Monat: März 2017

Portrait Daniel Faßbender

„Die weltbeste Geschichte vom Fallen”
Ein 21jähriger Ich-Erzähler, der irgendwie lose in der Luft, konkreter in der Stockholmer Luft hängt. Er ernährt sich hauptsächlich von Zimtwecken und Kakao, trägt Marken-Sneakers, H&M-Mütze und Ray Ban Wayfarer und hält sich gerne über den Dächern von Stockholm auf – denn beim „Roofing“ findet er „eine ganze Welt ohne andere Menschen, ein riesiger Abenteuerspielplatz nur für mich.“ Erst als er auf die drei Jahre ältere Bojana trifft, kommt ein Halt, ein doppelter Boden in sein Leben. Der ihm dann kurz darauf wieder entzogen wird und sein sowieso schon fragiles Lebenskonzept ins Schwanken bringt.

Daniel Faßbender –
Kandidat Sätze & Schätze

Man könnte die Stimme schon mal gehört haben. In einem Nachrichtenbeitrag über Donald Trump, das Wetter, brennende Wälder oder was auch immer. Daniel Faßbender ist Journalist und arbeitet für mehrere Fernsehsender. Davor war er Seemann, um die Welt zu sehen. Um das Schreiben zu üben und die Angst vor weißen Blättern zu verlieren, hat er bei einer großen Boulevard-Zeitung volontiert. Das Studium der Vergleichenden Literaturwissenschaft, Politik und Geschichte – abgeschlossene Vergangenheit. Er lebt in Köln und findet Bücher, das Meer und Dächer ziemlich gut.

Hier gehts weiter zum Beitrag der Bloggerin auf dem Blog Sätze & Schätze

Interview mit dem Longlist-Autoren

Du stehst auf der Longlist des Blogbuster-Preises. Hättest Du damit gerechnet? 

Nicht damit gerechnet, aber anfangs hatte ich natürlich jede Menge Hoffnung. Doch dann hakte ich den Wettbewerb recht schnell für mich ab. Der Blog “Bücherwurmloch”, wohin ich mein Manuskript ursprünglich geschickt hatte, legte sich im Januar auf andere Favoriten fest. Das war‘s, dachte ich. Doch dann: Plottwist! Ende Februar, wenige Tage vor Ablauf der ersten Runde, erhielt ich völlig unverhofft eine Mail von Birgit Böllinger vom Blog „Sätze und Schätze“. Sie wollte meinen Text für die Longlist einreichen. Was ich nicht wusste: Bücherwurmloch hatte mein Manuskript in einen Pool mit vielversprechenden Manuskripten gegeben. Dort war er Birgit aufgefallen. Happy End!

Warum hast Du Dich gerade bei dem Blog „Sätze und Schätze” beworben? 

Das habe ich leider gar nicht. Ich dachte: ein junger Text und ein junger Blog wie “Bücherwurmloch”, das macht Sinn. Dabei habe ich aus den Augen verloren, dass es bei Romanen nicht um alt oder jung geht. Es geht um gute Geschichten, darum in fremde Köpfe zu blicken und sich auf das einzulassen, was einem selbst vielleicht fern scheint. Birgit Böllinger hat mir das wieder vor Augen geführt. Sie liebt Literatur ohne in albernen Kategorien zu denken und das merkt man ihrem Blog an.

Blogbuster ist ein etwas anderer Literaturwettbewerb. Was hat Dich gereizt, daran teilzunehmen?

Der Literaturbetrieb scheint im Moment ziemlich große Berührungsängste bei Neuem zu haben – neuen Themen, neuen Vermarktungsmöglichkeiten, aber vor allem auch neuen, noch unbekannten Autoren. Blogger dagegen sind angstfrei. Das hat mich gelockt. Und der mögliche Verlagsdeal – ganz vielleicht spielte der auch eine klitzekleine Rolle.

Die erste Hürde ist genommen, welche Chancen rechnest Du Dir aus, auch die Fachjury zu überzeugen?

Ich glaube, das Rennen ist völlig offen. Meine Chancen liegen bei 1:14. Im Moment bin ich einfach sehr dankbar, dass mein Text wahrgenommen wird.

Wie lange hast Du an dem Romanmanuskript geschrieben und was hast Du bisher schon unternommen, um einen Verlag zu finden?

