Leseprobe: Miku Sophie Kühmel – “Fellwechsel”

Fellwechsel (Auszug)

Der kleine Flachbau beherbergt ein Schnellrestaurant und einen Minimarkt, hinter dessen Tresen ein schlacksiger Teenager steht, der sehr blass und sehr müde ist, die Haare sehr kaputt und sehr schwarz gefärbt. Rina taucht aus Wolffs Jacke hervor und sieht sich kurz zwischen den drei Regalen um. Aus einem Lautsprecher in der Ecke surren die repetitiven drei Geigentöne von Bittersweet Symphony. Es gibt Coca Cola, Mars und Snicker’s und eine offenbar isländische Schokolade, die nach einem Stern benannt ist. Sonst gibt es nur Süßigkeiten, die auf die eine oder andere Art Lakritz enthalten. In den übrigen Regalfächern stapeln sich Konserven, Tütensuppen, ein paar runzlige Wurzelgemüse und eine kleine Pyramide perfekter, hellgrün schimmernder Äpfel. Die Tiefkühlkost ist wesentlich vielfältiger, eine Menge gefrorener Fisch, im ganzen Tier oder Stückchen und allen Farben kann durchwühlt werden. Sonst noch Quark, in verschiedenen Sorten. An der Kasse kann man keine Feuerzeuge, aber Schlüsselanhänger kaufen, kleine Muscheln oder kitschige Plüschtiere mit gelben Plastikaugen. Es ist nicht zu erkennen, um welche Tiere es sich dabei handeln soll. Und doch hat Rina das Gefühl, eines wieder zu erkennen… Refur, murmelt Wolff, der plötzlich wieder hinter ihr steht. Der Eisfuchs. Er hat die Zeit genutzt und im rechten Bistroteil der Raststätte zwei Tassen Kaffee besorgt, die er mit seinen großen, groben Händen auf einem Tablett balanciert, zusammen mit zwei Tellern voller dunkelbrauner Fladenbrote und ein paar kleiner Töpfchen – Marmelade, Erdnussbutter und Heringshappen. Weil es aussieht, als ob Wolff im Servieren nicht geübt ist, nimmt Rina ihm eilig alles ab und folgt ihm in den Sitzbereich. Der Boden ist auch hier hellbeige gekachelt und von Schneematsch überzogen, Spuren früherer Gäste. Trotzdem ist es warm, ein bisschen dampfig. Von dem 90er-Jahre-Radio ist nichts mehr zu hören, eine einzelne, gerupft aussehende ältere Frau in einem Eishockeytrikot starrt auf den Sportsender, der in einem Fernseher, der hoch über den Köpfen der Gäste angebracht ist, flimmert. Wolff und sie nicken sich kurz zu, obwohl Rina weiß, dass sie sich nicht kennen. Sie nickt auch schnell hinüber, dabei ist es längst Sekunden zu spät dafür, dann setzen sie sich auf zwei der weichen Kunstlederbänke, die, ferrarirot, vor den Fenstern stehen. Rina platziert sich so, dass sie das Auto im Auge hat – auch, wenn das in einer Gegend wie dieser vielleicht albern ist. Kaum haben sie die Straße verlassen, scheint das Wetter ein wenig besser zu werden. Vielleicht ist es morgens noch verschlafen, denkt Rina kurz. Jedenfalls zirkeln die Schneeflocken jetzt kleiner und vereinzelter durch die Luft, mit größerem Abstand, am Himmel gibt es ein paar Löcher in der Wolkendecke. Nur einige Meter weiter, gleich auf der anderen Straßenseite, liegt der schwarze Vulkanstrand. Rina erkennt jetzt in den Wellen, die in den Fjord hinein rollen und zwischen den groben schwarzen Felsen aufspritzen, das satte Türkis wieder, das sie manchmal aus den Konferenzsälen heraus als Streifen hinter der Stadtgrenze erahnt hat. Das weiß, das schwarz und das blau, alle drei sind rein und klar und in diesem Moment ganz unverwüstlich. Wolffs Augen sind aus denselben Farben gemacht. Nur schwerlich wendet Rina den Blick wieder ab und sich dem Frühstück zu. Ich hab früher gekellnert, erklärt sie, während sie mit ein paar Handgriffen Teller, Tassen und Besteck vor ihnen drapiert. Als wüsste er es, hat Wolff keinen Zucker mitgebracht. Sie schaut vorsichtig zu ihm hinüber, wie er mit skeptischem Blick die Papierserviette unter der Hand dreht, die Rina ihm zu einem Dreieckstuch gefaltet und hingeschoben hat – als würde er überlegen, ob er sie in seinem Schoß auffalten, in den Krage seines Pullovers stecken oder einfach ignorieren soll. Danke für das.. Sieht gut aus. Wolff schaut sie kurz an, schweigt, lächelt vielleicht. Während Rina sich mit der Tasse in den Händen und der Nase über dem Dampf zurück lehnt, schmiert er Erdnussbutter auf seinen Fladen und öffnet die winzige Dose Heringshappen. Er reiht die kleinen Stückchen Fisch behutsam auf das Brot, rollt es mit seinen großen, ein bisschen platten Fingern zusammen und schiebt es in das schwarze Loch, das sich lippenlos in der Fläche seines Bartes auftut. Wolff kaut, wie er geht. Langsam, ohne Bedacht, ohne Druck. Selbstverständlich. Er schnauft leise. Da, wo vorher Schnee in seinem Bart gehangen hat, rinnen nun hier und da Wassertropfen durch die krausen, silbernen Haare. Rina spürt, wie der Kaffee in langen Bahnen bis in ihren Bauch hinunter rinnt, wie ihr Magen ärgerlich knurrt, und versucht es mit Marmelade. Die riecht, obwohl in dieses winzige Gläschen verpackt und ein bisschen beschlagen, beeriger als alles, woran Rina sich spontan erinnern kann. So vergisst sie all ihre Fragen und isst schneller auf als Wolff selbst. Wenig fühlt sich so befriedigend an, wie einen solchen Kältehunger zu stillen. Schnell werden ihre Wangen und Lippen und Finger und Zehen ganz warm. Beide seufzen. Dann treffen sich ihre Blicke. Wir werden übernachten müssen, hab ich Recht? Wir schaffen es niemals, durchzufahren. Nicht bei dem Wetter. Nun lehnt auch Wolff sich zurück, wirft kurz einen Blick und einen isländischen Satz über die Schulter. Ohne ersichtlich zu reagieren, zieht die verlauste, dürre Frau irgendwo die Fernbedienung her und schaltet – auf den Teletext. Rina weiß nicht, wie lange sie keinen Teletext mehr gesehen hat. Neonbunte Zahlen und Buchstaben, denen sie nichts zuordnen kann, flackern über den schwarzen Bildschirm. Weil sie nichts versteht, versucht Rina, stattdessen Wolffs Profil zu lesen, der sich nun, ein wenig schnaubend, halb zum Fernseher umgedreht hat – doch das erscheint ebenso hoffnungslos. Seine Augen sind ruhig und fokussiert, so wie die ganze Zeit über schon und die untere Hälfte seines Gesichts ist ohnehin von Haaren verdeckt. Langsam dreht Wolf sich zurück und räumt, sich räuspernd, Teller und Besteck zusammen. Eis, Schnee, Regen, Hagel – am Ende fließt alles in die gleiche Mündung und wird zu Wellen im Meer. Rina ist sich nicht sicher, was das heißen soll. Doch sie muss Wolff vertrauen. Was bleibt ihr anderes übrig? Bevor sie geht kauft Rina eine Tafel Sirius mit Haselnüssen und einen kleinen Fuchs. Sie hat zuerst auch darauf bestehen wollen, ihren Anteil am Frühstück zu bezahlen, doch Wolffs bärige Hände mit den dicken Handschuhen produzieren regelrecht Windstöße, so heftig winkt er ab. Und so fühlt sich Rina wie ein Kind, kuschelt sich auf ihren Beifahrersitz, die Heizung des Autos ist inzwischen vernünftig angelaufen, und überlässt Wolff alles Weitere. Schließlich ist er Taxifahrer, auch wenn das hier in der Einöde vielleicht nicht viel bedeutet, und es gibt kaum Abzweige auf denen man sich verfahren könnte. Und von den wenigen Seitenstraßen ist wiederum die Hälfte gesperrt, wegen Vereisungen, Räumungsbedarf. Wieder trommeln die Steinchen von unten gegen den Wagen, mit einem sanften Schlag auf das Armaturenbrett hat Wolff das Radio in den Griff bekommen und nun summt leiser R’n’B – für Folklore schein er wenig übrig zu haben – durch die Fahrkabine. Rina dreht bedächtig den kleinen, kitschigen Schlüsselanhänger in ihren Händen und starrt in die gelben Plastikknöpfe, die das Tier als Augen ins Gesicht gesteckt bekommen hat. Als sie den letzten Fjord schon fast hinter sich lassen – sie überqueren eine niedrige, aber sehr lange Brücke, die zur anderen Seite führt – wedelt Rina klimpernd mit dem Tier in ihrer Hand. Wie hast du dazu gesagt? Wolff blickt kurz zur Seite. Refur, brummt er, Polarfüchse. Einzige natürliche Säugetiere in Island. – Achja. Rina kommt das seltsam vor, denn das Ding in ihren Händen hat keine Ähnlichkeit mit einem Fuchs. Sicher, es hat vier Beine und einen Schwanz. Doch die Ohren sind winzig kleine Dreiecke, die Schnauze fast nagetierhaft spitz und das Fell… sie streicht durch die dünnen Haare. Es ist zweifelsohne echtes Haar, Schaf wahrscheinlich, oder Pony. Das Fell ist Weiß, nur, wenn man mit den Daumen gegen den Strich über Rücken und Bauch der kleinen Figur wühlt, kann man die pechschwarzen Ansätze erkennen. Schon kleben einige der feinen Haare an Rinas schwitzigen Fingern und sie zwirbelt sie hin und her. Seltsame Tiere, diese Füchse. Rina horcht auf, weil Wolffs Tonfall sich merklich verändert hat. Sein Gesicht sieht auf einmal sehr finster aus. Wieder so unheimlich wie am Anfang. Als spreche er nicht gern über die Füchse. Rina ist sich bewusst, dass sie in der letzten Stunde mehr geredet haben, als in allen Tagen davor. Deshalb schweigt sie jetzt und auch, weil die Fladenbrote, der übrige beerige Geschmack auf der Zunge und die warmen, von der Heizung beblasenen Füße sie entsetzlich müde machen. Es ist hell. Doch noch immer sieht man keine Sonne am Himmel.

