Leseprobe: Charlotte Kliemann – “Nenn ich dich Aufgang oder Untergang”

1 Nebeneinander

Nach drei Jahren hatte ich die Hoffnung so gut wie begraben. Irgendwann nach diesen drei Jahren gewahrte ich eine Leere, eine brennende Verlassenheit, da, wo sich so lange die Hoffnung aufgebläht hatte, eine Leere, die sich schnell verdichtete zu einer kleinen, schmerzhaften Wunde, an die ich nicht rühren durfte. Drei Jahre, in denen die Jahreszeiten an mir vorübergezogen waren, ohne dass ich an ihnen teilgehabt hätte, in denen ich Tag für Tag in der Redaktion an meinem Schreibtisch gesessen hatte und in denen aus meinen Kindern Teenager geworden waren. Während also das Leben, wie man so sagt, weitergegangen war, hatte mich die Frau begleitet, deren Haar an einem sonnigen Oktobermorgen einmal im Traum auf meinem Kissen gelegen hatte und über das meine Hand gestrichen war. Anfangs, als ich noch die Wochen zählte, die ohne ihren Anruf vergangen waren, hatte sie Ähnlichkeit mit einer neu gewonnenen Zuversicht in das Leben. Ganz allmählich verblasste der zuversichtliche Glanz und wurde durch ein angstvolles Hoffen abgelöst, ein Hoffen, das sich als ein Konglomerat aus Demut und Vergeblichkeit offenbarte und schließlich irgendwo im Alltäglichen verloren ging. Drei Jahre lang hatte ich auf einen Anruf gehofft, auf ein Lebenszeichen der Frau, deren Haar im Traum auf meinem Kissen gelegen hatte.
Und dann, als alle Vergeblichkeit des Hoffens sich komprimiert hatte zu dieser kleinen, quälenden Wunde – begegneten wir uns doch noch.

Am Kölner Hauptbahnhof stieg ich aus dem Zug in das laue Licht unter dem Hallendach. Ich rückte zwischen Rollkoffern und Rucksäcken auf den Ausgang zu und ging, ohne innezuhalten und mich umzusehen, dem Dom entgegen. Es war ein sonniger, ungewöhnlich heißer Tag im Mai 2008. Schon während der Zugfahrt hatte ich meine Krawatte gelockert. Wie eine Schlinge hatte sie dann um meinem Hals gehangen, nur der Dachbalken hatte gefehlt, an dem ich das lange Ende hätte verknoten können. Weiß der Teufel was mich bewogen hatte, an einem solchen Tag eine Krawatte umzubinden, in dezentem Dunkelblau.
Ich lehnte in meinem Sitz zwischen gut gelaunten Menschen, die Schlinge wie das Zeichen einer Ächtung um den Hals. Ich vermisste die Intimität meines Volvos, ich hatte auf ihn verzichtet, weil ich zu feige gewesen war, mich an einem Samstagmorgen in der Kölner City um einen Parkplatz zu schlagen. Nun saß ich also hier im Zug, inmitten dieses belanglosen Geredes, inmitten einer geradzu unerträglichen Wochenendfröhlichkeit. Und ich fragte mich, ob man mir ansah, dass ich zu einer Frau fuhr, der ich einmal vergebens durch die halbe Republik gefolgt war.
Nach vierzig Minuten Fahrt hatte sich auf der rechten Seite der Rhein in die Stadt gezwängt und die Kölner Vororte auseinandergetrieben. Da war ich aufgestanden und zur Zugtoilette gegangen und hatte mir die Schlinge vom Hals genommen. Ich hatte sie, so gut es ging, zusammengefaltet und in die Hosentasche gesteckt. Zu pinkeln hatte ich nicht gewagt, im Zug läuft man immer Gefahr, sich vollzukleckern, und auf die Klobrille mochte ich mich nicht setzen. Für den äußersten Fall gab es ja die Bahnhofstoilette. Ich hatte mir kaltes Wasser über die Hände laufen lassen und versucht, dem Blick in den Spiegel zu entgehen. Aber dann war es wie ein Zwang gewesen, mein Gesicht zu prüfen. Ich war perfekt rasiert, das helle, graue Sakko stand mir. So weit, immerhin, schien doch alles gut zu sein. Wenn nicht die Augen wären, diese schon unangenehm großen Augen, viel zu dunkel, viel zu unergründlich, mit dem steten Flackern des Zweifelns. Während ich auf den Dom zuging, drückte ich die Hand auf die Hosentasche. Ich spürte die Krawatte, wie sie sich mit jedem Schritt in meine Hand schmiegte. Schlinge, dachte ich, die Schlinge musst du loswerden, mit der Schlinge in der Tasche kann es nichts werden.Der Dom stand da wie immer: keine Hilfe, keine Zuflucht, sondern eher eine Herausforderung. Auf dem Platz davor wimmelte es von Menschen, und auch ich legte wie alle anderen den Kopf in den Nacken und starrte eine Weile zu den Türmen hinauf. Ich sah, wie sie sich mir entgegenneigten, kaum merklich, es aber nur noch eine Frage von Sekunden war, bis sie auf uns herabstürzen würden. Selbstverständlich stürzten sie nicht um, schließlich standen sie hier in ihren Grundfesten seit Jahrhunderten, weitgehend unverändert. Aber als bloße Möglichkeit sollte man es doch ins Auge fassen.
Ein Blick auf die Uhr: noch zehn Minuten.
Die Domplatte dampfte die Mittagshitze ab, die Menschen drängten hierhin und dorthin. Ich musterte die Männer, keiner, kein einziger trug eine Krawatte. Ich strich an einem Abfallbehälter vorüber, eine leichte Bewegung des Arms und ich war das Knäuel aus der Tasche los. Entspannung stellte sich nicht ein. Stattdessen zog ich planlose Kreise über den Platz. Ich passte hier nicht ins Bild. Dass ich hier war, das hatte, wie gesagt, in den drei Jahren des Hoffens die Berechtigung verloren, Realität zu werden.
Genau genommen hatte ich es wohl meinem Buch zu verdanken, das niemand lesen wollte. Hatte ich darum dieses Buch geschrieben? Um einen Köder auszulegen, an dem sie würde anbeißen können, anbeißen müssen? Hatte ich mich danach gesehnt: heute, an diesem sonnigen Samstag im Mai, vor dem Kölner Dom hektisch auf und ab zu wandern, angetrieben vom hämmernden Techno-Rhythmus meines Herzens?
Ich zog ein Taschentuch hervor, wischte mir über die Stirn und sah mich nach einem Abfallbehälter um. Der, in dem die Schlinge, zusammengerollt wie eine Schlange, in der Mittaghitze brütete, kam nicht infrage. In der Nähe des Domportals fand ich einen anderen, in den ich das Taschentuch fallen ließ.
Wie war sie auf das Buch aufmerksam geworden? Sie hatte es wohl gelesen, nahm ich an. Tatsache war: Sie hatte beim Verlag angerufen und ihre Handynummer hinterlegt. Meine Handynummer, die ich ihr einmal hatte zukommen lassen, hatte ich nur ihretwegen nie geändert. Doch sie musste diesen wunderlichen Weg über den Verlag wählen. Er würde demnächst eine Kontaktbörse eröffnen, hatte mein Lektor, mit dem ich per Du bin, gewitzelt, damit hätte er sicher mehr Erfolg als mit Manuskripten. Mir war so schnell keine passende Antwort eingefallen auf die spitze Bemerkung wegen des Freundschaftdienstes, den er mir mit dem Buch erwiesen hatte, das nun floppte, aber ich war geistesgegenwärtig genug, ihre Nummer zu notieren, auf meine Schreibtischplatte, neben mein Notebook, das bereit gewesen wäre.
