Das Schreiben dieses Romans war insofern ein Glücksfall, als es nicht einmal eine Woche gedauert hat. Die Handlung hatte ich geträumt. Ein paar Tage später habe ich eine Seite probehalber geschrieben, dann wurden daraus zwölf Seiten, und nach sechs Tagen war das Buch fertig.
(Thomas Glavinic: Interview. In: Ray-Magazin, Juli/August 06)
Freitag, der 13.02.2009
Der da unten heißt Adrian Tuppek. Tagtäglich sitzt er vorm Küchenfenster und schaut hinaus, schaut Wolken hinterher und blinkenden Flugzeugen, krault sich am Ohr, trinkt und raucht was, verschränkt die Arme vorm Bauch, öffnet – bisweilen im Sekundentakt – sein E-Mail-Postfach, twittert ein wenig, ermahnt sich zur Arbeit an und wartet.
Lass ihn bloß nicht Schriftsteller sein. Doch! Jetzt! Gerade!
Die solcherart verbrachten Tage in ihrer Gesamtheit sind in zwei Arten unterschieden. Zum einen die Tage, an denen Tuppek sich nicht in die Quere kommt auf dem geraden Traumpfad zum Erfolg. Kein Stock, kein Stein, kein Vers. Wer umkehrt, landet in der Sackgasse. Er, fast schon auf der Zielgeraden, schaut nur nach vorn, dorthin, wo die Begeisterten ihm zujubeln, mit Fähnchen wedeln, Fähnchen, auf denen amerikanische Verlagsvorschüsse, Jubelrezensionen und hübsche Preise abgebildet sind. Keine Frage, über kurz oder lang wird er Ruhm und Ehr erlangen, wahrscheinlich eher über kurz.
Und dann gibt es die Tage, an denen er sich geradezu geisterfahrerhaft in die Quere kommt, ständig die falschen Vergleiche zieht, suizidale Feinstaubanalysen seiner Texte durchführt und vor lauter Selbstzweifeln sogar einfachste Wörter („Sintflut“, „Kartoffelwasser“, „Lebtag“) oder beliebte Redewendungen („wissen, wo Barthel den Most holt“) im Duden nachschlagen muss. Solche Tage kommen häufiger vor.
An einem dieser Tage liest er das Interview mit Thomas Glavinic. Es wird sein Leben verändern. Vor allem eine der dort getroffenen Aussagen ist entscheidend und deshalb oben als Zitat wiedergegeben. Es könnte jetzt noch einmal nachgelesen werden. Muss aber nicht.
Adrian Tuppek kann man sich als einen normalen Schriftsteller vorstellen: Sieben-Tage-Woche, Zehn-bis-zwölf-Stunden-Tag – Denken, Plotten, Pitchen und Quatschen hören beim Kaffeekochen, Putzen, Plätzchenbacken und Dartspielen ja nicht auf – , mehrere Ordner mit Verlagsabsagen („persönliche“, „Standard“, „unverschämte“), Angst vor Ideenklau, temporärer Verlust des Gerechtigkeitssinns angesichts von Bestenlisten und Literaturpreisvergaben, anfallsweise Sehnsucht nach einem schönen Brotberuf und Toleranz gegenüber viel, viel, viel zu wenig Beachtung.
Sieht man vom sowieso immer wohlmeinenden engsten Freundeskreis, einem Autorenstipendium der Stadtbibliotheken Bergisches Land, vier Kundenrezensionen für den bei Amazon selbstveröffentlichten Roman („3,7 von 5 Sternen“), dem Gewinn des nordhessischen Literaturpreises „Holzhäuser Heckethaler“, des „Nettetaler Literaturwettbewerbs“ sowie des „Putzlitzer Preises des 42er Autoren e.V.“ einmal ab, hat Tuppeks Schriftstellerei im Grunde nur bei einer Person besondere Aufmerksamkeit erregt, und das ist Frau Jankowiak vom zuständigen Finanzamt Marl, die seit Jahren vermutet, dass Tuppek Werbungskosten geltend macht, ohne entsprechende Arbeitsleistungen zu erbringen. Schließlich ist er nicht imstande, honorarfähige Veröffentlichungen in einem seinen Lebensunterhalt sichernden Ausmaß vorzuweisen, von einem Beststellerlistenrang im „Spiegel“ ganz zu schweigen.
Frau Jankowiak ist vielseitig interessiert und liest gern, weiß also, wovon sie spricht, wenn sie auf seine Steuererklärungen antwortet. Es ist ihr schleierhaft, wovon Adrian Tuppek lebt, und das macht ihn ihr verdächtig. Zum Leben muss er über andere Mittel verfügen, vermutet sie, und ist geradezu versessen darauf, ihm hinter seine Schliche zu kommen. Noch hat sie nichts gegen ihn in der Hand, aber sie wird am Ball bleiben. Harte Nüsse knackt sie besonders gern. Darum wird sie in der Abteilung heimlich „Herzchen“ genannt: Man anglisiere das deutsche Wort „hart“, am besten gleich doppelt, obendrauf noch ein kleiner Diminutiv und herauskommt ein einwandfrei geheimdiensttauglicher Spitzname. Besser kann man es nicht machen. Wie dilettantisch nehmen sich dagegen die früheren Codenamen aus: Lange Zeit wurde die eifrigste Kollegin in der Abteilung heimlich unter dem Kürzel „S.A.J.“ für „Special Agent Jankowiak“ geführt, ganz zu schweigen von der Kürzelvariation mit dem Vornamen. Frau Jankowiak heißt mit Vornamen Ursel.