Die Recherche, das Schreiben, das Überarbeiten und das Überarbeiten und das Überarbeiten haben ungefähr ein Jahr in Anspruch genommen. Im Kampf um einen Verlag gab‘s etliche blutige Nasen (also meine Nase blutete mehrfach). Aber ich gebe nicht auf.

Was wirst Du zusammen mit Deinem Blogger noch unternehmen,  um Dich und Dein Manuskript zu promoten.

Promo? Wir überhäufen die Juroren mit teuren Geschenken und machen sie mit unmoralischen Angeboten gefügig.
Im Ernst: Mal sehen, was sich mit Social Media so bewegen lässt.

Erschöpft und zerknirscht im Besenwagen – Kein Kandidat für den Blogbusterpreis von »lustauflesen.de«

So, wir starten jetzt mal ein kleines Radrennen und schauen sofort nach hinten. Da lauert  nämlich der gefährlichste Gegner, der Besenwagen, ein unauffälliger Kleinbus, der dem Peleton gemächlich hinterhertuckert. Wer zu langsam ist und zurückfällt, wird von der Straße gefegt. Aus der Traum vom Finish. Der Besenwagen ist ein erbarmungsloses Monster.

Jetzt sitze ich auf der Rückbank des Besenwagens beim »Blogbuster-Preis« und frage mich, wie konnte das passieren? Als auf der Frankfurter Buchmesse der Startschuss zur ersten Etappe fiel, bin ich losgesprintet, neben mir vierzehn weitere gut trainierte BloggerInnen. Alle hochmotiviert wie ich. Autorinnen und Autoren sollten einer Bloggerin, einem Blogger ihrer Wahl vertrauen, uns ihre Manuskripte senden, damit wir einen Kandidaten finden, den wir der Jury unter Vorsitz von Denis Scheck präsentieren. Ein Manuskript, dem wir vertrauen, dem wir eine Chance geben, ein Roman, an den wir glauben und den wir verteidigen. Diese erste Etappe des Rennens ist flach und leicht genommen. Euphorie begflügelt.

Mehr als 250 Manuskripte gingen bis Ende Dezember ein, für die einen mehr, für die anderen weniger. Was soll’s, Quantität ist nichts, Qualität dagegen alles. Startschuss zur zweiten Etappe: Lesen, lesen, lesen. Es wird hügelig, das Feld zieht sich auseinander. Ich finde mein Tempo, arbeite mich voran, Exposé um Exposé, Leseprobe um Leseprobe und schließlich in engerer Auswahl Manuskript um Manuskript.

Doch dann das! Kette gerissen, Plattfuß am Hinterrad und die Trinkflasche ist leer. Kein Materialwagen nirgends. Keuchend kämpfe ich mich durch, bleibe hier und da stehen, steige vom Rad, verschnaufe, fluche leise vor mich hin. Mit ordentlichem Rückstand eier ich über die Ziellinie, dem Besenwagen diesmal noch knapp entwischt. Reporter angeln Statements: »Ich sag mal so, von der Ausgangslage her gesehen, war alles gut! Aber hintenraus fehlten eindeutig die Körner.«

Sportsprech beiseite, lasst uns Tacheles reden…

Hier gehts weiter auf dem Blog lustauflesen.de

Portrait Torsten Seifert

„Der Schatten des Unsichtbaren”
Leon Borenstein ist einer der erfolgreichsten Promireporter im Nachkriegs-Los Angeles der 40er. Um in diese Riege aufzusteigen, musste er mit den richtigen Leuten trinken, die richtigen Leute bestechen und schnell sein. Der neuste Coup von Borenstein ist es, der Erste am Tatort zu sein, als die eigentliche Nummer 1 der Skandalreporter erschossen im Auto gefunden wird. Doch statt einer Gehaltserhöhung und der Erlangung des Platzes des Toten, erhält er von seinem Boss einen kruden Auftrag. Aus dem Reporter wird ein unermüdlicher Sucher nach dem rätselhaften Autor „B. Traven“.

Torsten Seifert – Kandidat 54books 

Meine Eltern haben mir erzählt, ich hätte bereits mit sechs Jahren verkündet, Schriftsteller werden zu wollen. Zugegeben – dem Sechsjährigen in mir verheimliche ich bis heute, dass ich mein Geld in Wirklichkeit als Werbetexter und PR-Journalist verdiene. Nun ist mein Manuskript bei Blogbuster nominiert. Vielleicht stellt ihn das für eine Weile ruhig. Aber er will sicher bald mehr… Ansonsten gibt es anzumerken, dass ich im schönen Görlitz geboren bin und jetzt in Potsdam lebe, leidenschaftlich gern reise und (ganz passabel) Badminton spiele.