Dann ließ ich zwei Wochen verstreichen, bevor ich sie anrief. Zwei Wochen, in denen ich tatsächlich meinte, ich könnte mich vorweg an unsere erste Begegnung gewöhnen. Als ich ihre Stimme am Telefon hörte, erinnerte ich mich sofort, damals, als ich nach ihr gesucht hatte, vergeblich gesucht hatte, dass ich damals von ihren ehemaligen Nachbarn erfahren hatte, sie würde die Songs, die sie hörte, immer dieselben, sagten die Nachbarn, diese immer selben Songs würde sie laut mitsingen.
Jetzt lebte sie in Köln, und wir verabredeten uns für den kommenden Samstag.
Sie erwarte mich an der Kreuzblume vor dem Dom, hatte sie gesagt und erklärt, die Kreuzblume sei eine Nachbildung der einen Turmspitze in Originalgröße. Und ich hatte verwundert getan, als hätte sie mir etwas außerordentlich Erstaunliches mitgeteilt.

Auf der obersten Stufe der breiten Treppe blieb ich schließlich stehen, der Dom im Rücken wie eine pausenlose Provokation von Beständigkeit. Unten vor der Kreuzblume scharte sich eine Touristengruppe um die Reiseleiterin, mit erhobener Stimme redete sie auf die ihr zugewandten Gesichter ein. Aus den Straßen tropften unentwegt Menschen, sie rieselten in den Strom, der gemächlich die Stufen hinauftrieb, sich vor mir teilte, hinter mir wieder schloss und ins Domportal drängte.
Ich stand wie ein in den Boden gerammtes Hindernis, und ich dachte: Sie wird nicht kommen, sie hat es sich anders überlegt. Ich stellte mir vor, wie ich zurückfahren würde, ich stellte mir die Rückfronten der Häuser vor, wie sie teilnahmslos vorüberz.gen, und wie ich im Sitz lehnen und mir sagen würde, dass doch eigentlich alles beim Alten geblieben sei.
Da fiel mir eine Frau auf, am Rand der Touristengruppe. Ich sah sie von der Seite, im Profil. Sie trug ein hellblaues Sommerkleid und eine Sonnenbrille. Und sie war sehr schlank und schien groß zu sein. Mindestens einsachtundsiebzig, schätzte ich. Doch tatsächlich war mir das Haar aufgefallen, blond und in Wellen hing es auf ihren Rücken. Ich erkannte es sofort wieder, das Haar, das im Traum schon einmal auf meinem Kissen gelegen hatte und über das meine Hand gestrichen war.
Sie ist also doch gekommen, dachte ich. Und gleichzeitig war mir klar, dass es ja auch ganz anders sein könnte, dass die Frau da unten irgendjemand anderes war, irgendeine Nicole oder Ella oder Anja. Da wendete sie den Kopf, gerade als ich dachte, dass sie also doch gekommen sei und dass genauso gut sie es nicht sein könnte. In meine Richtung wendete sie sich um. Es war nicht auszumachen, ob sie ausdrücklich mich ansah, wegen der Sonnenbrille. Sie ging aber auf die Treppe zu und stieg mit dem Strom die Stufen hinauf, sehr direkt auf mich zu. Im Laufen nahm sie die Sonnenbrille ab und ließ sie in die Tasche fallen, die ihr über der Schulter hing.
Ich wagte es nicht, ihr geradeheraus entgegenzublicken, und sah halbwegs über sie hinweg auf die Kreuzblume. Zwei Stufen unter mir blieb sie stehen. Martin Heuser? fragte sie.
Ja, sagte ich und tat, als wäre ich aus tiefen Gedanken aufgeschreckt worden.
Sie stieg die letzten beiden Stufen hoch und streckte mir zwischen den vorwärtsdrängenden Menschen die Hand entgegen: Ich bin Claudia Arnsberg. Es freut mich, Sie kennenzulernen. Mit der freien Hand strich sie sich das Haar hinters Ohr. Ich wusste, dass Claudia neununddreißig Jahre alt war und dass ich ihr Haar im Traum schon einmal berührt hatte. Bis dahin hatte ich im großen Ganzen alles ganz gut im Griff gehabt. Doch jetzt stand die Frau, die sagte, sie sei Claudia Arnsberg, vor mir und drückte meine Hand und strich sich mit der anderen die Haarsträhne aus dem Gesicht, und ich sah schnell halb zur Seite zu den Domtürmen hoch, die während der letzten zehn Minuten nicht umgestürzt waren und auch jetzt keine Anstalten machten, zusammenzufallen. Ich habe sie verkannt, dachte ich, sie strahlen eindeutig eine Gewichtigkeit aus. Ja, diese Türme spendeten eine belangvolle Bedeutung, an der sich alles, was tief zu ihren Füßen herumwieselte, mühelos bedienen konnte. Ich hielt Claudias Hand, und ich lächelte. Nur im Kehlkopf klumpte ein Kloß zusammen, der sich nicht so ohne Weiteres von zwei Zeugnissen architektonischer Zuverlässigkeit beeindrucken ließ.
Haben Sie schon gegessen? Claudia blinzelte gegen das Sonnenlicht und hielt sich dann schützend die Hand, die die Strähne hinter das Ohr geschoben hatte, über die Augen. Ich verneinte und hätte beinahe, nur um auch einmal mehr als Ja und Nein zu sagen, verlauten lassen, ich müsse eigentlich nichts essen, als sie einen Vorschlag machte. Gleich dort drüben, sagte sie, gibt es ein Restaurant, das neu eröffnet hat. Wir könnten es ausprobieren. Wir arbeiteten uns gemeinsam gegen den Strom voran und gingen zum Gaffel hinüber. Ich hatte von der Neueröffnung in der Presse gelesen. Das Gaffel war ziemlich angesagt. Ich sagte etwas Ähnliches mit meiner knödeligen Stimme, während ich sie neben mir spürte wie etwas Leichtes, Flüchtiges. Sie lachte. Warum nicht? fragte sie, warum nicht was Angesagtes?
Dabei sah sie zu mir herüber, interessiert, vielleicht auch prüfend. Hier, im Schatten der Häuser, fiel mir ihre Augenfarbe auf. Veilchen, dachte ich, käme sie in einem alten Roman vor, hätte sie veilchenblaue Augen.

2 Rubina

Rubina brach auf, ließ das Lager an der Eisenbahn hinter sich und schleppte ihren Koffer durch die Siedlung. Er hing ihr um den Hals, mit jedem Schritt schlug er gegen den Bauch.