Als Adrian Tuppek liest, dass Thomas Glavinic den „Kameramörder“ in nur sechs Tagen fertiggestellt hat, wallt in ihm (nicht im Kameramörder, nicht in Thomas Glavinic!) ein Gefühl auf. Es ist möglicherweise gar kein Gefühl, auch wenn es sich so anfühlt. Genau betrachtet handelt es sich wohl um Ehrgeiz, um eine besondere Form von Ehrgeiz, eine, die schon in den Bereich der Anmaßung überschwappt, wie jener Aufschrei belegt, den Tuppek kurz darauf ausstößt: „Das kann ich auch!“
Wunderlich ist, dass ihm solches an einem der häufiger vorkommenden Tage passiert, jenen also, die ganz im Zeichen von Zweifel und Zaudern stehen. Von denen ist nun nichts mehr zu spüren. Stattdessen hat ein anderes Z-Wörter-Paar die Oberhand gewonnen: Zuversicht und Zutrauen. Wie die beiden so einfach auf den Plan treten konnten, bleibt nur zu vermuten.
Höchstwahrscheinlich hat es mit der Besonderheit des Datums zu tun, das bekanntlich (s.o.) ein Freitag, der 13. ist. Adrian Tuppek gehört zu jener Minderheit, für die solche Freitage normalerweise persönliche Glücksstage sind. Dieser hier ja offenbar auch. Wie anders denn als großes Glück soll man das bezeichnen, wenn Zweifel und Zaudern sich urplötzlich und rückstandslos in Zuversicht und Zutrauen auflösen? Genau. Womit gleich ein weiteres Mal belegt wäre, dass Freitag, der 13. ein Glückstag im Leben von Adrian Tuppek ist. Hoffentlich bleibt das auch so.
Die Widersprüchlichkeit des Glücks-Freitags ist übrigens nur eine der Paradoxien, mit denen Tuppek großzügig gesegnet ist. Eine andere besteht in der Tatsache, dass ihm – obwohl Schriftsteller – das Schreiben keineswegs leicht von der Hand geht. Für eine Kurzgeschichte braucht er im Durchschnitt drei Wochen. Mindestens. Es ist auch schon vorgekommen, dass er an einem einzigen Satz sage und schreibe vierzehn Tage lang gebastelt hat.
Mit dem Projekt „Ein-Roman-in-sechs-Tagen“ fordert Tuppek sich also extrem heraus. Die Pistole sitzt auf der Brust. Es gibt kein Zurück mehr. Da ist er rigoros: Wenn er etwas behauptet, steht er auch dafür ein, wenn er sein Wort gibt, setzt er alles daran, es zu halten. Auch dann, wenn er selbst der Adressat des Behauptens und Wortgebens ist, auch dann, wenn nicht mal Zeugen zugegen waren.
Gesagt ist gesagt. Noch nichts aber ist getan. Tuppek steht mit dem Rücken zur Wand. Auge in Auge mit dem durch sein anmaßendes „Das kann ich auch!“ nur sich selbst gegebenem Versprechen, das ihn schiebt, würgt und umstellt wie zwei große rotgesichtige Inkassao-Beauftragte mit kleinen schwarzen Hüten. Hauptsache, Zuversicht und Zutrauen lassen sich jetzt nicht auch noch einschüchtern.
Handwerk hilft nicht immer, aber oft viel. Also macht Tuppek sich als erstes daran, den „Kameramörder“ zu vermessen: In der Taschenbuch-Ausgabe beginnt der Text auf Seite 5 und endet auf Seite 157. Die Zeilenanzahl pro Seite beträgt 28 und die Zeichenanzahl pro Zeile im Durchschnitt 40-43 ohne Leerzeichen.
Da Tuppek gerne im gängigen Normseiten-Format schreibt, rechnet er den Satzspiegel entsprechend um und kommt auf einen ungefähren Richtwert von 140-144 Seiten. Die muss er durch sechs teilen und weiß sodann, dass er pro Tag ca. 24 Seiten schreiben muss. Umgerechnet auf Tuppeks Arbeitsweise bedeutet dies zwei Kurzgeschichten pro Tag oder anders gesagt, sechs Wochen in 24 Stunden. Klar, dass ihm jetzt das Wort „hybrid“ einfällt. Zumal, wenn man bedenkt, dass die Umrechnung mit dem Faktor „Nur, wenn alles optimal läuft“ erfolgte.
Aber ist hybrid wirklich so schlimm? Nicht, wenn man es groß schreibt, rufen Zuversicht und Zutrauen. Die haben sich offenbar noch immer nicht einschüchtern lassen. Einfach nur eine Mischform, ein Mittelding, nichts Schlimmes, setzen sie nach und haben, vermutlich, ohne es zu beabsichtigen, Adrian Tuppek sehr schön auf den Begriff gebracht: Er ist ein Mittelding, ein bisschen talentiert und ein bisschen unbegabt, ein bisschen hochtourig und ein bisschen entschleunigt, ein bisschen jugendlich und ein bisschen verblüht, und gewiss nichts Schlimmes, einfach nur ein Hybrid.