Hier gehts weiter zum Beitrag des Bloggers auf 54books

Interview mit dem Longlist-Autor

Du stehst auf der Longlist des Blogbuster-Preises. Hättest du damit gerechnet?

Bei über 200 Einsendungen damit zu rechnen, wäre wohl etwas vermessen. Aber natürlich habe ich gehofft, dass es so kommt. Die Nachricht kam an einem Freitag und sorgte für ein komplett durchgelächeltes Wochenende.

Warum hast du dich gerade bei dem Blog „54 Books“ beworben?

54 Books gehört zu den Literaturblogs, die ich als sehr gelungen und ausgewogen empfinde. Der Blog geht weit über die reine Anregung zum Lesen hinaus und gibt clevere Denkanstöße. Dass meine Story über die abenteuerliche Suche nach dem Schriftsteller B. Traven bei Tilman Winterling, dem Macher von 54 Books, ins Schwarze trifft, habe ich kaum zu hoffen gewagt. Umso mehr freue ich mich darüber.

Blogbuster ist ein etwas anderer Literaturwettbewerb. Was hat dich gereizt, daran teilzunehmen?

Ich denke, es war höchste Zeit für einen solchen Wettbewerb. Die Blogger spielen für den Buchmarkt eine immer wichtigere Rolle, während die Bedeutung klassischer Formen der Literaturkritik, wie der Rezension im Feuilleton, sinkt. Es ist toll, dass bei Blogbuster junge oder unentdeckte Autoren eine Chance bekommen. Aber die Bloggerszene sollte ruhig selbstbewusst genug sein, neben einem Preis für die Newcomer auch einen für die bereits Etablierten zu stiften. Das Ergebnis wäre sicher sehr spannend und würde vermutlich für noch mehr Bekanntheit sorgen.

Die erste Hürde ist genommen, welche Chancen rechnest du dir aus, auch die Fachjury zu überzeugen?

Ich freue mich, dass sie sich mit meiner Geschichte beschäftigen werden. Aber in ihre Köpfe kann ich natürlich nicht schauen.

Wie lange hast du an dem Romanmanuskript geschrieben und was hast du bisher schon unternommen, um einen Verlag zu finden?

Mit B. Traven beschäftige ich mich seit über zehn Jahren. Ich habe schnell gespürt, dass da eine Story für mich drin steckt. Die Recherche, für die ich u.a. nach Mexiko – also an die „Originalschauplätze“ – gereist bin, war sehr zeitaufwändig. Am Manuskript habe ich dann etwa zweieinhalb Jahre gearbeitet. Bis Mitte letzten Jahres war ich bei einer Berliner Agentur unter Vertrag, die bereits ein paar Gespäche mit Verlagen geführt hat. Im Mai ist meine Agentin allerdings völlig überraschend verstorben. Mit der Suche nach einer neuen Agentur wollte ich eigentlich erst wieder starten, wenn es etwas Neues gibt.

Was wirst du zusammen mit deinem Blogger noch unternehmen, um dich und dein Manuskript zu promoten?

Wir haben da ein paar Ideen, die wir gemeinsam in den nächsten Wochen weiterspinnen wollen. In jedem Fall wird es sich wie immer lohnen, regelmäßig auf 54books.de zu schauen.

 

Portrait Kai Wieland

„Ameehrikah“ 
„Welchem Zweck dient die Erinnerung? Welchen Wert haben Erinnerungen aus zweiter Hand? Warum hängen wir so an ihnen, auch an jenen unserer Mitmenschen und Vorfahren, während uns die faktische Geschichte so zuwider ist?“ Zur Beantwortung dieser Fragen schickt Kai Wieland einen Chronisten in ein Kaff im Schwäbischen Wald, dort, wo man „Ameehrikah“ schwäbelt, wenn man Amerika meint.