Es war das Jahr 1957, es war Juli, der Himmel glasig weiß, da, wo er am Ende der Siedlung hinter den Hausdächern wegtauchte, kräuselte er sich grau. Sicher würde es noch Regen geben, dann würde sie umkehren müssen. Sie ging von Haus zu Haus und setzte entschlossen ihren Zeigefinger auf die Klingelknöpfe. Dann legte sie den Daumen gegen den Verschluss des Koffers, ein leichter Druck und der Koffer sprang auf und war augenblicklich ein Bauchladen. Ordentlich aufgereiht war dort alles zu finden, was eine Hausfrau zum Nähen brauchte: Knöpfe in verschiedenen Größen und Farben Gummilitze für die Unterwäsche Nähgarn Nähnadeln Maßbänder Schneiderkreide. Die lückenlose Üppigkeit des Nähbedarfs vor ihrem Bauch, sagte Rubina ihren Spruch auf: Liebe Frau, fehlt Ihnen etwas, Nähgarn …
Nie war es nötig, den Spruch zu vervollständigen, denn spätestens nach dem Nähgarn wurde die Tür zugeschlagen. Um ein bisschen Abwechslung in das trübe Geschäft zu bringen, zog sie mal die Knöpfe vor, mal die Nähnadeln, mal die Gummilitze. Und wenn sie so gar nichts verkaufte und der verächtliche Blick der Mutter immer näher rückte, begann sie auch schon mal mit der Schneiderkreide. Liebe Frau, fehlt Ihnen etwas, Schneiderkreide … Schneiderkreide? Der junge Mann, der in der offenen Tür stand, zeigte sich interessiert: Was ist das? Könnte ich das gebrauchen?
Rubina machte erschrocken einen Schritt zurück. Der Mann hob beschwichtigend die Hände: Bitte, haben Sie keine Angst. Sie haben Glück, ich habe Urlaub, sonst hätte Ihnen niemand geöffnet.
Rubina sah auf ihren Bauchladen hinunter. Mit Schneiderkreide, sagte sie, kann man Markierungen auf Stoff anbringen, zum Beispiel wo der Saum genäht werden soll, sie lässt sich leicht wieder ausbürsten.
Sie drücken sich sehr gewählt aus, bemerkte der Mann und betrachtete sie interessiert.
Rubina sah auf. Sie sah dichtes blondes Haar, das wie ein paar Besenborsten in die Stirn des Mannes hing. Es war das Haar, das Rubina sofort Vertrauen einflößte. Und zu dem blonden Haar sagte sie: Ich lese viel, Bücher. Was für Bücher sie denn lese, wollte er wissen. Alles lese sie, was sie bekommen könne. Sie habe eine Freundin, die leihe ihr manchmal Bücher. Was sie denn gerade lese?
Rubina sah von den wirren blonden Haaren auf die sauber aufgereihten Knopfheftchen und Nähgarnrollen vor ihrem Bauch hinunter. Der Fall Mauritius, sagte sie leise. Jakob Wassermann? Der Mann nickte. Alle Achtung. Er strich sich langsam das Haar aus der Stirn, als nähme er sich einen Moment Zeit, um nachzudenken, und brauchte dann ihre Hilfe bei der Auswahl der Knöpfe. Sie wagte sich einen Schritt vor und sah ihm jetzt in die Augen, hellen blauen Augen. Und sie fand etwas in ihnen, das ihr angenehm war. Es war eine Klarheit, eine blanke Klarheit, die sie bisher nur in den Augen von Kindern gesehen hatte. Sie riet ihm, da er ja ein Mann sei, zu braunen Knöpfen und dazu passend zu einem braunen Nähgarn. Und die Schneiderkreide, erinnerte er sie. Er stopfte sich Knöpfe, Nähgarn und Schneiderkreide in die Hosentasche und ging ins Haus, um Geld zu holen. Rubina wartete an der Tür. Sie betrachtete gelbliche Fliesen am Boden, große schwarze Blumen an den Wänden und eine schmiedeeiserne Garderobe, an der ein Mantel hing. Und sie las den Namen an der Türklingel: Heuser.
Der Mann kam zurück mit einem Glas Wasser und einem Buch. Er reichte ihr das Glas und sagte, sie sähe müde aus. Sie bedankte sich und trank. Der Mann sah ihr zu und das Klare, Blanke in seinen Augen ruhte auf ihrer Hand, die das Glas hielt, wanderte zu ihrem Hals hinunter, wo sie mit jedem Schluck die Bewegung des Kehlkopfes spürte, und hob sich dann zu ihren Augen und begegnete ihrem Blick, der den Weg seiner Augen beobachtet hatte.
Sie hielt ihm schnell das leere Glas hin und bedankte sich noch einmal. Er stellte es hinter sich auf die Fliesen und legte ihr das Buch in den Bauchladen, auf die Nähutensilien. Ob sie Knut Hamsun kenne, fragte er. Sie schüttelte den Kopf. Er sagte, das sei ein norwegischer Schriftsteller. Er warf ihr einen fragenden Blick zu, wohl um zu prüfen, ob sie wisse, wo Norwegen liege.
Sie hielt seinem Blick stand und sagte, sie habe bishernoch nie einen skandinavischen Schriftsteller gelesen. Der Mann nickte zufrieden: Dann solle sie dieses Buch mitnehmen und lesen. Es sei sehr eindrucksvoll und berührend, der Schriftsteller sei zwar ein Nazi gewesen, aber das habe ja nichts mit seinen Büchern zu tun.
Sie holte schnell und tief Luft, schob den Bauchladen ein Stück von sich weg auf den Mann zu und bat ihn, das Buch dort hinunterzunehmen, sie wolle es nicht mitnehmen.
Er griff langsam nach dem Buch, und er sagte leise: Verzeihung. Aus seiner Hosentasche holte er ein Zweimarkstück und reichte es ihr und sagte noch einmal: Verzeihung. Sie schüttelte den Kopf: Sie habe kein Wechselgeld. Der Mann sagte, sie solle die zwei Mark als Bezahlung nehmen, sie habe ihn so gut beraten. Und ob sie es ihm übel nähme, die Sache mit dem Buch?
Sie schüttelte wieder den Kopf. Nein, sagte sie leise. Da streckte der Mann ihr über den Bauchladen hinweg seine Hand entgegen: Ich heiße Heiner, sagte er. Sie zögerte, sie sah auf das blonde Haar, das ihm schon wieder wie ein paar Besenborsten in der Stirn hing, und sie überlie. ihm ihre Hand und sagte: Ich bin Rubina.
Rubina, sagte Heiner andächtig: Das sei ein Name, der strahle wie ein Edelstein.
Rubina lächelte, und Heiner fragte, ob sie sich vielleicht einmal wiedersähen?
Samstags hätten sie einen Stand auf dem Markt, antwortete Rubina, dort könne er Stoffe und Tücher und Teppiche kaufen. Am selben Abend klopfte der Mann, der Heiner hieß und Knöpfe, Nähgarn und Schneiderkreide gekauft hatte, an die Tür ihres Wohnwagens. Vom Fenster aus hatte Rubina gesehen, wie er über den Platz kam, die zwischen den Wohnwagen spielenden Kinder fragte und auf ihren Wagen zuging. Es hatte geregnet, und vor der kurzen Holztreppe hatte sich eine Pfütze gebildet. Er stand in der Pfütze, ohne Rücksicht auf seine Schuhe zu nehmen. Der Großvater hatte die Tür geöffnet, und Heiner bat ihn höflich, mit Rubina sprechen zu dürfen. Rubina spreche nicht mit jedem dahergelaufenen Mann, antwortete der Großvater.
Heiner ließ sich nicht beirren. Er wolle Rubina etwas fragen, sagte er, etwas Wichtiges.