Rina erwacht von heftigem Gerumpel. Das Knistern der Kieselsteine ist verschwunden und gerade noch erspäht sie im Hochschrecken, dass das schwarze Meer und der Geröllstrand nach Links ins Nichts verschwinden. Sie fahren bergauf. Und rings um sie herum ist binnen Sekunden alles nur noch weiß. Die Straße vor ihnen ist nur durch die kleinen gelben Pfeiler zu erkennen, die im Sekundentakt aus den Schneewirbeln auf und wieder in sie abtauchen. Ungläubig starrt Rina geradeaus. Zwischenzeitlich kann man nicht weiter als bis ans Ende der Kühlerhaube sehen. Was.. – Blizzard, brummt Wolff. Er hat eine Matrix-Sonnenbrille mit schmalen, eckigen Gläsern aufgesetzt. Durch die, sagt er, kann er gleich doppelt so viel sehen. Es blendet, Rinas Augen tränen, das Schlagen in ihrer Brust wird schneller. Um sie herum ist es wie unendlich dicker Nebel, doch dabei faucht auch noch wild der Sturm. Das Doppelte von Null bleibt Null! stößt sie durch die Zähne und stiert ungläubig ins Nichts. Wolff lacht nur leise und Rina zieht hektisch die Landkarte hervor. Sie fahren nun immer weiter südwärts, überqueren eine Art Gebirgskamm, um dann die westliche Küstenseite entlang bis ins Inselinnere, auf die Ringstraße zu fahren. Eigentlich ist die Strecke kaum länger als einmal ihr Daumen. Doch sekündlich scheint der Schnee vor ihnen dichter zu werden und die Sonne sich immer weiter zu entfernen. Rina weiß nicht, was sie tun soll. Sie kann nicht helfen. Trotzdem starrt sie konzentriert und Minuten lang ohne zu blinzeln die Bergstraße hinauf, die immer steiler ansteigt. Nur ab und an gibt es zwischen den Verwehungen überhaupt Lücken, Augenblicke, in denen man die Umgebung erahnen kann, die irgendwie aus rissigen Linien von Fels und vor allem Eis besteht. Es fühlt sich an, wie auf einem anderen Planeten. Rina bemüht sich, nicht hochzuschrecken, auch, wenn die gelben Pfeiler manchmal furchterregend nah an der Beifahrertür vorbei gleiten. Die Sekunden von Pfeiler zu Pfeiler fühlen sich zerrend lang an und ihre Augen schmerzen vom angestrengten Starren, immer wieder fleht sie, dass der nächste Pfeiler auftauchen möge. Sie weiß, ohne dass Wolff ihr das sagen muss: eine falsche Bewegung des Lenkrads, ein zu langes Zögern oder zu schnelles Gasgeben kann sie jetzt völlig von der schmalen Straße abbringen. Und nach dem Schneefall der letzten Stunden würde das für das mickrige Taxi ein verfrühtes Ende der Tour bedeuten. Deshalb lehnt sie sich nach vorne, legt die Ellbogen auf den Knien ab und berührt mit der Stirn beinahe die Windschutzscheibe, starrt den Sturm kämpferisch an wie bei einem Schachturnier. Pass auf deine Augen auf, bemerkt Wolff, der Schnee hat die Leute schon blind gemacht. Dabei klingt seine Stimme so ruhig, dass Rina ihm am Liebsten an den Hals springen will – mit einem kleinen Ruck ist dann auch der steile Anstieg vorbei und vor ihnen liegt, wie aus dem Nichts, ein großes Plateau. Um sie herum zirkeln immer noch die Schneewolken, Rina kann nicht bemessen, wie weit sie fahren und wann der Abstieg wieder beginnen wird. Bis hierhin hätte sie bestritten, dass es so viele Weißtöne geben könnte. Manches Mal faucht das kleine Auto, und Rina ist sich auch nicht ganz sicher, ob es von Anfang an so schlingernd gefahren ist. Der Wind heult wild über das Feld und trifft den Wagen mit voller Breitseite. Am liebsten würde sie sich im Fußraum zusammen kauern und warten, bis alles vorüber ist. Doch sie ist erwachsen und etwas anderes soll auch Wolff nicht denken. Sie fahren im Schritttempo. Wenn die Sicht völlig unmöglich ist und noch die nahesten gelben Pfeiler nicht mehr zu erkennen sind, bleiben sie einfach stehen. Dann schaltet Wolff den Warnblinker ein, der mit seinem Takt das Fauchen des Sturms untermalt. Mehrmals geht dabei der Wagen aus und immer wieder kneift Rina kurz die Augen fest zusammen und wünscht sich das wiederanspringende Geräusch des Motors mehr als alles andere auf der Welt. Noch nie war sie so sehr im Nirgendwo, völlig verloren. Hier oben könnten sie einfach verschwinden und nie wieder auftauchen und tagelang würde sie noch nicht einmal irgendwer suchen können. Und dann, plötzlich, sind da wieder leuchtend gelbe Augen, die näher kommen, die Mauer des Schneesturms durchbrechen: mit ihren massigen Karosserien reißen zwei ziegelrote Landrover einen Tunnel in die Tundra, die sich vor ihnen ausbreitet. Unter der Schneedecke ist die Straße vor ihnen sehr schmal. Und diese beiden Geländewagen fahren nicht Schritttempo, im Gegenteil, sie rasen auf sie zu und nur noch in letzter Sekunde fahren sie an ihnen vorbei, die Fahrer erkennt Rina nicht, da pulvert schon der von ihnen aufgewirbelte Schnee über die gesamte linke Seite ihres Wagens. Ungläubig sieht Rina im Rückspiegel zu, wie die beiden Autos mitten in eine besonders dichte Schneewehe jagen. Wolff muss gerade wieder stehen bleiben. Manche fahren an solchen Tagen extra raus, lassen sich einschneien…, sagt er, als er ihren Blick bemerkt. Macht sie süchtig, der Kick, die Gefahr. Da sind sie allein mit ihrem Spaten und graben sich selbst raus und fahren zurück nach Hause und erzählen’s da ganz stolz rum. Er lehnt sich zurück und nimmt kurz seine Sonnenbrille ab. Fassungslos zeigt sie erst auf den Rückspiegel, dann in die Richtung, in die die beiden Autos verschwunden sind. Aber wieso?? Haben die nichts anderes zu tun?, durch Wolffs Bart blitzt kurz sein erstaunlich weißes Grinsen. Sind natürlich alles nur Männer, die sowas machen. Natürlich, schnaubt Rina und schüttelt sich ein bisschen, und was denken ihre Frauen? Jetzt lacht Wolff sogar kurz auf. Es ist leise, nicht so tief wie erwartet, aber rau, ein bisschen angeschlagen: Weißt doch, wie Männer sind. Müssen sich immer beweisen. Glaub, die Frauen sind froh, wenn sie die nächsten Wochen dann ihre Ruhe vor denen haben. Rina muss sich nicht fragen, ob Wolff selbst sich schon einmal mit Absicht festgefahren hat. Er ist zu ruhig, zu klug um so etwas zu tun. Sie denkt an Henning. Der ist hinterm Steuer noch schneller nervös als sowieso und steigt, wenn möglich, niemals selbst auf den Fahrersitz. Das Wetter wird nicht besser und sie sehen auch kein einziges anderes Auto mehr – bis auf einen blauen Fiat Panda, der auf der Seite am Straßenrand liegt und schon bis an die Rückspiegel eingeschneit ist. Wolff setzt kurz den Warnblinker und lässt das Fenster an Rinas Seite hinunter. Wie um unter Wasser zu gehen, hält sie die Luft an und streckt den Kopf nach draußen. Der andere Wagen ist leer – das kann sie gerade noch sehen, dann trifft sie ein eisiger, fester Windstoß wie eine Kanonenkugel gegen die linke Seite ihres Gesichts und sie wird wieder in den Innenraum des Wagens zurückgeschleudert. Das Fenster fährt wieder hoch. Um sie herum – im Inneren des Wagens – rieselt feiner Schnee. Vielleicht sind es auch nur die Sterne, die Rina vom Schlag ins Gesicht vor den Augen tanzen. Wo sind die Leute, die gefahren sind? Die aus dem Panda? fragt sie benommen, auch wenn sie gerade bemerkt, dass der kalte Wind ihr auf sonderbare Weise gut getan hat. Sie fühlt sich plötzlich sehr wach und klar. Hat der Winterdienst schon geholt. Rina sieht kurz zwischen Wolff und der verschneiten Straße vor ihnen hin und her und will ihm nicht recht glauben – nach allem, was sie hier gerade sieht, ist eine Räumung schlicht unmöglich. Da, siehst du, kommen sie schon wieder! Und in einigen hundert Metern Entfernung vor ihnen, scheinbar am Ende des Plateaus, flimmert zwischen zwei Schneewehen ein oranges Monster auf. Ein riesiges Mammut von einem Räumfahrzeug wälzt sich durch das Unwetter und lässt, das kann Rina im Näherkommen erkennen, eine dicke Riesenschlange aus Schnee rechts der Straße hinter sich zurück. Sie holen es ein und fahren dicht hinter ihm her, Stück für Stück, zu überholen ist ohnehin ein Risiko und eigentlich erscheint es Rina ziemlich bequem, sich so den Weg direkt vor den Füßen freischaufeln zu lassen. Auf dem Kopf des Wagens kreiselt grell-orange eine Warnleuchte und plötzlich glimmen auch rote Bremslichter auf. Rina hat das Gefühl, dass der Tag schon wieder vorbei ist und es bereits dunkel wird. Was das jetzt wieder soll, fragt Rina verärgert über den Fahrer vor ihnen, doch da kommt schon ein Männlein in fast knielanger Warnweste ans Fenster des Autos gesprungen, Wolff stößt plötzlich ein raues Lachen aus, einen kehligen, seltsamen Laut. Er nimmt seine Sonnenbrille ab und kurbelt die Scheibe nach unten, der andere beugt sich hinab, hält sich ein bisschen am Wagen fest, als könnte der Wind ihn jederzeit bei Seite blasen. Wie alle Isländer hat auch dieser ein sehr eckiges Gesicht, sehr kleine Ohren und sehr helle, in diesem Fall graue Augen. Er wirkt gut gelaunt und ruhig, fast ein wenig beschwingt, der Schneesturm ist sein Element. Die beiden Männer unterhalten sich, offenbar über das Wetter, die Straße. Rina versteht nichts bis auf den Namen des Fremden, Axel, Wolff scheint sie zwar auf isländisch vorzustellen, doch der Fremde nickt nur äußerst knapp und richtet direkt danach seine Aufmerksamkeit wieder auf Wolff, schlägt manchmal sanft auf die Tür, um sein Lachen zu untermalen. Rina lehnt sich zurück, beobachtet die beiden und die vereinzelten Schneeflocken, die ins Innere des Wagens geweht werden und sich sachte auf Lenkrad, Armatur, und Wolffs riesige Arme ablegen. Und sie hört. Das Pfeifen des Windes und den singenden, rollenden Klang dieser seltsamen Sprache. Egal, wie schroff die Stimmen der beiden Männer sind, klingen sie doch zerbrechlich, sachte, fließend. Wie Rehe im Wald und streunende Hunde an toter Küste, denkt Rina kurz. Dann muss sie niesen, Wolff kurbelt das Fenster wieder hoch und fährt an. Sie folgen Axel durch eine enge Passage, hinter der das Räumfahrzeug sehr langsam wendet, und mit winkendem Fahrer wieder zurück in den Sturm rollt. Das Tal vor ihnen empfängt sie mit dämmerndem Himmel.