Kai Wieland
Kandidat LustzuLesen

Kai Wieland, gebürtiger Schwabe, aufgewachsen unter der vertrauensvollen Obhut von Hunter S. Thompson, Bret Easton Ellis und Ernest Hemingway, absolvierte nach dem Abitur eine Ausbildung zum Medienkaufmann und studierte anschließend Buchwissenschaft an der LMU in München. Heute ist er in einem Verlagsbüro in Stuttgart tätig, wo er sich sich der Kombination seiner großen Leidenschaften – Bücher, Reisen und Outdoor – in Form der redaktionellen Arbeit an verschiedenen Reiseführerreihen widmet.

Hier gehts zum Beitrag der Bloggerin auf dem Blog LustzuLesen

Interview mit dem Longlist-Autor

Du stehst auf der Longlist des Blogbuster-Preises. Hättest Du damit gerechnet?  

Ich war durchaus der Meinung, dass ich einen ganz guten Text geschrieben habe, sonst hätte ich ihn nicht eingesendet. Mir war aber natürlich auch klar, dass der Erfolg oder Misserfolg meines Manuskripts von verschiedenen Faktoren abhängen würde. Über ein Ausscheiden wäre ich daher ebenso wenig überrascht gewesen. Jetzt bin ich einfach froh, so weit gekommen zu sein.

Warum hast Du Dich gerade bei dem Blog LustzuLesen” beworben?  

Ich lese nur selten Literaturblogs und auch vom Wettbewerb selbst habe ich eher zufällig erfahren. In erster Linie habe ich mich deshalb auf die Vorstellungstexte der Blogger und mein Bauchgefühl verlassen. Bei Sonjas Idee von guter Literatur und der Auswahl der Titel, die sie auf Lust zu Lesen bespricht, hatte ich den Eindruck, dass es passen könnte. Und das hat es offenbar. 

Blogbuster ist ein etwas anderer Literaturwettbewerb. Was hat Dich gereizt, daran teilzunehmen? 

Ehrlich gesagt bin ich nicht besonders wählerisch im Umgang mit den Chancen, die sich mir bieten, und der Blogbuster war keineswegs mein einziger Versuch Ameehrikah unterzubringen. Dessen ungeachtet hat mich das Konzept des Wettbewerbs aber auch sofort überzeugt, weil die Marktgängigkeit der Manuskripte für die erste Instanz, die Blogger, eine geringere Rolle spielt als bei der klassischen Verlagssuche. Außerdem ist es einfach ein spannendes Event mit einem reizvollen ersten Preis.

Die erste Hürde ist genommen, welche Chancen rechnest Du Dir aus, auch die Fachjury zu überzeugen? 

Dieselbe, die ich mir bei Sonja ausgerechnet hatte, zumal ich meine Konkurrenz kaum kenne. Ich bin überzeugt von dem, was ich geschaffen habe, und wenn es gut genug ist und auf Zustimmung stößt, wunderbar. Wenn nicht, dann setze ich mich eben wieder an den Schreibtisch und beginne von Neuem.

Wie lange hast Du an dem Romanmanuskript geschrieben und was hast Du bisher schon unternommen, um einen Verlag zu finden? 

In unregelmäßigen Abständen etwa ein Jahr und dann, nach Ende meines Studiums, weitere drei Monate exzessiv. Seitdem habe ich, bis zum heutigen Tage, monatlich zwei bis drei Leseproben verschickt und mich mittlerweile sehr an das Gefühl gewöhnt, immer ein Eisen im Feuer zu haben.

Was wirst Du zusammen mit Deinem Blogger noch unternehmen,  um Dich und Dein Manuskript zu promoten. 

Social Media, Baby! Letztendlich muss Ameehrikah aber für sich allein sprechen, um die Fachjury zu überzeugen.

Leseprobe: Torsten Seifert – „Der Schatten des Unsichtbaren”

 »Eine Geschichte, die nicht wahr ist, gut zu erzählen, ist eine Gabe, my boy. Sie sind ein Künstler, wissen Sie das?« B. Traven