Was das denn wohl sei? wollte der Großvater wissen. Heiner zögerte, und dann sagte er: Er wolle Rubina fragen, ob sie zu ihm in sein Haus kommen wolle, er würde sie gerne heiraten.
Wenn Rubina heiraten wolle, dann müsse sie ihn, den Großvater, um Erlaubnis bitten, und er würde sie niemals einem Gadzo, der abends an die Tür klopfe, zur Frau geben.
Heiner zog aus seiner Hosentasche ein Portemonnaie: Zweitausend Mark habe er mitgebracht, die würde er dem Großvater geben, wenn er die Heirat erlaube.
Da war sie aufgestanden und zum Großvater an die Tür gegangen. Sie sah ihm über die Schulter, sie sah auf den jungen Mann herunter, von dem sie wusste, dass er Heiner Heuser hieß. Er stand in der Pfütze und musste schon nasse Füße haben. Sie sah in sein freundliches Gesicht. Sein Blick traf sie, blank und zärtlich. Sie kannte viele Blicke, verächtliche, gleichgültige, begehrliche. Mit einem solchen Blick, einem zärtlichen, hatte sie bisher nur einer angesehen, und das war vor langer Zeit gewesen.
Über die Schulter ihres Großvaters rief sie dem Mann Heiner in der Pfütze zu, ob er von ihr verlangen würde, das Kind, das sie einmal haben würden, wegzugeben. Heiners zärtlicher Blick verwirrte sich: Ein Kind weggeben? Warum sollte ich so etwas tun? Da sagte sie zu dem Großvater, er solle das Geld nehmen, sie würde mit dem Mann gehen und in seinem Haus leben. Es gab ein Palaver, und schließlich ging sie in den Wagen zurück und packte ihren Sack. Währenddessen dachte sie unentwegt daran, wie nass Heiners Fü.e inzwischen sein müssten. Die Mutter versuchte, sie festzuhalten, doch sie riss sich los, drängte den Großvater beiseite und stieg die Stufen hinab in die Pfütze. Sie stellte sich an Heiners Seite. Der zog das Geld aus seiner Geldtasche und reichte es dem Großvater hinauf.
Sie gingen nebeneinander über den Platz, und alle sahen, dass sie nun zueinander gehörten. Er hatte ihr den Sack abgenommen und über seine Schulter geworfen und nach ihrer Hand gegriffen. Die Mutter stand in der offenen Tür des Wagens und sah ihr nach. Rubina drehte sich noch einmal zu ihr um, und sie nahm den Blick der Mutter mit in ihr neues Leben, wie eine weitere Schuld. Während sie mit Heiner Hand in Hand durch die Straßen ging, sagte er, er sei Buchhändler und das habe ihm gefallen, dass sie so gerne lese, und die zweitausend Mark habe er im Lotto gewonnen, ein Auto habe er sich kaufen wollen undjetzt sei er froh, dass er es nicht getan habe.

25 Der Baum

Mein Schicksal, hatte ich gesagt und Claudia das Foto von meiner Mutter mit dem kleinen Gero überlassen. Wieso dein Schicksal, fragte sie, wieder sehr behutsam. Ich, in den Polstern meines Sofas, die Beine auf dem Tisch, noch das Summen des Motors im Ohr nach der stundenlangen Autofahrt und das Bild von Rubina vor Augen, wie sie Claudias Hand umklammert und mit den Fingerspitzen ihren Handrücken streichelt, ich suchte nach dem Weg zurück. Konnten wir es nicht bei dem belassen, bei dem, was wir bislang voneinander wussten? Warum sich noch weiter vorwagen? Jeder Schritt voran in die Vergangenheit konnte Unberechenbares heraufbeschwören. Sie war vermint, meine Vergangenheit, und ich hatte keine Ahnung, wo sie verborgen waren, die Minen, die bei der kleinsten Berührung explodieren konnten. Aber ich kannte ihre Sprengkraft, sie riss erbarmungslos auseinander, was man für fest verschweißt gehalten hatte. Wenn selbst Nähte, die doch eigentlich für die Ewigkeit eines Lebens gedacht waren, dieser Sprengkraft nicht widerstanden, was war dann erst mit einer Verbindung, die noch undichte Stellen aufwies? Die schon Gefahr lief, sich zu zerstören durch den schlichten Wunsch nach einer gemeinsamen Woche an der See?
Ich rührte mich nicht. Und Claudia schob mir zwei Finger ins Haar, vom Ohr an aufwärts bis auf den Oberkopf. Ich drehte mich zu ihr hin, ihr Unterarm jetzt vor meinen Augen. Langsam zog sie ihre Hand zurück, und als läse sie meine Gedanken aus meinem Gesicht, sagte sie: Es gibt nur die eine Chance für uns, radikale Offenheit. Nichts sonst kann ich akzeptieren. Ihre Pupillen erweitert, das Blau an den Rand gedrängt, als wollten die Augen diese radikale Offenheit demonstrieren. Ich machte eine Bewegung, sie zu mir heranzuziehen, um sie zu küssen. Doch sie wehrte mich ab: Du denkst sicher: Hier hat sie gesessen, es ist erst einige Wochen her, und war nicht in der Lage, meine Nähe zuzulassen und jetzt … ja, Martin, es hat mich Überwindung gekostet, aber ich habe mich überwunden, und jetzt will ich dich ganz, auch mit deinen stillen Gedanken und mit dem, was dir Angst macht.
Ich rutschte ihr entgegen, ich ließ den Kopf an ihre Brust fallen, in die weiche Elastizität, die nicht eigentlich nachgibt und doch ein Versinken zulässt, und ich rang mein Widerstreben nieder, vorerst: Wenn wir morgen früh aufstehen, dann reicht die Zeit noch, bis ich in die Redaktion muss. Ja, sagte sie leise, dann stehen wir früh auf.

Claudia hatte nicht nachgefragt, weder am Abend, noch am nächsten Morgen. Wir fuhren kurz nach sechs los. Im Stadtpark wurde es morgens jetzt schon ruhiger, die Vögel nahmen es hin, dass der Sommer seinen Abschied nicht mehr ausschloss.
Ich wählte die direkte Verbindung, die A40, der aufsteigenden Sonne entgegen. Am Kreuz Dortmund/Unna weiter auf der A44. Claudia hatte bei unserem Start nur einen schnellen Blick auf das Display des Navi geworfen und geschwiegen. Wir schwiegen auch während der anderthalb Stunden, die wir unterwegs waren. Nur einmal, noch in Essen, hatte sie mich gebeten, bei einem Bäcker zu halten. Sie hatte zwei Becher mit Kaffee und eine Tüte Brötchen gekauft, und dann hatten wir geschwiegen.
Ich war betont rücksichtsvoll gefahren, nicht so sehr aus Vorsatz, sondern weil mir unser einvernehmliches Schweigen guttat, weil ich es so lange wie möglich ausdehnen wollte. Ich folgte dem Navi, Ausfahrt Soest. Wir rollten südwärts über die Bundesstraße 229. Rechts und links Felder, mal ein Dorf oder Industrieansiedlungen. Wir passierten die Brücke über den Möhnesee und kurvten dann am Südufer entlang.
