Leseprobe: Jürgen Buchinger – “Ohne Titel”

erster teil

People are afraid to merge.
(Bret Easton Ellis)

eins
Er holte Ohrhörer aus der rechten Aussentasche seines olivgrünen Parkas und stöpselte das eine Ende in sein iPhone und die anderen in seine Ohren. Lover Lover Lover. Die Liveversion auf Field Commander Cohen: Tour of 1979. Die mit dem langem Oud-Intro. Wahnsinn. Das 2000 erschienene Live-Album mit Aufnahmen der beiden Auftritte im Hammersmith Odeon in London und im Dome Theatre in Brighton im Jahr 1979, das er sich erst vor kurzem runter geladen hatte, wurde nicht nur jetzt von ihm, sondern schon bei seinem Erscheinen von der Kritik begeistert aufgenommen. Es zeigt Leonard Cohens Qualitäten als Lyriker und seinen ganzheitlichen Ansatz im Songwriting, die in der Band Passenger, die ihn auf der Tour begleitete, einen kongenialen musikalischen Widerpart fand. Selbst neben den beiden Ausnahmesängerinnen Jennifer Warnes und Sharon Robinson, die ihn genau wie die Band für längere Zeit begleiten sollten, sticht Cohens gesangliches Talent heraus. Seine Stimme ist durchgehend warm und stark, und unverkennbar idiosynkratisch. Sein einziger Top-Ten-Hit in den Deutschen Single-Charts, drängt sich Lover, Lover, Lover auch auf dem Album in den Vordergrund. Die beiden Oud-Solos von John Bilezikijan, die den Song auf 6:31 Min. ausdehnen, spielen perfekt in diese ironische Parabel auf das Leben hinein, die Cohen mit seiner geschichtsträchtigen Stimme ausbreitet.
Die Aufzugkabine stoppte mit einem Ruck im Erdgeschoss und er trat aus dem Aufzug, durch die kleine Lobby des Ateliergebäudes, in dessen oberem Stockwerk sich verschiedene Kreative den über das ganze Stockwerk gehenden Raum teilten. Die Lobby, wenn man es so nennen will, war mehr eine Art nicht-Ort, den jeder passieren musste, der in das Gebäude wollte, wie um zu testen, ob man wirklich willens war, dahin zu gelangen, wohin man wollte, oder um die Leute zu verwirren, wenn sie eintraten, sodass man immer schon einen Vorteil gegenüber ihnen hatte, weil man selbst nicht verwirrt war. Die Tür fiel hinter ihm zu, gerade als Leonhard Cohens Stimme seinen Vater anrief: Father, change my name! Er bewegte die Lippen zum Text als er die Strasse entlang Richtung Bushaltestelle ging.
Weil Freitag war, verflog der übliche Stress, das Gefühl jetzt schnell raus zu müssen aus dem Büro, hinein ins Leben, nach Hause oder irgendwohin, irgendetwas zu machen, bevor man wieder sich schlafen legen muss um am Morgen wieder aufzustehen, viel schneller, weil man das Gefühl hatte, man habe unendlich viel Zeit, diese Freitag Nacht überhaupt erst zu beginnen, dachte er. Er bog an der Hausecke ab und überquerte wie gewohnt die Strasse obwohl er ein Auto von links kommen sah, schnell, aber es bremste, ebenso schnell, abrupt ab, er gab vor es nicht zu beachten, kam aber nicht umhin das französische Kennzeichen zu bemerken. Ah, ein Franzose, dachte er und gleich darauf, ob Franzosen rücksichtsloser fahren würden; seine persönlichen empirischen Erfahrungen zeigen (aufgrund der Stichprobengrösse ohne statistische Relevanz): eigentlich nichts.
Sein Blick fiel beim Überqueren der Strasse auf seine braunen Chelsea-Boots und er erinnerte sich, dass er sie in Mantua gekauft hatte, in einem random Schuhladen, weil er zweimal daran vorbei gelaufen war und sie auch beim zweiten Mal noch geil fand. Er hatte seiner Begleitung nach dem ersten Mal noch erläutert, dass er Chelsea-Boots eigentlich ja nicht so gut fand, irgendwie, aber dass diese da, diese besonderen hier, gut wären. Als sie zwei Tage danach nochmals vorbei liefen hatte er sie probiert, in schwarz
und braun, und die braunen genommen. Ziemlich nice, dachte er, die Schuhe, immer noch. Dann fiel sein Blick daran vorbei auf den Zebrastreifen unter ihnen … Lover, lover, lover, lover, lover come back to me … er bewunderte die schaumige Dicke der auf den Asphalt aufgebrachten Farbe, die aussah wie Zahnpasta, oder vielleicht eher wie Baiser, kleine Baiser-Spuren auf dem Asphalt, aber sie waren hart und unverwüstlich. Eigenartig, wie die banalen Dinge ihre alltägliche Schönheit entfalten können, wenn man sie nur aktiv betrachtet, dachte er, wie der schwarze neue Asphalt, der wie zur
Gestaltung des freien Raumes auf dem Boden ausgelegt wirkte. Wie Sichtbeton in neuen Wohnblöcken oder Holzdecken in besonders urig wirken wollenden Bars, diese krude Wärme und Echtheit, die Ehrlichkeit des Materials. Materialgerechtigkeit. Das Wort spukte kurz durch seinen Kopf, dann trat er auf den Bürgersteig und drehte nach rechts ab. Er überlegte, ob er noch etwas zu trinken kaufen sollte und was, bejahte die erste Frage und betrat zur Entscheidungsfindung den Supermarkt neben der Bushaltestelle. Er kaufte einen Sechserpack ungefiltertes Bio-Bier, bernsteinfarben, etwas herb und einen
Prosecco Conegliano Valdobbiadene DOCG, Hand Cooked Sea Salt & Cider Vinegar
Chips von Tyrells, Mozzarella di Bufala Campana, Rucola und Eisbergsalat, Datteltomaten und ein Rustico-Baguette. Dann stieg er in den Bus nach Hause. Die Anzeigetafel der nächsten Haltestellen war ausgefallen, das heisst, nicht unbedingt, aber sie zeigte nur ein offensichtlich fehldesigntes Signet mit irgendeiner URL. Gehackt, dachte er und versuchte diese Lustigkeit des Alltags mit seinem Smartphone einzufangen und zu twittern, aber es funktionierte mangels besserer Lichtverhältnisse nicht. Das Signet war nicht zu erkennen, lediglich leuchtende Bildschirme und triste Personen.
Für einen Moment fragte er sich warum nicht alle Menschen im Bus glücklich waren und dieselbe Vorfreude auf das Wochenende zeigten wie er. Ob sie alle arbeiten mussten? Beispielsweise der ältere Mann mit dem schwarzen Parka, den schwarzen Anzughosen und Budapester Lederschuhen. Er sah nicht so aus, also würde er jetzt zwei Tage entspannter Freizeit verbringen können, aber auch nicht so als würde er am Wochenende arbeiten. Wobei, wie sollte man das auch erkennen? Vielleicht arbeitete er selbst als Busfahrer und hatte Wochenend-Dienst. Vielleicht so gar noch nachts. Kein Grund zur Freude. Vielleicht auch nicht. Der Mann blickte finster aus dem hohen, mit Kunstpelz besetztem Kragen seines Parkas – es war so ein Kunstpelz, der nicht wirklich versuchte, wie ein Pelz auszusehen, vielmehr war er von der Art Baumwolle, die die Wärmehaltende Qualität von Lammfell zu imitieren sucht. Er verzog keine Miene, schien ins Leere zu sehen, vielleicht dachte er an seine Nachtfahrschicht. Wenigstens las er keine dieser abscheulichen Gratiszeitungen. Genauso gut könnte er aber auch nicht arbeiten müssen. Würde er dann zuhause eine andere Zeitung lesen, Sonntagmorgen, beim Frühstück? Oder heute Abend ein Buch. Welches wohl? Er sah, wenn überhaupt Leser, eher nach dem Typ Robert-Ludlum-Leser aus. Oder Dan Brown. Vielleicht auch Ken Follett, oder was auch immer nach einem der ersten beiden beim nächsten Besuch von amazon.de vorgeschlagen wurde. Kunden, die „Die Säulen der Erde“ gekauft haben, kauften auch „Die Pfeiler der Macht“ und „Die Brücken der Freiheit“.
Es kam ihm plötzlich unglaublich vor, dass all diese Menschen um ihn herum, die ganze Stadt, dass sie alle ein eigenes Leben führen sollten. Ein Leben, so wie seines, mit Beruf, Freunden, Freundinnen, Familie, Vorlieben, Geschmäckern und Angewohnheiten; dass auch sie Krisen durchleben und sich verlieben und abgewiesen werden oder nicht und erkennen müssen, dass— Gibt es überhaupt Platz für so viele Leben auf der Welt? Wo sollten sie alle hin mit ihren Geschichten? Wie könnten sie alle nicht nur ein Zuhause haben – dies schien vorstellbar, mit all diesen identitätslosen Vororten, diesen Wohnstädten, in denen das Bauensemble mit erschreckender Regelmässigkeit von unmöglichen 70er-Jahre Plattenbauten und „modernen“ Gebäuden aus einer Zeit, wo Modernität Missachtung jeglicher ästhetischer Grundsätze hiess, durchbrochen wurde – sondern auch noch einkaufen gehen, Kaffee trinken, sich treffen, Essen gehen, arbeiten und einkaufen? (Obwohl, das wiederum schon, dachte er, und dachte an das Warten im Supermarkt, weil immer gerade dann, wenn er einkaufen ging, auch alle die gingen, die eigentlich den ganzen Tag Zeit hätten, das zu tun: Eltern in Karenz, Pensionisten und Senioren, und das deswegen eigentlich dann machen sollten, wenn sonst keiner, also
keiner der arbeitenden Gesellschaft, einkaufen geht, also nicht vor zehn am Morgen und nicht nach fünf am Nachmittag.) Aber sie schienen ja ohnehin alle nur Statisten zu sein, ausser die beiden Teenager, die eben eingestiegen waren und offenbar übermütig dem Abend entgegen fieberten und mit je einem Alkopop in der Hand sich lautstark über Nichtigkeiten unterhielten, ihre Smartphones dabei bedienend. Wenigstens jemand lebt noch. Eine klamme Vorstellung, in einer Welt aus Statisten zu leben, so als ob alle die, die er nicht kannte, oder die nicht ihr offensichtliches Leben zur Schau stellten, nur hier wären, damit der Bus nicht zu leer ist. Damit der Schein einer für sich selbst und aus sich selbst funktionierenden und weiter existierenden Welt erhalten bleibt.
Das Wort „Bauensemble“ war in seinem Kopf hängen geblieben. Interessantes Wort: Nicht nur zeugte ein Kommentar über das Bauensemble von Achtsamkeit und konnte die Blicke jener, die mit dessen Erwähnung beglückt wurden, auf das bisher unbeachtete Bauensemble lenken. Es betonte auch das eigene Verständnis von dem, worüber man sprach. Wer „Bauensemble“ sagte, der würde auch bald „unmögliche 70er-Jahre Plattenbauten“ sagen. Plattenbauten alleine geht nämlich leicht verloren, sticht nicht heraus, wobei jener, der auf sie hinweist immerhin beweist, dass er welche erkennt, wenn er sie sieht, „unmögliche“ zeugt von ästhetischer Urteilskraft, aber das Hinzufügen einer zeitlichen Eingrenzung (was immer sie dann wirklich aussagen mag – wer kann schon Plattenbauten der 70er von jenen der 80er unterscheiden?) verleiht der Aussage den Anschein einer gewissen Kennerschaft, man kann eben doch unterscheiden zwischen diesen oder jenen Plattenbauten und man weiss, welche unmöglich sind und welche nicht.
Ausserdem erinnerte ihn das Wort „Bauensemble“ an jemanden. Sie hatte es ebenfalls gerne benutzt, wobei er in ihren Bemerkungen zum Bauensemble beim ersten Mal durchaus noch so etwas wie Kennerschaft zu erblicken dachte, später aber bemerken musste dass auch ihr wohl einfach das Wort gefiel. Er dachte an ihren Körper. Die nicht unbedingt grossen, aber etwas grösser als kleinen Brüste, ihre etwas breiter als schlanken Hüften. Wenn er an ihren Körper dachte, dachte er natürlich an ihren nackten Körper. Und an die letzte Nacht, die sie zusammen verbrachten und die, nach einigen Jahren und vielen Malen gedanklich Revue passieren lassen in seiner Erinnerung immer deutlicher, immer besser und wohl auch immer weiter entfernt von der Realität erschien. Er verbuchte den Sex, an den er dachte, wenn er an diese Nacht dachte, unter welchen ihrer beider besten, wenn nicht als den besten. Zurückdenkend fand er vielleicht ein anderes Mal Sex haben mit ihr, dass gleich gut gewesen sein könnte, aber weiter zurück lag und weniger oft in seinem Gedächtnis wieder erlebt wurde. Er spürte, wie er erregt wurde und sah plötzlich, dass der Bus schon eine Haltestelle nach der seinen war. Er sprang von seinem Sitz hoch und stürmte aus der Tür des Busses. Wäre er nicht in der Euphorie des Feierabends, seine Laune würde sich, zumindest kurzfristig, merklich verschlechtern, da er das – überhaupt nicht den Tatsachen entsprechende, die Fahrtzeit von seiner Haltestelle zur nächsten beträgt circa eine Minute und seine Wohnung liegt ohnehin zwischen beiden – Gefühl hätte, schon wieder viel von seiner kostbaren Zeit vergeudet zu haben. Nun aber, mit soviel Zeit, wie er wollte, kein Problem. Easy. Er kaufte kurzfristig noch ein Samosa an dem Späti neben der Haltestelle, unaufgewärmt, bevor er nach Hause ging.