Kriminalromane zu schreiben, ist seine Sache nicht. Obwohl. Eigentlich weiß er das nicht. Er weiß nur, dass er noch nie einen geschrieben hat. Und noch etwas weiß er: Schriftsteller sollten, was Stil und Gattung anbelangt, nicht eingleisig fahren, sollten in unterschiedlichen Formen geübt sein, sollten sie zumindest ausprobiert haben. Also: Tolle Gelegenheit, jetzt einen Krimi schreiben zu müssen. Eine gute Fingerübung und noch dazu kostenlos. Mit dem sechstägigen Selbststudium spart Tuppek die Kosten für einen entsprechenden Autoren-Workshop. Den könnte er sich momentan eh nicht leisten. Das Konto zeigt Farbe und die einzige Einnahmequelle, die er zur Zeit hat, ist der winzige Nebenjob, der nur wenig Geld in die Kasse spült, noch dazu unregelmäßig.
Und dann das. Gerade hat sich der Krimistudent auf das erste Proseminar eingestimmt, macht ihm der Terminkalender einen Strich durch die Rechnung. Fast hätte Tuppek vergessen, dass der winzige Nebenjob ausgerechnet heute seinen Einsatz verlangt. Und zwar pronto.
Im Wissen, dass gute Schriftsteller immer und überall an ihren Werken arbeiten können, zumindest gedanklich, steckt er den Kugelschreiber ein und schultert die Riesenumhängetasche. Die stammt aus der Briefträgerzeit seines Großvaters und ist derart multifunktional, dass sie die Anschaffung einer Einkaufs-, Bade- oder auch Aktentasche, ja sogar eines Koffers überflüssig macht.
11:30 Uhr stürmt Tuppek aus der Wohnung. Am Hauseingang läuft ihm die junge Mieterin aus dem Parterre über den Weg, die als erklärter Fan der „Truman Show“ jeden im Haus mit „Guten Morgen! … Und falls wir uns heute nicht mehr sehen, Guten Tag, Guten Abend und Gute Nacht!“ begrüßt. Tuppek erwidert den Gruß so gut er kann, wirft die Post in die Briefträgertasche und radelt zum Bahnhof. Unterwegs kommt ihm Frau Jankowiak entgegen, aber die weiß ja nichts von seinem Nebenjob.
Die Tasche quer vor dem Bauch, schleicht Adrian Tuppek um die Regale der Lederwarenabteilung eines großen Recklinghäuser Kaufhauses. Unauffällig checkt er die Verkäuferinnenpositionen, zieht einen Rucksack aus dem Regal, begutachtet das Leder, öffnet Vorder- und Seitentaschen und geht mit dem Rucksack zum Wühltisch mit den Sonderposten. Während er in den dort aufgetürmten Lederwaren kramt, schiebt er einen Schlüsselanhänger in die Vordertasche und kurz darauf noch einen Geldscheinhalter in die Innentasche des Rucksacks. Als er sich umsieht, bemerkt er, dass aus einiger Entfernung eine Verkäuferin zu ihm herübersieht. Als ihre Blicke sich treffen, schaut sie schnell weg und räumt sorgsam ein paar Brieftaschen in die Glasvitrine. Will halt jeder seine Ruhe haben.
Tuppek schlendert in die angrenzende Modeschmuckabteilung, wählt ein Glasperlenarmband aus, streift es über sein Handgelenk und geht Richtung Kasse. Die zwei Verkäuferinnen am Packtisch sind ins Gespräch vertieft. Tuppek grüßt freundlich und wird ignoriert. Er legt den Rucksack auf die Packtheke und räuspert sich. Die Verkäuferinnen riskieren einen Seitenblick und schauen, als läge eine verschimmelte Currywurst vor ihnen, eine, die gleichzeitig unsichtbar zu sein scheint. Verkäuferin 1 gelingt das Kunststückchen, die rechte Augenbraue fast bis zum Stirnansatz hochzuziehen. Im Zusammenspiel mit dem mehlfarbenen Gesichtspuder und dem ziegelroten Lippenstift hat das den Effekt, als wäre sie halbseitig auf Mephisto nach Art des großen Mimen geschminkt.
„Wenn Sie bitte die Güte hätten“, sagt Tuppek.
Die Verkäuferinnen verdrehen die Augen. Der Mephisto reißt mürrisch das Preisschild vom Rucksack, reicht es der Kollegin, stopft den Rucksack in eine Einkaufstüte und schubst sie zum Thekenrand Richtung Tuppek, der im selben Moment einen Fünfzig-Euroschein aus seinem Portemonnaie zieht.
„Neun’nzwanzichneunzich“, deklamiert Verkäuferin 2, deren Schminkfarbe eher ins Othellohafte geht.
Tuppek streift das Armband vom Handgelenk und legt es neben die Einkaufstüte: „Das nehme ich auch noch.“
Verkäuferin 1 + 2 entfährt ein grimmiges: „Sonst noch was?!“
„Nein danke, ich habe genug.“
Am Ausgang stellt sich ein Toupetträger im Hawaiihemd in die Quere, der dem großartigen Schauspieler Martin Brambach verdächtig ähnlich sieht.
„Wenn Sie mir bitte folgen wollen“, sagt er.
Adrian Tuppek folgt. Es geht in ein Bürokabuff, wo der Toupet- und Hawaiihemdträger die Einkaufstüte auf ein Tischchen donnert, als wäre er Deutscher Meister im Nagelbalken.
„Wie schön, dass in diesem Haus wenigstens einer auf Zack ist“, sagt Tuppek.
„Na, Ihre Unverschämtheit möcht’ ich haben“, knurrt Brambach.