Als wir die Autobahn verlassen hatten, war Claudias Haltung straffer geworden, sie blickte aufmerksam um sich, als wäre die Gegend ihr bekannt, als suchte sie nach Anhaltspunkten für eine Erinnerung, die nur ein wenig aufgefrischt werden müsste, um wieder völlig präsent zu sein. Ich fand den Parkplatz am See, unterhalb des Waldes. Hier hielt ich. Wir sahen uns an, und ich sagte: Wir müssen ein Stück laufen. Claudia nickte. Zu Hause hatte sie gefragt: Soll ich Sandalen anziehen oder die Ballerinas? Ich hatte mir die Ballerinas zeigen lassen, und ich hatte zu den Ballerinas geraten. Vorher hatte sie im BH vor mir gestanden und mir ein T-Shirt hingehalten, schwarz oder dunkelblau: Ob das den Ansprüchen unseres Ausflugs genügen würde?
Ich hatte nach Spuren von Spott in ihrer Miene geforscht, aber sie hatte zweifelnd die Brauen zusammengezogen, als wäre sie tatsächlich unsicher über die angemessene Bekleidung für einen Tag, der meinem Schicksal gewidmet sein sollte und damit unter Umständen auch ihrem. Wir hielten uns erst an den Weg, dann führte ich Claudia den Wiesenhang hinauf. Ich ging voran durch das warme Gras.
Mit jedem Schritt scheuchte ich Schwärme von Insekten auf, die kopflos beiseitesurrten, perplex über diesen Angriff auf ihre bislang so harmonisch verlaufende Existenz. Ich spürte Claudia hinter mir, wie sie sich nach meinen Schritten richtete, wie sie der Schneise folgte, die ich in das Gras trat.
Wie ein Kind, schoss es mir durch den Kopf, vertrauensvoll wie ein Kind, das keine Wahl hat, das angewiesen ist auf den, der vor ihm her geht und den Weg weist. Einmal blieb ich stehen und sah mich um. Gleich traf mich der Schreck, als wäre ich Orpheus, der jetzt, mit diesem Zurückblicken, seine Euridike für immer verloren hätte. Doch Claudia, hinter mir mit erhitztem Gesicht, blickte fragend zu mir auf und drehte sich dann auch um. Unter uns der dunkle See, über uns der sommerliche Morgenhimmel mit einzelnen weißen Wolkenfeldern – die mustergültige Kulisse für einen gemeinsamen stimmigen Wanderausflug. Ich stieg weiter zum Wald hinauf, obwohl mir das Atmen schwer wurde und das Herz im Hals und in den Ohren wummerte. Als ich den Waldrand erreicht hatte, wandte ich mich nach links und spähte durch die erste Baumreihe. Ich erkannte ihn sofort. Vor zehn Jahren war ich das letzte Mal hier gewesen, und seitdem hatte er sich kaum verändert. In den gut drei Jahrzehnten, die ich ihn kannte, war er zwar kräftiger und höher geworden, trotzdem erkannte ich ihn jedes Mal wieder. Aber wie jedes vorherige Mal musste ich mich neu vergewissern, welcher Art er angehörte. Da, die Rotbuche, sagte ich. Meine Stimme rau. Und ich zeigte an den Stämmen des Waldrandes vorbei auf den Baum. Claudia nickte. Ihre Augen fragten. Sie verstand nicht.
Ich ging auf den Baum zu, ich presste den Rücken und die Arme an den Stamm, ich schloss die Augen. Ich wartete. Dann Claudias Stimme, hilflos, bittend: Mein Gott Martin, was willst du mir denn sagen? Ich hämmerte den Hinterkopf an den Stamm. Warum zum Teufel verstand sie es denn nicht? Und dann kam das, was ich hatte kommen sehen. Mich schüttelte ein Weinkrampf. Im Magen ballte er sich zusammen, zuckte unter den Bauchmuskeln, schnellte hoch und füllte die Kehle mit einem Druck, dem ich nicht standhielt. Ich rutschte den Stamm herab und rollte mich auf dem Waldboden am Fuß des Baumes zusammen.
Claudia war sofort bei mir, sie rüttelte meine Schulter: Martin, was ist hier passiert, schrie sie, sag es mir, du musst es mir sagen.
Sie trommelte mit den Fäusten auf mich ein, sie riss an meinem Arm herum, bis ich auf den Rücken rollte. Martin, sag es mir, schrie sie auf mich herab, hörst du mich, sage es mir. Ich öffnete die Augen. Sie weinte, sie hatte Angst. Ich zog sie zu mir herunter, doch sie stemmte sich dagegen. Du musst sprechen, brüllte sie, aussprechen musst du es. Ich richtete mich auf, ich stellte mich wieder an den Baum, presste Rücken und Arme gegen den Stamm. So, sagte ich leise, so hat sie mich gefesselt.
Gefesselt? Wer?
Ich antwortete nicht, ich sah sie nur an.
Rubina? flüsterte sie, du sagst, deine Mutter hat dich hier an diesen Baum gefesselt? Sie hatte es ausgesprochen. Es war gut, dass sie es ausgesprochen
hatte.
Es war November. Nebelig. Zwei Nächte. Zwei Tage. Dann haben sie mich gefunden. Claudia hatte die Hände vor das Gesicht geschlagen. Dort, hinter ihren Händen fragte sie: Wann? Wann war das?
Ich war elf.
Sie ließ die Hände herabfallen. Martin, sagte sie eindringlich, so etwas überlebt ein Kind nicht.
Ich klebte an dem Baum, mit dem Rücken, mit den Armen: Sie wollte nicht, dass ich sterbe. Sie war immer wieder hier. In hellem Sonnenlicht. Sie leuchtete in dem Licht. Um sie herum war alles dunkel, aber sie leuchtete. Und sie hat getanzt und gelacht und gesungen. Wenn sie nicht da war, habe ich auf sie gewartet. Und der Baum hat mir Tropfen abgegeben. Sie rannen den Stamm hinunter. Aber hauptsächlich habe ich gewartet, und dann kam sie auch immer. Aber ich hatte mich vollgepinkelt und in die Hose geschissen, mehrmals, immer auf den alten Brei noch einen drauf. Claudia riss mich weg. Sie weinte an meiner Schulter. Sie fror. Sie zerrte mich weg, weg von dem Baum, in die Sonne. Wir setzten uns an den Wiesenhang. Sie hielt meine Hand, sie streichelte meinen Handrücken, wie meine Mutter ihren gestreichelt hatte, und sie wollte alles wissen. Alles: Warum? Und ich? Und Rubina? Und überhaupt, wie es weitergegangen sei?
Die Sonnenwärme auf meinem Rücken sickerte durch die Haut, rieselte in mich hinein, und mit bemerkenswertem Gleichmut antwortete ich: Krankenhaus, zwei Wochen Krankenhaus. Lange nur im Nebel und ganz allmählich: die Wärmedecken, die Infusionen, die Schwestern, mein Vater, meine Oma, manchmal auch Robert. Robert hatte es aus ihr herausgelockt. Ich nehme an, sie konnte es nicht mehr trennen, Vergangenheit und Gegenwart, es vermischte sich. Und das verwirrte sie, oder es war schon die Verwirrung selbst. Sie kam dann in die Psychiatrie. Und seitdem ist sie dort? Claudia legte sich meine Hand an die Wange. Sie war ungefähr so alt wie du. Robert hat sie vor Jahren dort oben in den Norden verlegen lassen. Und dann sagte ich: Sie hatte mir vorher mein Lieblingsessen gekocht, Hefeklöße mit Kirschen. Das war Robert aufgefallen. Und warum? fragte Claudia in meinen Handteller hinein, warum hat sie gerade das getan? Wegen Gero? Oder wegen ihres kleinen Bruders? Weil sie damals ein Kind war und mit allem nicht fertig geworden ist? Sie hatte ja mein Buch gelesen, und nun legte sie sich alles zurecht. Das ging ganz mühelos, ganz schnell war aus einer Geschichte meine Geschichte geworden. Sie legte es sich zurecht, wie jeder, der es gelesen hatte und sich dann mich, den Autor, ansah und sich alles zurechtlegte. Doch dass sie alle, die mich auf diese Weise ansahen und meine Mutter auf noch schlimmere Weise angesehen hatten, dass sie alle daran beteiligt waren, auf den Gedanken kamen sie nicht.