In Holmavík ist der Schnee dick und fluffig wie Watte, die Häuser sehen aus wie von Playmobil. Klein, bunt, quadratisch, mit roten Giebeldächern sind sie in den Felshang am Rand des Steingrimfjords gesteckt. Der sieht schon anders aus als die nördlicheren Fjorde, bauchiger, flacher, fühlt sich im Dunkeln fast mehr wie ein See als wie das Meer an. Am Hafen, dem ausgedehnten Uferbogen entlang der ersten Häuserreihe des Ortes, schweben nur zwei Fischerboote im Tintenwasser. Sie sehen alt und rostig aus, doch Rina hat bereits gelernt, dass das hier nicht viel zu sagen hat. Die Straßen heißen Hafnarbraut, Vitabraut, Borgabraut. Kein Mensch ist draußen zu sehen, obwohl es hier nicht einmal schneit. Der Tag scheint bereits beendet zu sein. Rinas Lippen fühlen sich rissig an, in den Mundwinkeln hängt ein bitterer Geschmack. Wolff sagt, er wisse schon ein Hotel, dass immer ein Zimmer habe. Daran zweifelt sie nicht. Und nach den Stunden, die sie gerade im Schneesturm durchlebt haben, lehnt sie sich auch dann einfach tief in den Sitz zurück, als das Auto ein wenig schlingert in der Kurve und schließlich an der wie aus dem Nichts in die Höhe wachsenden Straße Brattabrekka keuchend und hustend der Motor versagt. Immer wieder schliddern sie Stückweise zurück in Richtung Meer, nur zwei, der Meter, dann werden sie kippen, rückwärts den Abhang hinunter. Rina sieht die Uferkante im Rückspiegel näher kommen. Wolff knurrt tief, nun krallt sie ihre Finger doch wieder in den Sitz unter sich, und mit einem Schwung, als hätte ein Riese sie von hinten einmal ordentlich angestoßen, rutschen sie schließlich den Berg hinauf bis in die letzte Reihe der Häuser am Hang. Der Vorteil der Höhe erschließt sich erst im besten Zimmer des kleinen Hotels, das (natürlich) bis auf sie keine weiteren Gäste beherbergt: Sowohl vom verschneiten Balkon als auch aus den großen Südfenstern kann man den ganzen Fjord überblicken. Vielleicht gibt’s Nordlichter, hat Wolff gesagt und dabei fast verschmitzt ausgesehen. Seitdem steht Rina hier und starrt in den Himmel. Ihr ist ohnehin nicht danach, sich für diese eine überteuerte Übernachtung häuslich einzurichten. Die Wiederkehr der 70er-Jahre-Möbel macht ihr schlechte Laune und das Internetsignal reicht nicht bis in dieses sogenannte beste Zimmer. Doch der Portier, ein untersetzter mittelalter Mann in Jogginghose, ist bereits wieder nach Hause gegangen, nachdem er ihnen schlaftrunken, als sei es schon nach Mitternacht, das Kartenlesegerät hingehalten und die Schlüssel über den Tresen geschoben hat. Deshalb kann es auch nur Wolff sein, der jetzt an der Tür klopft. Seit sie das Gebirge hinter sich gebracht haben, scheint er äußerst entspannt, offensichtlich ist das der schlimmste Teil der Strecke gewesen, und seine Stimme ist fast euphorisch, als er den haarigen Kopf ins Zimmer steckt und ihr eine Überraschung ankündigt: Es gibt eine Badewanne. Tooll, rutscht es Rina etwas zu lang gezogen heraus, doch weil sie nichts Besseres zu tun findet, steigt sie schon einige Minuten später seufzend in das heiße Wasser, dass dank eines bereitstehenden Badezusatzes kaum nach Schwefel reicht. Schweiß und Gänsehaut werden langsam aufgeweicht und die Haare werden angenehm schwerelos im Wasser. Die Wanne ist so lang und so tief, dass Rina zum ersten Mal seit Langem vom Scheitel bis zur Ferse unter Wasser sinken kann. Sie öffnet die Augen einen Spalt breit, sodass ihre Wimpern sie noch schützen können und sie trotzdem verschwommen durch das milchige Grün die orange Kugel erkennt, die als Deckenleuchte angebracht ist. Das Wasser legt sich angenehm dicht und warm in ihre Ohren und dämpft die kalte Stille in etwas ab, das Rina ein Gefühl von zu Hause gibt. Das Land hat ein ganz vereinnahmendes, grollendes Geräusch, einen Rhythmus, der immer fort, stetig, ständig, ruhig besteht. Er ist da, egal ob Winde und Stürme über die Oberfläche der Insel zirkeln, kreiseln, blasen. Es ist der Pulsschlag, dessen Schallwellen Island wie eine Kuppel, ein Schutzzauber umgeben. Niemand darf die Insel verlassen, und einfach so wiederkommen. Nicht einmal die Pferde. Als ob der Isländer von irgendetwas rein sei, und als ob alle Außenwelt diese Reinheit verderbte. In manchen Minuten spürt Rina eine Sehnsucht nach solcher Sauberkeit, diesen kühlen, klaren Zug, der jede von Wolffs Bewegungen umweht, und der am deutlichsten und stärksten in seinem Blick liegt. Seinen Augen. Das ist seine Ähnlichkeit mit den Vulkanen, Geysiren, den Wellen und den Steinstränden. Und obwohl die Häuser modern sind, sehen sie alle aus, als stünden sie schon seit Äonen am gleichen Fleck, trotzten den Gezeiten in einer widerständigen Nachgiebigkeit, wie Rina sie kaum begreifen kann. Ihr Bauch fühlt sich weich und entspannt an. Dann dringt durch die Wasserwand etwas, ein Quaken, Piepsen. Sofort schreckt sie auf und klettert, Wellen schlagend, aus der Wanne. Unter dem kleinen Haufen Kleidung, den sie auf dem Klodeckel hinterlassen hat, fischt sie das Telefon hervor. Erst rutscht es ihr aus den glitschigen Händen, sie hebt es hastig auf und hockt sich nackt auf den gräulichen Badteppich. Ihr ist ein bisschen schwindelig. Denkst du an mich? Ein Zittern durchfährt Rina, ein kleiner Stich in der Mitte ihres Körpers, dann das Grinsen auf ihrem Gesicht, hinter ihrer Stirn fängt es an zu rasen. Henning Henning Henning.