Tuppek grinst und greift in die Riesenumhängetasche. „Schon mal was von Kassentest gehört?“
„Es ist immer wieder verblüffend, was für Geschichten mir hier aufgetischt werden“, schnauzt der Security Service Manager, der ausweislich des Namensschildes auf dem Schreibtisch „Poweleit“ heißt. „Sie wollen mir allen Ernstes erzählen, dass Sie hier als Testdieb unterwegs sind?!“
„So ist es.“ Der Fast-Kriminalromanautor lacht und wühlt weiter in seiner Tasche. „Ich kann Ihnen das sogar beweisen … meine Auftragsbestätigung … habe ich …“
„… wohl leider vergessen?“
„Nein! Warten Sie, … einen Moment…“
„Nun lassen Sie doch das Theater.“ Martin Poweleit ist ungehalten, denn die Kaffeepause naht, und die ist ihm heilig.
„Wir können das Ganze auch abkürzen“, sagt Tuppek. „Rufen Sie bei den ‘Shop-Inspectors’ an. Dort wird man Ihnen meinen Auftrag bestätigen.“
„Selbstverständlich werde ich anrufen, aber bei den richtigen Inspektors, denen von 1-1-0.“
„Jetzt glauben Sie mir doch! Ich habe im Auftrag gehandelt!“
„Handeln wir nicht alle in irgendeinem Auftrag? Sind wir nicht alle ein wenig ferngesteuert?“ Der Security Service Manager gerät in leichtes Vibrieren.
Tuppek gerät leich in die Defensive: „Nun machen Sie mal ‘n Punkt. Ich soll hier testen, ob das Personal an der Kasse die Ware hinreichend kontrolliert, bevor sie eingetütet wird! Glauben Sie mir, wenn ich wirklich etwas hätte stehlen wollen, dann hätten Sie das bestimmt nicht bemerkt!“
„Interessant, interessant. Sie geben also zu, dass Sie sich mit Ladendiebstahl auskennen …“
„Ich gebe überhaupt nichts zu!“
„So-so“, sagt der Sicherheitsdienstexperte und greift zum Telefon.
„Glauben Sie mir, die Peinlichkeit wird auf Ihrer Seite sein, wenn sich am Ende alles aufklärt und Sie einen unnötigen Polizeieinsatz zu verantworten haben.“
„Machen Sie sich um mich keine Sorgen“, kontert der Security Service Manager und drückt mit der Langsamkeit des Genießers die erste von drei Zahlentasten.
Tuppek kippt die Briefträgertasche auf dem Büroboden aus und dreht und wendet Manuskript- und Zeitungsseiten, Prospekte und Briefe, Keks- und Chipstüten. Dann ein hochgehaltener Briefbogen, ein Lachen und ein „Glauben Sie mir jetzt?“
Der Hausdetektiv studiert die Auftragsbestätigung der „Shop-Inspectors“, fasst sich ans kastanienbraune Haarteil und gibt auf.
Hochgestimmt wegen dieses K.-o.-Sieges und nicht minder wegen der 53,80 Euro, die er heute verdient hat, fährt Tuppek zurück nach Dorsten.
Könnte es sein, dass ihm vorhin der Stoff zugestoßen ist, den er zu einem Kriminalroman verarbeiten sollte? Die Recherche wäre praktisch schon erledigt. Nach zwei Jahren Tester-Job ist reichlich Quellenmaterial vorhanden. Aber wird das für einen erfolgreichen Krimi reichen? Haben Diebstahlsdelikte noch Potential, Leser zu fesseln? Und Zuschauer? Im Taumel des Glückstages geht Tuppek davon aus, dass der momentan noch nicht ganz fertiggestellte Roman selbstverständlich verfilmt werden wird. Dann die entscheidende Frage: Ist ernsthaft vorstellbar, sich sechs Tage und Nächte lang mit diesem Kaufhausdetektiv zu beschäftigen? Nein, das ist unvorstellbar. Es sei denn.
Also, es müsste ja nicht unbedingt eine Diebstahlsgeschichte sein. Wie wäre es mit: Tote tragen keine Toupets? Morde werden vom Publikum viel stärker nachgefragt. Überall nur Mordgeschichten. Da könnte man Poweleit schön über die Klinge springen lassen. Gleich schiebt sich das Cover der gebundenen Ausgabe von Tote tragen keine Toupets vor Tuppeks inneres Auge und hinterdrein das Filmplakat: Ein Kaufhausregal voll mit Handtaschen, Koffern und Schlüsselanhängern, vorn am linken Bildrand ein herunterfallendes Toupet, auf dem ein kleiner Blutstropfen klebt, und am rechten Bildrand nur die schwarzen Hosenbeine und Schuhe eines Flüchtenden. Hinten auf dem Buchumschlag ein Schwarz-Weiß-Portrait des Autors, darunter in fettgedruckten Lettern: „Adrian Tuppek ist ein herrlich anarchisches Debüt gelungen! Sie werden das Buch nicht aus der Hand legen wollen!“
Keine Frage: Zuversicht und Zutrauen ziehen gerade alle Register. Hoffentlich gehen die Pferde nicht mit ihnen durch.
Als Tuppek gegen 17:00 Uhr zuhause ankommt, ist er erschöpft. Verständlicherweise. So eine Radfahrt, Bahnfahrt, Kassentestung, Bahnfahrt, Radfahrt sind anstrengend, zumal, wenn man gleichzeitig noch ständig Romanideen im Kopf spazieren führt. Ein wenig Tee, ein wenig Musik und ein wenig Hinlegen helfen da immer.
