Leseprobe: Alexander Raschle – “Die grauen Kinder”

Sie kamen im Untergang der Sonne; die Camions quälten sich über die engen Serpentinen der Tremola den Berg hoch, die Soldaten, die verborgen und aneinandergedrängt in den abgedunkelten Ladeflächen sassen, schwankten in den Kurven, während sie sich an ihren Karabinern festhielten und starrten sich gegenseitig auf die Stiefel; sie passierten niedrige Blockhütten, Scheunen und Ställe, wie zufällig platziert auf den Hängen unter der gewaltigen Bergmasse, weder Mensch noch Tier war zu sehen, und sie fuhren den steilen Pass weiter hoch, kamen in Sichtweite eines weissen Chalets und dann mitten auf der Strasse zum Stillstand. Die Fahrer und Beifahrer stiegen aus und öffneten die Ladeklappen. Die Milizsoldaten kletterten mühselig aus den Lastwagen, wuchteten ihr militärisches Gepäck beim gemauerten Strassenrand aufs Kopfsteinpflaster. Keiner half dem anderen. Sie setzten sich auf ihre Taschen und auf die Steinmauer und die leeren Lastwagen fuhren zurück ins Tal. Die Männer warteten, die Arme eng vor der Brust verschränkt. Keiner sprach ein Wort; keiner fragte den anderen was ihn hierhergeführt habe, der Grund bei jedem anders und doch derselbe.
Einige beobachteten die Bergflanken im letzten Licht, andere sahen ins Tal; die schon winzigen Lastwagen verschwanden bald gänzlich. Aus dem Tal kroch das Dunkel herauf. Es wurde kalt, die Männer entrollten ihre grauen Soldatenmäntel und hüllten sich ein und warteten weiter. Manche stapften einige Schritte hin und zurück. Ein kurz gewachsener Soldat lief beobachtend umher, grinste, sah dann in Richtung des Chalets hoch oben am Berghang und sagte, er kenne den Weg. Er nahm sein Gepäck und kletterte damit behände über die niedrige Mauer und stieg quer über die Wiese den Hang hinauf. Die Männer standen auf und beobachteten ihn, standen unschlüssig da, und nach einer Weile, da nahm einer hektisch sein Gepäck und folgte, dann folgten mehr und bald zog die ganze Mannschaft zu Fuss den Hang hinauf. Der Wind rauschte durch die Berglandschaft und gab ihnen Auftrieb in die Rücken, als wolle er ihnen helfen auf ihrer Flucht vor der Nacht, auf ihrer Flucht vor schrecklichem Unglück. Einer der Männer rutschte aus, als er den Stacheldrahtzaun übersteigen wollte; die Schwere des Tornisters brachte ihn zu Fall, er blieb hängen, die anderen wichen ihm aus und liefen weiter. Bevor mit einigem Abstand der Letzte der Kolonne folgte, ein hagerer Mann mit langen Beinen, befreite er sich, rappelte sich auf und hastete hinterher. Zwischen Stein und dunklen Grasbüscheln marschierten sie, vorbei an wasserlosen Brunnen, an seltsam kantigen Felsen; im langsamen Dämmer bewegten sich die Gestalten in Einerkolonne den Hang hinauf, hinter ihnen die sinkende Sonne. Sie strebten dem Chalet entgegen; sich wie ein Trugbild hellweiss in der anbrechenden Düsternis und dem Lärchengewand abzeichnend. Kein Weg führte dahin, wer wollte hier oben ein solches Haus bauen? Die Männer erreichten den trutzigen Steinsockel des dreistöckigen Chalets; sie standen im Schatten des Krüppelwalmdachs, an der Balkonbrüstung befestigt über ihnen eine Familie bemalter Holzfiguren mit leeren schwarzen Augen. Aus den Fenstern brannte kein Licht. Einer der Soldaten ging näher heran, strich vorsichtig über die Fenster, es waren keine; die verwitterte Farbe bröckelte unter seinen Fingern. Ein zweiter näherte sich der dunklen Holzbretterschalung, zog am wuchernden Blätterwerk und darunter verbargen sich Beton und Schiessscharten. Und die Männer standen da, hüllten sich tiefer in ihre Soldatenmäntel und vor ihnen stand bedrohlich das Haus, das keines war, wie eine bizarre Kulisse inmitten der falschen Bergidylle. Der kurze Soldat legte sein Gepäck ab, spuckte aus, tappte gnomenhaft und grinsend zum Vorplatz und schwang dort auf der Kinderschaukel hin und her. Es war still, nur das Quietschen der Schaukel war zu hören, das Windrauschen, das unterdrückte Husten der Männer. Nach einer Weile öffnete sich das Haus. Mitten in der Fassade öffnete sich ein grosses rundes Stahltor mit aufgemalter Holzstruktur ein Stück weit und heraus kamen zwei unbekannte Soldaten; sie hatten ihre Sturmgewehre hintergehängt und stellten einen Schemel und einen Holzklapptisch auf der falschen Veranda auf. Ihnen folgte ein Dritter mit einer olivgrünen Aktenmappe. Er setzte sich, öffnete die Mappe und legte seine Papiere aus. Misstrauisch spähte er in die Runde, flankiert von den zwei Bewaffneten. Dann wurden mit gedämpfter Stimme Namen von einer Liste ausgerufen, zögernd traten die genannten Milizsoldaten zum Tisch und dort wurde jeder gemustert und nach seiner Gesundheit befragt, suchte dann seinen Namen auf der Liste und machte seine Unterschrift nebenan mit schwarzem Tintenfüller zum Beweis, dass er nun hier war und hierbleiben würde, für die Zeit seines Dienstes nicht mehr nach Hause gehen und Stillschweigen vor Freund und Feind bewahren würde. Als der Prüfende alle vierzig Namen ausgerufen und kontrolliert, jeder unterzeichnet hatte, war es bereits völlig finster; die Milizionäre standen wie erstarrt bei ihrem schweren Gepäck unter einem sternenlosen Himmel. Der Prüfende verstaute seine Unterlagen in der Mappe und rief einen Befehl. Und als hätte er eine Zauberformel gesprochen die das Haus zur vollständigen Verwandlung zwang, tat es sich auf, zogen die beiden Bewaffneten das Tor endgültig auf und offenbarten einen Tunnel in den Berg. Das künstliche Licht blendete die Männer, die blinzelten und schützend ihre Arme vor die Gesichter hielten. Auf Befehl des Prüfenden bildeten sie eine Einerkolonne nach Wuchs, ein grosser Hagerer an der Spitze, ein Gnomenhafter am Ende. So zogen die Männer in Einerkolonne mit aller Last die sie mit sich trugen in den Berg ein und das Tor schloss sich hinter ihnen.