Erstes Kapitel

Archie Tucker hatte Geschmack, daran bestand kein Zweifel. Er saß in diesem ziegelroten Traum mit Achtzylindermotor, Automatikschaltung, Weißwandreifen und der Silhouette eines Torpedos, als wäre er ein Filmstar. Mit seinen italienischen Schuhen, der eleganten Hose aus Segeltuch und dem exotisch bunten Aloha-Shirt, das ein Jahr später als „Hawaiihemd“ der letzte Schrei sein sollte, hätte Tucker ein gutes Motiv für Modefotografen abgegeben. Das Licht war perfekt an diesem Morgen. Besser konnte man es nicht arrangieren. Kein Wunder! Schließlich war es sein Perfektionismus, der ihn zum erfolgreichsten Gesellschaftsreporter Hollywoods gemacht hatte. Längst gehörte er zu der Handvoll Journalisten, die einen Anruf des Managements erhielten, bevor die Stars im Romanoff’s oder im Chasen’s einkehrten. Während die Kollegen nächtelang vor den einschlägigen Adressen herumlungerten, ohne jemals eine gute Story an Land zu ziehen, saß er immer bereits an einem der reservierten Tische und bekam seine Geschichten aus erster Hand. Nie hatte Tucker irgendetwas dem Zufall überlassen. Bis zuletzt nicht, könnte man meinen. Es gab kaum schönere Plätze für einen großen Auftritt als den Strand von Huntington Beach, an dem sein Cadillac Convertible Cabrio mit Blick aufs Meer parkte. Nur der Umstand, dass große Teile seines Gehirns über die mit beigem Leder bezogene Garnitur verspritzt waren und das Blut aus seinem Schädel auf der Rückbank ein hässliches Muster hinterlassen hatte, trübte den Eindruck. Aber irgendwas war halt immer. Leon Borenstein packte seine Fotoausrüstung zusammen und verstaute sie auf dem Beifahrersitz des Pontiacs. Er lächelte zufrieden. Noch bevor der Rest der Journalistenmeute von Tuckers Ableben erfuhr, würden seine Abzüge bereits im Fixierbad schwimmen. Der Titel der Nachmittagsausgabe war ihm sicher. Wenn er Glück hatte, schaffte er es zurück in die Redaktion, bevor der morgendliche Verkehr ins Rollen kam.
Die Nachricht vom Tod des „Königs der Skandalreporter“ verbreitete sich in der Redaktion rasend schnell. Es vergingen kaum zehn Minuten, bis der Erste an seinen Schreibtisch kam, um Leon auf die Schulter zu klopfen und zu fragen, ob es denn wirklich ein Selbstmord war. Natürlich versuchten sie herauszufinden, wer ihn mit der heißen Neuigkeit versorgt hatte. Doch über seine Quellen verlor Leon nie ein Sterbenswort. Genauso wie er sie nie mit einem Kollegen teilen würde. Schließlich bezahlte er Monat für Monat ein ordentliches Sümmchen dafür, dass er vor allen anderen erfuhr, zu welchem Tatort die Polizei gerade ausrückte.
Er war nicht überrascht, als ihn Barbara noch im Verlauf des Vormittags ins Chefbüro bestellte. Stainer musste längst aufgefallen sein, dass er derjenige war, der regelmäßig die großen Storys an Land zog. Eine Gehaltserhöhung konnte nur noch eine Frage der Zeit sein. Doch sein Chef ging nur kurz auf den Tucker-Coup ein. Der Grund des Gesprächs, sagte er, sei ein anderer. Leon wurde augenblicklich übel. War Stainer die Sache mit Kathy zu Ohren gekommen? Würde er von ihm wissen wollen, was seine Tochter auf der Rückbank seines Wagens verloren hatte? »Die Unschuld jedenfalls nicht, die war schon vorher hin«, wäre vermutlich die einzige ehrliche Antwort darauf gewesen. Doch Stainer schien davon nichts mitbekommen zu haben. Er bat Leon, Platz zu nehmen, und wies Barbara an, in der nächsten halben Stunde keine Telefonate durchzustellen. Eine halbe Stunde! Was hatte er vor?
Seine Mimik beschränkte sich wie immer auf das Wesentliche. Gewiss war er ein guter Pokerspieler. Wortlos knöpfte er sich das Sakko auf, zog es aus und hing es auf einen Kleiderbügel. Er legte großen Wert auf Kleidung und erzählte gern, dass er seine Anzüge bei Bullocks in der 7. Straße, Ecke Broadway schneidern ließ. Nachdem er ein Päckchen Zigaretten aus der Tasche gefingert hatte, krempelte er ruhig und akkurat seine Ärmel hoch und ließ sich in einem der schweren Ledersessel nieder.
Harold Stainer war als Harald Steiner in Braunschweig auf die Welt gekommen. Beim Umzug nach Kalifornien gingen ihm zwei Buchstaben verloren, die er flugs ersetzte, wonach er sich noch viel amerikanischer fühlte. Es war nichts Ungewöhnliches, dass Juden in Amerika ihre Namen änderten. Selbst die Bosse der großen Filmstudios machten da keine Ausnahme. Aus Szmuel Gelbfisz war Samuel Goldwyn geworden, Jack Warners Familie hieß früher Eichelbaum und Wilhelm Fuchs verwandelte sich in William Fox.
Endlich begann Stainer zu reden.
»Sagt Ihnen der Name B. Traven etwas?«
