, die unter der schillernden Fassade von Agnés‘ Leben schlummern…

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Interview mit Alexa Hennig von Lange

Alexa Hennig von Lange ist eine der bekanntesten Autorinnen ihrer Generation und in diesem Jahr Mitglied der Fachjury beim Blogbuster-Preis. Tobias Nazemi hat sich mit ihr über das Schreiben, die Schwierigkeiten, den richtigen Verlag zu finden und die Rolle von Blogs und Social Media ausgetauscht. 

Was hat dich an der Aufgabe gereizt, in der Jury des Blogbuster-Preises mitzumachen?

AHvL: Mich interessieren grundsätzlich erzählerische Texte. Ich finde es spannend, wie sich der jeweilige Autor seinem Thema nähert und daraus kann ich immer wieder auch für mich Erkenntnisse ableiten. Gleichzeitig fühle ich mich in meiner Funktion als Jurymitglied natürlich auch an meine schreiberische Anfangszeit erinnert, in der ich darauf hoffte, dass irgendjemand, der nicht meine Mutter oder mein Vater ist, mein Manuskript liest und mir mitleidlos seine Eindrücke mitteilt.

Wie war das in den Neunzigern, als du das Manuskript deines Debütromans Relax fertig hattest? Hast du damals sofort einen Verlag gefunden oder musstest du auch lange suchen?

Meine beste Freundin hat mir damals geholfen, einen geeigneten Verlag für mein Manuskript zu finden. Das heißt, meine Freundin hat sich die Programme von verschiedenen Verlagen angesehen und dann zu mir gesagt: „Da musst Du jetzt Deinen Text hinschicken.“ Ich selbst wäre nie so pfiffig gewesen. Auf diese Weise bin ich sehr zügig an meinen ersten Verlag gekommen. Ich bin meiner Freundin noch heute dankbar für diese Hilfe.

Ist es heutzutage eher leichter oder schwerer mit einem Romanmanuskript bei einem Verlag unterzukommen?

Ich denke, es ist genauso leicht oder schwer wie vor zweiundzwanzig Jahren. Ich bin sicher: ein ansprechendes Manuskript wird auch verlegt. Nur ist die Masse an Neuerscheinungen inzwischen enorm. Davon sollte man sich nicht beirren lassen.

Braucht man in Zeiten des Selfpublishings überhaupt noch einen Verlag?

Das kann ich ganz schwer beantworten. Dazu kenne ich mich einfach zu wenig mit Selfpublishing aus. In jedem Fall kann ich sagen: Ich liebe meinen Verlag und ich bin unendlich froh, dass ich bei Dumont mein schreiberisches Zuhause gefunden habe. So bin ich in ständiger Auseinandersetzung über meine Gedanken, Ideen und Überlegungen. Das ist natürlich ein sehr progressiver Prozess.

Der Buchmarkt hat sich extrem gewandelt. Ist es in deinen Augen überhaupt noch attraktiv (finanziell und in Sachen ‚fame‘) Buchautor/in zu sein? Würdest du deinen Kindern dazu raten?

Ich schreibe ja nicht zuerst für die Berühmtheit, sondern weil ich nicht anders kann. Das Schreiben ist so eng mit mir verwoben, dass ich es nicht von mir trennen kann. Daher muss ich unter Umständen auch damit leben, wenn ein Buch mal nicht so gut funktioniert. Als Schriftsteller lernt man sehr schnell, dass dieser Beruf absolut wechselhaft ist. Und mit dieser Wechselhaftigkeit lernt man zu existieren. Das hilft auch in anderen Lebensbereichen. Ich würde meinen Kindern immer dazu raten, wenn ich spüre, dass das Schreiben ihre Erfüllung ist.

Wie schätzt du generell die Bedeutung von Bloggern/Instagrammern/Youtubern bei der Literaturvermittlung ein?