 

Die Sirene riss den Schlafenden aus dem Dunkel ins Dunkel. Sie heulte durch die Kammern und Kavernen, durch Stahl und Beton des Bunkers, rhythmisch sich aufbäumend und wieder fallend, drang sie unerbittlich in alle Schädel, als verkünde sie die kommende Morgenröte über den Bergen und den Anbruch von Gottes Strafgericht. Der Mann erhob sich aus seinem Strohlager, hüllte seinen Körper in die rauhe Wolldecke und wankte barfuss wie ein Erblindeter durch die Schwärze. Was?, rief jemand. Was? Der Mann antwortete nicht. Er tastete der feuchtkalten Wand entlang, drückte vergebens den Lichtschalter, suchte nach der Sturmlaterne auf dem Tisch nebenan und zündete die Kerze darin mit einem Streichholz an. Dann nahm er seinen Karabiner aus dem Gewehrständer, zog den Verschluss nach hinten, setzte den Lader an, drückte mit dem Daumen sechs Patronen ins Kastenmagazin, verriegelte die Waffe und hängte sie über den Rücken. Was ist los, rief ein anderer. Alarm, sagte der Mann. Seine Stimme war gefasst, klar aber nicht laut, nicht drängend oder warnend. Mit der Laterne in der Hand öffnete er die Türe der Schlafkammer und sah in den Stollen vor ihm. Links und rechts quollen die Menschen aus den Türen der Mannschaftsunterkünfte in die Bunkergänge hervor; eine aufgescheuchte Horde aus fremdartig anmutenden, halbnackten Wesen inmitten von dunklem Grau, und die Sirene heulte weiter, schwellte in ungeheurer Lautstärke auf und ab, und verzerrte die Stimmen zu bizarren Klagerufen. Der Mann trat heraus. Er schwenkte die Laterne umher, an der Betonwand ihm gegenüber kauerte ein dünner Soldat mit eingefallener Brust und hielt sich die Ohren zu, sah das Licht, stand auf und packte ihn am Arm, wie ein Schiffbrüchiger, der sich verzweifelt an ein Stück Treibholz klammert. Hilfe. Helfen Sie mir. Gehen Sie sofort zum Ausgang. Bitte, bitte stellen Sie die Sirene ab. Lassen Sie mich los. W-Was ist passiert? Ich weiss es nicht. Gehen Sie zum Sammelplatz beim Ausgang. Ich- Wo muss ich hin? Er löste den Griff und lief in den sich verengenden Stollen hinein. Der Dünne folgte ihm. Alarm, zum Ausgang, rief er in das grauschwarz wabernde Nichts. Es stank nach kaltem Schweiss. Nackte stiessen gegen ihn und stiessen erstickte Laute aus. Er hielt seine Laterne fest an sich gepresst und in ihrem stumpfen, flackernden Licht erschienen von Urangst verzerrte Gesichter, scheinbar körperlos im Dunkel. Die Männer sahen ihn an und warfen ihre Hände wie Motten wirr um sein Licht und hielten sich an seiner groben Wolldecke fest. Was ist los?, riefen sie. Alarm. Raus. Scheisse. Wo geht es hier raus?, rief jemand und streckte die Finger nach dem Gewehr auf seinem Rücken aus. Alarm, sagte der Mann. Bleiben Sie ruhig. Zum Ausgang. Folgen Sie mir. Sie sahen ihn an, standen in der grauen Düsternis zwischen den Betonwänden, wie verlorene Kinder, zitternd und hilflos in einer feindlichen Welt, als würde die Sirene ihnen alles nehmen, was sie zu Soldaten machte und jeglichen Verstand. Er wiederholte seinen Befehl, immer und immer wieder; Alarm. Zum Ausgang. Alarm. Und dann lief er weiter durch das menschengeschaffene Berglabyrinth, die Laterne schwenkend, seine Worte während den kurzen Niedergängen der Sirene wie eine Losung verkündend, und um sein Licht und seine Stimme sammelten sich die Menschen und sie hielten sich an den Schultern des Vordermannes fest und gaben den Befehl weiter an diejenigen, die noch im Dunkeln irrten und auch sie wiederholten ihn im Chor, eine archaische Soldatenlitanei, und sie folgten dem Licht, langsam, einer schemenhaften Prozession aus einem Fiebertraum gleich, mit unsichtbarem Ziel. So passierten sie das offenstehende Schleusentor, marschierten aus dem Unterkunftstrakt hinaus, erreichten den Treppenschacht und stiegen die Stufen hoch, und es waren viele Stufen, und es war so eng, dass sie mit den halbnackten Leibern aneinanderstiessen und sich um ihren Platz drängten und immer schneller wurden und in panisches Gebrüll ausbrachen. Er rannte wie