Als Henning Rina nach der vorletzten Zivilrecht-Vorlesung anspricht, haben ihre Mobiltelefone noch eine Tastatur, die größer ist als das eigentliche Display. Das Grundstudium hat Rina in ihrer Heimat in gewohnter Gebirgsnähe und vornehmlich von ihrem Bett aus hinter sich gebracht. So ist Hamburg ganz neu für Rina, ihr WG-Zimmer nur kalter Linoleumboden, ein Bett und das obligatorische Bücherregal. Henning lebt noch bei seinen Eltern. Die besitzen ein Haus in einem der schöneren Bezirke am Alsterufer mit einem ulkigen Namen. Sie sind jung und modern und ganz anders als Ida, Rinas eigene Mutter. Mit ihnen kann man sprechen, als wäre gar kein Altersunterschied da, sie scheinen immer ausgeschlafene, kluge, kultivierte und entspannte Leute zu sein. Im Esszimmer hängen große abstrakte Malereien, die Fenster sind bodentief und sauber und es gibt keinerlei Haustiere. Hennings Zimmer nimmt fast den gesamten Dachstuhl ein und schon zu dieser Zeit hat er einen bestechenden Geschmack. Schnell verbringt Rina mehr Zeit hier als in ihrer eigenen Wohnung. Hennings Schreibtisch ist groß genug für zwei, und so sitzen sie über die letzten Semester immer Seite an Seite. Und wenn sie nicht lernen, dann erzählt Henning ihr von seinen Träumen, erfolgreich um die Welt zu reisen, die Nächte mit dem Laptop auf den Knien im Flugzeug und zum auftanken immer wieder zurück in den Heimathafen. Er ist ein großer Geschichtenerzähler, er strahlt, er macht und Rina hakt sich bald ein in seine Fantasie, wird Teil von ihr. Sie beginnen, gemeinsam zu planen, wen man wie für sich gewinnen müsse, wo Leerstellen sind, wer sich vielleicht in der Zukunft häufiger verteidigen können muss. Und da das Meer nun einmal vor ihrer Nase liegt und auch die Kontakte von Hennings Vater in diese Richtung weisen, entscheiden sie sich für die Fischereiindustrie. Ihre Kanzlei soll zunächst weiterhin Hennings Kinderzimmer bleiben, und kaum haben sie ihre Examensarbeiten abgegeben, lassen sie sich akkreditieren für diese Fachmesse am Ende der Welt. Das soll der Absprung sein auf ein Floß der Selbstständigkeit, ausgerüstet mit einem kleinen Portmonee voller Visitenkarten, die Fred Henning vor dem Abflug in die Hand gedrückt hat. Rina steht daneben und hält so lange seinen Regenschirm mit dem speckigen Knubbelgriff fest. Von ihrer Fischallergie hat sie Henning nichts erzählt.