Aber eine Geschichte brauchten sie, auf die sich alles zurückführen ließ. Anderenfalls müssten sie es ja aushalten, dass alles willkürlich geschah, dass sie uns ablehnten, weil ihnen unser Aussehen nicht passte, unser Anderssein. Das würden sie vor sich nicht vertreten können, nicht mit ihren liberalen Anschauungen, mit ihrer aufgeklärten Toleranz. Deshalb brauchten sie Geschichten, Geschichten, die ihnen taugliche Ursachen lieferten. Auch Claudia hatte eine Geschichte gebraucht, um mit sich selbst klarzukommen. Vor vier Jahren, da hatte sie das, was sie für ihre Geschichte gehalten hatte, aufgeschrieben. Deshalb saßen wir hier nebeneinander im Gras, hinter uns der Wald mit dem Baum und unter uns der Stausee. Weil sie diese Geschichte aufgeschrieben hatte, und ich sie gelesen hatte. Denn eine Geschichte wird erst zur Geschichte, wenn jemand sie gelesen hat.
Und dann war ich der Meinung, auch ich müsste eine Geschichte aufschreiben, und allmählich und ganz beiläufig wurde diese Geschichte jetzt zu meiner Geschichte. Denn zu Hause, auf meinem Tisch, da lag ein Foto, ein altes Foto. Und dieses Foto war plötzlich zu einem Beweisstück geworden, mit einem Mal bezeugte es die Geschichte, die ich geschrieben hatte. Und dann gab es noch die alte zerbrochene Frau, die mein Mutter gewesen war und die, wie jeder andere auch, nur ein einziges Leben gehabt hatte und die um dieses einzige Leben betrogen worden war. Auch sie machte aus einer hingeschriebenen Geschichte meine Geschichte.
Klammerte auch ich mich auch an Geschichten fest? Würde ich es sonst nicht ertragen – wie meine Mutter es nicht ertragen hatte?
So starrte ich vor mich hin, ohne auf Claudias Fragen zu antworten. Vielleicht waren ihre Fragen auch keine an mich gerichteten Fragen gewesen, denn sie griff, ohne dass ich etwas gesagt hatte, einen meiner Gedanken auf, und ich erkannte, dass ich sie wieder einmal unterschätzt hatte, und ich spürte eine schnelle warme Zuneigung für sie. Eigentlich, überlegte sie und deponierte meine Hand auf ihrem aufgestellten Knie, eigentlich sind wir ja schuld, ich meine wir – sie streckte den Arm und wies ins Tal hinunter – oder vielmehr die Vorfahren von denen, von den Deutschen, weil sie solche Ansichten, ich meine: solche Vorurteile in die Welt gesetzt haben.
Sie tat sich schwer, sich auszudrücken. Sie musste sich in Acht nehmen, in meiner Gegenwart keine abwertenden, keine diskriminierenden Begriffe zu gebrauchen. Das reizte mich. Obwohl mir eben noch warm geworden war, obwohl ich mich gerade noch darin bestätigt gesehen hatte: Sie ist anders, sie versteht es, mit ihr wird alles anders. Obwohl es mir so offenkundig erschienen war, reizte mich nun jedes Wort, das sie gesagt hatte, und ich fragte grob: Zigeuner stehlen kleine blonde Kinder, das meinst du mit Ansichten ?
Sie nickte: Das meinte man doch damals … Das meint man auch heute noch, erwiderte ich erbarmungslos. Sie wollte doch nicht geschont werden, warum also sollte ich Rücksicht nehmen auf ihre Feinfühligkeit? Das glaube ich nicht, behauptete sie und streichelte wieder über meine Hand auf ihrem Knie.
Ich zog die Hand zurück: Was du glaubst, zählt wenig, ich kann dir versichern, ich weiß, dass es so ist. Und außerdem, ändern würde sich für mich sowieso nichts. Ich bin das Kind meiner Mutter, und beide sind wir Verlorene, an die Zeit Verlorene.
Es klang einmal mehr sehr pathetisch, doch so war es nun einmal, es ging nicht ohne Pathos. Claudia schüttelte den Kopf. Nein, sie war nicht amüsiert, sie nahm mein Gerede ernst. Und sie gab nicht auf: Es würde etwas ändern, beharrte sie, für deine Kinder würde es etwas ändern, und für alle anderen Kinder auch. Vielleicht hatte sie recht, vielleicht auch nicht. Ich mochte nichts mehr dazu sagen, und eine Weile saßen wir still nebeneinander in der Sonne. Bienen, wie im Formationsflug, schossen über die Gräser hinweg, ein Käfer erklomm mühsam einen Halm, der sich unter dem Gewicht zum Boden neigte und den Käfer fallen ließ. Claudia stieß ihn mit dem Fingernagel an, sodass er wieder auf die Beine fand. Die ersten Segler, hingespritzte weiße Sprenkel auf dem dunklen See, legten Ferienstimmung nahe. Das Signalhorn eines Zuges wehte, wie ein dünner Faden eingesponnen in den leichten Wind, zu uns herauf.
Claudia brach unser Schweigen: Es ist so schön hier. Es ist alles so paradox, so unbegreiflich paradox. Weil es so schön sein kann. Und gleichzeitig so unerträglich. Ich stand auf. Ich musste zurück, ich wollte nicht zu spät kommen.

26 Notausgang

Ich erledigte meine Arbeit, schrieb sogar eine längere Rezension zu der schon im Frühjahr erschienen Novelle von Siegfied Lenz. Warum ich gerade heute mich dazu entschloss, darüber weigerte ich mich Rechenschaft abzulegen. Dabei war der Inhalt in seinen Einzelheiten mir schon weitgehend entfallen.
Ich ignorierte das Erstaunen meiner Kollegen, von denen erwartungsgemäß keiner sich dazu äußerte, die aber auch nicht darauf verzichteten, ihrer Verwunderung mit dem Klicken von Kugelschreibern oder dem Scharren von Fü.en Ausdruck zu verleihen.