ein Gehetzter an der Spitze. Er warf die Wolldecke ab, hielt die Laterne mit beiden Armen vor seiner Brust umschlossen, als behütete er in ihrem gläsernen Innern das letzte Licht auf Erden, rannte hinauf, bis ihm ein massiger Körper entgegenschlug. Glas splitterte. Er kämpfte ums Gleichgewicht. Der metallene Gewehrlauf schrammte der feuchten Betonwand entlang. Scherben schnitten in nackte Füsse. Er fiel auf die Knie und hielt die Hände schützend über die zu Boden gefallene weisse Wachskerze und ihrer flackernden Flamme. Die Sirene drang durch den Schacht und verlor sich, ähnlich dem entstellten Echo eines Hornstosses im Gebirge. Der Feldweibel, der ihn umgestossen hatte, verschnaufte laut, erkannte den Kauernden im Halbdunkel an und rief: Gottverdammt. Steiner? Bist du das? Hast du die ganze Mannschaft hochgebracht? Geht sofort zurück, die Schleusen werden jeden Moment geschlossen. Das ist ein Strahlenalarm. Hinter Steiner drängten die Männer ahnungslos aus dem Dunkel und stiessen ihm bald blindlings rasend in den Rücken und stürzten fluchend über ihn und noch immer verharrte er in gekrümmter Gebetshaltung über der Kerze, so dicht, dass die kleine Flamme erstickend an seiner Haut leckte. Die Sirene heulte, bäumte sich plötzlich lange und gellend auf, vermischte sich mit dem Brüllen der sich im Schacht stauenden Fliehenden zu einer makabren Sinfonie, die all ihr Leid aus ihrem Schlund der Verzweiflung herauszupressen versuchte, und dann wurde sie von allen Seiten übertönt; ein durchdringendes, dumpfes Grollen brach durch die ganze Bergfestung und verstummte abrupt, als hätten sich sämtliche Schleusen zur Aussenwelt soeben für immer verschlossen. Ein letzter kalter Windstoss zog herab und das Licht ging aus und der Schacht versank in vollkommener Schwärze. Die Sirene erstarb. Zurück blieben nur Stille und Angst.

Zurück nach unten, rief der Feldweibel ins Dunkel. Die Hauptschleusen sind zu. Geht alle mit Korporal Steiner nach unten und wartet dort. Niemand sprach. Nichts bewegte sich. Manuel, wo bist du? Gottverdammt. Bring sie alle zurück in den Unterkunftstrakt, ich stell die Notbeleuchtung an und hol die Offiziere. Hörst du mich? Hast du verstanden? Steiner antwortete nicht, kauerte reglos auf den Stufen, zwischen den blutigen Scherben der Laterne und ihrem toten Licht. Manuel, sagte der Feldweibel. Bring sie nach unten. Es war sehr still. Rasselnder Atem aus dem pulsierenden Schwarz. Irgendwo tropfte Wasser. Die Lüftungsanlage begann wieder zu dröhnen, als hätte sie während des Alarms die Luft angehalten. Von weiter unten hallten Hilferufe durch den schwarzen Schacht. Der Feldweibel tastete nach Steiner, packte ihn am sehnigen Arm und zerrte ihn hoch. Los jetzt. Um Himmels willen. Dann liess er ihn los und verschwand. Steiner stand eine Weile reglos da. Jemand hielt sich an seinem Arm fest und fragte ihn etwas. Das Gewehr drückte, ein Joch im Nacken. Er nahm es ab und hielt es mit beiden Händen. Die Hilferufe wurden lauter. Flüche mischten sich dazwischen. Er gab den Befehl des Feldweibels mit ausdrucksloser Stimme weiter und lief, mit dem Karabinerlauf die nackten Körper vor sich herdrückend, die Treppe runter, trieb die verstörten Gestalten vor sich her, trieb sie zurück, zurück durch den Bunkerschacht nach unten, zurück in den Stollen vor dem Unterkunftstrakt. Ein hässliches Surren und Knacken ertönte und wie ein Schrei kam das Licht zurück. Die Deckenlampen warfen zwischen den Schatten in regelmässigen Abständen ihr weissgrelles Licht auf die halbnackten Männer und ihre geschorenen Köpfe. Sie drängten sich im Stollen zwischen Gewehrrechen, stinkenden Lederstiefeln, Waschbecken und nummerierten Kleiderhaken. Im Dröhnen der Lüftung und dem wütenden und zugleich verängstigten Geschimpfe und Gefluche der Mannschaft versuchten die anderen auftauchenden Gruppenführer Befehle zu erteilen. Einer darunter, von gedrungener Gestalt wie ein grotesker Gnom, Steiner nur bis zur Brust reichend, stand plötzlich untätig neben