zwei
Er sass an seinem Schreibtisch, streamte einen Mix von Klangkarussell über Soundcloud auf seine voll aufgedrehte Stereoanlage und googlete „Plattenbau“. Der Wikipedia-Artikel gab nicht viel her, was auf einen speziellen stilistischen Unterschied zwischen 70er und 80er-Jahre Plattenbauten schliessen liess und so schloss er das Browsertab mit dem vagen Plan das nächste Mal wenn er in Berlin sei, das Corbusier-Haus zu besuchen.
Er stand vom Schreibtisch auf, trank einen Schluck Bier und drehte die Stereoanlage etwas leiser. Dann tanzte er langsam zurück zum Schreibtisch, nahm einen Bissen von seinem Sandwich und überlegte was er anziehen sollte. Er hatte sich geduscht, ein Sandwich gemacht und ein Bier auf. Sein Mitbewohner war nach ihm Heim gekommen und stand gerade unter der Dusche. Er überlegte kurz, sah sich um und konstatierte, dass sein Mitbewohner sein Bier mit in die Dusche genommen haben musste, dann glitten seine Gedanken wieder zu seinem Kleiderschrank zurück. Oder besser zu dem weissen Expedit, in das er seine Kleider gelegt oder geworfen hatte. Whatever, dachte er, nahm eine schwarze Riot Pants und wollte sie anziehen, hielt jedoch inne, legte sie über seinen Schreibtischstuhl, zog eine der Kisten aus dem Regal und nahm ein paar schwarze Socken heraus. Wichtiges Gebot: Die Socken immer vor der Hose anziehen, sonst kann man sie nicht ordentlich hochziehen, weil die Hose ja so eng ist. Slim fit und so.
In diesem Moment legen Klangkarussell den Remix von Wir werden sehen auf, er läuft zur Stereoanlage und dreht wieder voll auf, sein Mitbewohner kommt, sein Bier in der Hand, aus der Dusche und in sein Zimmer, lässt einen Jubelschrei fahren und hebt die zweite Hand zum High Five, er schlägt ein, erwidert das Jubelgeschrei und sie beide tanzen, sich im Kreis drehend, hüpfend und ihre Hände schwingend in Boxershorts (er auch mit Socken) durch das Zimmer.
Das Lied hatte aufgehört, sein Mitbewohner war in sein Zimmer gegangen und er hatte sich die Hose angezogen, dazu ein einfaches, weisses T-Shirt mit einem dezenten Label rechts über dem unterem Saum auf seinem Rücken, und sein Sandwich aufgegessen. Während er überlegte, ob er noch ein Sandwich essen sollte, kam sein Mitbewohner wieder, mit der Prosecco-Flasche in der Hand, die er offenbar im Tiefkühler entdeckt hatte und fragte, ob sie die Korken knallen lassen sollten. Klar sollten sie.
Er hörte den Korken knallen und als er in die Küche kam lehnte sein Mitbewohner am Fensterbrett vor dem geöffneten Fenster. Er hatte das rechte Bein angewinkelt und seine Sektflöte darauf abgestellt, die nun so schräg stand, dass gerade nichts herauslief, seine Hand lag auf seinem Oberschenkel und er hielt mit zwei Fingern das Glas auf seiner Position. In der anderen Hand hielt er eine Zigarette, an der er gerade gezogen hatte und während er den Rauch ausatmete bedeutete er ihm mit der Zigarettenhand wo das andere Glas stand. Seine nassen Haare hingen wirr in Strähnen herab und von Zeit zu Zeit schüttelte er sie so gekonnt aus dem Gesicht, dass sie mit Sicherheit wieder zurück fielen. Er war noch barfuss, hatte eine weinrote, enge Chinohose an, die er unten zweimal umgeschlagen hatte. Dazu ein graues T-Shirt mit weitem Ausschnitt und ein dunkelgraues, offenes Cardigan. Obwohl er selbst so ein Cardigan nicht anziehen würde, dachte er, sah es an seinem Mitbewohner doch ganz gut aus. Es passte zu dem T-Shirt darunter, das aus dünner, leicht strukturierter Baumwolle bestand und ohne eine wirkliche eigene Form an ihm herunter hing. Es war das prototypische 5-Euro-H&M-TShirt, das er aber bewusst als solches trug, anstatt seine Herkunft zu verschleiern, und damit beitrug zu dem im Ganzen etwas nachlässigen Kleidungsstil. Bewusst nachlässig aber, Nachlässigkeit als Statement. Das Cardigan nicht zugeknöpft, einfach herunter hängend. Das T-Shirt gerade angezogen, einfach übergestreift, nicht mal Anstalten gemacht, es zu glätten oder in Position zu zupfen. Aber die Hose unten zweimal umgeschlagen um sie dann – antizipierte er – gerade soweit über den Schuhen zu halten, dass man die nackte Haut noch hervor scheinen sehen würde. Oder die Socken. Wahrscheinlich aber die nackte Haut, denn, so folgerte er, sein Mitbewohner würde, wenn, dann Söcklinge anziehen, so kurz, dass sie in den Schuhen verschwinden würden.
Als er fertig geraucht hatte, stiessen sie an und sein Mitbewohner sagte: „Mann, ich muss mir was anderes anziehen, diese beschissenen H&M-Cardigans haben genau überhaupt keine Form.“

drei
Der Club war noch relativ leer als sie ankamen. Auf dem dancefloor standen verteilt die wenigen Leute, die bereits da waren, nippten an ihren Getränken und wippten im Takt zur Musik. Der DJ stand noch etwas unmotiviert hinter den Turntables, vielleicht, dachte er, fand er es aber auch gut, vielleicht konnte er so mal was Neues ausprobieren, ein paar neue Übergänge, Tricks und Tracks. Er freute sich über die Alliteration; die Musik war wie immer laut und die Anlage wie erwartet gut. Generell war gute Stimmung, obwohl noch nichts los war. Der Club war schwach beleuchtet, hauptsächlich schienen es die zahlreichen moving heads zu sein, die mit einem klaren Schwerpunkt auf blau bunte Lichtkegel durch den Club schweifen liessen. Lichtpunkte eigentlich, da der Club noch nicht total verraucht war. Man durfte ja auf dem dancefloor „nicht rauchen“. Er dachte die Anführungszeichen mit, denn er wusste, dass spätestens sobald sich der Club wenigstens halbwegs gefüllt hätte, die ersten Leute auch hier zu rauchen beginnen würden und spätestens wenn es richtig los ging auch die ohnehin nicht auf Raucherfang erpichten Türsteher auf das Rauchverbot scheissen würden. Er liess seinen Blick nochmals umherschweifen und stellte fest, dass es tatsächlich nur die moving heads waren, die den Raum erhellten. Zumindest konnte er keine andere Lichtquelle erkennen, liess es dann aber auch dabei bewenden. Sie gingen an die Bar und bestellten Drinks. Der Weg war erstaunlich leicht, durch die lose stehenden Leute hindurch, kurz warten an der Bar, bestellen. Gin Tonic. Sie blieben kurz in dem anderen Raum, wo die Bar war und man rauchen durfte und redeten über die crowd. Besser als beim letzten Mal. Aber auch noch nicht so viele Leute. Sein Mitbewohner schlug vor, noch was Kiffen zu gehen. Alle waren einverstanden.