Während der zwanzig Meter Weg vom Hotel bis zum Auto wächst Rinas nassen Haaren eine zarte Eiskruste. Das merkt sie daran, dass ihr Kopf sich plötzlich starr anfühlt. Sie schüttelt ihn, kleine Splitter fliegen von ihren Ohren weg. Es schneit nicht und es geht kaum Wind. Auf der kleinen Anhöhe, nur wenige Schritte vom Hotel entfernt, sieht sie die Kirche des Ortes weiß angeleuchtet in der Schwärze der Nacht stehen und über dem Dach des Kirchturms schlängelt sich etwas in den Himmel. Dicke, breite Flüsse aus grünem und blauem Dunst. Sie sehen ein wenig aus, wie kleine Straßen, auf denen man gut und gern ein kurvenreiches Wettrennen fahren könnte. Es ist ganz still, und die Nordlichter zirkeln völlig selbstverständlich und friedlich vor sich hin. Denkst du an mich? Und Rina lächelt und fragt sich, an wen sie denn sonst denken sollte. Mit roten Händen fasst sie nach dem vereisten Griff an der Kofferraumtür. Natürlich ist der Akku leer gewesen, bevor Rina Henning hat antworten können. Und jetzt gerade gibt es nichts Wichtigeres. Seit Stunden hat sie keinen konstanten Empfang mehr gehabt. Am liebsten würde Rina jetzt gleich weiter fahren nach Reykjavík, doch sie weiß, dass das nicht geht. So weit entfernt vom Äquator gelten noch andere Regeln und die Menschen leben noch in diesem Vertrag mit der Natur, sie ist ihr Arbeitgeber und bestimmt die Geschäftszeiten. Und wer versucht, nachts zu fahren, landet im Straßengraben oder schlimmeres. Als sei es in dieser Einöde, dieser Winzstadt, deren Einwohner sie bis jetzt kaum zu Gesicht bekommen hat, notwendig, hat Wolff ihren großen silbernen Koffer noch mit Decken verhüllt und oben drauf allen möglichen Plunder platziert, den obligatorischen Spaten, den jeder Isländer sicherheitshalber mit sich führt, einen kleinen Eimer, eine alte Thermoskanne, und eine sehr drollige, blau gemusterte Norwegermütze, über die Rina kurz auflachen muss. Denn sie kann sich den grimmigen wilden Mann nicht damit vorstellen. Umsichtig räumt sie alle Habseligkeiten bei Seite und zieht ihren Koffer mit einem Ruck zu sich heran. Schnell will sie das Ladegerät heraus suchen, doch da kommt in der Ecke hinter ihrem Gepäck etwas zum Vorschein, das ihre Aufmerksamkeit erregt. Ein längliches Ding, in raues Leinen eingewickelt. Sie ist sich nicht einmal ganz klar, wieso, doch einen Augenblick später zieht Rina mit spitzen Fingern an dem fleckigen Tuch, das sich langsam aufzurollen beginnt, bis ein glänzender Gegenstand aus Metall auf ihren Koffer fällt und sie erschreckt. Was vor ihr liegt und zuvor in blutgetränkten Stoff gewickelt war, ist, dass weiß sie aus dem Kurs zum Strafrecht, eine doppelläufige Schrotflinte.

Glöggt er gests augath. Ein Grinsen im Bart, unheimlich sieht das plötzlich wieder aus. Der Aufenthaltsraum des Hotels ist totenstill. Die holzgetäfelten Dachschrägen sind orangebraun und hängen so tief, dass man in der kleinen Küchenzeile etwas gebückt stehen muss. Im Wohnbereich geht es. Sie hätte etwas Anderes machen sollen, einen dramatischen Auftritt wählen, einfach direkt auf ihn zielen. Findest Du das vielleicht witzig? Ihre Stimme zittert, wie von selbst hat sie das Duzen begonnen, steht sehr aufrecht, wedelt mit der Waffe in der Hand, die sich dafür eigentlich viel zu schwer anfühlt. Ihr Handgelenk tut schon weh. Der Kloß im Hals auch. Wolff sitzt mit überkreuzten Beinen tief in einem muffigen alten Stoffsessel und sieht sie ruhig an. Was ihre Mutter dazu sagen würde, dass sie hier allein mit einem wildfremden alten Grobian in der Eiswüste steckt? Dass sie kaum gezögert hat, zu einem Fremden ins Auto zu steigen? Dumm dumm dumm schalt sie sich selbst innerlich. Wolffs Augen blitzen, dann schüttelt er langsam den Kopf und streckt die Hand aus. Das sei nichts. Nur zur Verteidigung? Wieder ein Kopfschütteln und ein Lachen, rau, kehlig, aber kurz. Verteidigung? Wogegen? Sie zuckt die Schultern. Mehr eine eigene Hoffnung als eine realistische Idee. Island gilt als eines der sichersten Länder der Welt. Unfälle mit Schusswaffen sind hier in der Statistik jedenfalls Meilen weit hinter Schneestürmen, Gletscherspalten und der Übetrampelung durch Ponys zurück. Man verbündet sich, um zu überleben. Ich wette es gibt eine Menge Kriminalromane, in denen sich Leute von Klippen und Fjorden schubsen oder versuchen, sich gegenseitig im Schneesturm aus dem Auto zu werfen! Wolff lacht noch mehr, löst die Verschränkung seiner Beine und stellt die bestiefelten Füße locker nebeneinander auf. Auch seine Arme liegen weit und offen auf den Lehnen links und rechts. Möglich. Seine Augen blitzen. Fürchtest Dich jetzt vor mir? Etwas Unbeschreibliches liegt in seinem Blick, auf einmal kommt er Rina verrückt vor, wartet sie auf das Augenzucken, das Lippenlecken, irgendeine dieser Gesten, die man eben so kennt. Dann fällt der Strom aus und es wird stockfinster im ganzen Haus. Weiter zitternd ist Rina auf das Sofa gesunken, presst sich die Waffe an den schmerzenden Bauch, während Wolff seine bärige Gestalt knurrend durch das dunkle Haus manövriert, sich hier den Fuß, da die Stirn stößt und auf Isländisch flucht, mit einer Menge dunkler Vokale, gerollter R- und scharfer S-Laute. Wie er so zum Sicherungskasten poltert, scheint es Rina, dass er fast verärgert über das verfrühte Ende ihrer Auseinandersetzung ist und die Szene sich in Seltsamkeit und peinlichen, zu langen Pausen verliert. Doch nach wenigen Minuten ist das Licht wieder an und sie besieht sich, wenn auch noch immer mit dem Pochen in den Ohren, das Leinentuch, das jetzt ausgebreitet auf dem Couchtisch vor ihr liegt. Es ist bräunlich und Blutflecken überziehen es großflächig, inselartig, wie eine Landkarte. Vorsichtig pickt sie ein paar der feinen weiß-braunen Haare vom Stoff und zwirbelt sie nachdenklich zwischen den Fingerspitzen. Sie haben keinen Geruch. Ihr fröstelt, auch wenn ihr mehr und mehr klar wird, dass es sich bei der Waffe eher um Werkzeug handelt, mit dem man Tiere erschießt. Da betritt Wolff den Raum. Er hält sich leicht die Schläfe, die Dachschräge scheint ihm zum Verhängnis geworden zu sein und er sieht auch sonst weniger konzentriert und weniger gefährlich aus. Er hat die Schuhe unten im Flur aus- und den Wollpullover aus der Hose gezogen. Nun hängt ihm der Saum locker um die Hüfte und man erkennt, dass er darunter schmaler ist als gedacht. Er setzt sich zurück auf den Sessel gegenüber, ihre Knie berühren sich fast. Er streckt eine seiner Pranken aus und Rina schreckt zurück, bemüht sich, ihn wieder skeptisch und drohend anzusehen, will etwas sagen, vielleicht ein Gesetz zitieren, kommt sich dann aber doch zu albern vor und Wolff packt das Tuch und fängt an, es nachdenklich in den Händen zu wiegen, es ein und wieder auszuklappen. Als er fest über den Stoff reibt, bleibt ein bräunlicher Blutrest an seinen Daumen sichtbar zurück und Rina wird doch noch übel. Hab das Ding seit Ewigkeiten nicht mehr ausgepackt. Ist eigentlich ganz schön privat. Sturmaugen durchleuchten Rina prüfend. Jetzt bin ich auf einmal die Schuldige?! Empört zerrt sie die Waffe noch näher an sich. Sollte mir wohl Angst machen, wie?? Jetzt sieht Wolff verärgert aus, zieht seine buschigen Augenbrauen zusammen: Ihr jungen Leute denkt auch immer, es dreht sich alles um euch, was? Dann Kopfschütteln. Was du da hast ist ein Fuchsgewehr.