ihm, sah dem Ganzen zu und grinste ihn mit tückischer Feindseligkeit an. Die Männer reihten sich in den Stollen auf. Ihre Stimmen und ihre Fragen erloschen in den Befehlen der niederen Kader. Dann warteten sie. Stumm und halbnackt standen die vierzig Milizionäre im Stollen wie eine Reihe von Steinskulpturen, das vergessene Heer eines Königs alter Zeit. Nichts regte sich. Die vergitterten Deckenlampen glühten blendend zwischen den Lüftungsrohren, abgesehen vom Dröhnen der Anlage war es still. Sie warteten lange und es wurde kalt. Unruhe kam wieder auf. Als sie das erste Mal die Stimme der Frau hörten, warteten sie schon seit einer Stunde, die Offiziere waren noch immer nicht aufgetaucht. Erst ein Knistern und Knacken aus den Lautsprechern an den grauen Wänden, wuchs es bald zu einem Rauschen an. Nach einer Weile hoben die ersten die Köpfe. Das Rauschen wurde laut, als ob Schwälle von Blut hinter den undurchdringlichen Wänden durchschossen. Die Männer kauerten ob dem verstörenden Klang zusammen. Dann begann die Frau zu sprechen und jeder hörte ihre schaurig sanfte Stimme; eine Stimme so tief und so warm, ohne Zeit und ohne Alter. Die Frau sagte den Namen und den Vornamen eines jeden Mannes und jeder öffnete den Mund als trinke er die Stimme wie süssen Wein. Die Frau sprach leise den letzten Namen aus und eine seltsame Stille setzte ein. Dann sagte sie: Meine lieben Soldaten; hören Sie mir zu. Die Übung ist beendet. Sie haben erfüllt. Gehen Sie schlafen. Und wie betört von der Stimme, wie erfüllt scheinend vom Urvertrauen und der Sicherheit die sie tief in ihnen auslöste, standen sie auf, wankten wortlos und friedlich, wie im Traum versunken, noch bevor die Offiziere dazukamen und ihre Befehle gaben, in Richtung der Unterkünfte und legten sich dort nieder und wickelten sich in die Wolldecken auf dem Stroh. Niemand beklagte sich oder vermochte mehr Fragen zu stellen. Steiner sah dem seltsamen Treiben mit ausdruckslosem Gesicht zu, konnte sich keinen Reim daraus machen und fragte sich, was er tun sollte, und rührte sich nicht von der Stelle, bis der Stollen leer war. Der Gnom war als einziger bei ihm geblieben. Er kicherte und tippte auf den Gewehrlauf, der genau auf seinen Schädel zeigte. Er zwinkerte ihm mit den schmalen Schweinsäuglein linkisch zu, sagte etwas, was Steiner nicht verstehen konnte und verschwand.

Er lehnt an der Wand im Schatten. Seine Hände und Füsse starr und taub. Später geht er durch die verlassenen Betongänge, das Gewehr auf den Rücken geschnallt. Hinterlässt kaum sichtbare Blutspuren. Schleicht von Türe zu Türe wie ein Unheilbringer. Späht in die engen lauwarmen Unterkunftsräume. Lauscht. Hört kaum etwas, vielleicht ein Hauchen oder eine unbekannte Stimme. Er löscht das Licht wo er welches findet. Öffnet jede Türe und kontrolliert jeden Raum und wenn er ihn wieder verlässt ist es dunkel und völlig still. Er löscht jedes Licht, spricht etwas hinein in den leeren Korridor, dann verlässt er den Unterkunftstrakt, durchquert die Gasschleuse, geht zum Treppenschacht und steigt in die Kälte. Er marschiert die Treppen hoch; ein Schattenwesen das sein verlassenes Nachtreich durchstreift, so furchtbar alleine, auf der Suche nach seiner Decke oder vielleicht etwas Anderem. Er marschiert nach oben bis er zur erloschenen Kerze und den blutigen Scherben kommt. Er hebt eine auf und dreht sie in der Hand. Nach einer Weile setzt er sich auf den Beton und streicht mit der Scherbe über seine Haut. Sein Gesicht starr wie eine Maske. Die Lüftung dröhnt. Wasser tropft. Er steigt über die Scherben und geht weiter hoch. Er marschiert lange. Kalter Schweiss läuft ihm über die Brust und nach einer Weile fragt er sich, wo der Ausgang überhaupt war, denn er kann ihn nirgends mehr finden und der Treppenschacht scheint endlos. Er findet gar nichts mehr und keine Stimme spricht zu ihm und sagt ihm wo er entlanggehen muss und wie weit der Weg noch sei. Er bleibt stehen. Sieht lange in die brütende Düsternis; dann kehrt er um.