vier
Als sie zum Club zurückkamen hatte sich bereits eine Schlange vor dem Eingang
gebildet, die sie aber mit ihren bereits erhaltenen Stempeln easy passieren durften. Drinnen war es rappelvoll. Sie mussten länger weg gewesen sein als gedacht und drängten sich zur Garderobe durch, denn es würde heiss werden im Club. Vor der Garderobe war einen unendlich lange Schlange. Mit entnervtem Blick stellten sie sich an. Eigentlich war es eher eine Traube, die sich vor dem Eingang zur Garderobe gebildet hatte. Der Garderobier war offensichtlich unfähig, denn es ging gefühlt überhaupt nicht voran. Was machte der Typ? Neben dem Garderobeneingang lehnte ein anderer Typ, gestikulierte ungestüm mit den Händen und spreizte dabei die Finger wie auf einem Schiele-Selbstportrait und rollte mit den Augen so als ob er in nächster Zeit das Bewusstsein verlieren würde. Völlig verstrahlt, dachte er. Er sah sich um. Der Club war relativ abgefuckt aber es waren die unterschiedlichsten Leute hier. Endlich mal ein Club, stellte er fest, wo nicht drei Viertel Männer sind und sagte es seinem Mitbewohner. „Schade“, sagte der grinsend. Er lachte. „Saw something you like?“ Er liess den Blick noch einmal schweifen und sagte: „What the fuck macht der Typ? Das dauert ja unendlich lange!“ Der gestikulierende Mensch neben dem Garderobeneingang zog wieder seinen Blick auf sich. Er hatte einen schwarzen engen Pullover an, mit so vertikalen Strickreihen und einem grauen Aufdruck, der vielleicht schon teilweise abgegangen, vielleicht aber auch von vorne herein als misslungener Ausdruck erscheinen sollte. Er hatte einen Stehkragen! Dazu trug er eine Bluejeans im used-look; das heisst eine Jeans, die furchtbar langweilig gerade geschnitten war und noch dazu irgendwelche Risse oder Löcher hatte und Turnschuhe. Er versuchte sich vorzustellen, was sich dieser Mensch wohl gedacht hatte, als er sich heute Abend ankleidete und ihm wollte partout kein Grund für das Styling einfallen. Wahrscheinlich, schloss er, hatte er sich gar nichts gedacht. Wahrscheinlich zog er Kleider an, damit ihm nicht kalt würde oder einfach, damit es nicht so komisch aussah, wenn er nackt im Club war. Er wurde aus seinen Überlegungen gerissen, weil ihm Sarah auf die Schulter klopfte. „Mann, er hat keine Kleiderbügel mehr!“ Er verstand nicht, „Wer? – Der Garderobentyp, er hat keine Kleiderbügel mehr. Deshalb geht es so langsam. Er wartet immer, bis jemand seine Jacke holt, dann hängt er erst wieder eine auf. – Nein!? – Doch, ich hab’s ja grade gesehen. – Shit!“ Er zog das i mindestens auf die dreifache Länge des normalen hinaus, sodass es eher ein „Shiiit!“ war. Eine sprachliche Idiosynkrasie, die er ganz bewusst verwendete. Er hatte allerdings nicht ganz verstanden, was sie gesagt hatte, sondern lediglich erkannt, dass das, was sie ihm mitteilte, eine signifikante Verzögerung der Garderoben-Abgabe bedeuten wurde und fand daher seine Reaktion in jedem Falle angemessen. Die Nachricht schien mittlerweile die Runde gemacht zu haben und dem Garderobier wurden von der wartenden Menge wohlwollende Lösungsvorschläge zugetragen. Sarah fragte ihn, ob er noch Garderobenmarken habe und als er bejahte, dass er doch die Jacken auf den Boden schmeissen sollte, ihnen wäre das „eh wurscht“. Der Garderobier aber, von Pflichtbewusstsein getrieben, meinte, das wolle er nicht. „Was? Er wartet immer bis wer seine Jacke abholt, bis er wieder eine aufhängt? Das dauert ja noch ewig!“ Sarah lachte lauthals und legte ihm die Hand auf die Schulter. „Das habe ich doch gerade gesagt!“ Sie lachte weiter. „Ach so, nein, das habe ich nicht gecheckt.“ Sie fuhr ihm durch die Haare. „Es ist aber auf jeden Fall schlimm!“, sagte er. Nach einer gefühlten Ewigkeit waren sie endlich an der Garderobentheke angekommen und warteten, dass irgendjemand seine Jacke würde abholen kommen, damit sie die ihren abgeben konnten. Die Stimmung war etwas gedämpft und sie hatten nicht einmal mehr Lust, mit dem Garderobier zu diskutieren, damit er doch ihre Jacke nehme und auf den Boden werfe, da sie schon von anderen gesehen hatten, dass es sinnlos wäre.
Nachdem sie ihre Jacken endlich abgegeben hatten waren sie sich einig, dass sie einen Drink brauchen würden. Er sah die Zeit gekommen, auf Bier umzusteigen und bestellte ein grosses. Dann gingen sie dancen. Die Stimmung stieg. Es war auch auf dem Dancefloor rappelvoll und man konnte sich kaum bewegen, aber der DJ hatte gewechselt und die Musik war jetzt geil. Er gab Sarah sein Bier und versuchte sich eine Zigarette zu drehen. Er fischte Papers, Tabak und Filter aus seiner hinteren Hosentasche, klemmte den Tabak mit den Papers unter seinen Arm, entnahm eine Filterstange aus der Box, knickte sie, sodass die Filter an den Enden der Plastikumhüllung heraus standen und steckte einen in den Mund und die restliche Stange wieder in die Box zurück. Filter erledigt, dachte er und verstaute die Box indem er sie in seine Hosentasche steckte. Papers. Er wickelte den Gummizug der Paperbox, den er um die Tabakpackung gewickelt und so nicht nur diese zusammengehalten, sondern auch die Papers am Tabak festgemacht hatte, vom Tabak ab, hielt die Tabakpackung mit der rechten Hand und entnahm mit der Linken ein Paper aus der blauen OCB doppel-Paper-Packung, die er am Späti um die Ecke, wo es auch die Samosa gab, gekauft hatte; dann wickelte er den Gummi um die Box und steckte sie zurück in die Hosentasche. Das Paper war merkwürdig gefaltet und er betrachtete es genauer um festzustellen, wo der Klebestreifen war, was in dem spärlichen Licht des Clubs nicht unbedingt einfach war. Er klemmte die geöffnete Tabakpackung mit dem überstehenden Ende der Verschlusslasche zwischen den kleinen und den Ringfinder der rechten Hand und faltete das Paper in die Gegenrichtung, da er erkannte, dass der Klebestreifen aussen war, dann legte er seinen linken Zeigefinger in den Falz und hielt es mit Daumen und Mittelfinger der linken Hand so fest, dass es eine schöne Kuhle für den Tabak bildete. Dann nahm er die Tabakpackung in die andere Hand – wieder zwischen kleinen und Ringfinger, mit den ersten drei Fingern hielt er noch das Paper – und entnahm mit der rechten Hand eine Prise Tabak. Der Tabak war noch relativ frisch, was zur Folge hatte, dass noch ein ganzer Klumpen Tabak daran hing, den er nun versuchte mit dem Mittel- und Ringfinger der
rechten Hand von der Prise zu trennen, die er zwischen Daumen und Zeigefinger
derselben Hand fasste, während seine andere Hand weiterhin das Paper bereithielt. Nach einigem herumfisteln schaffte er es eine – wenngleich nicht ideale, so doch zumindest drehbare – Menge Tabak aus der Packung zu sondieren und legte den Tabak in das Paper. In diesem Moment kam ein etwas heftigerer Stoss von hinten als die üblichen. Durch den Stoss verfehlte der beinahe fallengelassene Tabak das Paper, das heisst, er touchierte es am seinem Körper abgewandten Ende, war aber für die Stabilität des Papers zu schwer, es knickte und der Tabak drohte auf den Boden zu fallen. Der Tabak glitt über die Finger der linken Hand und er versuchte mit Schrecken den Tabak mit der Rechten noch zu fassen zu bekommen, gleichzeitig darauf bedacht, keine zu ruckartige Bewegung damit zu machen, um keinen Tabak aus der Packung zu verlieren; doch vergeblich. Der Tabak fiel in das Gewühl der Beine und Füsse und verschwand unter tausenden von tanzenden Schuhen. Once again. Er nahm wiederum die Tabakpackung in die linke Hand und fistelte mit der rechten eine Portion Tabak heraus, die sich diesmal merklich leichter lösen liess, aber auch etwas mehr war als die vorherige. Er wechselte die Tabak-halte-Hand, legte den Tabak schnell in das Paper und verteilte ihn gleichmässig mit den Zeigefingern beider Hände. Dann zupfte er noch etwas Tabak aus dem präparierten Haufen im Paper und legte ihn in die Packung zurück; er nahm den Filter aus dem Mund und legte ihn in das rechte Ende des Falzes im Paper. Er liess den Filter immer etwas überstehen, damit er ihn dann, nachdem er den Tabak schon etwas eingerollt hatte, hineinschieben konnte und so den Tabak vor dem Filter – eine besonders kritische Stelle, hatte doch zu leichtes Eindrehen des Filters dessen herausfallen oder hineinrutschen oder gar das Abbrechen der Zigarette vor dem Filter zur Folge – noch etwas zu verdichten, bevor er die Zigarette fertig machte. Anschliessend legte er die beiden Längskanten des Papers zusammen und rollte den Tabak darin zwischen seinen Daumen und Zeigefingern zu einer leicht verdichteten Tabakrolle. Fast fertig. Er wollte die Zigarette abschliessen, musste jedoch beim Eindrehen des Papers erkennen, dass er einen fatalen Fehler begangen hatte, als er das Paper gegen die vorgefaltete Richtung gefaltet hatte, da der Klebestreifen nun aussen war und er die Zigarette nicht zusammen kleben konnte. Warum zur Hölle habe ich das Paper umgefaltet?, dachte er, da es doch keinen Grund gab anzunehmen, es wäre falsch gefaltet aus der Packung gekommen. Er beschloss ein gewagtes Rettungsmanöver und drehte die not-so-soon-to-be-Zigarette um hundertachtzig Grad, sodass der Filter nun nach links zeigte. Er versuchte die Seite des Papers mit dem Klebestreifen einzurollen und das Paper zu verkleben indem er das darüber zu liegen gekommene andere Ende des Papers von aussen ableckte, sodass die Nässe bis auf den darunter liegenden Klebestreifen käme und nach dem Trocknen die Zigarette verkleben sollte. inside-out. Das Vorhaben war von vorne herein zum Scheitern verurteilt, da er es nicht einmal schaffte, den Klebestreifen ordentlich in die Zigarette zu drehen, trotzdem versuchte er noch irgendetwas rauchbares zu fabrizieren und lecke das Paper ab, aber vergeblich. Er musste einsehen, dass es noch einen Versuch brauchen würde um endlich die ersehnte Zigarette zu erhalten.
Er hatte in seiner Konzentration mittlerweile die Umgebung komplett ausgeblendet, sein Körper wippte nur noch leicht und wie automatisch im Takt der Musik, die er schon gar nicht mehr bewusst wahrnahm. Sein Blick war auf die im Entstehen begriffene Zigarette gerichtet die wie in einem Schacht von vibrierenden Körpern umgeben war, der sein Sichtfeld mehr oder weniger auf seine Anstrengungen beschränkte. Es war eine merkwürdige Art der Konzentrationsfähigkeit, schoss es ihm in einer selbstreflektiven Gedankenwelle durch den Kopf, die sich durch das Gras einstellte und die es einem erlaubte, sich voll der Durchführung einer Tätigkeit zu widmen, wenngleich deren Ausführung dabei trotzdem – clumsy, ihm fiel kein anderes Wort dafür ein als clumsy, vor allem aber fiel ihm kein deutsches Wort für clumsy ein; obwohl er doch genau wusste, was es bedeutete, schien ihm jede Übersetzung um eine Nuance daneben, schien eine andere Konnotation zu haben und irgendwie zu viel oder zu wenig zu sein für was er eben sagen wollte. Eine Erfahrung die wieder einmal sehr deutlich zeigte, dachte er, dass der grosse Benefit des Erlernens von Sprachen nicht bloss der ist, die Zahl seiner potentiellen Gesprächspartner in der Welt zu vermehren, sondern vielmehr seinen begrifflichen Horizont zu erweitern und damit auch – schenkt man der von Benjamin Lee Whorf unter Bezugnahme auf Eduard Sapir entworfenen Sapir-Whorf-Hypothese Glauben – seine Wahrnehmung der Welt zu verfeinern; das heisst, mit Wittgenstein, die Grenzen seiner Welt zu erweitern. Wenngleich er also nicht müde wurde, die von dem Ethnologen und Sprachwissenschaftler Franz Boas in die Welt gesetzte Mär, die Eskimos (welche überhaupt?) hätten hundert (oder wie viele auch immer) Wörter für Schnee, in populären Küchenphilosophien als eine solche Mär zu entlarven, so ist es doch klar, dass es diesen Eskimos, die in ihrer Sprache, wenngleich auch nicht kraft multipler Lexeme, sondern via multipler Affigierung – sodass, aufgrund der polysynthetischen Natur der Eskimosprachen, das, was im Deutschen beispielsweise durch phrasale Konstruktionen ausgedrückt wird, in Eskimosprachen als ein Wort erscheint – zwischen sehr vielen Arten von Schnee differenzieren, dadurch auch erst möglich ist, diese verschiedenen Arten von Schnee zu erkennen, was in ihrer Lebenswelt offenbar von erhöhter Wichtigkeit sein musste. Nach dieser Erkenntnis davon auszugehen, die Wörter – oder synthetischen Wortkombinationen – hätten vor dem Erkennen des Schnees bereits bestanden hiesse allerdings, erkannte er aufgeregt, derselben irrtümlichen Vorstellung zu erliegen, die Platon glauben liess alle Dinge in der Welt würden immer schon als ihre Prototypen – Ideen – in einer übergeordneten Ideenwelt bestehen, bevor sie überhaupt als je individuelle Manifestationen auf unserer, der Welt der Dinge, entstehen konnten. Eine gleichsam wahnsinnige Vorstellung. Er wollte den überaus interessanten Platonischen
Gedankengang gerade weiter ausbauen, da wurde er von der immer noch vor seinen
Augen liegenden Katastrophe einer Zigarette in die Realität zurückgerufen. Irgendein unausgeführter Gedankengang baumelte wie das lose Ende eines Seils in seinem Kopf aber es gelang ihm nicht, ihn zu fassen. Er fragte sich, was das gewesen war, versuchte seine Gedankengänge noch einmal aufzurufen, die Assoziationskette noch einmal zu durchlaufen, musste aber erkennen, dass es aussichtslos war und widmete sich wieder der
Fabrikation seiner Zigarette.
Die kläglichen Trümmer derselben lagen auf der Handfläche seiner linken Hand und er
versuchte nun mit der rechten in die linke hintere Hosentasche zu langen um die Papers herauszuziehen. Die sehr ungelenk aussehende Bewegung wurde im Club zwar durch die Menge verdeckt, trotzdem musste sein Versuch für die hinter ihm Stehenden einen recht komischen Eindruck machen, dachte er, aber versuchte sich darauf zu konzentrieren, mit Zeige- und Ringfinger die Papers-Packung einzuklemmen und sie aus der Hosentasche zu ziehen. Mit aller Anstrengung schaffte er es und begann nun mit einer Hand die Packung zu öffnen. Während er mit Daumen- und Ringfinger die Packung hielt versuchte er mit dem Zeigefinder das Gummiband abzustreifen, aber es schnellte immer wieder zurück, da er es nicht schaffte, mit seinem Zeigefinger unter das Band zu schlüpfen, damit er es über die Kanten der Packung heben könnte. Nach mehrmaligen Versuchen gab er auf und half mit der linken Hand mit, auf deren Handfläche immer noch die Reste des ersten Versuches lagen, den er nun leicht mit der Hand umschloss um ihn vor dem Hinunterfallen zu bewahren. Er löste das Gummiband mit der rechten, während er die Packung in die linke Hand klemmte und entnahm so auch gleich ein weiteres Paper, stülpte das Gummiband wieder über und steckte die Packung in die vordere rechte Hosentasche um sich weitere Verrenkungen zu ersparen und das Paper, das er noch immer in derselben Hand hielt, vor dem verknittern zu bewahren. Dann faltete er das Paper in der Linken auseinander, sodass der Tabak offen da lag und betrachtete das neue Paper in der Rechten. Er versuchte sich dreidimensional vorzustellen, wie er die Konstruktion rotieren musste und wo also der Klebestreifen landen sollte um diesmal nichts falsch zu machen. Er legte das Paper mit dem Klebestreifen auf der von ihm entfernte Seite nach unten auf das andere Paper mitsamt Tabak und Filter und dann seine rechte, flache Hand auf die linke und versuchte nun, seine Hände um hundertachtzig Grad zu drehen. Er konnte es nicht. Seine Hände schienen sich dagegen zu wehren, er konnte sie nur etwa hundertfünfunddreissig Grad drehen, dann hatte er seinen linken Ellenbogen hoch in die Luft gestreckt und sein linkes Handgelenk bis zum Anschlag verdreht und stand an. Das Problem war, dass er seine Hände im rechten Winkel aufeinander gelegt hatte und nun entweder seine rechte Hand zur rechten Schulter wanderte, mit der Handfläche nach oben, aber etwas überdehnt, sodass beim Loslassen der Tabak samt Paper wohl ungewollt von seiner Hand fortgeschleudert würde. Er versuchte die Drehung mit dem linken Schultergelenk auszugleichen indem er den Ellenbogen hob und rechte Hand vor seinem Körper in die Waagrechte zu bringen und stand dann aber nach etwa hundertfünfunddreissig Grad an und konnte nicht mehr weiter. Nun wurde ihm trotz des Fokus auf seine Dreherei bewusst, dass diese grobmotorisch-zuckenden Bewegungen nun wirklich ziemlich strange aussehen mussten und drehte deshalb seine Hände zurück und sah sich kurz paranoid um aber es schien keiner bemerkt zu haben, dachte er und blickte wieder auf seine noch immer wie aneinander klebenden Hände. Er hatte das Problem erkannt und hob seine rechte Hand um sie genau deckungsgleich auf die andere zu legen doch das Paper blieb an seiner Hand haften und er musste es mit den Zeigefingern der linken Hand abnehmen und mit der rechten wieder auf den Tabak legen. Er legte nun seine Hand auf die andere und drehte sie ohne Probleme um hundertachtzig Grad. Er nahm die linke Hand ab, das Paper blieb kleben und er zerknitterte es und warf es auf den Boden, drehte das andere Paper mit beiden Händen um den schon geformten Tabak, befeuchtete den Klebestreifen mit der Zunge und klebte die Zigarette zusammen. Puh! Er atmete tief aus und verharrte einen Moment um die Anstrengung abklingen zu lassen, dann steckte er die Zigarette an.
[…]

zweiter teil

Krumm ist der Pfad der Ewigkeit.
(Friedrich Nietzsche)