Ich schrieb gegen schon längst erschienene Rezensionen an, die beinahe allesamt die kleine Liebesgeschichte zwischen einem Schüler und seiner Lehrerin lobten, aber ein Manko an Leidenschaft konstatierten. Diesen Punkt griff ich auf, und ich verteidigte eben diese fehlende Leidenschaft einer ersten Liebe, die ja nicht fehlte, sondern nicht ausdrücklich hervorgehoben war. Ich verteidigte sie mit der Begründung, nur so, gezügelt in der Ausdrucksweise, sei für den Erzähler eine solche ungleiche Liebesbeziehung überhaupt darzustellen. Ich las mir den Artikel anschließend nicht ein einziges Mal durch, aber ich spürte durchaus, dass während des Schreibens eine unheilvolle Stimmung in mir aufgezogen war. Ich führte es auf meinen Ausflug mit Claudia am Morgen zurück, dieses Gefühl der Gefahr, der Gefahr des Verlassenwerdens, des Ausgeliefertseins, ohne sich rühren zu können. Und wie jedes Mal, wenn diese Bedrohung heraufzog, bot sich auch dieses Mal nur die eine Möglichkeit, ihr zu entrinnen: sich ihr früh genug zu entziehen, es gar nicht erst so weit kommen zu lassen, plötzlich verlassen dazustehen. Auf das Rechtzeitig kam es an, auf den richtigen Zeitpunkt, einem Fortgeschicktwerden zuvorzukommen.
In dieser Gemütsverfassung, die ich nicht in klaren gesonderten Gedanken formulierte, die mich aber wie eine düster-diffuse Aura begleitete, ging ich durch den späten Sommerabend nach Hause. Dort würde Claudia auf mich warten, so hatten wir es vereinbart, erst am nächsten Vormittag wollte sie zurückfahren.
Claudia hatte eine Flasche Rotwein geöffnet, sie hatte ein Abendessen zubereitet und den kleinen Tisch in meiner Küche gedeckt. Ich betrachtete eingehend eine Schüssel mit Salat, und Teller, auf denen sich Tomaten unter zerlaufenem Käse duckten, und ich dachte: Henkersmahlzeit. Ich erschrak. Und gleich darauf erschien mir diese Eingebung als die logischste und präziseste, die mir heute zugeflogen war. Ich beobachtete Claudia, wie sie den Wein eingoss, wie sie immer wieder unsicher mit den Augen meine Richtung suchte, ohne mich wirklich anzusehen. Sie verbirgt etwas, vermutete ich. Und was sich hinter dem Etwas versteckte, das brauchte ich nicht lange zu analysieren, das erklärte sich mir von selbst. Ich hob das Weinglas, und ohne auf Claudias Geste, mit mir anzustoßen, einzugehen, trank ich es aus. Ich setzte es ab und stellte mich ans Fenster: die Straßenlaternen, der dunkle Park dahinter, schwarz, eine mondlose Nacht. Was für eine sinnlose Einrichtung, dachte ich, Tag Nacht Tag Nacht. Und ein ganzer Planet mit allem, was darauf war, hatte sich dem angepasst, seit Millionen von Jahren, und da er sich diesem Unfug nicht hatte entziehen können, hatte er alles dafür getan, es zu einer zweckvollen Institution zu erheben.
Ich drehte mich um. Claudia stand neben dem Tisch, mit hängenden Armen, und sah mir ängstlich entgegen. Ich blickte über sie hinweg auf die Küchenuhr über der Tür, und ich sagte über sie hinweg: Bevor unser beider Leben im Chaos versinkt, ist es besser, wir gehen getrennte Wege. Es war illusorisch, zu glauben, wir hielten so etwas wie Glück füreinander parat. Was wir einander anzubieten haben, ist nur unser Leid, und damit ist man besser allein. Claudia starrte mich an. Ich war ihr zuvorgekommen, sie schien überrumpelt.
Das meinst du jetzt nicht ernst … Sie versuchte zu lachen.
Mir fiel nur ein prosaisches Doch bitterernst ein. Du schickst mich also weg? Ihre Augen aufgerissen, ihre Lippen beinahe ohne Bewegung. Ich sorge für unsere Sicherheit, für meine und deine. Ich antwortete ruhig. Ja, ich war ruhig, ich war gefasst. Nur der Magen rebellierte, und das Herz, das Herz sowieso. Sicherheit? Was für eine Sicherheit? stieß Claudia hervor. Damit wir uns gegenseitig das Leben nicht noch schwerer machen … Ich suchte hinter mir Halt mit den Händen an der Fensterbank.
Hatte ich ein Mal darüber nachgedacht, wie Claudia reagieren könnte? Wie sie es aufnehmen würde? Welche Gefühle es auslösen würde? Ich war einem Impuls gefolgt. Ohne eine Überlegung, blindlings. Es ist für uns beide besser, wir gehen getrennte Wege … Ich hatte das ausgesprochen, was ein Mechanismus, der vor langer Zeit in meinem Leben einmal in Gang gesetzt worden war, von Zeit zu Zeit hochspülte, damit ich es in Worte formulierte.
Dass Claudia sie hören würde, dass sie eine Wirkung bei ihr hervorrufen würden, daran hatte ich keinen Gedanken verschwendet. Es überraschte mich ja selbst, das, was ich da so beherrscht gesagt hatte, auch wenn mir diese Worte, einmal ausgesprochen, folgerichtig und klar erschienen. Und hätte ich mich mit den Konsequenzen beschäftigt, hätte ich mich in Claudia versetzt, hätte ich mir eine Vorstellung gemacht … es wäre überflüssig gewesen. Denn mit dem, mit dem, was dann passierte, hätte ich ohnehin nicht gerechnet. Claudia griff sich mein Weinglas, mein leeres Weinglas, und schleuderte es auf mich. Ich wich ihm aus, es zerbarst mit einem Knall an der Fensterscheibe, Bruchstücke trafen mich im Nacken.
Und sie brüllte, die Augen schwarze Inseln in dem bleichen Gesicht, sie brüllte: Du schickst mich nicht weg, hörst du, mich jagst du nicht davon wie die anderen Frauen, bring mich um, wenn du mich loswerden willst, dann bring mich um, dann musst du mich umbringen …
Ich glotzte sie an, und ohne einen Sinn fiel mir nichts anderes als die Nachbarn ein: Es war bereits nach Mitternacht, jedes Wort würde man hören können, über uns, unter uns. Doch niemand klopfte mit dem Besenstiel an die Decke, niemand rief uns zur Räson. Wir standen uns gegenüber, Claudia mit vorgestrecktem Kopf, erschreckend bleich, mit bebenden Schultern, und ich, der ich hervorbrachte: So geht es doch nicht …
Was ich damit meinte, ob das Zusammenleben so nicht ginge oder ob eine Trennung so nicht zu bewerkstelligen sei, ich wusste es nicht. Ich wusste nur, Claudia hatte irgendwie die Spielregeln missachtet. Wo blieb das Weinen, das sich verletzt Zurückziehen? Wo blieb die Beschimpfung: Schuft, feiges Arschloch und was ich mir sonst noch hatte anhören müssen? Stattdessen: Bring mich um. Und es war noch längst nicht zu Ende: Ich bring mich nicht um. Ihre Stimme schrillte durch das stille Haus: Denk nicht, dass ich dir den Gefallen tue und mich umbringe. Du musst es machen …
Und dann flog das zweite Weinglas, ihr Glas, aus dem sie noch nicht getrunken hatte. Es prallte gegen meine Brust und zersprang auf dem Küchenboden vor meinen Füßen, und es markierte seine Flugbahn mit einer roten Spur über das Tischtuch, über die Teller mit dem K.seüberbackenen, wie ein Makel in einem Stillleben. Ich stand vor dem misslungenen Stillleben, ungerührt und fest entschlossen. Ich war mir meiner Sache sicher, verdammt sicher. Ich hatte den Notausgang gefunden, ich war gerettet, und was immer noch geschah, mir würde es nicht geschehen. Claudia mir gegenüber, mit kaltem Blick, ebenso unbeirrt wie ich, darauf wartend, dass ich sie aus dem Weg räumte. Bring mich um, hatte sie geschrien, und nun versperrte sie mir den Weg zur Tür, ich war gefangen in meiner Küche. Nur über meine Leiche, nur über meine Leiche, skandierten ihre Augen, die sonst so empathisch blau leuchtenden Augen, die jetzt unerbittlich schwarz auf den Mörder in mir lauerten. Und dann sackte sie zusammen, neben dem Tisch. In mir Panik: Hatte ich es getan? Nein, niemals, ich hatte mich doch überhaupt nicht gerührt. Claudia am Boden, ihre Handflächen klatschten auf die Fliesen, irrsinnig schnell, sie schrie und weinte, Unverständliches, Verzweifeltes.