Er betrat die Unteroffiziersquartiere und betätigte den Lichtschalter; die Kugellampe beleuchtete die enge Schlafkammer wie ein kränklicher Mond. Sieben Männer schliefen auf dicht nebeneinanderliegenden Stockbetten, eingewickelt in Wolldecken und gebettet auf Stroh. In der Mitte stand ein Holztisch. Der Gnom war noch wach, sass auf einem schäbigen Holzstuhl über den er seine Uniformjacke gelegt hatte und lächelte selig, als hätte er die ganze Zeit im Dunkeln auf Steiner gewartet. Soll ich Ihnen ein Geheimnis verraten? sagte er. Hier ist nicht ihr Zimmer. Steiner ging an ihm vorbei, setzte sich auf das freie Bett und legte den Karabiner neben sich ab. Aus seinem Ledertornister nahm er eine schmutzige Rolle Baumwollkompressen hervor und begann, sie fest um seine Füsse zu wickeln. Der Gnom beugte sich über ihn. Das sollten Sie desinfizieren lassen. Das gibt sonst Wundstarrkrampf. Der Gnom zeigte mit dem Finger in die Höhe, vollführte eine groteske Verrenkung und verharrte in dieser Pose. Hören Sie mich? Wollen Sie denn mit Ihrer Knarre schlafen? Hab ja keine Decke mehr. Ähä. Soll ich Ihnen ein anderes Geheimnis verraten? Wie heissen Sie überhaupt? Der Gnom grinste, nahm eifrig seine Jacke vom Stuhl, zeigte ihm den Namenszettel am Kragen. Korporal Weiss, Philipp, verkündete er laut. Ja. Ja genau, der bin ich. Tscha, weiss Gott. Da steht’s geschrieben, sehen Sie? Steiner sah auf. Eine halbe Armlänge neben ihm wälzte sich ein Mann im Schlaf und gab wirre Traumgeräusche von sich. Bin beim Kommandozug, sagte der Gnom nach einer Weile. Seine Stimme klang geduldig, etwas bemitleidend, als müsse sein Gegenüber das Erzählte doch bereits wissen. Ich warte die Maschinen, die ganze Festung, und ich helfe dem Kommandanten bei allem was er macht. Und auch bei dem, was er nicht selbst machen will. Tu ich schon seit Jahren. Jetzt legen Sie doch mal die Knarre weg, Sie machen mich ganz nervös. Weiss deutete auf die schlafenden Männer in den Pritschen. Trauen Sie mir nicht? Ich bin kein schlechter Kamerad, wissen Sie? Das meinen die anderen hier nämlich auch. Wenn sie wach wären, würden Sie’s Ihnen auch sagen. Steiner schwieg, zog den Verband fest, löschte das Licht, legte sich mit der Waffe hin und wartete, bis Weiss, der nun im völligen Dunkel stand, zu sprechen aufhörte und sich ebenfalls niederlegte. Steiner hielt die Augen geschlossen, doch er schlief nicht. Auf seiner Brust lag schwer der Karabiner, schnürte ihm fast den Atem ab, wie ein eiserner Nachtmahr der nun für immer mit ihm verwachsen war.

Als er aufstand, war es noch immer dunkel. Stickiger Schweissgeruch erfüllte die Kammer. Er streckte sich; eine blasse verspannte Schattengestalt mit langen Beinen und sehnigen Muskeln. Er entlud den Karabiner langsam und stellte ihn ab, nahm seine Kleidung vom Holzgestell nebenan und zog sich lautlos im Dunkel an; feldgraues Hemd und Hose mit Hosenträgern, darüber der Waffenrock, gefertigt aus grober Wolle, ein derbes, schweres Material. Am linken Oberarm prangten aufgestickt zwei karmesinrote gekreuzte Kanonen auf schwarzem Grund. Er kniete nieder und zwang die verbundenen Füsse in die schwarzledernen, nagelbeschlagenen Kampfstiefel und schnürte fest zu. Er schnallte den Waffengurt, an der Seite hingen zwei lederne Patronentaschen und die Lederscheide mit dem Faschinenmesser. Er zog die graue Feldmütze mit seinem Gradabzeichen über und schaltete das Kugellicht an. Die Leute um ihn herum begannen zu furzen und stöhnen und leise zu fluchen wie sie langsam erwachten, wälzten sich in abgehackten Bewegungen umher. Tagwache, sagte Steiner. Dann öffnete er die Stahltüre des Raumes, schloss sie hinter sich, nahm die Feldmütze ab, hielt sie mit beiden Händen und stand eine Weile mit gesenktem kahlem Haupt im Halbdunkel des Stollengangs und betete. Dann ging er den Gang entlang, betrat den Waschraum der Unteroffiziere, rasierte sich, wusch das harte Gesicht, das zu lächeln vergessen hatte, das Wasser auf der rauen Haut so kalt und unerbittlich wie der Berg und auch er selbst. Der Speisesaal war geschlossen. In einem der langen Gänge hatte man die an der Wand fixierten Holztische heruntergeklappt, auf denen sonst die Stiefel und die Gewehre geputzt wurden. Das Frühstück bestand aus Fleischkonserven; rotbraune Masse, mit dem Taschenmesser aus den Dosen geschnitten und auf die grauen Brotscheiben gestrichen, Fleischgeruch vermischte sich mit dem von abgestandenem Schmierfett und Waffenöl. Auf dem letzten Holztisch standen Pulvermilch und Kaffee in stumpfsilbernen Kannen. Irgendwo huschten die Küchengehilfen wie Schatten umher und man hörte, wie der Feldweibel an den Schlafkammern vorbeistampfte und die Leute wie der Leibhaftige aus dem Schlaf brüllte. Steiner füllte den Blechteller, stand nahe dem Eingang zu einem der langen Holztische, stützte sich an den Ellenbogen ab, ass langsam und still und beobachtete, wie die Soldaten eintraten und allmählich den Stollen ausfüllten. Einer nach dem anderen bildeten sie eine Schlange zur Essensausgabestelle, verteilten sich dann an die Stehtische, die meisten gähnend, die Augen noch halb geschlossen, als würden sie erst allmählich aus einem seltsamen Traum erwachen, und nur wenige, wie in einer darauffolgenden Phase, angespannt und nervös um sich blickend, mit blutunterlaufenen Augen. Weiss kam zu ihm und breitete sich aus. Feierlich klappte er sein schmutziges Taschenmesser auf und betrachtete die Konservendose vor ihm, als entwiche alles Übel der Welt daraus, sobald er sie öffne. Er grinste, öffnete die Dose, schnitt Fleischmasse heraus, schmierte sie auf die Brotscheibe. Er kaute laut und eifrig mit offenem Mund und versuchte ein Gespräch mit Steiner zu beginnen, aber der gab keine Antwort. Will ihnen ja bloss Gesellschaft leisten, sagte der Gnom. Ihnen meine Hilfe anbieten. Ich glaub, die brauchen Sie.