In der hohen Birke vorm Küchenfenster sitzen regungslos sechs Kolkraben. Leichter Wind fährt durch die Zweige und lässt die chronisch vorwurfsvoll blickenden Vögel schaukeln wie Enten bei leichtem Seegang. Wer da lange zusieht, wird selbst in angenehmer Lage auf einem schönen Küchensofa ein wenig seekrank. Tuppek reckt und streckt sich, leert den Becher Tee und fühlt sich langsam etwas frischer. Ein Blick auf die Uhr reicht, und er fühlt sich sogleich vollkommen frisch. Es bleibt nicht mehr viel Zeit. Bis Mitternacht müssen 20-24 Seiten geschrieben sein.
Zum soeben erlangten Frischegefühl gesellen sich jetzt Herzklopfen und ein heftiger Bewegungsdrang. Das Z-Wörter-Paar, das bis eben noch das Regiment geführt hat, befindet sich auf dem Rückzug. Tuppek muss sich beeilen und anfangen. Jetzt und schnell, bevor sich Zweifel und Zaudern wieder in den Vordergrund schieben.
Er räumt seinen Schreibtisch auf, spitzt Bleistifte an, stapelt Karteikarten nach verschiedenen Farben, überlegt kurz, ob er den Rechner anstellen soll, verwirft den Gedanken aber sogleich wieder. Erste Skizzen und Notizen macht er ja immer handschriftlich.
Dann setzt er sich endlich hin und denkt nach. Er muss es pragmatisch angehen, denkt er. Er muss mit dem auskommen, was vorhanden ist. Warum immer großartig was Neues erfinden? Warum keine Geschichte, in der ein Kaufhausdetektiv vorkommt? Ja, warum eigentlich nicht? Was zählt schon der Inhalt? Worauf es ankommt, ist die Form. Sie macht die Kunst aus.
„Ich muss eine besondere Form finden“, schreit Tuppek. Und dann schaut er rüber zu den schaukelnden Kolkraben und wartet auf eine Inspiration.
Statt der Inspiration kommt Lena zur Tür herein. Lena gehört dem stets wohlmeinenden engsten Freundeskreis an. Im Prinzip jedenfalls. Das heißt, sie ist ein bisschen mehr als ein enger Freund, stets wohlmeinend ist sie hingegen nicht, gebraucht in dem Zusammenhang aber lieber den Ausdruck „einfach nur ehrlich“. Lena wohnt seit vierzehn Jahren mit Tuppek zusammen.
In der 12. Klasse war sie an seine Schule gewechselt und hatte im gemeinsamen Deutsch Leistungskurs ein Referat zu Kleists berühmten Essay über das Gespräch mit dem Schauspieler und dem Knaben, den Tänzer und den fechtenden Bären gehalten – konzentriert und selbstbewusst und vor allen Dingen mit einer Geste, die Tuppek schon nach kurzer Zeit vom Zuhören wegführte. Jedesmal, wenn Lena vom Blatt aufsah, fuhr sie sich kurz durch die schwarzen Haare und gab den Blick frei auf diese Huskyaugen. Noch nie hatte er solche Augen gesehen. Und noch nie hatte er wegen einer Geste oder ein paar Augen vergessen, zuzuhören, wenn etwas ihn interessierte. Das mit dem Maschinisten, dem Schwerpunkt und dem Paradies hatte ihn sogar sehr interessiert. Er aber nahm bald nur noch wahr, wie Lena die Haare aus der Stirn schob und wie sie schaute, nicht, was sie sagte. Wenig später wusste er, Lena würde sein Lieblingsmensch werden und würde es bleiben.
An diesem Freitagspätnachmittag plumpst dieser Lieblingsmensch schnaufend aufs Sofa. Denn er ist ebenfalls erschöpft und im Gegensatz zu seinem eigenen Lieblingsmenschen nicht von einem plötzlich aufgetretenen Gefühl vollkommener Frische heimgesucht worden. Lena hat sieben Stunden hinter der Theke gestanden. Sie arbeitet in der Marler Filiale von Herrn Krause, der zwischen Dorsten und Haltern fünf Bäckereien betreibt. Nach erfolgreichem Magisterabschluss (Ethnologie und Religionswissenschaft) und insgesamt neunundvierzig Absagen von Verlagen, Museen und Radiosendern ist sie eben dort hängengeblieben, wo sie seit der 12. Klasse gejobbt hatte. Der Zwei-Drittel-Job sichert die Grundversorgung und hat als angenehmen Nebeneffekt, dass Lena nach der Arbeit mit einer gut gefüllten, gleichwohl kostenlosen Brötchentüte nach Hause kommt, in der verschiedenes Gebäck gehortet ist, das bei Bäcker Krause sonst bis zum Rest der Woche als „Kuchen vom Vortrag“ angeboten werden würde. Eine solche Tüte zieht Lena aus ihrem Rucksack, entleert sie auf einen Tortenteller und schnappt sich ein topfdeckelgroßes Pflaumenmushörnchen.
Adrian Tuppek schaut fasziniert zu. Es gefällt ihm, dass Lena bereits kurz nach ihrem vierzigsten Geburtstag geschafft hat, was anderen Frauen meist erst nach dem fünfzigsten Geburtstag gelingt: ihre Lust am schönen Essen höher zu werten als die Lust am schlanken Körper. Ihm gefällt ebenso, dass sie sich seit kurzem ein wenig weicher anfühlt.