Um zum Eingang des von Rem Kolhaas entworfenen Gebäudes zu gelangen, muss man
einen hölzernen Steg entlanglaufen, der über die feuchte Wiese führt. Der Pavillon mit sechseckigem Grundriss ist ein Komplex aus sechs kleinen Häusern, die um einen
Innenhof derselben Form gruppiert sind. Die einzelnen Häuser haben ein spitzes Dach
und gestalten sich wie Zelte. Man kommt nicht umhin, die 450-Euro-Heinzlüfter von
Dyson zu bemerken, die das Zelt auf angenehmer Temperatur halten. Die kleinen
Häuser sind je ein einziger Raum und sind durch Tür.ffnungen miteinander verbunden
und durch Vorhänge voneinander getrennt. Der letzte und der erste Raum haben einen
Zugang zum Hof, sodass eine Tour durch den ganzen Komplex zuerst durch alle Räume
und dann durch den Hof wieder zum Eingangsraum führt. Es wird alles getan, den
BesucherInnen den Eintritt in eine andere Sphäre zu vermitteln. Durch den Steg und
dadurch, dass das Gebäude selbst ebenso etwa 50 cm über dem Boden schwebt, wirkt es
der irdischen Welt enthoben. In Vierergruppen darf man nach vorheriger Anmeldung
eintreten und wird zunächst angewiesen, auf einem Hocker Platz zu nehmen. In weisse
Kittel mit dem Signet des Instituts auf der Brust gehüllte MitarbeiterInnen mit
futuristisch aussehenden, silbernen Stiefeln aus Filz erklären einem nun mit freundlicher Stimme, dass man zunächst seinen Willen zur Absolvierung des gesamten Rundgangs und damit zum Verbleib von mindestens zwei Stunden im Institut vertraglich bekunden muss. Ein Abbruch der Prozedur sei nur in Ausnahmefällen möglich. Ebenso würden sämtliche Räume gefilmt, womit man sich ebenso einverstanden erklären müsste, wie mit der eventuellen Veröffentlichung der Aufnahmen durch das Institut. Nachdem man den ominösen Vertrag unterzeichnet hat, muss man seine Taschen leeren und den Inhalt in einer Box verstauen, die in einen der schmalen weissen Kästen, die den Raum säumen, gelegt wird, aus dem jeder nun auch einen Kittel und Schuhe bekommt: Der Übergang aus der Sphäre des Alltäglichen in das Besondere. Von jeglichen Banalitäten des Alltags befreit, begeben sich die TeilnehmerInnen nun in den ersten Raum. Sie finden sich dort vor einem grossen Flachbildschirm an der Wand, vor dem vier Gymnastikmatten wie eine Aufforderung liegen. Der Bildschirm ist schwarz. Der Raum ist so weiss wie der erste, in der Ecke steht auch hier ein Dyson-Heizlüfter der ihn angenehm warm hält. Fast automatisch und ohne ein Wort sucht sich jeder seinen Platz vor einer der Gymnastikmatten, keiner wagt jedoch, sich hin zu legen oder zu setzen.
Der Bildschirm geht an und es erscheint die Gründerin selbst in der Nahe-Einstellung (shoulder close-up). Ihre Haare sind streng zu einem Zopf gebunden und sie trägt ein rotes Kleid. Ihre Augen sehen direkt in die Kamera, als sie zu reden beginnt. Mit eindringlicher Stimme (die im Kontrast zu denen ihrer MitarbeiterInnen noch bestimmter wirkt) erklärt sie kurz den Zweck des Instituts und die Ziele, die es verfolgt. Das Brustbild im Bildschirm erscheint vor weissem Hintergrund und ist in keinem wie auch immer gearteten Raum verortbar. Es ist ortlos und damit wiederum dem Irdischen enthoben: Unweigerlich fühlt man sich an George Orwells Big Brother erinnert und die ganze Ausrichtung auf die Person der Gründerin zusammen mit dem spiritualistischesoterischem Umfeld erscheint etwas befremdlich. (Fußnote 1) Trotzdem blicken alle Anwesenden weiter auf den Bildschirm und nehmen wortlos auf, was geboten wird. Die Enthobenheit des ganzen Komplexes lässt eine seltsame Raumwirkung entstehen, die, ähnlich einer gotischen Kathedrale, die Besucher gleichsam andächtig verstummen lässt und in eine ungewöhnliche Ernsthaftigkeit verfallen, die dem Dargebotenen sonst vielleicht nicht entgegengebracht würde. Auf dem Bildschirm erscheint nun eine andere Frau, diesmal in der Halbtotale, und leitet zu einigen Entspannungs- und Konzentrationsübungen an, die auf die weiteren Erlebnisse vorbereiten sollen. Vor dem Eintritt in den nächsten Raum bekommen die TeilnehmerInnen Ohrhörer und ein Abspielgerät und werden angewiesen, die Ohrhörer einzusetzen und das Abspielgerät in die Brusttasche ihrer Kittel zu stecken und nicht mehr anzufassen. Damit ist die vollendete Einkapselung der Protagonisten erreicht. Kontakt mit den anderen ist nur noch durch Blicke möglich, man ist in seine eigene persönliche Sphäre eingetreten, die beherrscht wird von der theatralischen Stimme der Gründerin.

The Water Chamber
Auf der einen Seite des Raumes steht eine unprätentiöse Bank so ausgerichtet, dass man auf ihr sitzend den Blick auf die auf der anderen Seite des Raumes stehenden vier Wasserspender richten kann. Die Wasserständer sind aus Holz gezimmert, etwa auf Hüfth.he gibt es einen Regalboden auf dem je vier leere Gläser stehen. Darüber befindet sich eine Holzplatte auf der ein grosses Glasgefäss steht, das etwa fünfundzwanzig Liter fasst und vorne einen kleinen Hahn hat, der über die Tischplatte hinausreicht, so dass sich bequem Wasser zapfen lässt. In jedem der vier Gefässe befindet sich ein Stein, der, wie man wenig später von der körperlosen Stimme in den Ohren erfährt, dem Wasser bestimmte Kräfte übertragen soll. Dann bittet die Stimme der Gründerin die vier Personen im Raum über ihre Ohrhörer, Platz zu nehmen und erklärt, welche der Steine welche Wirkung hätten. Danach solle die dem Ausgang nächste Person aufstehen, sagt die Stimme weiter, sich einen Stein aussuchen und ein Glas Wasser aus dem dazugehörigen Behälter zapfen und sich wieder setzen.
Als der Typ, der am Eingang sass das gezapfte Glas Wasser sogleich in grossen Schlucken trank, konnte er eine gewisse Genugtuung nicht unterdrücken. Er kannte die Übung aus einem Vortrag der Gründerin, den er mal auf youtube gesehen hatte, und wusste, dass es eben genau darum ging, langsam zu trinken und die Qualität und den Geschmack des Wassers, ja sogar seine versteckten Wirkungen, wahrzunehmen. Der Typ hatte nicht zugehört, von trinken war nicht die Rede gewesen, aufstehen, einfüllen, hinsetzen. Er war ihm gleich am Anfang aufgefallen, er war offenbar mit seiner Freundin hier und ihm von Anfang an unsympathisch. Er war etwas dicklich, hatte eine Mischung aus Dreitageund Vollbart, eine gerade geschnittene Jeans, ein T-Shirt mit Aufdruck und darüber einen schwarzen Pullover mit einem Reissverschluss vorne, der nur etwa bis zum Brustbein ging. So ein Pullover mit merkwürdig andersfarbigen Rändern entlang des Reissverschlusses und Kragens. Der Reissverschluss solcher Pullover wurde freilich immer leicht geöffnet getragen und hatte in diesem Fall auch noch ein längliches viereckiges Teil mit Kugel am Schluss um den Reissverschlussschlitten zu zu ziehen. Gab es ein Wort für so ein Teil, fragte er sich unwillkürlich, konnte dem Gedanken aber nicht folgen, da ihn seine Abneigung gegen den Typ weiter in Bann zog. Dem Satz folgte eine Pause, wohl um die anderen auch Wasser holen zu lassen und seine Freundin tat es ihm gleich. Als er sie trinken sah, fühlte er einen leichten Stress in sich aufsteigen, da er hoffte, er käme noch an die Reihe, bevor die Stimme weiter Anweisungen geben würde, die ihren Irrtum aufzeigten, sodass er ihnen zeigen konnte, dass er mehr wusste als sie, dass er wusste, wie die Übung ablaufen müsste und dass er somit würdiger wäre als sie, hier zu sein. Es war dieselbe Art Aufregung, die ihn immer erfasste, wenn er beispielsweise eine Überraschung fertig machen wollte bevor sein Mitbewohner nach Hause kam, oder wenn er sich noch bei jemandem melden wollte, bevor sie sich meldet, aber eben erst dann um dies und jenes zu schreiben. Je näher der Moment kommt, in dem die die Situation lösende Aktion von ihm statt finden konnte, je aufgeregter wurde er, denn je mehr, so schien es, konnte schiefgehen. Er hatte Pech, denn die Stimme setzte wieder ein, als sich die Freundin des Typs neben ihn setzte und erklärte, man müsse das Wasser nun langsam und bedächtig in kleinen zahlreichen Schlucken trinken und schmecken, wie das Wasser schmeckt und fühlen, wie die Flüssigkeit in den Körper dringt. Er musste aufstehen und sein Glas füllen, weshalb ihm der Anblick des enttäuschten, gleichsam beschämten Gesichts der beiden entging, aber er liess sie nun trotzdem auch gedanklich beiseite, zapfte sein Wasser und kehrte zu seinem Platz zurück. Das Wasser schmeckte etwas schal und ganz leicht bitter. „Leitungswasser“, dachte er beim zweiten Schluck enttäuscht, probierte aber weiter. Es war angenehm kühl, keinesfalls zu kalt, wie man es hätte erwarten können, dachte er. Die Gläser waren schlicht und beim fünften Schluck viel ihm das IKEA Logo am Boden auf, eine weitere Enttäuschung. Eine unerwartete gleichwohl – nach den Dyson-Heizstrahlern und den offenbar extra gezimmerten Gestellen für die ebenfalls schönen Glasbottiche hätte er mehr erwartet. Das Wasser war nicht schlecht, wenngleich es nicht so flüssig schmeckte, wie zum Beispiel Vittel, seine Messlatte für stilles Mineralwasser. Während andere Leute ihm gegenüber bereits geäussert hatten, sie würden überhaupt keine stillen Quellen mögen, dachte er, dass sich gerade hier die wahre Qualität des Wassers offenbarte. Ein prickelndes Tafelwasser wie zum Beispiel San Pellegrino, seine erste Wahl als Begleiter zum Essen, kann für diesen Zweck auch ruhig etwas härter sein, mineralreicher und intensiver. Zum einfach so trinken, oder vor allem nach dem Sport – Königsdisziplin der Wasser – reicht das jedoch nicht. Während er schluckweise weiter trank dachte er zurück an sein Mineralwasser-Erweckungserlebnis: Einmal nach dem Joggen kaufte er sich wie öfters bei dem Späti um die Ecke ein Wasser, diesmal aber kein Evian, sondern ein Vittel, da der Verkäufer plötzlich solches in der Kühlvitrine hatte, was er sonst noch nie und auch niemals wieder hatte. Dass er sich überhaupt nach dem Joggen stilles Wasser kaufte, was er früher nie getan hatte, da er es als Verschwendung und vollkommen sinnlos ansah, war wohl seiner kurz davor abgeschlossenen Lektüre von Bret Easton Ellis’ American Psycho geschuldet, dessen kurzer Diskussion über Mineralwasser er die Wichtigkeit nicht nur eines Mineralwassers, sondern des richtigen, nach dem Sport für die Gesundheit entnahm. Er kaufte also dieses Vittel und nahm sogleich einige Schlucke aus der kalten Flasche und – er mag überdurchschnittlichen Durst gehabt haben, doch trotzdem – jeder Schluck war ein Genuss. Es war als konnte er das Wasser langsam in die Poren seines Körpers einsickern spüren, als würde sein ganzer Körper Wasser aufsaugen wie ein trockener Schwamm. Mit jedem Schluck war es besser, versuchte er nun auch, das Wasser zu schmecken, schmeckte die leichte Süsse, versuchte mit jedem Schluck mehr zu schmecken, mehr zu spüren, spürte, wie sich das Wasser wie eine Springflut im Mund ausbreitete und schmeckte die fast cremige Weiche des Wassers, die Frische und die Reinheit. Dieses Wasser schmeckte wirklich so rein, so weich und so flüssig, als wäre es flüssiger als andere Wasser, hyperfluide, er trank die halbe Flasche in kleinen Schlucken (ohne dabei von jener späteren Übung zu wissen!, dachte er) und erklärte es zu seinem Lieblingswasser. Nun wusste er sich zurückzuhalten und es war nicht so, dass er keine Möglichkeit auslassen konnte, über sein Wasser zu schwärmen, aber er verstand es doch seiner Wahl, wenn das Thema aufkam, auch die nötige Begründung wortreich nachzureichen. Vor kurzem führte das bei einem Abendessen mit Freunden zu einem Blindtest, Leitungswasser gegen Vittel. Er bestand. Zwar weniger wegen dem Geschmack, als weil er von den wenigen Wassertropfen, die an dem einen Glas noch innen hingen schloss, es müsse von der Leitung sein, da diese beim Einfüllen mehr spritzte als die Flasche und das andere Glas keine solche Tropfen aufwies, aber er nahm es trotzdem als einen Beweis dafür hin, dass die Wasser nicht nur unterschiedlich seien, sondern er es auch schmecken würde. Nicht nötig also, jemandem über seine kleine Hilfe bei der Wahl aufzuklären. Es war allerdings schwierig zu sagen, wie es sich mit seinem Schmecken nun wirklich verhielt, denn schon beim Trinken aus dem ersten Glase dachte er, das sei Vittel, da hatte er aber auch schon die Spritzer gesehen, wollte sich freilich nicht auf diese verlassen, sie hatten dann aber im weitern Entscheidungsprozess in seinem Inneren vielleicht den entscheidenden Ausschlag
gegeben. Er hatte das Wasser fertig getrunken, da riss die Stimme in seinen Ohren ihn auch schon aus seinen Gedanken.
Im Management-Seminar-Neusprech würde diese Übung wohl eine Entschleunigungsübung genannt. Das Ziel ist, jede einzelne Aktion einer alltäglichen Tätigkeit konzentriert und bewusst auszuführen. Die Kälte des Wassers zu spüren, bevor man das Glas an die Lippen setzt, dann das Glas an den Lippen, die Kälte, den Geruch des Wassers um dann, in kleinen, langsamen Schlucken, das Wasser zu trinken, nicht, weil man Durst hat oder um Flüssigkeit aufzunehmen, sondern um den Vorgang bewusst nachzuvollziehen, das Wasser bewusst zu schmecken und zu fühlen. Die Übung nimmt durchaus Anleihen an der Zen-Meditation, wo das meditative Arbeiten, Samu (jap. 作務), eine ergänzende Funktion zur sitzenden Meditation einnimmt. Die Übenden führen einfache Tätigkeiten mit grosser Sorgfalt und in konzentrierter Anwesenheit durch und können so zur eigenen Wesensschau finden. Ähnlich ist die Übung des Wassertrinkens hier zu sehen, weit entfernt davon, Wissen über Wasser vermitteln zu wollen, oder die eigene Verbindung zu Wasser zu intensivieren, will die Übung die Verbindung zum eigenen Tun öffnen, eine grosse Dimension des täglichen Lebens in den Fokus der Aufmerksamkeit rücken und so die Funktion der Kunst, das im normalen Leben unsichtbare zu zeigen, ausüben, indem sie nicht neue extraordinäre Situationen schafft, sondern indem sie die unsichtbaren Tätigkeiten unseres täglichen Lebens sichtbar macht. Die Übung könnte mit allen anderen banalen Tätigkeiten unseres Daseins ausgeführt werden und es wäre nicht verwunderlich, würde dies später von der Gründerin nahe gelegt.
Gerade wenn man das Wasser getrunken hat und noch in den Nachwehen des Erlebnisses schwelgt, meldet sich schon wieder die Stimme und fordert auf, in den nächsten Raum weiter zu gehen. Hier drängt sich wieder ein leicht autoritärer Touch der ganzen Veranstaltung auf: die Besuchszeit ist durch die abgespielte Aufnahme genau festgelegt und den Teilnehmern damit die Möglichkeit genommen, über ihre Zeit selbst zu verfügen oder zumindest in das Durchleben der Räume zu intervenieren.