Ausser mir kennen Sie hier ja niemanden, oder etwa doch? Wir müssen doch alle zusammenhalten, wenn wir diesen Dienst am Vaterland abschliessen wollen. Weiss schluckte und spülte alles runter mit Milch, gab gurgelnde Geräusche von sich und strich ein zweites Brot. Steiner liess sein Messer aufgeklappt und reinigte es. Die beiden Männer standen nebeneinander an den groben Holztisch gelehnt, starrten an die Betonwand, sahen sich nicht an. Ihr Messer glänzt ja wie meins am ersten Tag, sagte Weiss. Ich war doch schon immer ihr Freund. Auch wenn Sie’s mir jetzt noch nicht glauben. Ist das etwa Ihr erster Dienst? Wissen Sie überhaupt, wozu Sie hier sind? Steiner schwieg, begutachtete sein Messer das scharf im grellen künstlichen Licht ob ihnen glänzte. Dutzende Männer scharten sich inzwischen stumm um sie herum an die Holzbänke und schmierten mit ihren Taschenmessern ihr Dosenfleisch auf die Brote und sie kauten und assen, ihre Kiefer mahlten unablässig, Blechteller schepperten leise, Gestank und Wärme breiteten sich aus, manche sassen auf die Bänke und platzierten ihr Essen vorsichtig zwischen den Beinen, das alte Holz ächzte bedrohlich ob der Belastung, niemand schlief mehr und niemand sah den nächsten an; wie in stiller Erwartung, als würden sie jeden Moment ein gut behütetes Geheimnis erfahren, wenn sie nur gut genug zuhören würden. Weiss schielte zu Steiner. Seine Uniform sass ihm schlecht, ein Stück triefendes Fett fiel darauf und blieb am grauen Stoff hängen. Mit vollem Mund sprach er weiter. Ich schon. Ich weiss ganz genau wo ich hier bin und was ich hier soll. Das ist meine Festung. Sie gehört mir. Dort in der Tiefe, dort spricht sie zu mir, und spricht sie sie zu allen anderen. Aber Sie. Niemand spricht zu ihnen, ausser mir. Sie gehen nur in den Scheiss. Ich weiss genau, wo Sie hinmüssen, und mit wem. Schöne Männer haben Sie sich ausgesucht. Ich kenne Sie gut. Sie kennen hier selber niemanden. Jäh, vielleicht doch. Man muss Menschen mögen, nicht wahr? Man muss ihnen nur lange genug zuhören, dann erzählen sie einem alles; sie fühlen sich regelrecht genötigt dazu. Es ist ihnen sogar ganz gleichgültig, welcher armen Seele sie ihre Schuld und ihr Unglück aufbürden, solange nur zugehört wird. Mit sich selbst sprechen nur diejenigen, die sie sich selbst ertragen; nur Kinder und Wahnsinnige.