Lange, bevor Menschen und Ponys die Insel betraten, wanderte über das gefrorene Eis barfuß ein Geist ein. Eine Kreatur mit winzigen Ohren und stechend gelben Augen. Sie war klein und biegsam und fand in den Felsspalten, die sich in der erkalteten Lava auftaten, Unterschlupf und in toten Resten, die das Meer auf die Strände spülte, Nahrung. Und egal, wie viele Menschen und Pferde kamen, der Fuchs blieb. Dabei gab es niemals auch nur ein einziges leichtes Jahr. Das Wetter war meistens schlecht und die Beute rar und die Konkurrenz groß und mancher wurde zum Kannibalen. Der Fuchs zeugte möglichst viele Junge, damit eines von ihnen überleben würde. Und er blieb flexibel. In rauen, mageren Wintern macht er sich klein und unscheinbar und verbraucht kaum Energie. Und treiben die Menschen Schafherden durch das Revier, dann wächst er in Sekunden auf das Doppelte seiner Größe an, erkennt mit einem Blick das schwächste Lamm oder den ältesten Bock und raubt ihn. Doch je mehr Schafe es gab, desto mehr Menschen gab es und sein schneeweißes Haarkleid, dass den Fuchs einst im ewigen Eis unsichtbar gemacht hatte, enttarnte ihn im Frühling für die Augen der Feinde. Und weil die Menschen ihre Schafe nicht teilen wollten und weil ihnen zudem die gelben Augen unheimlich waren, begannen sie bald, den Fuchs zur Plage zu erklären. Sie versuchten sogar eine Verschwörung mit anderen Tieren, im Rahmen derer bald bärtige, mit Pelzen behangene Männer und Frauen mit silbernen Waffen die Nester der brütenden Eiderenten bewachten. Die Eiderenten wussten nicht, dass die Menschen aus diesem Einverständnis doppelten Profit schlugen, weil sie nicht nur bessere Chancen hatten, die hungrigen Füchse zu erlegen, sondern das ausgediente Federkleid der Enten auflesen und es in ihre eigenen Betten stopfen konnten. Und natürlich machten sie sich auch Kleidung aus dem weißen Skalp des Eisfuchses, den sie zeitweise sogar als eine Art Währung benutzten. Und so begann der Fuchs von Neuem, sich anzupassen. Und für den Sommer warf er sein Brautkleid ab und nahm die Farben des Mooses an, in das Vögel ihre Eier legten, der Vulkanerde, in die er seine Höhlen grub und der schwarzbraunen Steinstrände, die er nach totem Fisch durchwühlte. Manchmal adaptierte er sogar die Farbe des Rostes, der den Häusern und Fahrzeugen der Menschen selbst ständig anhaftete. Und so wurde er in den Sommermonaten von dem flinken, bauschigen Schneetier zu einem dürren, schwarzen Geisterhund, der sich, gelenkig wie ein Wurm, ungesehen auch in Hühnerställe schleichen und zwischen den Buden auf Fischmärkten herumtreiben konnte. Die Menschen begannen nun, Belohnungen auszuloben für jeden geschossenen Fuchs und viele beschützten nicht nur ihre Heime und Herden, sondern verschrieben ihr Leben fortan einzig der Fuchsjagd. Bis heute kann man damit Geld verdienen und mancher Jäger wandert über Jahre auf der Spur eines einzigen Tieres, gibt ihm Namen und – ja, wirklich – schreibt Gedichte über es.

Rinas Traum in der Nacht ist lang. Quälend lang, weil in ihm nicht viel passiert. Quälend lang, weil sie sehr klein ist, die Hand ihrer Mutter zu groß, zu schlaff, zu schwer, wie sie durch den winzigen Zoo streifen, der auf einer Schuttinsel im Parkteich angelegt ist. Rina ist schon neun Jahre alt und interessiert sich eigentlich nicht mehr für Tiere. Es ekelt sie, wie fett die Ziegen sind und wie reglos die meisten anderen Viecher. Wie die Kühe an den lackierten Gittern lecken und kauen und ihr Speichel herunter tropft. Doch der Zoo hilft Ida, die Resusaffen und der große Pelikan ringen ihr ein müdes Lächeln ab. Rina macht der Pelikan Angst. Vögel sind ihr überhaupt unheimlich, weil sie keine Mimik haben, oder zumindest keine, die Rina erkennen kann. Ganz unberechenbar sehen sie aus. Sie lässt den Pelikan mit Ida stehen und sucht in zügigen, zu kurzen Schritten das Weite. Sie ist sehr ungeduldig mit dem wachsen und immer unzufrieden mit ihrer Größe. Durch den Inselzoo zieht sich ein kleiner, immer kalter Bach. Und wie ein Burggraben verläuft der um einen Block aus vier Käfigen herum, damit man nicht zu nah herantritt und versucht, Pommes oder Finger durch den Zaun zu strecken. In den Käfigen sitzen ein Leopard, ein Panther (den Rina für einen missglückten Leoparden hält), ein Puma und – ein Polarfuchs. Schon seit sie sich erinnern kann, stört Rina dieses Arrangement. Es ist, als wäre der Fuchs der Fehler, den einfach niemand findet. Er passt nicht in die Reihe, möglicherweise hat ein Idiot ihn mit einem Luchs verwechselt, weil es so ähnlich klingt undsoweiter. Haha. Sehr witzig. Rina sitzt auf dem Handlauf, der nicht anders aussieht als der Gitterzaun auf der anderen Seite des Baches. Die Raubkatzen um ihn herum liegen ausgestreckt da, schleppen sich ab und zu von einer in die andere Ecke. Der Fuchs ist jetzt, im März, noch weiß wie Schnee. Obwohl sein kleiner Auslauf im Matsch steht, ist sein Haarkleid ganz sauber. Er sitzt aufrecht im Schatten, dreht wachsam seine viel zu kleinen Ohren, schaut Rina mit durchdringend gelbem Blick an. Warum brachte man ihn nicht wenigstens zu den Rot- und Wüstenfüchsen? Sicher, auch sie würden sich fremd sein. Und er schien hier nicht unglücklich. Was um ihn herum geschah, dass er Fehl am Platz wirkte, scherte ihn nicht. Er passte sich an.