The Looking Chamber
In dem Raum mit der nun schon bekannten Sechseckform stehen vier übergrosse Stühle.
Ihre Sitzfläche ist in etwa so hoch, dass die Füsse eines darauf sitzenden durchschnittlich grossen Menschen dreissig Zentimeter über dem Boden hängen. Zwischen den vorderen beiden Stuhlbeinen ist eine kleine Platte angebracht, auf die man die Füsse stellen kann und die gleichzeitig als eine Art Stufe dient, um die Sitzfläche zu erklimmen. Je zwei Stühle stehen einander mit einem Abstand von etwa achtzig Zentimetern gegenüber. Links hinter jedem Stuhl befindet sich eine etwa zwei Meter fünfzig hohe, hölzerne Säule, die einen grossen Kristall trägt – Stühle für die Seele, wie die Stimme erklärt. Die beiden Stuhlpaare (für Menschen) stehen normal zueinander und formen ein T mitten im Raum, sodass die Person des zweiten Paares, die mit dem Rücken zur Wand sitzt, das andere Stuhlpaar hinter ihrem Gegenüber sehen kann. Die Stimme erklärt weiter, dass man sich im folgenden aufrecht auf diese Stühle setzen und einander möglichst ohne jede Bewegung und ohne jede Regung in die Augen sehen solle, mit so wenig blinzeln als möglich und den Kontakt zum Inneren des Anderen suchen. Jeder der Teilnehmer muss sich also einen Stuhl aussuchen und seinem gegenüber in die Augen blicken. Es ist bei der gegebenen Anordnung vermutlich von Vorteil, wenn man sich alleine für den Besuch des Instituts entschieden hat, da man so zwangsläufig einer einem selbst unbekannten Person gegenüber sitzt. Diese Unkenntnis des anderen lässt die forcierte Intimität eines dauernden Augenkontaktes noch schwieriger und damit noch eindrücklicher werden.
Die folgende konzentrierte Stille, in der sich jeder nur auf den Blickkontakt konzentriert, offenbart zuallererst die Schwierigkeit, für etwa eine halbe Stunde regungslos zu verharren und die Anstrengung einfachen Sitzens ohne Bewegung. Dabei verliert man auch jedes präzise Zeitgefühl, da sich im Raum an sich nichts ändert, man aber verschiede Phasen der Verbindung zum jeweils anderen durchlebt. Die erste hat etwas von dem kindlichen „Wer lacht zuerst?“-Spiel, unwillkürliches sich Heben der Mundwinkel und das Wieder-abstellen-Versuchen desselben bevor man schliesslich zu einer gewissen Ruhe und Ernsthaftigkeit findet. Es zeigt sich, das es einen grossen Unterschied gibt, zwischen sich-in-die-Augen-sehen und Blickkontakt halten. Denn um den Blick zu sehen und nicht bloss die Augen muss man über das blosse Licht der Augen hinausgehen. Die Augen müssen, um mit Jacques Derrida zu sprechen, Sehendes sehen anstatt Sichtbares. Aber „wenn sie eher einen Blick zu sehen glauben als Augen, […], sehen sie nichts, folglich, nichts, das sich sieht/zu sehen ist [se voie], nichts Sichtbares.“ (Fußnote 2) In seinem Buch „Berühren: Jean-Luc Nancy“ erarbeitet Derrida genau diese Differenz zwischen dem Sehen des Dinges und dem Sich-ereignen des Blickes. Es ist genau diese Differenz, auf die die Gründerin mit ihrer Übung verweist, eine Differenz, die, lange bevor sie theoretisiert und analysiert wird, greifbar wird: Erblickt man nun ein physisches Ding, wenn man in die Augen blickt, oder erblickt man den Blick, das aktuelle Sehen, und schafft es damit, „an das Unberührbare [zu] rühren?“ (Fußnote 3) Wenn man den Blick des Gegenübers berührt [toucher], anstatt nur seine Augen zu sehen, wenn sich die Blicke treffen [se touchent], dann wird der Blick unseres Gegenübers nicht nur sehend, sondern sichtbar und damit auch die Normativität des Blickes, das heisst, unsere Vorstellung des Blickes als ein Blick durchbrochen indem er sich als dieser Blick ereignet.
Es ist ein Moment, indem wir den stereotypen Blick verlieren und er zu diesem einen
Blick wird, an den wir uns ewig erinnern, weil er gleichsam monotyp wird. Es ist ein Blick, der sich ereignet, der blickt, aber im selben Augenblick als Blick erblickt wird. Es entsteht eine Doppelung des Blicks als unmittelbar sich ereignende Performanz und gleichzeitig als mittelbar rhetorische Lesung des Blicks. In der Erfahrung des Durchbrechens des Sehens des Sichtbaren auf das Sehen des Sehens hin entdecken wir die „Seele des Auges“ (Fußnote 4) unseres Gegenübers. Es ist eine wahrhaft intime Erfahrung, die sich hier mit einer bislang fremden Person einstellt, ein Berühren des Anderen über den Blick. The Looking Chamber offenbart das aufrecht erhalten dieser Berührung als besonders schwierig: immer wieder bricht das Sehen des Blickes ab und wird zum Indie-Augen-Schauen, oder bei grösserer Unkonzentriertheit zum Abschweifen in eine Beobachtung des Gesichtes unseres Gegenübers, des Raumes, et cetera.
Nachdem die Stimme in ihren Ohren den nächsten Raum erklärt hatte, wollte er sich eigentlich schnell der Freundin des Typs gegenübersetzen, um zu verhindern, dass sich die beiden in die Augen schauen müssen, aber sie waren schneller. Er setzte sich also Marie gegenüber auf den Stuhl und sie sahen sich in die Augen. Sie musste lächeln. Ihr Lächeln war wie immer keck und ihr Blick schien tief in ihn einzudringen, gerade so als wollte sie in ihm drinnen die Wirkung ihres Lächelns lesen. Immer wenn sie lächelte, schien es als würde sie gleichzeitig über ihr eigenes Lächeln reflektieren. Ihr Lächeln war wie ein Lächeln zweiter Ordnung, so als würde sie zuerst innerlich lächeln und dann bewusst versuchen ihr inneres Gefühl möglichst eindrücklich zum Ausdruck zu bringen und als würde sie dann in den Augen ihres Gegenübers zu sehen trachten, ob ihr Gefühl richtig aufgenommen wurde. Ihre Mundwinkel zogen sich dann langsam nach oben, gerade nicht zu weit, und ihre Wangen bildeten kleine Grübchen aus. Ihre Augen blieben dabei merkwürdig unverändert, zogen sich nicht zusammen, sondern blieben geöffnet, um ihr Gegenüber, den Angelächelten, anzublicken. Nur wenn sie lachte betraf es ihr ganzes Gesicht, ihr Augen wurden kleiner und es bildeten sich kleine Fältchen an den Seiten, dann schrie sie meist laut heraus, ein zwei gellende Lacher, ganz egal, wo man war oder wie unpassend es schien, immer gefolgt von der Schüchternheit vorschützenden Geste der vor den Mund gehaltenen Hand. Sie hatte zu lächeln aufgehört. Er suchte in seinem Gedächtnis nach einem Bild von ihr, auf dem sie lachte, aber er konnte merkwürdigerweise keines finden. Das einzige, was ihm von ihrem Lachen in Erinnerung bleib, war dieses laute Herausschreien, das wie eine Eruption aus ihr herauszubrechen schien. Aber er konnte sich partout an keinen Gesichtsausdruck erinnern. Er betrachtete ihr Gesicht. Es war ausserordentlich jugendlich, ihre Haut war so rein und glatt und fehlerlos wie die Gesichter in Make-up Werbungen in
Hochglanzmagazinen. Er hatte das starke Bedürfnis, seine Hand über ihre Wange streichen zu lassen, über ihren Hals, ihre Schulter. Trotz ihres jugendlichen Gesichtes schien sie, wohl auch wegen ihrer Frisur, älter. Nicht unbedingt älter als er – sie sah älter als er aus, aber das meinte er nicht –, sondern einfach älter. Auch nicht alt, oder auf ein bestimmtes Alter festgelegt, aber schlicht immer etwas älter als … ohne als. Ihr Gesicht allerdings, dachte er jetzt, sah eben wieder jünger aus, jugendlich. Das war vielleicht das Schöne an ihrem Gesicht, dass es so rätselhaft war. Und ihr Gesicht war das Schöne an ihr. Das Besondere. Sie hatte auch einen tollen Körper. Er dachte an die vergangene Nacht, dachte an die Berührungen und fühlte dieses Gefühl in ihm hochsteigen, das so etwas war wie Liebe, aber auch Lust, Geborgenheit und Ungewissheit. Er ertappte sich dabei, wie er abgedriftet war, seine Augen mussten leer erschienen sein, sein Blick verloren gegangen. Er kam wieder zurück ins Hier und Jetzt, richtete sich innerlich auf und und konzentrierte sich darauf, Maries Blick zu erkennen.
Ihr Blick war konzentriert auf ihn gerichtet, durchdringend, als würde sie in ihn hinein sehen. So ein Blick konnte unangenehm sein, beunruhigend, aber ihm war es seltsamerweise egal, dass gerade sie gerade ihn durchschauen sollte. Zwischen ihnen war eine solche Nähe entstanden, dass er es zulassen konnte, dass er es sogar wollte, dass sie ihn durchschaute, weil er fühlte, dass er sich ihr offenbaren konnte, ohne Worte. Sie hatten nie soviel geredet über ihre Beziehung und wie da alles ablaufen sollte. Beziehung. Ein seltsames Wort. Eine Beziehung haben zueinander sagt ja über die Art der Beziehung noch nichts aus. Obwohl es gemeinhin für alle sofort klar war, wie das dann alles ablaufen soll, dachte er. Für alle die ignorant genug waren, zu glauben es gäbe nur ein allgemein anerkanntes Beziehungsmodell und dieses würde im stillen Einverständnis von allen Seiten her als das einer Beziehung angenommen und sollte in der eigenen Vorstellung etwas von diesem normativen Konstrukt abweichendes vorhanden sein, so wäre es an einem selbst, das doch dem Anderen mitzuteilen, früh genug, denn sonst würde der Andere ja nicht wissen, dass es doch nicht so ist, wie er dachte und es wäre ja sein oder ihr Recht anzunehmen, alle würden sich der Norm unterordnen, alle würden so denken, wie man selbst, oder wenn nicht, das dann doch zumindest sagen, da sie ja wüssten, dass das, also die eigene Meinung, auch die allgemein anerkannte und damit richtige, moralisch richtige, war, die andere also die falsche, oder zumindest die nicht-richtige, die abweichende, die, die man zur Sprache bringen muss, diskutieren muss, bevor man sich nach ihr verhalten konnte. Leider waren diese Ignoranten sehr weit verbreitet auch unter den Menschen, mit denen er sich abgab, diese Beziehungsnormativität nervte ihn unendlich und dass dann alle immer so pseudotolerant waren, ja, kann ja eh jeder machen, wie er will und so, aber man muss es halt trotzdem … und es ist ja schon anders … und eigentlich kann man ja schon annehmen, dass eigentlich schon irgendwie alle so denken, wie es halt der Norm entspricht und sonst muss man dass halt dann schon sagen … noch mehr nervte ihn die kategorische Ablehnung von Vorstellungen, die der scheinbar normalen zuwiderliefen; die Unmöglichkeit auch nur zu diskutieren, besonders bei denen, mit denen man eigentlich, genau darüber reden müsste, weil es sie betrifft, mit Menschen, mit denen man eine Beziehung hat. Aber die schaffen es dann nicht nur nicht einmal über ihren bornierten Tellerrand hinauszusehen, sie schaffen es nicht mal objektiv und sachlich über das Thema zu diskutieren, sich mal zu fragen warum sie eigentlich so denken, warum es denn jetzt eigentlich so schlimm war, wenn der Andere mit jemand anderem Sex hatte und ob sie überhaupt auch so fühlen und woher das alles kommt. Diese emotionale Blockierung nur weil man plötzlich mit jemandem redet, der einem nahe steht, weil es einen selbst betrifft. Eigentlich, fiel ihm in diesem Moment ein, offenbart sich hier die ganze pseudoliberale Heuchelei der Leute, bei denen alles immer in Ordnung und interessant ist, solange es nicht sie selbst betrifft und die in ihren eigenen Vorstellungen von Beziehungen und allem was dazugehört die letzten Konservativen sind, nicht bereit von ihren Vorstellungen von Normalität auch nur einen Millimeter abzurücken, die so tief in diesem reaktionären Dogmatismus stecken, dass sie es nicht einmal schaffen, über seine Gründe nachzudenken
und—
Er verscheuchte seine Gedanken und versuchte sich wieder auf das Blicken zu
konzentrieren. Man müsse nicht einfach blicken, sondern der Blick geradezu sein. Gleich darauf kam ihm das etwas komisch vor, aber er dachte, es wäre wohl in etwa das, was die Gründerin des Instituts dazu sagen würde. Ausserdem ist eigentlich genau Zen-Philosophie. Also kein esoterisches Zeugs … eigentlich … aber blicken, nicht denken, dachte er.