Die Kompanie stand auf dem grauen Postplatz zwischen zwei Stollen in Reihenformation angetreten, eingeteilt in die Züge und deren Rangordnungen, bereit zum Appell. Die Soldaten zwischen den Anschlagssäulen nur Schemen, die Konturen im bleichen Licht gebrochen durch die Stahlhelme und geschulterten Karabiner. Stumm und gleichförmig standen die Männer da und warteten, husteten von Zeit zu Zeit, die Betondecke der Kaverne gestützt von den runden Pfeilern ein trostloser Baldachin über dem Allerheiligsten. Die Offiziere standen mit dem Rücken gewandt zum niederen Kader und die standen vor der Mannschaft. Der Feldweibel verlangte nach den Beständen. Die Männer nummerierten sich selbst, ein Bote teilte die Zahlen dem Feldweibel mit und der schrieb alles in sein Büchlein und rechnete. Der Adjutant erschien; er trug seine Rangabzeichen am Kragenspiegel und eine hartkantige Schirmmütze, stand genau unter dem Licht der Deckenlampe, Schatten tauchte seine Augen ins Dunkel. Wie die anderen Offiziere trug auch er Lederhandschuhe und hohe Lederstiefel und Gamaschen. Der steife Soldatenmantel kaschierte alle menschlichen Konturen und bewegte sich kaum, als der Adjutant schweigend die Reihen entlanglief, bis er beim Feldweibel angelangt war. Der war noch immer bei seiner Rechnung, schien die Konzentration zu verlieren, radierte die Zahlen wieder aus, begann von vorne, murmelte gehetzt wirkend vor sich hin. Der Adjutant sah ihn ausdruckslos an. Dann verstaute der Feldweibel das Büchlein, holte tief Luft und zog den Bauch ein. Stillgestanden!, brüllte er. Wie ein einziges Wesen schlugen die Füsse der Männer auf den Befehl eng zusammen, die ausgestreckten Hände klatschten an die nackten Oberschenkel und blieben daran haften. Die Blicke leer geradeaus gerichtet, die Münder geschlossen, standen sie in Achtungsstellung wie im Krampf erstarrt da, atmeten kaum. Das militärische Ritual und die Befehle verankert in den Hirnen, in unzähligen Stunden der Ausbildung, wieder und wieder, stumpf und mechanisch ablaufend. Der Feldweibel salutierte dem Adjutanten, der nahm den Gruss unbeteiligt ab. Alles sah zum höchsten Mann im Raum. Er begann zu sprechen, seine Stimme blieb völlig ausdruckslos, als würde er eine Zeitungsmeldung ablesen. Guten Morgen, sagte er. Als Stellvertreter des Hauptmanns bin ich beauftragt, Ihnen folgende Information mitzuteilen; Strahlenalarm wurde ausgelöst. Die Funkverbindungen zur Führung sind unterbrochen. Sämtliche Aussenschleusen der Festung bleiben bis auf weiteres geschlossen, davon ausgenommen sind die Zugänge aus dem Kasernentrakt in die Kampfstände. Aus Sicherheitsgründen wird der Werkdienst die Kampffilter anbringen. Der Kommandant will den Betrieb gemäss Tagesbefehl weiterführen, das Manöver wird wie geplant durchgeführt. Zugführer, Züge befehlen. Die Leutnants riefen ihre Unterstellten zu sich, führten die Befehlsausgabe mündlich durch und überboten sich dabei gegenseitig mit mit ihrem Wissen über Auftrag und Festung. In der Übung sollten die Gefechtsstände über eine unbestimmte Zeit den Betrieb selbständig durchführen; Trockenübungen, Prüfung und Handhabung der Geräte mit anschliessender Inspektion, bei der die Einsatzbereitschaft und Durchhaltefähigkeit kontrolliert werden sollte, zum Schluss ein koordiniertes Testschiessen. Die Offiziere sprachen über den höhergestellten Auftrag der Kompanie; Sperrung des Gebirgspasses gegen die Ostfront, Kontrolle und Vernichtung eines einfallenden Gegners und Sicherstellung der Durchhaltefähigkeit bei einer Belagerung im Kriegsfall. Über das Bergmassiv, in das die riesige Bunkerfestung getrieben worden war, das sich erhob wie ein Monolith aus dem kreuzförmigen Gebirgspass und den Tälern. Die strategische Bedeutung seiner Lage war immens; es gab keinen Weg um dieses mächtige, grenznahe Bollwerk darin, doch würde es fallen, könnte der Feind ungehindert ins flache, verwundbare Landesinnere vorstossen. Beim Bau der Bunkerfestung wurden gewaltige Kavernen aus dem Felsinneren gesprengt und gegraben, kilometerlange Stollen tief durch das Fleisch des Berges getrieben, Bauwerke aus Stahlbeton ins Dunkel hineingegossen. Der getarnte Haupteingang zur Festung bestand aus einer unscheinbaren Bauernhütte am Fuss des Berges, die keine war, die Fenster und Türen bloss mit Farbe aufgemalt, das Dach eine Attrappe, nur Eingeweihte wussten, dass sich dort ein Portal in eine andere Welt befand; ein Tunnel führte in die enge und dunkelfeuchte Unterwelt inmitten des Gebirges, unsichtbar die langen verzweigten Stollengänge und Treppen, die insgesamt acht bekannte Stockwerke miteinander verbanden. Maschinen, Rohre, Elektronik waren in den Räumen installiert und durchzogen sie wie Gedärm und Lebensadern. Eine eigene Stromversorgung über Dieselaggregate, eine Lüftungsanlage, Herz und Lunge des Bunkers, die überall zu jeder Zeit zu hören war, Telefonzentralen für die Übermittlung innerhalb der Festung und nach aussen, ein gesichertes Munitionslager tief im Berg mit abertausenden Granaten. Der riesige Kasernenbereich im Zentrum, mit streng getrennten Unterkünften für Mannschaft und Kader. Speisesaal, Küche, Bäckerei, Vorratsräumen, Materialdepots