„Was hast du heute gemacht?“ schmatzt der weiche Lieblingsmensch vom Sofa herüber.
„Das Übliche: bisschen gelesen, bisschen getestet und bisschen eingekauft.“
„Und?“
„Wie und?“
„Auch bisschen was geschrieben?“
„Tja … also….“
„Also nicht!“
„Das kann man so nicht sagen. Ich habe mit einem größeren Projekt angefangen.“
„Oh Gott!“
„Wie ‘oh Gott’?“
„Dein letztes größeres Projekt war die Bewerbung für den Bachmannwettbewerb vor zwei Jahren. Der Text liegt noch heute unvollendet in der Schublade.“
„Fang nicht wieder damit an.“
„Fang du mal lieber was Vernünftiges an.
„Würde ich ja gerne, aber du lässt mich ja nicht.“
„Was ist los?“
„Ich stehe unter extremem Zeitdruck. Da kann ich nicht noch Grundsatzdiskussionen führen. Da brauch ich Ruhe und keinen Stress.“
„Das trifft sich ja gut. Ich stehe nämlich seit heute morgen 7:00 Uhr unter Zeitdruck! Bei Krauses wird nämlich nicht nur bisschen gearbeitet! Wenn hier jemand Ruhe braucht, dann bin ich das!“
„Und warum gibst du dann keine Ruhe?“
„Ich habe lediglich gefragt, was du heute gemacht hast. Wenn das Ruhestörung ist, bitte! Ich für mein Teil, geh jetzt erstmal entspannen.“ Lena springt vom Sofa auf und knallt die Badezimmertür hinter sich zu.
Adrian Tuppek hat jetzt seine Ruhe, aber noch immer keine Inspiration. Die kleine Disharmonie wirkt sich nicht gerade förderlich aus. Tuppek ist auf Harmonie angewiesen, um sich wohlfühlen zu können, um kreativ sein zu können, um sich auf eine Sache konzentrieren zu können. Die Zeitanzeige am Elektroherd leuchtet signalrot 19:08 Uhr. Noch fünf Stunden. Nein, weniger als fünf Stunden bleiben ihm noch. Jetzt wird es wirklich knapp.
Tuppek ruckelt auf dem Stuhl, schlägt mit den Füßen einen schnellen Takt, dreht den Kugelschreiber zwischen den Fingern. Aber nichts passiert. Keine Idee. Vom Badezimmer dringen die Wannengesänge der weichen Frau herüber. Dann ist sie also wieder fröhlich, denkt er erleichtert und zeichnet eine Blume aufs Papier. Ob die Kolkraben wohl noch immer in der Birke schaukeln? Das darf ihn nicht kümmern. Er darf jetzt nicht aufstehen. Er muss sich zusammennehmen und endlich beginnen.
Er drückt die Mine ins Papier, überlegt einen Augenblick lang, schaut kurz zur Decke, zurück aufs Papier und schreibt blitzschnell den Titel seines Romans: „Wenn Sie mir bitte folgen wollen.“ Erlöst kippt er nach hinten auf die Rückenlehne und streckt alle viere von sich. Geschafft! Jetzt bloß nicht nachlassen. Weitermachen.
Ob Powelowsky das Toupet aus persönlicher Eitelkeit oder rein beruflichen Gründen trug, war letztlich nicht auszumachen. Tatsache ist, dass ihn kaum jemand ohne diese Kopfbedeckung gesehen hat. Wahrscheinlich gab es einige wenige, etwa aus dem medizinischen Bereich, möglicherweise aus dem horizontalen Gewerbe, die ihn oben ohne bzw. mit verrutschtem Kunsthaar gesehen hatten und mehr wissen, aber keiner von ihnen hat sich als Zeuge gemeldet und eine Aussage gemacht. Nähere Verwandte, gar eine Ehefrau des gerissenen Spions sind nicht bekannt oder nicht vorhanden oder spektakulär untergetaucht.
Es trifft zu, dass man bei genauem Hinsehen die gewiefte Tarnung bzw. eitle Schönheitskorrektur unschwer erkennen konnte bzw. musste. Solange sie im Dienst der guten Sache stand, gab es aber keinen Grund, das Geheimnis zu lüften und also Powelowskys Einsatz zu gefährden. Vielleicht hätte man schon früher aufhorchen sollen und Maßnahmen ergreifen müssen. Aber niemand hat sich etwas anmerken lassen, niemand hat sich zuständig und verantwortlich gefühlt. Und dann geschah das Ungeheuerliche, von dem zu berichten wir die traurige Aufgabe haben. Nichts werden wir verheimlichen, unterschlagen, beschönigen. Alles wird zur Sprache kommen, offen und schonungslos. Der Wahrheit die Ehre.
„Jah!!!“ Tuppek macht die Boris-Becker-Faust und lässt den Kugelschreiber auf die ersten zwei vollgeschriebenen Blätter seines ersten Kriminalromans fallen. Die Blockade ist durchbrochen! Der Weg ist frei. Alles kommt in Fluss. Alles wird gut.
Ein Glücksgefühl durchwallt Tuppek. Es ist so stark, dass er davon aufspringen und sich bewegen muss, um diese Elektrisierung ein wenig abzureagieren, um sie überhaupt aushalten zu können. Er tänzelt durch den Raum, bewegt Schultern und Arme im Rhythmus der Wannengesänge, summt leise mit und entkorkt eine Flasche Wein – eine von den teuren, denn es gibt Grund zum Feiern.