Ich habe nur gute Erfahrungen gemacht mit Bloggern, Instagrammern und Youtubern. Ich freue mich, dass es diese Verbreitungs- und vor allen Dingen Rezensionsmöglichkeiten gibt. Sie sind sehr direkt und geben mir als Schreiber schnell Rückmeldung dazu, wie meine Bücher empfunden und verstanden werden. Das sind für mich gute Reflektionshilfen, da sie oft spontan, ernsthaft und doch intuitiv sind.

Gibt es Blogs/Kanäle, die du selber verfolgst? Wenn ja, warum?

„Buchrevier“ lesen mein Mann und ich regelmäßig, weil dort die Bücher auftauchen, die uns interessieren, und die auf eine Art und Weise gelesen und rezensiert sind, dass die Besprechungen einen mehrschichtigen Eindruck vermitteln. Ansonsten lese ich auf Instagram immer wieder Kurzrezensionen, so bekomme ich noch allerhand Neuerscheinungen mit. Allerdings muss ich sagen, dass ich aus Zeitgründen generell begrenzte Lesekapazitäten habe.

Du bist als Autorin auf Social Media sehr aktiv. Ist das für Dich ein Marketing-Instrument? Oder, was ist Dein Antrieb dabei?

Interessante Frage. Auf der einen Seite ist es natürlich ein Marketing-Instrument, auf der anderen Seite ist es eine Möglichkeit, von meinen Leserinnen und Lesern zu erfahren, wie sie mein jeweiliges Buch gelesen und interpretiert haben. Das vergrößert mein Verständnis für mein Schreiben. Ähnlich wie die Fragerunden nach Lesungen. Für mich unverzichtbar. Da lerne ich eigentlich erst mein jeweiliges Buch richtig kennen.

Wie wichtig ist die Persönlichkeit des Autors für den Erfolg eines Buches? Sollte man sich politisch äußern, Themen besetzen, Gesicht zeigen?

Das muss jeder für sich selbst herausfinden und entscheiden. Früher kam es mir unerlässlich vor, ständig irgendwo aufzutauchen. Heute ist dieses Bedürfnis kaum noch vorhanden. Ich finde es schön, mich auf mein Schreiben konzentrieren zu können und mit meinen Büchern hoffentlich all das zu erzählen und zu reflektieren, was mich gedanklich wie gefühlsmäßig beschäftigt, somit gesellschaftliche Bewegungen zu erfassen und gleichzeitig meinen Leserinnen und Lesern in ihrem Erleben und Empfinden aus dem Herzen zu sprechen. Und mich darüber mit ihnen zu verbinden.

Fräulein Julias Favoriten

von Julia Schmitz

In den letzten Wochen hat sich mein Lesepensum, das berufsbedingt eh schon sehr hoch ist, noch einmal vergrößert: Neun Exposés waren bis Ende Dezember im Rahmen des Blogbuster-Wettbewerbs bei mir gelandet. Einige davon habe ich aus verschiedenen Gründen sofort aussortiert (wenn der Phrasendrescher über die Stilblütenwiese mäht, bin ich raus, sorry), andere habe ich mehrmals in die Hand genommen, überlegt, abgewogen, nachgedacht.

Vier Manuskripte habe ich letztendlich angefordert – und drei davon haben es auf meine Shortlist geschafft. Welche das sind?

Elsbeth Schneider
Übergriffe

Zitat: „Sie stellte sich vor, wie seine Fragen von ihren Trommelfellen abprallten wie ein ungeschickter Sportler von einem zu straff gespannten Trampolin“


Ulla Wald
Tag und Nacht

Zitat: „Kisch hatte etwas von einem alten Seebären. Seine Anwesenheit genügte, und schon roch es nach einer Mischung aus Tabak und Whisky. Selbst sein Lachen klang nach einem torfigen Laphroaig.“


Kerstin Meixner
Am Fuß des Berges

Zitat: „‚Bist du deswegen mit uns befreundet? Weil wir etwas über Bomben wissen?‘ Sie nimmt eine neue Zigarette aus der Packung. ‚Nein. Ich bin mit euch befreundet, weil wir alle schon miteinander gefickt haben.’“

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