»Nein, Sir, noch nie gehört«, antwortete Leon wahrheitsgemäß.
»Das dachte ich mir«, entgegnete Stainer, ohne dabei belehrend zu wirken. »Nicht weiter schlimm. Sie werden ausgiebig Gelegenheit bekommen, sich mit ihm zu beschäftigen.«
Leon blickte ihn fragend an.
»Traven ist Schriftsteller. Nicht irgendeiner. In Europa geht seine Auflage in die Millionen. Man munkelt, er sei ein heißer Kandidat für den Literaturnobelpreis.«
Stainer stand auf, zog gezielt ein Buch aus dem Regal und begann, darin zu blättern. »Seine Helden sind Outlaws. Habenichtse, arme Schlucker«, dozierte er. »Er lässt sie im Dreck wühlen und macht Gold daraus.« Dann klappte er das Buch zu. »Der Schatz der Sierra Madre«, sagte er und lauschte der Wirkung seiner Worte hinterher, als erwartete er, dass von irgendwoher ein Echo hallen müsste.
»Die Leute von Warner haben sich die Filmrechte schon vor Jahren gesichert. Vor ein paar Monaten haben die Dreharbeiten begonnen.«
Er zog an seiner Zigarette und schaute Leon prüfend an. »Die Story ist schnell erzählt«, fuhr Stainer fort. »Drei Taugenichtse tun sich zusammen, um in Mexiko nach Gold zu suchen. Sie gehen in die Berge und werden tatsächlich fündig. Doch anstatt die Beute brüderlich zu teilen, misstrauen sie einander, bis sie ihre Habgier in die Katastrophe treibt.«
Leon fragte sich, was die Angelegenheit mit ihm zu tun haben sollte.
»Was meinen Sie, wer die Hauptrolle bekommen hat?«, fragte Stainer nach einer kurzen Pause. Leon hob achselzuckend die Hände.
»Humphrey Bogart. Er spielt einen zwiespältigen und besonders fiesen Typen, der nichts mehr zu verlieren hat und am Ende stirbt. Also genau das, was Bogart meistens spielt«, lachte Stainer, so als hätte er einen besonders guten Witz gemacht. Leons Blick signalisierte währenddessen noch immer völlige Ratlosigkeit. Stainer entging das nicht. Aber er genoss es, die Geschichte in ganzer Breite erzählen zu können.
»Warten Sie, Borenstein, Sie werden gleich verstehen, worauf ich hinaus will«, bat er um Geduld. »B. Traven, der Name dieses Schriftstellers, scheint ein Pseudonym zu sein. Alle Versuche, ihn aus seinem Versteck zu locken, schlugen bislang fehl. Angeblich lebt er einsam irgendwo in der Wildnis. Sein Verleger kommuniziert mit ihm über ein Postfach in Mexiko.« »Weiß man, warum er anonym bleiben will?« »Es gibt einen ganzen Sack voller Theorien und Gerüchte«, antwortete Stainer und griff zu einer drei Finger dicken Kladde, die von einem Band zusammengehalten wurde. Es erinnerte Leon an die Gummiringe, die seine Mutter früher beim Einwecken verwendet hatte. »Ich lasse das Ganze schon seit längerer Zeit beobachten «, sagte Stainer, während er in den Unterlagen zu blättern begann. Traven soll zum Beispiel niemand anderes als Jack London sein, der seinen Selbstmord nur vorgetäuscht hat. Oder Ambrose Bierce, ein Romancier aus Ohio, der 1913 in Mexiko verschwand. Der wäre jetzt allerdings schon über hundert Jahre alt, also streichen Sie den.« Hastig durchblätterte er die nächsten Seiten. »Ein Farmerssohn aus dem Mittleren Westen, ein Enkel Napoleons, ein Leprakranker aus Chiapas, dessen Kopf verhüllt ist, der Hollywood-Agent Paul Kohner, ein General der mexikanischen Revolution, ein europäischer Reeder, ein Spion Stalins, ein Plantagenbesitzer aus Nicaragua oder ein entflohener Häftling aus Fort Leavenworth … Suchen Sie sich aus, was Sie glauben möchten.« Stainers Tonfall verriet, dass er bei jeder einzelnen Version seine Zweifel hatte.
»Andere meinen, Traven sei längst tot oder es handle sich dabei um eine ganze Gruppe. Genau genommen um fünf Schriftsteller mit Sitz in Honduras.« Er klappte die Kladde geräuschvoll zu, um sich verschwörerisch zu Leon hinüberzubeugen.
»Wenn der Film erst in den Kinos läuft, wird die ganze Welt wissen wollen, wer dieser B. Traven ist. Sie und ich, wir werden es ihr sagen.« Dabei rüttelte er Leon leicht an der Schulter. Der kam gar nicht dazu, einen Einwand vorzubringen.
»Ich hätte die Sache gerne weiter in aller Ruhe vorbereitet «, räumte Stainer ein. »Aber vor ein paar Wochen brachte die ›Life‹ das Thema aufs Tapet.« Er zog eine Ausgabe des Magazins aus der Schublade und schob sie quer über den Tisch. Leon schlug die markierte Seite auf. »Wer ist Bruno Traven?«, las er die Überschrift laut vor. »Also Bruno?«