? ?

Er konnte nicht anders als noch einmal zurückzudenken, seine innerliche Schimpftirade hatte ihn zu sehr aufgewühlt. Marie war anders – vielleicht als erste Frau, die er kannte? Sie hatte keine festen Vorstellungen, oder sie hatte natürlich auch Vorstellungen, aber eben keine zementierten, dogmatischen. Sie konnte darüber reden und nachdenken, ohne sich selbst emotional zu blockieren. Obgleich er nicht glaubte, dass sie davon überzeugt war, oder es gut fand, beispielsweise eine offene Beziehung zu haben, so konnte sie zumindest darüber reden und war bereit ihre alten Vorstellungen zu überdenken, oder etwa Neues zu versuchen. Sie hatten ein paarmal darüber geredet, aber nie wirkliche eine eindeutige Regelung für ihre Beziehung getroffen. Er hatte das Gefühl, sie wollte das auch nicht, sah es auch irgendwie als stillschweigendes Einverständnis an, dass sie vielleicht doch beide unterschiedliche Vorstellungen hatten, aber das ihnen nicht im Wege stehen sollte und solange es kein Problem darstellt musste man ja nicht auf biegen und brechen versuchen, diese Unterschiede irgendwie zu nivellieren, dachte er, wahrscheinlich, dachte er dann aber, waren sie auch einfach zu feige, sich dem zu stellen, liefen sie davon davor, ignorierten es, um nicht darüber reden zu müssen, verschwiegen es, weil es einfacher war, verdrängten es. Er würde ihr auch nicht sagen, dass er gestern mit einer anderen Frau geschlafen hatte. Obwohl, er wusste nicht, ob sie es überhaupt wissen wollen würde. Es kam ihm der seltsame Gedanke, dass sie eigentlich nie wirklich miteinander geredet hatten. Also über ihre Gefühle zueinander sich nie wirklich im Gespräch geöffnet hatten und vielleicht war es ihm deshalb eine angenehme Vorstellung, sich ihr nun öffnen zu können, aber ohne Worte, sodass sie es zwar schon verstehen würde, aber trotzdem nichts würde ausformuliert werden müssen, nichts in Worte gepresst, auf Begriffe gebracht. Irgendwie schien es leichter zu sagen „Aber du hast doch gesagt, dass … !“ als „Aber ich sah doch in deinem Blick, dass … !“ obwohl doch jeder übereinstimmen würde, dass es leichter ist, mit Worten zu lügen als mit Blicken. Vielleicht können Blicke nicht lügen, dachte er dann, aber sofort wieder: doch, natürlich.
Er konzentrierte sich wieder auf ihre Augen, dann, nein, auf ihren Blick, versuchte ihn zu erhaschen, fragte sich, ob sie auch dasselbe dachte wie er, oder etwas Ähnliches, er versuchte möglichst durchdringend zu schauen, versuchte wirklich mit seinem Blick in sie einzudringen, in ihr tiefstes Inneres, wie man so sagt, in Wirklichkeit versuchte er so zu blicken, dass sie glauben würde, er würde in ihr Innerstes sehen können, versuchte, während er einen durchdringenden Blick mimte, gleichzeitig in ihrem Gesicht zu erkennen, ob sie sich auch durchdrungen fühlte, ob sie glaubte, sein Blick würde sie durchdringen, würde auf ihre Seele sehen können, aber er konnte es nicht erkennen. Manchmal hatte er das Gefühl, ihren Blick zu treffen, dann fühlte er wieder diese innige Verbundenheit, diese Offenheit ihr gegenüber, und ihm gegenüber, dann aber wieder sah er bloss ihre Augen, oder betrachtete ihr Gesicht, sah ihren Kopf langsam sich verdoppeln, verschwimmen und verschwinden, dann wieder fuhren die beiden Bilder seiner Augen zusammen und er versuchte gleichzeitig in beide Augen zu sehen, oder vielmehr wiederum ihr glauben zu machen, er würde gleichzeitig in ihre beiden Augen sehen, wechselte von einem ins andere Auge, oder fokussierte auf einen Punkt zwischen ihren beiden Augen.
The Looking Chamber lässt uns ein weiteres beeindruckendes Phänomen erfahren:
Werden beim In-die-Augen-Sehen die unwillkürlichen Drift- und feinschlägigen
Mikrobewegungen, die die Augen konstant vollführen, vermindert und so für ein paar
Sekunden die Reizung einzelner Rezeptoren in den Augen nahezu konstant gehalten,
tritt ein auch Troxler-Effekt genanntes Phänomen ein: Netzhautareale passen sich einem ständig gleichen visuellen Reiz an und blenden so konstant wahrgenommene Eindrücke aus. Normalerweise wird diese sogenannte Lokaladaption durch Mikrosakkaden verhindert, das sind kleinste ruckartige Bewegungen des Auges, die eben genau zu diesem Zweck automatisch ausgeführt werden. Da die Wirksamkeit der Mikrosakkaden umgekehrt proportional zur Grösse des rezeptiven Feldes ist – das heisst, dass die relativeAuswirkung einer Mikrosakkade mit der Grösse des korrespondierenden rezeptiven Feldes sinkt – kann bei sehr langem und unbewegtem Geradeaussehen in einem ebenfalls unbewegtem Umfeld das gesamte Sichtfeld einer Lokaladaption unterliegen. Man erfährt ein blendendes Leuchten des gesamten Raumes, bei einer gleichzeitigen Nivellierung der Struktur- und Farbunterschiede. Durch die Glättung der Strukturen und Details des Raumes entsteht ein flächiger, gleichsam grafischer Gesamteindruck. Der ganze Raum scheint in die Fläche gedrückt und nur von einer durch die Illusion der Zentralperspektive vorgespielten Tiefe. Der Betrachter selbst projiziert unwillkürlich die endlich Lebenswelt gewordene Kunst zurück in das traditionsbehaftete einstmalige flächige Leitmedium. Der Raum bietet sich als Bild dar, gleichsam als Gemälde, und anstatt dieses flache Gebilde kraft der Regeln der Zentralperspektive als räumliche Verortung zu lesen, betrachten wir den Raum als Bild und damit die unmittelbare sinnliche Situation als reflektierbares ästhetisches Konstrukt. Hat die Gründerin des Instituts damit den revoltierenden Fluss ihrer Kunst umgekehrt und zu seiner Quelle selbst zurückgeführt um ihn dort zum versiegen zu bringen? Den revolutionären Gestus durch die eigene revoltierende Hand zum Schweigen gebracht? Wohl kaum. Genauso wenig, wie die von diesem durchaus auch kunsttheoretisch verstehbaren visuellen Eindruck ausgehenden Überlegungen des Autors zur Überwindung der Zentralperspektive und weiter zu neuen Formen der Kunst, die aus einer Reaktion gegen die traditionellen Medien, insbesondere das Leitmedium Malerei, entstanden und eben auch die Performancekunst beinhalten, in der die Gründerin des Instituts ihre adäquate künstlerische Sprache gefunden hat; genauso wenig, ist anzunehmen, war diese
Assoziationskette intendiert, gleichwohl zeigt sich, dass die Mobilisierung des Denkens durch Immobilisierung des Körpers funktioniert, dass sich in der Ruhe des Körpers der Geist umso mehr bewegt. Dass dies der Intention der Gründerin entspricht, ist wiederum in jedem Fall anzunehmen.
Die gleichsam halluzinatorische Erfahrung der grossflächigen Lokaladaption kann bei
Menschen, denen sie unbekannt ist, Trance-ähnliche Zustände, aber auch Schrecken
hervorrufen. Diese recht körperliche Art der Selbsterfahrung ergänzt die intellektuelle Erfahrung der Meditation über den Blick und der freien Assoziation der Gedanken, ja, bestärkt sie geradezu und fügt so eine weitere Dimension der Erkenntnis zu der performativen Reflexion über den Blick hinzu. In ihrem Werk kreiert die Gründerin so nicht nur besondere Erfahrungsräume, die über die üblichen Erfahrungen in der Welt der gewöhnlichen Dinge hinausgehen, und ähnlich der Fotografie eines Laszlo Moholy-Nagy neue, unbekannte sinnliche Erfahrungen ermöglichen (die sich hier eben nicht nur auf das Sehen beschränken). Sie öffnet auch einen Denkraum, in dem sich frei denken lässt, in dem die Richtung der Gedanken nicht eingeschränkt oder zweckbestimmt gerichtet wird. (Vielleicht sind die Räume auch deshalb einer runden Form angenähert, die, wie die Form des Kopfes nach Francis Picabia, die Gedanken ihre Richtung ändern lässt.) Das ganze Projekt scheint diese Analogie zur Neuen Sachlichkeit zu zeigen. Wie diese damals neue Seherfahrungen ermöglichen wollte, in einer Welt, in der die Menschen vor einer Flut an neu entstehenden Bildern blind zu werden schienen (Fußnote 5), so will das Institut eine ganzheitliche neue Daseins-Erfahrung ermöglichen in einer Zeit, in der die Menschen durch die permanente Erreichbarkeit und All-Verbundenheit nur noch selten wirklich körperlich und geistig in der Gegenwart, im unmittelbaren Hier und
Jetzt anwesend sind.
Doch noch ein weiterer kunsthistorischer Vergleich drängt sich auf wenn der Raum als vibrierende Form erscheint. Er erinnert dann an die energiegeladenen Skulpturen von Constantin Brâncuși, seine unendliche Säule als materialisierte Schwingung, so wie Brâncuși sie gesehen haben muss, als er – von den Fotografien seines Freundes Man Ray enttäuscht – selbst zur Kamera griff um seine Werke zu dokumentieren. Seine verschwommenen und verwackelten Fotografien sind eben kein Zeugnis fotografischer Unkenntnis, sondern ein Interpretationsversuch, eine Rezeptionsanweisung in einer Sprache, die Brâncuși unendlich besser beherrschte als die der Begriffe – eine Erklärung in Bildern. (Fußnote 6) Dieselbe pulsierende Energie, die Brâncușis Figuren zum bersten gespannt erscheinen lässt und ihre summende Bewegung suggeriert, findet sich im Seheindruck des Raums unter der eingetretenen Lokaladaption. Als würde er glühen, zitternd hervor und zurücktreten, vibrieren, pulsieren; all das trägt zur überwältigenden Kraft des Ortes bei. Zumindest bis die Stimme im Ohr einen wieder aus der Versenkung reisst und in den nächsten Raum bittet.
Der Raum fing langsam an zu flimmern und zu leuchten, wie wenn man zu lange oder
in zu starkes Licht gesehen hat. Er schien wie ein Relief hervorzutreten oder zurück und leuchtete in weissgelb, blendete ihn fast. Die Grenzen zwischen den hervortretenden Flächen traten wie Einschnitte zurück, waren dunkel und vibrierten. Der ganze Raum schien sich ganz langsam und leicht nach links zu drehen. Das lange, regungslose Blicken auf einen unveränderlichen Hintergrund, scheint im Auge eine ähnliche Schutzfunktion auszulösen wie die von zu starkem Licht, die in den Augen helle Flecken nachleuchten lässt, dachte er, wie wenn man in die Sonne sieht. Er versuchte mehr aus dem Phänomen herauszuholen, die Augen länger reglos, ohne blinzeln zu lassen, um noch mehr zu sehen, noch Anderes, versuchte diesen ungewohnten Blick nicht abbrechen zu lassen. Es war ein ähnliches Gefühl wie wenn man Drogen nahm, das Erleben eines zuvor nicht spezifizierten Anderen, das, dachte er, vor allem deshalb erlebenswert ist, weil es anders ist. Die hellen Flächen schienen beinahe zu klingen, dabei verschoben sie sich langsam wie ein Blick, der abdriftet, bis er das Zwinkern nicht mehr zurückhalten konnte, innerlich hochschreckte und sein Blick ohne jegliche Bewegung wieder zurückfand zur alltäglichen Wirklichkeit.
„Die alltägliche Wirklichkeit“, dachte er und betrachtete wieder ihr Gesicht. Es war immer noch schön. Die Vertrautheit hatte ihm nicht die ungewöhnliche Schönheit genommen, trotzdem war es für ihn nicht mehr so bezaubernd, wie es gewesen war, vielleicht gerade weil es nicht mehr die Verheissung eines unspezifischen Neuen, eines Anderen, Besonderen war, sondern eben sie, sie, die er kannte und die er mochte und die er schätzte, aber die nicht die Aufregung des Unbekannten und Neuen verströmte. Auf der anderen Seite wusste er, fiel ihm ein, dass er sich ihr Gesicht, einmal aus den Augen verloren, nicht würde vorstellen können, dass ihre Gesichtszüge sich seinem Erinnerungsvermögen entzogen und lediglich der Eindruck, den ihr Gesicht hinterliess, zurückblieb, ein Gefühl, die Erinnerung an ein Gefühl. Bei ihrem ersten Treffen, als er sie das erste Mal sah, oder bei dieser oder jener Gelegenheit, aber es war nie ihr Gesicht selbst, das in seiner Erinnerung hängen geblieben war, sondern immer nur was es auslöste. Oder, wenn er es schaffte aus seiner Erinnerung ein Abbild ihres Gesichtes hervorzukramen, dann war es ein Foto, mehr die Erinnerung an ein Bild als an sie selbst, ein materielles Gebilde in seiner Hand, oder ein immaterielles auf dem Bildschirm irgendeines der elektronischen bildschirmbestückten und fotobeladenen Geräte, so als würde es sich seiner Wahrnehmung entziehen, als könnte er es sehen aber nicht wahrnehmen. Vielleicht war es genau das. Er könnte es auch nicht beschreiben, wie denn auch? Es war ja unvergleichbar. Wieso ist es so schwer, dachte er, gerade die Gesichter unserer Liebsten zu behalten, diejenigen, die wir nicht nur am öftesten sehen, sondern mit denen wir doch auch am meisten mit-wahrnehmen sollten? Vielleicht war es die Gewohnheit, das Immer-wieder-Sehen desselben, das uns dieses damit aus unserer bewussten Wahrnehmung nahm, das nicht durch einen Verfremdungseffekt durchbrochen wird um es uns wieder als neues Bild darzubieten. Können wir denn noch sagen, ob beispielsweise das Geschirr, das wir seit etlichen Jahren verwenden, Tag für Tag, können wir denn noch sagen, ob es schön ist, oder hässlich, fragte er sich, mehr rhetorisch, denn er wusste, dass ihm gerade dies bei dem Besteck bei seinen Eltern schon einmal aufgefallen war, er sich fragte, ob das, von dem er immer dachte, es wäre das schönere gewesen, nun wirklich auch das schönere war, das heisst, ob er jetzt, unvoreingenommen vor die Wahl gestellt, immer noch dasselbe als das schönere ansprechen würde. Oder ob es nicht vielmehr einfach dieses Geschirr geworden ist. Dieses Geschirr, das wir jeden Tag verwenden ohne es bewusst anzusehen. Das einzige was uns auffallen wurde, dachte er weiter, wären wohl die Gebrauchsspuren, die Leerstellen der abgegangenen Farbe, ein abgesplitterter Rand, ein Sprung oder ein Kratzer. Trotzdem der Verfall so langsam vor sich geht, ist er das Einzige, das wir bemerken, vielleicht, sagte er sich nachdenklich, würde man auch sehen, wenn jene, die man liebt, alt werden. Er dachte an seine Eltern, wie alt sie sein müssten und wie alt sie aussähen, versuchte sie sich vorzustellen aber wurde plötzlich von der Stimme in seinen Ohren aus seinen Gedanken gerissen, die ihm sagte, sie sollten nun in den nächsten Raum weiter gehen.
[…]