Das Badezimmer ist von sanft flackernden Kerzen und Teelichtern in schummriges Licht gehüllt ist. Eine Atmosphäre, wie sie passender nicht sein könnte für diesen besonderen Augenblick. Nur eins passt nicht, und zwar dass die Badende überhaupt nicht neugierig zu sein scheint, wer da gerade zu Besuch gekommen ist. Auch singt sie nicht mehr. Tuppek aber lässt sich nicht beirren und wagt die Flucht nach vorn: „Komm Leni, sei wieder gut.“
Er lächelt sein Glücksgefühl-Lächeln und hält das Rotweinglas vor ihre Nase. Bange Sekunden des Wartens verstreichen, bis endlich fünf verschrumpelte Finger nach dem Glas greifen. Man prostet sich zu, tauscht ein paar klärende Worte aus, es kommt zum zaghaften Austausch von Zärtlichkeiten und dann überfällt beide das ganz normale, der Tageszeit entsprechende Hungergefühl. Die Venus möchte sich eben schnell noch eincremen und der Krimiautor verspricht, derweil das Abendessen vorzubereiten.
Wie könnte es weitergehen? Vielleicht eine Erpressung? Powelowsky wird von einer Kaufhausangestellten wegen sexueller Nötigung erpresst. Wahrscheinlich von Verkäuferin 1, die mit vielsagendem Blick seine Wege kreuzt und dabei nicht müde wird, ihr Augenbrauen-Kunststückchen vorzuführen, um ihn einzuschüchtern, unter Druck zu setzen. Dabei war sie es gewesen, die auf der Weihnachtsfeier eindeutige Zeichen gesetzt hatte, ständig mit der Zunge über ihre Lippen gefahren war, ihn später noch zum Besuch einer Bar überredet und dort beim langsamen Tanz den Oberschenkel zwischen seine Beine gedrückt hatte. Und dann, mitten im Trubel des nachweihnachtlichen Geschenkumtausches tritt sie eine Lawine übelster Vorwürfe los, die nichts anderes sind als die Antwort einer Beleidigten, die Rache nehmen will an einem Unbescholtenen, der ehrlich und unmissverständlich zu verstehen gegeben hat: „Ich stehe nicht zur Verfügung“. Weil sie das nicht verkraften kann, geht nun eine Hetzjagd auf ihn los. Wie wird er damit umgehen? Welche Strategien der Gegenwehr wird er anwenden?
„Was gibt es Leckeres zu essen?“ Wohlduftend, rotwangig und nur mit einem Bademantel bekleidet steht Lena im Türrahmen.
Tuppek hält ihr eine Platte mit liebevoll dekorierten Graubrotscheiben unter die Nase. Jetzt kann die Party beginnen. Man lümmelt sich aufs Sofa, schlürft Wein und schnabuliert lecker Schnittchen. So selig ist der Frischversöhnte, dass er nicht mehr an sich halten kann: „Was hieltest du von einem Kriminalroman, in dem ein Kaufhausdetektiv die Hauptrolle spielt?“
„Warum nicht.“
Tuppek ignoriert die mangelnde Begeisterung und legt einfach los: „Also, der Kaufhausdetektiv wird verleumdet, verfolgt, man könnte sagen, gestalkt, und zwar von einer Verkäuferin, die er hat abblitzen lassen und die nun Rache nimmt, möglicherweise bis zum bitteren Ende, aber das ist noch nicht klar. Lena? Hörst du mir zu?“
„Hm.“ Lena schaut unentschlossen zwischen dem mit Gurken verzierten Mettwurstbrot und dem tomatengeschmückten Käseschnittchen hin und her.
„Dann kommt auch noch eine Auseinandersetzung zwischen dem Kaufhausdetektiv und einem Testdieb dazu.“
„Hm“, sagt Lena und wählt das Mettwurstbrot. „Wenn du meinst.“
„Wie, wenn ich meine?“
„Na, wenn du meinst, dass könnte interessant sein.“
„Das will ich ja gerade von dir wissen.“
„Woher soll ich das denn wissen?“
„Na, weil du eine belesene Person bist.“
„Du weißt, dass Kriminalromane mich nicht so interessieren? Was hast du denn auf einmal mit Krimis?“
„Ich schreibe einen.“
„Du schreibst einen Krimi?“
„Ja.“
„Wieso das denn?“
„Weil ich das will. Und weil ich das muss.“
„Wieso muss?“
„Weil ich ein Versprechen gegeben habe.“
„Wem?“
„Mir.“
„Ach, so.“
Die Zeitanzeige am Elektroherd leuchtet signalrot 21:30 Uhr. Noch zweieinhalb Stunden, dann ist der erste Schreibtag zuende. Lena gähnt und sagt: „Sei nicht böse, aber ich muss jetzt ins Bett.“
„Schon gut.“
Lena holt sich einen Gute-Nacht-Kuss ab und schlafwandelt aus dem Zimmer.
Tuppek liest die erste Seite seines ersten Kriminalromans und findet sie gar nicht so schlecht. Zu häufig hat er „bzw.“ gebraucht, aber das lässt sich ja ändern. Wie soll er nun weiter verfahren? Handlungsaufbau und Plots festlegen? Sämtliche Figuren auflisten und sie kurz charakterisieren? Ein Sudelbuch für spontane Einfälle anlegen? Oder sollte er einfach am Text weiterschreiben? Ja, das will er, einfach weiterschreiben. Die anderen Dinge, denkt er, kann er nebenbei erledigen.