»Das ist keinesfalls sicher«, winkte Stainer ab. »Life scheint nicht mehr zu wissen als wir. Angeblich haben sie sogar eine Prämie von 5.000 Dollar ausgeschrieben, für den, der das Geheimnis lüftet. Eines ist jedenfalls klar: Wir haben starke Konkurrenz bekommen. Was heute in ›Life‹ steht, darüber schreiben morgen alle anderen.« Leon fühlte sich nicht gut bei dem Gedanken, ein Phantom jagen zu sollen. »Mr. Stainer, es ehrt mich außerordentlich, dass Sie mich in dieser Sache ins Vertrauen ziehen. Aber das klingt alles eher nach einem Detektivauftrag.« »Richtig, Borenstein«, sagte Stainer. »Aber in jedem guten Journalisten steckt doch auch ein wenig Detektiv. Während ein guter Detektiv noch lange kein Journalist ist, oder?« Das leuchtete Leon ein. »Jetzt kommt die eigentliche Sensation«, versprach Stainer mit einem triumphierenden Grinsen. Dabei ließ er erneut sein Feuerzeug klicken und nahm einen tiefen Zug, als könne das seinem nächsten Satz eine größere Bedeutung verleihen.
»Sie wissen ja, dass ich recht gut mit einigen Leuten aus den Studios befreundet bin«, prahlte er. »Blakes Büro hat mir gesteckt, dass ein Bevollmächtigter Travens mit dem Namen Hal Croves bei den Dreharbeiten anwesend sein wird. Er ist Travens Sekretär. Huston, der Regisseur, hat ihn als seinen technischen Berater engagiert.«
Er schaute Leon erwartungsvoll an, der jetzt wenigstens so etwas wie „Was Sie nicht sagen“ antworten sollte. Aber Leon schwieg. »Croves ist der Schlüssel zu Traven«, zog Stainer selbst das Fazit. »Haben wir ihn, führt er uns früher oder später zur Lösung.« Das Glänzen in seinen Augen verriet, wie stolz ihn dieser Coup machte. Plötzlich verstand Leon, welche Aufgabe er für ihn vorgesehen hatte. Ehe er den Gedanken zu Ende spinnen konnte, sprach Stainer ihn aus: »Sie gehen nach Mexiko und werden das Rätsel lösen. Ich habe für Sie bereits alles organisieren lassen«, übertrieb er, wie der Agent eines Reiseunternehmens, der gerade einen teuren Urlaub verkauft. »Sie fliegen schon in der nächsten Woche und begleiten das Team an den letzten Drehtagen. Die sind mitten in den Bergen, in der Nähe von Jungapeo, ein paar Autostunden von Mexiko-Stadt entfernt. Und – Sie erhalten ein Exklusivinterview mit Humphrey Bogart! Na, was sagen Sie?« Leon lächelte pflichtbewusst.
»Machen Sie sich keine Gedanken. Harry Wurzinger, einer unserer Informanten, der früher zu Bogarts Entourage gehörte, wird Sie vorbereiten. Kennen Sie ihn?« Leon nickte. Jeder kannte Harry.
»Vielleicht wird das Interview nie erscheinen, das ist ganz egal. Ihre Aufgabe ist es, irgendwie an diesen Croves heranzukommen. Und wenn die Filmleute ihre Zelte abbrechen, heften Sie sich an seine Fersen.«
Natürlich. Da war es also, das dicke Ende. Eine Woche Mexiko auf Redaktionskosten hätte Leon sich gern gefallen lassen. Aber das, wovon sein Boss gerade sprach, hörte sich eher nach einem Himmelfahrtskommando an. Stainer schien Leons Gedanken lesen zu können. »Ich weiß, Borenstein, das kommt für Sie alles etwas überraschend. Glauben Sie mir, als Journalist kriegen Sie nicht oft eine Gelegenheit wie diese. Ich wünschte, ich hätte nicht die Verantwortung für eine ganze Redaktion. Dann würde ich ihn mir selber schnappen. Also – zögern Sie nicht. Holen Sie sich Traven und machen Sie sich unsterblich!« Leon war nicht sicher, ob ihn diese Art von Ruhm überhaupt interessierte.
»Wie viel Bedenkzeit habe ich?« »Keine«, unterband Stainer mit einer brüsken Handbewegung jegliche weitere Diskussion. »Da ist noch was, was ich Ihnen nicht verschweigen will. Sie würden es ja früher oder später sowieso erfahren. Es scheint ein Fluch über Traven zu liegen. Oder um es genau zu sagen: über allen, die nach ihm suchen. In den letzten Jahren habe ich bereits drei meiner Leute auf dieses Thema angesetzt. Einer von ihnen ist bei einem Verkehrsunfall umgekommen, ein weiterer sitzt heute in einer Nervenheilanstalt, der Dritte ist nach Alaska ausgewandert.«
»Na großartig!«, dachte Leon. Jetzt war er nicht mehr so sicher, ob Stainer nicht doch etwas von seinen Tete-atetes mit Kathy mitbekommen hatte. Vielleicht wandte er eine besonders subtile Methode an, um ihn loszuwerden. »Ich werde inzwischen die Ermittlungen vor Ort vorantreiben. Gewissermaßen an der Heimatfront.« Stainer liebte es, militärische Begriffe zu benutzen. Dann schaute er auf seine Taschenuhr. So, wie Leon ihn kannte, hatte das Gespräch tatsächlich eine halbe Stunde gedauert. Keine Minute länger oder kürzer. Als er sich verabschiedete, wartete Barbara bereits mit dem Flugticket sowie sämtlichen Unterlagen, die er für die Reise benötigen würde. Hinzu kamen die von Stainer wie der heilige Gral gehütete Kladde und ein Zettel mit Harrys Adresse. Leon fühlte sich, als wäre gerade ein 20-Tonnen- Truck über ihn hinweggerollt.