Und in mir zerriss etwas. Ein klemmender Reißverschluss wurde gewaltsam aufgerissen, und alle Bedrückung, alle Trauer, alle Verzagtheit und Mutlosigkeit quoll hervor. Ich war allen Ernstes dabei zu morden, nicht mit meinen Händen, nein, ich mordete mit dem Wahnsinn, der sich in meinem Leben eingenistet hatte, der mir aufgezwungen worden war, der uns aufgezwungen worden war. Es war das erste Mal, dass ich uns dachte, ein solidarisches Uns. Ich sah sie mit ihren Wagen durch die feindseligen Städte ziehen, ich sah sie zusammengetrieben und verschleppt, und ich sah sie, wie sie auch heute kämpften und sich verzeifelt behaupteten, allen Anfeindungen zum Trotz. Wir, zu denen auch ich gehörte und die ich auf eine anständige Art zu vertreten hatte.
Ich stürzte zu Claudia hinunter, ich hielt sie, ich weinte, dass es mich schüttelte. Sie griff sofort nach mir, und wir umklammerten einander, während wir auf den Abgrund zutaumelten. Und so knieten wir miteinander, als an der Tür geklingelt wurde.
Wir schreckten hoch und lauschten. Es wurde an die Tür gehämmert, und jemand rief: Machen Sie auf, sonst müssen wir die Polizei verständigen. Bestürzt löste ich meine Arme von Claudia, doch sie rappelte sich auf. Vielleicht fühlte sie sich verantwortlich, sie hatte den Lärm gemacht, und sie war die Frau, einer Frau geschah Gewalt, sie musste sich zeigen, sie musste die Besorgnis zerstreuen.
Sie wischte sich mit einer Serviette über das Gesicht und strich ihr T-Shirt glatt. Ich hörte, wie sie die Tür öffnete und wie sie jeder möglichen Frage vorgriff: Es tut uns leid, wir hatten einen heftigen Streit, aber jetzt ist alles in Ordnung.
Ich hörte eine Stimme aus dem Hausflur, fordernd: Wo ist
Herr Heuser?
Und dann Claudia, mit heiser geschriener Stimme: Martin, kommst du bitte.
Mir war klar, das war mein Ende hier, ich würde mir eine andere Wohnung suchen müssen, kein Park mehr vor den Fenstern, kein bequemer Fußweg in die Redaktion. Ich stand neben Claudia in der offenen Tür, vor uns das Rentnerehepaar von unten, in gestreiften Bademänteln. Ich stammelte etwas von einem fürchterlichen Missverständnis, brachte mehrere Bitten um Entschuldigung für die Ruhestörung hervor.
Misstrauische Blicke ruhten auf meinem Hemd. Das ist Rotwein, erklärte ich schnell, und Claudia dazwischen, beinahe sanft: Wie gesagt, wir hatten einen heftigen Streit. Der Nachbar strich sich über das graue müde Gesicht: Herr Heuser, wir kennen Sie als hilfsbereiten, freundlichen Mann. Was sollen wir denn jetzt denken?
Und wieder Claudia mit zarter, wenn auch rauer Stimme: Hatten Sie denn nie eine Auseinandersetzung? Haben Sie sich nie gestritten?
Die Nachbarin zog ihren Mann am Ärmel: Komm, wir sollten wieder runtergehen.
Der Mann war noch nicht überzeugt: Können wir Sie jetztohne schlechtes Gewissen allein lassen?
Ich dankte ihnen, ich weiß nicht wofür. Dafür, dass sie Claudia und mich vom Küchenboden aufgehoben hatten? Der Nachbar hob abwehrend die Hand und wandte sich zur Treppe, seine Frau hakte sich bei ihm unter. Claudia wartete, bis sie um den Treppenabsatz verschwunden waren, und schloss leise die Tür. Wir fielen beide auf mein Bett, und dort lagen wir nebeneinander, nur unsere Hände berührten sich. Es gab nichts, was wir uns hätten sagen können. Also lagen wir stumm nebeneinander. Nur Claudia sagte einmal: Wir sollten morgen Blumen besorgen und die Leute zum Kaffee einladen.
Und ich dachte, dass sie wohl heute meinte.

27 Das Meer

Schaumflocken, gerade der Brandung entkommen, fliehen über den Sand, bringen sich in Sicherheit vor der nächsten Welle. Das zurücklaufende Wasser will mich zu Fall bringen, schwemmt mir den Sand unter den Fü.en weg. Ich ziehe mich einige Schritte zurück und sehe auf das Meer hinaus, auf das Blau, das unentwegt seine Farbe ändert und sich am Horizont mit dem diesigen Blau des Himmels mischt und das so unbegreiflich blendendweiße Wellenkämme hervortreibt. Und ich frage mich, wie man jemandem, der es nicht kennt, das Meer beschreiben soll, ohne in Kitsch und Klischees abzusinken. Vielleicht ist das Meer nicht in erster Linie Farbe, sondern Kraft, Wucht, die gegen das Land anläuft, das Land, das die Gewalt des Meeres sanft auffängt, wenigstens hier am Strand. Oder es ist Schall, urtümliches brausendes Gedonner, im Einklang mit dem Wind, mit den Schreien der Seemöwen. Oder es ist Beständigkeit, es ist Alter, es ist Millionen an Jahren währende Stetigkeit. Ich pfeife nach dem Hund, der einen Schwarm Seevögel aufscheucht. Er stürmt auf mich zu, mit angelegten Ohren, ein glückliches Hundegrinsen im Gesicht. Hinter mir höre ich das Lachen der Kinder, von den Böen in Fetzen gerissen. Ich bleibe stehen und bücke mich lobend zu dem Hund hinunter.
Ich drehe mich um: Claudia zwischen den Kindern, der Wind drückt ihr das Haar dicht an den Kopf. Ich blicke wieder auf das Meer hinaus. Irgendwo dort hinten entscheidet es sich, das Meer, Sekunde für Sekunde, immer wieder entscheidet es sich, dem Land entgegenzurollen und sich umgehend wieder zurückzunehmen, und das seit Millionen von Jahren auf die immer gleiche Weise, in ununterbrochener
Beharrlichkeit.
Und ich denke das, was gewöhnlicherweise an dieser Stelle gedacht werden muss: Wie elend klein in der Zeit und wie sprunghaft ist dagegen ein Menschenleben, ist dein Leben …
Aber warum füllt es dann, jedes einzelne Leben, bei dieser Winzigkeit, mit seinen Sehnsüchten und Ängsten eine ganze Welt?

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