Tuppek nimmt Haltung an, schiebt das Manuskriptpapier zu einem bündigen Stapel zusammen, legt die fertigen zwei Seiten links daneben, greift zum Kugelschreiber, schaut geradeaus, schaut nach unten, reibt mit den Zehen des rechten Fußes über den Spann des linken, nimmt die Brille ab, wischt mit dem Taschentuch über die Gläser, zupft an den Ärmelbündchen seines Pullovers und überlegt. Vielleicht noch ein Gläschen von dem teuren Roten? Genau. Bisschen locker machen.
Draußen im Schein der Straßenbeleuchtung schaukeln schwarze Wollknäuel in der Birke. Die Straße ist ruhig und Tuppek anscheinend der einzige, der den Mut besitzt, sich dem Ganzen zu stellen, auszuharren, der nicht müde wird, das zu tun, was ihm aufgetragen ist. Hier steht er, unnachgiebig und geduldig. Die Sterne sind seine Zeugen.
„Nein“, sagt Powelowsky, „ich bin kein Mann für eine Nacht, ich suche kein Abenteuer. Ich will Familie, will Autowaschen und Grillen am Wochenende, das ganz Normale. Sex ist wichtig, aber nicht alles. Haben Sie bitte Verständnis.“
Höhnisch schaut sie ihn an, hebt missbilligend die Augenbraue und dann giftet sie los: „Das hätte ich mir ja denken können, dass einer ohne Haare auch nichts in der Hose hat, hah!!“
„Natürlich verstehe ich, dass Sie jetzt enttäuscht sind“, lenkt Powelowsky ein.
Doch die Furie ist schneller: „Das werden Sie mir büßen. Mich hat noch keiner von der Bettkante geschubst! Ich mach Sie fertig!“
So geht es nicht, denkt Tuppek und ist mehr als unzufrieden mit sich. Er nimmt einen großen Schluck Rotwein, als wolle er die Schmach wegspülen, von der außer ihm, gottlob, noch niemand etwas mitbekommen hat. Bedauerlicherweise zeigt der Schluck keine befreiende Wirkung, weder beruhigt er das Gefühl der Scham, noch setzt er Impulse für eine erneute und diesmal niveauvolle Bearbeitung des Themas frei.
Könnte es sein, dass Tuppek sich literarisch in einem Niemandsland bewegt, in dem es keinen Ort gibt für „Niveau“ und in dem sein ganzes Mühen und Tun von nichts anderem bestimmt wird als davon, Ausschau zu halten nach den Alles-Könnern jenseits und den Nichts-Könnern diesseits des Niemandslandes? Immer nur beobachten, die einen mit Angst, die anderen mit Häme? Tuppek erschaudert. Zweifel und Zaudern sitzen in der Ecke und halten sich schadenfroh die Bäuche. Sehen sie etwas anderes? Sehen sie ihn nicht im Niemandsland, sondern im Diesseits? Er möchte so gerne ins Jenseits. Aber er kommt nicht von der Stelle. Er steht sich im Weg. Gehört dieser Tag am Ende doch wieder zu den häufiger vorkommenden Tagen. Tuppek muss lernen, sich aus dem Weg zu gehen.
Die Augen fallen ihm zu. Er kann nicht mehr. Er kommt nicht weiter. Ihm bleiben nur noch fünf Tage. Das ist nicht zu schaffen. Er wird es nicht schaffen. Aber er wird nicht aufgeben. Wenn ihm etwas gelingt, dann das. Nicht aufzugeben. Handlung, Idee und Figuren von „Wenn Sie mir bitte folgen wollen“ sind nicht schlecht, redet er sich Mut zu. Gar nicht so übel.
Form! Form! Form!, johlen die bösen zwei Z’s aus der Ecke.
Tuppek nimmt sein Sudelbuch hervor, kann die meisten der spontan hingekritzelten Einfälle jedoch nicht entziffern. Eigenartige Abkürzungen, Kreise, Durch- und Unterstreichungen, Pfeile und Querverbindungen. Ein einziges Wirrwarr, als hätte er es darauf angelegt, sich nicht zu verstehen. Vielleicht kann er morgen aus dem Ganzen schlau werden und noch etwas damit anfangen. Jetzt geht erstmal nichts mehr.
Er sollte zu Bett gehen. Aber er weiß, was ihn dort erwartet: Sobald er zu schlafen versucht, wird sich das Gedankenkarussell in Gang setzen. Er ist hundemüde, aber er wird nicht schlafen können. Wieder so eine von Tuppeks Paradoxien. Doch es nützt nichts. Er muss es wenigstens versuchen. Das nun auch noch.
Vom Schlafzimmer dringen gleichmäßige Schnorchelgeräusche herüber. Beneidenswert. Um Lena nicht zu stören, legt Tuppek sich aufs Sofa. Das Gedankenkarussell fährt los. Und mit jeder Runde wird dem Schlaflosen eines immer klarer: Der heutige Tag ist auf keinen Fall ein Glückstag gewesen.
Hier mangelt es ihm aber offenbar am nötigen Überblick. Gut, es gab einige unschöne Momente, aber davon sollte er sich nicht täuschen lassen. Immerhin lebt er noch.