dritter teil

Du musst dein Leben ändern.
(Rainer Maria Rilke)

[…]
Er erhob sich und folgte der Strasse, hielt einen halben Block weiter an und betrachtete die gegenüberliegenden Fassaden. Von den immer gleichen Multiplikationen der Fenster und deren Überdachungen, den Stuckaturen und Inkrustationen, die ihm keine ästhetischen Anhaltspunkte mehr boten ausser ihrer Verbindung zu einem übergeordneten Ganzen, ihrer Rasterung, schweifte er – zunächst unmerklich – zu den Aussparungen der Gebäude, betrachtete, nahm vielleicht zum ersten Mal die Negativität der Bauten wahr, das Unbebaute, Quadrate und Rechtecke von sattem Blau, gerahmt von Dächern und Gesimsen, Flächen des Nicht-Bebauten, geometrischen Formen die zwischen den Gebäuden hervortraten, die als einzige den Blick freigaben auf die Flecken des Himmels hinter ihnen, die abstrakte Farbflächen wurden; er erinnerte sich – zunächst ohne grosses Interesse – an einen Maler, dessen Werke er einmal gesehen hatte, erinnerte sich an die Bilder, geometrische Formen, die genau dies, sagte der Wandtext des Museums, erinnerte er sich, aufnahmen, die eigentlich, so dachte er jetzt, die Negativität der Stadt zum Ausdruck brachten. Und tatsächlich hiess die erste Solo-Ausstellung von Robert Mangold 1965 in der Fischbach Gallery in New York „Walls and Areas“ und bestand aus grossen Gemälden auf Masonit und Sperrholzplatten, die, einheitlich dick bemalt, einen harten Gegensatz zu den leichteren, besprühten Werken formten, genauso wie sich jetzt das unkörperliche Blau des Himmels gegen die harten Gebäude absetzte. Später begann Mangold zunächst, mehrere mit Leinwänden bespannte Keilrahmen zu unregelmässigen Formen zusammen zu schrauben und schuf so seine sogenannten „Frame Paintings“: Vier, mit unterschiedlichen, meist kräftigen Farben bemalte, längliche Leinwände wurden so zusammengefügt, dass in ihrer Mitte der Blick auf die weisse Wand frei blieb. Zusammengehalten wurden die Farbformen von einer geometrischen Zeichnung, einem Oval, aus Kohlestift. Genauso wie mit seinen ersten Gemälden, den „Walls and Areas“ war auch dies ein radikaler Angriff auf die bestehende Kunstvorstellung. Seine frühen Arbeiten waren nicht nur in ihrer unpersönlich einheitlichen Faktur und monochromen Farbigkeit ein offensiver Gegenpol zur hegemonialen Vormachtstellung des Abstrakten Expressionismus, mit seinen emotionsgeladenen Farben und expressiven Pinselstrich, sondern auch in ihrer Form ein geradezu tätlicher Angriff auf die althergebrachte Form des Tafelbildes, die sich hartnäckig bis zu Jackson Pollocks Action Painting, den abstrakten Bildern Willem de Koonings und Mark Rothkos Farbfeldmalerei gehalten hatte: Mangolds Bild „Pink Area“ beispielsweise ist eine rechteckige Farbfläche von nebelhaftem Pink, von der ganz einfach die rechte untere Ecke ausgeschnitten wurde. Seine Frame-Paintings vertauschten nun den Rahmen mit dem Bild: Gerahmt wurde die blosse Wand und der Rahmen selbst war zum Bild geworden. Nicht nur war dies ein ironischer Kommentar auf die zahlreichen Historienschinken, deren kunstvoll gearbeitete Goldrahmen irgendwann teurer wurden, als die Bilder selbst, die irgendwann das einzige waren, das dem Bild eines längst vergessenen Ereignisses noch Grösse gab. Es war auch gleichzeitig das letztgültige Ende der Narration, die selbst in den abstrakten Bildern eines Pollock noch zutage trat, als Geschichte der eigenen Entstehung, die sich in der gesamten Oberfläche des Bildes an den Spuren des Künstlers offenbarte. Die sorgsam abgestimmte Farbigkeit und Grösse der einzelnen Keilrahmen sorgte bei Mangolds Frame Paintings dafür, dass das sensible innere Gleichgewicht der Bilder auch über ihre materielle Aussengrenze hinweg Einfluss verübte. Die freien Mauerflächen links und rechts des Bildes traten in Verbindung mit der mittleren Wandfläche sodass sich das Bild in den Raum hin ausbreitete. Gleichzeitig war es nicht mehr möglich, die Bilder wie einst einfach nebeneinander an die Wand zu hängen, sondern sie verlangten ihren eigenen Platz und eine grosse Sensibilität in der Aufteilung im Raum. Gemeinsam mit anderen Künstlern, die in etwa um die gleiche Zeit ihre eigene Sprache fanden, emanzipierten sie die Kunst vom Objekt an der Wand zum ganzheitlichen Erlebnis, dass den Betrachter in all seinen Sinnen anging und einnahm.
Er dachte, ob es vielleicht die Zeiten sein würden, wenn sie nicht da war, die ihm fehlen würden, weil er sich satt gesehen (berührt? geredet?) hatte an und mit ihr, aber nicht an der Sehnsucht nach jemandem, der gerade nicht da war, ob es ihm fehlen würde, jetzt, da sie weg war, wenn sie nur nicht da war. Der Gedanke, dass da jemand war, der aber nicht da war, dass man alles machen konnte, alleine, frei, aber doch wusste, dass man nicht alleine war (nicht frei?), das Gefühl der Sicherheit, des Immer-noch-nach-Hausegehen-Könnens-und-trotzdem-nicht-alleine-schlafen-Müssens; er fragte sich, ob er wirklich ein „Zuwendungsdefizit“ hatte, das er stillen müsste, wie ihm einmal gesagt, oder vielmehr vorgeworfen wurde, dachte er, ihm wurde tatsächlich einmal vorgeworfen, ein „Zuwendungsdefizit“ zu haben!, das er immer wieder anders zu befriedigen suchte, auch wenn er dabei jemanden an der Nase rumführte, der ihn mochte, dass dieses „Zuwendungsdefizit“, das er hatte, und das er stillen musste ihn also rücksichtslos Zuwendung von Menschen einfordern liess, mit dem Ziel und auch wenn er dabei jemanden an der Nase rumführte, der ihn mochte, genau dieses sein „Zuwendungsdefizit“, das er hatte, auszugleichen. (Er hatte damals in einem dermassen pathetischen, von rhetorischen Fragen – „Was soll ich jetzt noch sagen?” – und pseudophilosophischen Anwandlungen – „Ich habe das Gefühl, die Worte leisten nicht mehr, was sie zu versprechen scheinen!” – schwangeren Brief geantwortet, dass es ihm selbst nach Jahren noch Mühe machte, ihn wieder zu lesen. In tausend Worten hatte er eigentlich nur geschrieben, dass er eigentlich nichts mehr zu schreiben wusste – es war vorbei – aber auch nicht nichts schreiben konnte, weil dann sie das letzte Wort hätte.
Oder in seinen Worten: „Ich will auch nicht nichts sagen, denn nichts zu sagen würde heissen, den Schlussstrich selbst zu ziehen. Worte zu übermitteln, wo ich eigentlich nichts mehr sagen kann, ist das Unvermögen, das Ende hinzunehmen. Ein Unvermögen, das aus der Hoffnung resultiert, es könnte doch noch nicht geschehen sein.”) Er hörte wieder auf, darüber nachzudenken, weil er wusste, weil er fühlte, dass er sich nicht würde ergründen können, nicht jetzt, dachte er, aber vielleicht auch nie, vielleicht war es auch gar nicht möglich, vielleicht brauchte man doch immer jemanden, der einem den Spiegel vorhielt um zu sehen, wer man ist, jemanden, der einem sein Zuwendungsdefizit unter die Nase hielt, es einem vorwarf, und einem dabei doch nicht mehr als ein Spiegel war, der „Zuwendungsdefizit“ doch nur das nannte, was er als Zuneigung zuvor gerade noch genossen hatte, und jetzt, wo einem die Nähe zu einer Last wurde, unangenehm, weil plötzlich nicht mehr nur in der geschützten Sphäre der Zweisamkeit, weil sie plötzlich sich ausbreitete in die Lebenswelt wurde sie Zuwendung plötzlich defizitär, wurde sie erst zum Zuwendungsdefizit, wurde sie einem plötzlich vorgeworfen, wurde einem vorgeworfen, ein Zuwendungsdefizit zu haben, das die eigene Zuwendung aufsaugen konnte, einsaugen und somit gleichzeitig mit der Diagnose dieses Zuwendungsdefizits auch die eigene Zuwendung geheilt und man wieder eigenständig und frei wurde, wieder unberührt, ungebunden und unzugewendet—
Er atmete durch und sagte sich, dass ihn das eigentlich schon lange nicht mehr aufregte, stand auf und ging wieder weiter, fragte sich, ob es nicht bald dämmern würde, aber die Sonne stand unverrückbar und unerbittlich am Himmel. Er streifte durch die Strassen, die Menschen und überlegte ob er etwas essen sollte, irgendwo, nur um sich die Zeit zu vertreiben, er hatte keinen Hunger, eigentlich auch keine Lust auf irgendetwas bestimmtes, eigentlich auf nichts, aber essen, dachte er, könnte man ja trotzdem, überlegte, wo er hingehen konnte, was er essen konnte, stellte sich die Speisen vor aber mochte keinen Appetit bekommen. Fast wie unbewusst hatte er eine Richtung zu sich nach Hause eingeschlagen und wehrte sich nicht dagegen, ging weiter, die Strasse entlang und verspürte plötzlich den Drang, zuhause zu sein. Er ging schneller, bog links ab und ging die Strasse hinunter zur nächsten Querstrasse, dann rechts zur Tramhaltestelle. Neun Minuten, zeigte ihm die elektronische Anzeige an, sollte es noch dauern, bis ein Zug kam, so lange, dachte er, konnte er nicht warten und ging, die Schienen entlang, zur nächsten Haltestelle – acht Minuten – zur nächsten und nächsten, verliess den Weg des Zuges, nahm das Netz der Strassen, suchte, baute, entwarf seinen Weg, ging jetzt schneller, fast hastig, bis zu sich nach Hause, sperrte die Haustüre auf, lief die Treppen hoch, die Wohnungstüre, beim Drehen des Schlüssels hoffte er, es würde niemand zuhause sein, keine Menschen, kein Reden, kein Erklären, kein Erkennen, schloss die Tür, erreichte sein Zimmer, schloss die Türe hinter sich, legte sich auf sein Bett, auf den Rücken, starrte nicht an die Decke oder Löcher in die Luft, sondern gar nicht, blickte wie zurück in sich hinein und schloss die Augen und wollte nur noch liegen, kein denken, nicht mal schlafen, nur liegen. Einfach nur liegen, dachte er. Er wollte schlafen. Er erhob sich mühselig und setzte sich an seinen Schreibtisch, schob unwirsch die Zettel und Bücher und Hefte und Stifte und Filme beiseite, nahm ein Paper, Gras und eine Zigarette und drehte sich einen Joint. Wenn er schon nichts zu tun hatte, nichts auf die Reihe kriegen würde, dann konnte er auch gleich kiffen, dachte er, dann würde er vielleicht schlafen können, oder sich hin und her wälzen, oder an irgendetwas denken, das sich immer wieder im Schwall der Gedanken verlor, würde keinen Gedanken festhalten können, oder weiterdenken, würde alles durchdenken, aber nichts behalten, Auslöschung durch Wiederholung. Er rauchte aus dem Fenster und schloss es wieder, legte sich auf sein Bett und wartete bis der Nikotinflash (warum noch immer, dachte er, als hätte er nicht lange genug geraucht) vorbeiging, damit die Zittrigkeit aufhörte und dachte irgendetwas, was ihm wichtig oder gut erschien, wovon er aber wusste, dass es nichtig war, unterliess seine Gewohnheit alles aufzuschreiben um danach nicht von Erinnerungen im Viertelstundentakt mit banalen Gedanken, die ihm bahnbrechend erschienen, genervt zu werden und schlief endlich ein.