Als sie Holmavík nach Westen wieder von der Küste weg und hinein in eine Hügellandschaft verlassen, der Schlüsselanhänger baumelt mit Knopfaugen vom Rückspiegel, ist es noch kalt und etwas neblig. Die Nacht zieht sich nur widerwillig zurück. Sie frühstücken abgepackte Sandwiches von einer Tankstelle, die sich ohne Kauen in ihren Mündern in nichts auflösen und nur eine wässrige Ahnung von Gurken zurücklassen. Der Tag ist klar, nicht zu kalt, aber windig. Rina hat Hennings SMS beantwortet, bevor sie gefahren sind. Aber ob die Antwort angekommen ist, weiß sie nicht. Nun jedenfalls ist der Empfang wieder weg. Nach der Uhr auf dem Display sind es noch 8 Stunden bis zum Abflug von Keflavík. Aber das Wetter ist gut und auf der Karte sind es nur noch zwei bis drei Brotmesserklingen und dann sieht Rina zum ersten Mal etwas von diesen Farben der Insel, die Wolff erwähnt hat. Die Landschaft sieht aus wie eine Patchworkdecke aus rot und braun, grau und grün und schmutzigem weiß und in einer Talsenke, in die sie unter lauter werdendem Gepolter der gegen das Auto springenden Steinchen und Steine hinab rollen, wird das Muster plötzlich besonders bunt und übertritt fleckig in der Ferne selbst die schwarze Naht, die als Straße die Landschaft säumt: Eine Traube Pferde steht mitten auf der Fahrbahn und dampft unberührt vor sich hin. Wolff stöhnt und Rina muss fast lachen, weil er das noch nie vorher getan hat. Das Radio spielt einen flirrenden Jingle, die Nachrichten beginnen und allein wegen der Durchsage der Straßensperrungen ist klar, dass Wolff sie hören muss. Schon gut, sagt Rina deshalb und springt aus dem Wagen, wenige Meter vor sich die wiehernde Menge. Einige trippeln aufgeregt, als vermuteten sie eine Fütterung, alle glubschen sie mit aufgerissenen Augen an. Sie sehen aufgebauscht aus, ihre groben, langen Mähnen wachsen vielen wie auf toupiert quer über das Gesicht. Ihre Schulterhöhe ist niedrig, sie alle sind kleiner als Rina. Die konnte mit Pferden noch nie viel anfangen und fühlt sich plötzlich sehr Fehl am Platz. Ihre Arme sind bleischwer, als sie sie erhebt und ihre Stimme ist kratzig und viel zu leise, als sie HOHO gegen den Wind schreit, der ihr die Haare mit kalten Fingern zerwühlt. Natürlich bewegt sich nichts. Die Tiere bleiben unbeeindruckt vor ihr stehen, nicht gefährlich, aber äußerst entschlossen, einige schütteln frech das Haupt, Wassertropfen fliegen durch die Dampfwolke, die von den Tieren aufsteigt. ACH JETZT KOMMT SCHON. Sie geht immer näher heran, doch die Pferde lassen sich nicht abschrecken. Ein brauner Schecke reibt seine flache Stirn zutraulich an Rinas Brust und hinterlässt schmierige Flecken auf dem Schurwollmantel. Als sie ihn energisch wegschiebt, sieht er ein bisschen verletzt aus. Schnell steht sie inmitten der Pferde, sie schnauben ihr ins Ohr und zwicken ihr in die Arme, sie haben Hunger. Was von außen aussieht wie das Poster aus einer Mädchenzeitschrift, ist für Rina nichts weiter als ein Ärgernis und doch kann sie sich ein kurzes Auflachen über ihre absurde Situation nicht verkneifen, wie sie da steht, mitten im Nichts, hin und her gedrängt von warmen, nassen Pferdeärschen. Die Luft ist nicht mehr schneidend kalt genug in der Nase, um den Geruch zu ignorieren. Die Farce. Sie denkt an Henning und fragt sich, was der tun würde, aber er hat eine Tierhaarallergie und wäre mittlerweile vermutlich erstickt. Vielleicht gibt es einen Anführer, den müsste man finden. Ein besonders starkes, großes oder schönes Pferd, das, nach dem sich alle richten. Vielleicht ein schneeweißes oder rabenschwarzes. Sie dreht den Kopf hin unter her, wühlt sich durch die Gruppe. Einige Male trampelt ihr ein Huf auf die Zehen, doch ihre Stiefel, in der Großstadt hochmodern, sind aus dickem Leder und absolut tauglich für Umstände wie diese. Schnell hat sie die knapp fünfzig Tiere mit einem Blick erfasst, alle ihre wilden Muster, die Brauntöne und Grauschattierungen. Aber keiner von ihnen tut sich in der Art hervor, wie Rina es erwartet hätte. Da ist kein eindeutiger Anführer in Sicht. Und als sie am Ende der Gruppe angekommen ist, und ein wenig Abstand genommen hat, sieht sie plötzlich, wie Wolff aufblendet und mit einem Arm die Flinte aus dem Fenster der Fahrertür in die Luft hält. Der Knall gellt durch das ganze Tal, einige der Ponys steigen, was bei ihren kurzen Beinen eher albern als wild aussieht, alle wiehern, und gemeinsam, wie abgesprochen, marschieren sie alle in einem seltsam hektisch und verspannt aussehenden Gang von der Straße und in die Tundra hinein, durch die Reste harschen Schnees, so entschlossen wie ziellos. Im Schritttempo rollt Wolff mit dem Auto zu ihr hinüber, die Flinte liegt auf dem Beifahrersitz und Rina fühlt, obwohl sie heiß ist und verschwitzt, ein bisschen Gänsehaut im Nacken. Mit der Waffe im Anschlag sieht Wolff gefährlich aus, wie ein Cowboy, nur echter. Die Waffe riecht ein bisschen nach Rauch und fühlt sich weniger schwer und irgendwie warm in ihren Händen an. Nicht schlecht, sagt sie bewundernd und wirft noch einen Blick auf die gefleckte Herde, die in der Ferne schon wieder mit der Landschaft verschmilzt. Wieder grinst sie leicht, ihre Wangen hören nicht auf, zu glühen. Sie legt sich die Hand auf den Bauch. Hunger. Da bemerkt sie, dass sie nicht an Tempo zulegen. Dass Wolffs durchdringender Blick auf ihr liegt. Dass das Radio ausgeschaltet ist. Wolffs grobe Finger liegen fest um das Lenkrad, schon ganz weiß. Was – Er öffnet schon den Mund, holt leise pfeifend Luft, als ob er ihr etwas Schwieriges sagen müsse, obwohl sein Deutsch bis hierhin fast perfekt war. Er beginnt drei oder vier Sätze, flugvélar .. fluglysid .. eine stechende Vorahnung. Da fängt das Telefon in Rinas Manteltasche plötzlich an, verrückt zu spielen. Sie hat wieder Empfang. Fünf oder sechs Nachrichten treffen hintereinander ein und fast alle sind von Rinas Mutter:

RINA GEH RAN WO BIST DU RUF ZURÜCK SAG WAS GEH RAN RINA

Der Tag, an dem ihre Mutter Ida begonnen hatte, täglich nach ihrem Wohlbefinden zu fragen, egal wo auf der Welt sie sich befand, ist Rina ganz klar im Gedächtnis. Es war der Tag, an dem Hanno verschwand. Dabei war Rina noch klein gewesen, konnte gerade ihren Namen schreiben und den ihres zukünftigen Bruders, der viele Tage zu früh auf die Welt gekommen war. Ein winziges Würmchen mit Ohren wie rosa Knöpfen und Augen wie dunkelblauen Stecknadeln. Weil er eine so peinlich dünne Frisur hatte, hatte die Schwester ihm eine alberne Strickmütze über den Winzkopf gezogen. Er war leichter als Rinas Mathebuch. Trotzdem hatte Ida lange gezögert, sie ihn halten zu lassen. Warum sie ihr nicht vertraute, hatte sie damals empört gedacht. Rina war kein Tollpatsch. Und dabei wurde er ganz ruhig in ihren Armen, machte nur noch kleine Bewegungen mit dem Mund wie ein Fisch. Schloss die Augen. Er roch süßlich und ein bisschen wie frische Bettwäsche. Ida lies den Blick nicht von ihm. Rina wollte ihm eigentlich gern irgendwas sagen, aber wenn er gerade einmal schlief.. leider wachte er nicht wieder auf. Er war einen Monat alt. Obwohl Hanno nur so kurz da gewesen war, riss er ihnen beiden ein Loch ins Herz, als er wieder verschwand. Rinas aber tat nicht so weh wie das ihrer Mutter. Sie konnte Hanno nicht vergessen, konnte das Bettchen lange nicht weggeben, denn manches Mal sah sie ihn dort drinnen liegen. Später saß er mit am Frühstückstisch oder auf dem Sofa. Am Anfang erzählte sie dann immer davon, was er gerade machte. Doch niemand schien diese Dinge so recht hören zu wollen und so fing sie später jedes Mal, wenn sie ihn sah, bloß zu lächeln an. Das waren die einzigen Momente, in denen sie lächelte. Dann strich sie Rina über den Kopf und fragte, wie es ihr ginge. Und Rina sagte nur kurz g-u-t und versuchte, Hanno auch zu sehen. Doch er zeigte sich ihr nie. Irgendwann wurde sie wütend auf ihn, dass er ihr niemals verzieh und versuchte, ihn zu vergessen. Und sie antwortete nicht mehr auf die Frage. Sie hatte ohnehin nie Anlass zu echter Sorge gegeben. Bis heute.