und einem unterirdischen Spital mit Operationsraum. Irgendwo der Kommandoposten, der Standort selbst vor den eigenen Truppen geheim; jeder hatte sich nur in den ihm zugewiesenen Raum zu bewegen, alles andere war tabu, keiner sollte die ganze Festung kennen. Unsichtbar und tödlich die Ausläufer der Festung an den strategisch wichtigen Stellen des Berges, von denen man die anliegenden Pässe und Täler bewachen und kilometerweit unter Beschuss nehmen konnte. Maschinengewehr- und Artilleriestellungen, Panzertürme, Festungsgeschütze, Handgranatenauswürfe, Panzersperren und Stacheldraht. Eine waffenstarrende Zwischenwelt im Berg, ein stiller Ort ohne Tageslicht, dem Himmel so nah aber doch unendlich weit davon entfernt. Alle Bereiche der unterirdischen Festung durch hermetisch abschliessbare Gasschleusen voneinander getrennt; im Falle eines Angriffs mit Kampfstoffen oder bei einem Strahlenalarm konnten sie aktiviert werden, dadurch wurden im Kasernenbereich ein Überdruck aufrechterhalten und die Luftbereiche getrennt. Seit dem Alarm waren nun nicht nur diese Gasschleusen aktiv, sondern auch sämtliche Schleusen aus dem Berg hinaus blockiert. Jedem Dienstleistenden war mittlerweile klar, dass, ob Übung oder nicht, sie in dieser Festung eingeschlossen waren bis die Übung zu Ende war. Die Befehlsausgabe schloss. Die Offiziere verschwanden ohne Fragen zu beantworten und die Gruppenführer sammelten die ihnen zugeteilten Soldaten ein, zogen sie mittels Namenslisten aus den Reihen, ein wirr anmutender Vorgang von mehrfach überkreuztem, immer lauter werdendem Rufen und Befehlen und Daherrennen und Salutieren, bis ein jeder seinen Platz und seine Bestimmung gefunden hatte. Die Korporäle orientierten die Soldaten über den Einsatz. Sie brachen die erhaltenen Informationen in stumpfer Gleichgültigkeit oder zeitgedrängtem Pragmatismus so weit nieder, bis nur noch sinnfreie Bruchstücke von dem übrig waren, was sie zuvor selbst vernahmen hatten. Die Soldaten rannten auf Befehl davon und bereiteten in ihren Kammern die Ausrüstung für den Einsatz vor; sie prüften und packten Putzzeug, Helme, Munitionstaschen, Gewehre, Messer und Stiefel, Feldflaschen, Blechgamellen, Decken, Essbesteck und Zahnbürsten und Unterwäsche. Der Feldweibel brüllte die Korporäle zu sich für weitere Informationen, die ihrer Ansicht nach für niemanden irgendwie von Belang waren ausser für ihn selbst, und so gab auch niemand etwas weiter. Portionierte Zwischenverpflegung wurde vom Fourier und seiner Küchenmannschaft willkürlich verteilt, Würste, grobgeschnittenes Brot und kalte Äpfel, in schäbiges Papier verpackt. Material wurde derweil in den Unterkünften vertauscht und vermisst, von manchen vielleicht absichtlich, um Zeit für irgendwas zu schinden, einer konnte seinen Helm nicht mehr finden, ein anderer trug plötzlich das falsche Gewehr. Wieder andere verschwanden in den Toiletten und blieben dort bis sie vom kontrollierenden Feldweibel herausgeschrien wurden. Wirre Befehle widerhallten hohl in den Stollen, unmöglich einzuhaltende neue Zeitvorgaben wurden gesetzt und widerrufen, die Soldaten erstellten die Zimmerordnungen, füllten ihre Ledertornister hastig mit allem Material und schnallten sie fest über die Rücken und hängten die Karabiner um die Schultern und setzten die Helme auf, rannten vollgepackt und schwerfällig hin und her. Ein Schmächtiger, der zu spät dran war, stürzte unter Geschimpfe und Geschupfe seines Vorgesetzten im Rücken über die dunklen Treppen, sein schlampig zugeschnürter Tornister öffnete sich und seine Habseligkeiten verteilten sich überall und die Leute rannten im Bogen um ihn herum, während er hastig und verzweifelt alles einzusammeln versuchte und der Vorgesetzte pausenlos und rauschhaft weiterschimpfte. Die Unteroffiziere sammelten ihre Soldaten ein und führten sie zur Gasschleuse, die aus dem Unterkunftstrakt zum Hauptstollen und in die Kampfstände führte. Die Männer der ganzen Milizkompanie stauten und drängelten sich dort unruhig umher und nur ein einziger Soldat bediente die Schleusen wie ein einsamer Pförtner; völlig überrumpelt und überfordert vom plötzlichen Ansturm. Sämtliche Korporäle versuchten grimmig ihre Soldaten zusammenzubehalten, und um keinen zu verlieren, stellten sie sie in wirren Kolonnen auf und machten ständige Bestandeskontrollen, bis sie durchgelassen wurden. Zwischen Schleusen und Entgiftungsduschen traten sie gruppenweise in den hermetisch abgeriegelten Raum, wo sie warteten bis der Druckausgleich hergestellt war. Alles dröhnte und zischte leise, der Raum war sehr eng, so dass sie sich mit ihren schweren Tornistern kaum bewegen konnten und umständlich auf dem Betonboden kauerten, den Raum allmählich mit ihrer Körperwärme und ihren Ausdünstungen ausfüllten und sich an ihre Waffen klammerten. Ein blutrotes, nervös blinkendes Lämpchen signalisierte den Ausgleich, die Vorgesetzten riegelten die Türe auf, befahlen den Männern ihnen zu folgen und so verliessen sie alle die geschützte Kaserne ins Dunkel des Hauptstollens, verteilten sich über tausend Nebenstollen ins Dunkel des gewaltigen Festungslabyrinths.

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