?

Er nahm eine Cola aus dem offenen Kühlregal, liess sich die zwei letzten Samosa
einpacken, nahm noch eine Tüte Sea Salt & Black Pepper Crisps, zahlte und verliess den Laden. Es war ein kurzer Schlaf gewesen und überhaupt mehr ein Halbschlaf, ein hin und herwälzen und schliesslich war er aufgestanden mit einem vagen Hungergefühl und war, aus dem einzigen Grund, dass ihm wirklich nichts anderes einfallen wollte, zum Späti gegangen um sich Samosa und eine erfrischende Limonade zu holen. Jetzt ging er langsam nach Hause und der Weg kam ihm unendlich lang und anstrengend vor. Die Treppen hoch ging er in die Küche, warf die Samosa in das Backrohr und machte sich seine Cola auf. Immerhin, erfrischend, dachte er und fragte sich, wo sein Mitbewohner war. Er sass regungslos am Küchentisch und blickte auf den Ofen wie durch ein Fenster. Er überlegte, ob er rauchen sollte, doch der Gedanke allein verursachte ihm eine leichte Übelkeit, sodass er es sein liess. Er nahm die halbwarmen Samosa aus dem Ofen und verspeiste eines ohne grosse Lust, aber mit soviel scharfer Sosse, dass ihm Schweissperlen auf der Stirn standen und er liess zweite auf dem Teller am Küchentisch liegen. Er nahm seine Coke und die Crisps und ging in sein Zimmer, schloss die Tür und legte sich auf das Bett, musste aber sogleich feststellen, dass er in dieser Position nicht wirklich trinken konnte, also setzte er sich auf, mit dem Rücken gegen die Wand und stand sogleich wieder auf, holte sein Macbook und setzte sich wieder aufs Bett, die Decke und die Kopfkissen gegen die Wand gelegt und seinen Rücken dagegen. Er überlegte eine Serie zu schauen, aber wusste nicht welche, von Archer hatte er bereits alle Folgen gesehen, mehrmals, und es gab noch immer keine neue Staffel, stellte er enttäuscht fest, als er watchseries.lt aufgemacht hatte. Für einen Moment scrollte er durch seinen Facebook Newsfeed aber auch hier fand sich nichts wahnsinnig interessantes. Wie immer, dachte er, nahm sich noch etwa acht Sekunden um durch seinen Twitter-feed zu scrollen und dabei die Tweets zu überfliegen, von denen er eventuell Interessantes zu erwarten hatte, brach aber ab, als er merkte, dass er ohnehin nichts wirklich las, bzw. das Gelesene fast im selben Moment wieder vergass und wechselte wieder zu watchseries.lt und überlegte, welche der bereits gesehenen Folgen besonders gut war, was schwierig war, dachte er, da alle gut waren, und ihm zu keiner ein besonderes Highlight einfiel, dass er jetzt meinte unbedingt nochmal sehen zu müssen, also liess er es und machte ein neues Tab auf, watchcartoononline.com, und suchte Adventure Time Folgen. Hier gab es immer neue, also wählte er die neueste aus und schaute sie. Sad Face (S6E5) ist eine der vielleicht aussergewöhnlichsten Episoden der ohnehin aussergewöhnlichen Serie. Am Beginn werden wir in die beobachtende Perspektive von Beemo und seinen Freunden versetzt, die Jakes während dem Schlaf sich von ihm davonstehlenden Schwanz beobachten, sich jedoch nur für das Erwachen desselben und dessen Ausbruch aus dem gemeinsamen Heim interessierten, wohin er ginge, sei, so Beemo, „none of our business“. Die ZuseherInnen können gleichwohl weiterverfolgen, wohin sich der Schwanz mit dem Eigenleben nun – immer noch mit Jake verbunden, durch dessen offenbar unendliche Dehnbarkeit in seiner Reichweite jedoch uneingeschränkt – begibt und was er dort erlebt. Er schlängelt sich durch den Wald und kommt schliesslich an einem Zirkus an, wo er zuerst – Jake war nicht gleich eingeschlafen – aufgrund seiner Verspätung gescholten wird, geht dann sogleich in seinen Trailer, schminkt sich ein sad face, setzt seinen Hut auf und betritt die Manege.
Doch seine Darbietung findet keinen rechten Anklang, „too artsy too less fartsy“, findet der Zirkusdirektor. Die Hauptattraktion des Zirkus ist dann ein – im Vergleich zu den anderen Protagonisten riesiges – Eichhörnchen, das dem Publikum als furchterregendes Monster vorgeführt wird, und aufgrund der Grössenverhältnisse im Zirkuszelt wahrlich monströs wirkt. Es wird in Ketten in den Zirkus gebracht und gereizt, bis es zornig ist, die Ketten zerreisst und sogar den Direktor und die Zuschauer angreift. Doch Sad Face greift ein und durch rhythmische Bewegungen seines Schlangenähnlichen Körpers hypnotisiert er das wütende Tier wie ein Schlangenbeschwörer, durch einen geschickten Schuss des messerwerfenden Grashüpfers wird es dann betäubt und später wieder in seinen Käfig gesperrt. Die brutale Knechtung und Ausnutzung des Tieres empört Sad Face, sodass er den Direktor zur Rede stellt, er habe ihm doch versprochen, sie würden das Tier frei lassen, der wiederum entgegnet ihm, dies sei die Nummer, die am meisten Geld bringe, wenn sie wieder andere Zugpferde hätten, würde er es frei lassen. In der darauf folgenden zweiten Show zieht der Schwanz von Jake dann eine plumpe Slapstick-Nummer ab, die das offenbar wenig anspruchsvolle Publikum köstlich zu amüsieren scheint, die in die Manege fliegenden Pennies übersteigen die Zahl der für das Eichhörnchen geworfenen. Trotzdem lässt der geldgierige Zirkusdirektor es wieder vorführen.
Nun beginnt Sad Face’s Rache – oder sein Befreiungszug. Er entreisst dem Direktor
seine Peitsche und peitscht ihn selbst durch das Zelt, überwältigt dessen Schergen und nimmt Reissaus mit dem Eichhörnchen. Doch sein being attached wird ihm zum Verhängnis, die Schergen des Zirkus ziehen ihn an seiner Verbindung zu Jake zurück und stellen ihn zur Rede. Als ihm einer den Hut ins Gesicht drückt wandelt sich seine Schminke und er ist nicht mehr länger ein sad face, sondern scheint nun zu lächeln. Da geht die Sonne auf und der Schwanz zieht sich rückwärts zurück zu seinem Besitzer, Jake, vorbei an Zirkuszelten, Wald und zwei sich liebenden Eichhörnchen bis er bei seinem Ursprung angekommen ist. Ein verschlafener Jake kann sich nur noch um Farbreste an seinem Schwanz und einen winzigen Hut in seinem Bett wundern. Das being attached, das hier physisch dargestellt ist, ist auch im übertragenen Sinn zu lesen: Er ist Jake verbunden und mit ihm verbunden. Seine Beziehung war ihm hinderlich am Ausbrechen aus seiner gewohnten Umgebung, jetzt, wo sich die Gelegenheit geboten hatte. Aber es wird auch sogleich die Sinnlosigkeit des Versuchs aufgezeigt, da das Eichhörnchen sich ohnehin für Seinesgleichen interessiert. Seine Verbindung lässt die Anderen ihn zunächst zurückziehen, hindern an der überstürzten aber beherzten Flucht, zugleich aber rettet ihn die Verbindung selbst, als sie ihm in der gefährlichen Situation erlaubt, sich selbst (zu Jake) zurückzuziehen. Auf seinem Weg in das schützende aber gleichwohl eintönige Leben des im Schlaf erst Erwachenden, dessen Gang zum Zirkus – können wir uns vorstellen – erst aus demselben Wunsch nach Neuem, Spannendem – kurz: Anderem, entstand, aber gleichzeitig ein Gang ist, der nur im Traum stattfindet, ein Traum von Freiheit, der nun selbst zur traurigen Routine geworden war; in seinem Rückzug sieht er noch das Eichhörnchen mit einem Anderen vereint, seine Flucht also wäre eben nur ein überschw.nglicher Ausbruch der eintönigen Pulslinie des Lebens geworden, der ihn nach dem nahenden Ende noch weiter hätte zurückgeworfen.
Ist Sad Face glücklich? Wir wissen es nicht, denn zum glücklich sein gehört mehr als das momentane, erhebende Gefühl, das wir auch Glück nennen, zum glücklich sein gehört die Zeit. Momentan ist er nicht mehr er selbst, er ist durch sein Erlebnis – gleichwohl immer noch unter der semantischen Parenthese des Traums mit allen seinen Implikationen – Happy Face geworden. Was die Zeit bringt, zeigt die Episode nicht, kann sie nicht zeigen, weil sie, wie das Leben, in Entfaltung begriffen ist. Vielleicht aber, so hofft der Zuseher und die Zuseherin, zeigt es Adventure Time.


1 Vgl. George Orwell. 2008 [1949]. Nineteen Eighty-Four. London: Penguin.
2 Jacques Derrida. 2007. Berühren, Jean-Luc Nancy. Berlin: Brinkmann & Bose, 8-9.
3 Ebd., 13.
4 Ebd.
5 Dass künstlerische Fotografie, die sich ungewohnter Blickwinkel, wie dem der Vogelperspektive
bediente, in einer Zeit entstand, in der die militärische Aufklärung durch Spionageflugzeuge
kriegsentscheidend werden konnte, ist sicherlich ein weiterer zu beachtender Punkt.
6 Vgl. Friedrich Teja Bach. 2004. Constantin Brancusi: Metamorphosen plastischer Form. Köln:
DuMont.

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