GEH RAN WO BIST DU WIE GEHT ES RUF ZURÜCK SAG WAS GEH RAN

Statistisch gesehen wird die Wahrscheinlichkeit, bei einem Flugzeugabsturz zu sterben, geringer, je gefährlicher die meteorologischen Voraussetzungen sind. Logisch, denn je heftiger der Sturm, desto erfahrener und vorsichtiger in der Regel die ausgewählten Piloten. Besonders in Island sind es in Luft, an Land und zu Wasser fast immer die übermütigen Touristen, die sich, selbst hinterm Steuer sitzend, zu Tode bringen. Manchmal aber, gibt es eben eine Ausnahme. Es war schnell gegangen. In der Nachtschwärze war die Maschine voller Fischereigeschäftsleute durch den Sturm gesegelt, alle ganz selbstverständlich, ihre größte Sorge, dass man den Anschlussflug vielleicht verpassen könnte. Alle waren sie Vielflieger, keiner von ihnen beachtete mehr die Sicherheitshinweise der Flugbegleiter, man hörte höchstens hin, um sich über den absonderlichen Klang der isländischen Sprache zu amüsieren. Keiner schaltete mehr sein Mobiltelefon aus. Doch der Pilot, den Wolff gekannt hatte, weil er, natürlich, ein Nachbar in Isafjördur war, hatte nicht Recht behalten. Zwar war es bereits März, auch in Island, der Winter war lang gewesen und üblicher Weise um diese Zeit vorbei. Die Leute denken, in Island bleibt immer alles gleich. Doch sie denken das nur. Eigentlich verändert sich alles. Die ganze Zeit. Und nur wer sich auch anpasst, überlebt. Sonst vereisen die Tragflächen, schneiden wie ein altes Brotmesser quer und mehr schlecht als recht durch die Böen, und das Flugzeug stürzt ab, prallt erst gegen die Felsen und wird dann vom Meer geschluckt und obwohl sich alle noch so sicher gefühlt haben und niemand damit gerechnet hat, überlebt kein Einziger. Jetzt sitzen Rina und Wolff immer noch im Wagen, die Straße vor ihnen ist frei und nichts stünde ihnen mehr im Weg. Rina wartet auf etwas, einen Donner, Blitz, ein losbrechendes Unwetter. BBC, Spiegel Online, N-TV. Alle zeigen das gleiche Foto. Schwammig, wegen der übermäßigen Körnung und des anhaltenden Schneegestöbers, im grauen Tageslicht schwimmt, kurz unter der wogenden Wasseroberfläche, das Flugzeug, wie eine übergroße, tote Möwe. Der linke Flügel abgeknickt. Man erkennt im weißen Metallmantel auch durch das Wasser den schwarzen, klaffenden Bruch bei Reihe 19. Es gibt keinen Grund zur Hoffnung. Rina fühlt sich betäubt und unendlich gefangen im eigenen Körper.

Irgendwann setzt sich das Auto wieder in Bewegung, die Straße geht nur gerade aus auf die Spitze eines letzten, die Ebene abschließenden Hügels. Danach liegt, das weiß Rina, die Ringstraße und von dort ist es nur noch ein Katzensprung. Natürlich glaubt sie nichts von dem, was sie da hört und liest. Vier Mal fängt sie an, eine Nachricht an Henning zu schreiben. Doch sie schickt keine ab. Auch ihrer Mutter antworten kann sie nicht. Dann, sie sind in der Nähe eines Ortes namens Burdadalur, der aus nicht mehr als vier Häusern und einer Tankstelle besteht, wird der Empfang plötzlich besser und das Telefon kommt zu neuem Leben. Bildschirmbenachrichtungen in allen Farben. Und es geht los mit den Anrufen. Rina war nicht einmal klar, dass so viele Leute von ihrem Aufenthalt in Island gewusst hatten. Sicher, sie hatte es ein paar Kommilitonen erzählt. Vielleicht auch ein paar mehr. Aber in der Regel vergisst man solche Informationen sofort, sobald man annähernd adäquat auf sie reagiert hat. Was interessierten einen die Termine anderer Leute. Der Klingelton ist ganz laut eingestellt. Das imitierte RINGRINGRING eines alten Wählscheibentelefons. Doch Rina schaltet jetzt alles ab, presst den einzigen verbliebenen Knopf am unteren Bildschirmrand so fest, dass die obere Hälfte ihres Daumens sich weiß verfärbt, bis das Display-Licht verlischt und das unangenehm warme kleine Gerät ausgeschaltet zwischen ihre Oberschenkel rutscht. Alle denken, sie hätte in diesem Flugzeug gesessen. Wenn es heißt, niemand hat überlebt, dann glauben sie das. Schließlich hatte sie sogar schon einen festen Sitzplatz. Dass darauf Henning gesessen hat, dass sie vorerst zurückgeblieben ist, hat sie niemandem erzählt. Und sie will momentanen auch nicht, dass es irgendwer erfährt. In diesem Moment weiß Rina selbst nicht ganz sicher, wie lebendig sie ist. Sie würde auf die Fragen nicht antworten können. Sie will nicht, kann nicht, wird nicht. Deswegen ist es ihr auch nur recht, dass das Telefon beim Überqueren der Hügelspitze zwischen ihre Füße auf den Boden der Fahrkabine fällt. Vor ihnen tut sich eine Abfahrt auf. Wie eine lange, schwarze Sichel liegt die perfekt geräumte Ringstraße da, wie eine Fahne im Wind steht das große gelbe Schild mit den fünfzehn kleinen und großen Orten, die man auf ihr, einmal um die ganze Insel herum, erreichen kann, ganz oben an R E Y K J A V Í K. Als kleine, restvereiste Zuflüsse schlängeln sich zwei Straßen von ihr ab: die 61 nach Norden und eine zweite, 55, die nach Westen wieder auf eine Art Gebirge ausbricht, eine Zickzacklinie im Horizont jedenfalls, gehüllt in blauweißen Dunst, davor kilometerweit rostrote, stellenweise von Eis glasierte Hügellandschaft. Die Uhr im Armaturenbrett versichert ihnen, dass der Flug in vier Stunden geht. Wohin soll ich fahren? Rina klemmt ihr Telefon zwischen ihren Fersen ein und etwas wie eine dicke, feste Blase schiebt sich von der Brust ihren Hals hinauf, ihr Bauch ist dabei ganz taub und sie würgt nur hervor: Irgendwoh. Einen Umweg. So viel Nirgendwo wie möglich. Weil sie gerade gar kein Gesicht sehen will, schaut sie auch Wolffs nicht an. Der sitzt recht unbewegt hinter dem Lenkrad, setzt dann ein paar Meter zurück und biegt ab auf die 55, auf dem Schild liest Rina noch etwas von Schneefelsenirgendwas. Hier endet die Strecke, die sie sich eingeprägt hatte, alles hinter der Kreuzung ist in ihrem Kopf ganz unbezifferte Fläche. Doch es ist ganz egal. Nur nicht nach Reykjavík, keinen Schritt weiter Richtung Heimat, für den Moment. Rina weiß, dass sie jetzt keinen Flieger mehr zu kriegen hat und Wolff scheint nach wie vor, ganz egal auf welcher Straße, sehr genau zu wissen, wohin er fährt. Er ist nicht nervös, er hat die Kontrolle und keine wildgewordenen Kastanienaugen, die er zusammenkneifen muss, um Schilder zu lesen, weil er zu arrogant für eine Brille ist. Der Gedanke an Henning wirbelt nur eine Sekunde durch ihren Kopf. Bloßnichtaufgarkeinenfall. Alle paar Minuten schaut Wolff kurz aus dem Augenwinkel hinüber, vor allem auf ihre Hände. Sie hat nicht bemerkt, wie eng sie die Finger ineinander gewrungen hat, kalt und klebrig fühlen sie sich jetzt an. Doch ihr linker Handrücken brennt heiß wie Lava. Mit ihren scharfen, ordentlich manikürten Fingernägeln hat sie vier kurze, aber tiefe Gräben in ihre Haut gezogen. Sie blutet ein bisschen. Das Brennen in der Hand lenkt nur wenig von ihrem Bauch ab, der sich anfühlt, als ob jemand darin um ihre Organe eine Faust schließen und sie langsam hin und her drehen würde. Bemüht lehnt sie sich weit zurück in den Autositz. Sie lässt ihre Hände in den Ärmeln ihres Mantels verschwinden, damit Wolff nichts vom Blut sieht. Alles fühlt sich dumpf an, redet sie sich ein, es verschwimmt schon, ich merke es. Gleich wach ich auf. Doch sie wacht nicht auf. Sie schläft ein.

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