Zweites Kapitel

“It ain’t no sin, it ain’t no sin.” Leon fuhr herum. Vor ihm saß ein ausgewachsener Ara, der sich zu einer gefiederten Kugel aufgeplustert hatte. Unter lautem Fauchen stieß er den Kopf nach vorn und funkelte seinen Betrachter aus bernsteinfarbenen Augen böse an.
Harry lachte. »Das ist Bobby. Er passt auf mich auf, bis hier mal wieder eine Frau einzieht. – Willst du Kaffee?« »Gerne, wenn es keine Probleme macht.« Harry winkte lässig ab, drehte seinen Rollstuhl auf der Stelle und bewegte ihn routiniert in Richtung Küche. »Machs dir bequem!«
Das war leichter gesagt als getan. Harrys auf den ersten Blick recht geräumiger Bungalow glich einem Requisitenfundus. Ein Labyrinth aus Regalen, Schränken und Ablagen voller Zeitungen, Schachteln, Flaschen und allerlei Krempel, jeweils exakt bis zu der Höhe gestapelt, die er problemlos im Sitzen erreichen konnte. Dazwischen hatte er schneisenartige Gänge angelegt, gerade mal so breit, dass er mit seinem Gefährt nicht hängen blieb. Leon kam sich vor wie Gulliver, der durch einen Irrgarten auf der Insel Liliput spaziert.
“It ain’t no sin”, plapperte der Papagei, den das Aufplustern allmählich anzustrengen schien. Aus der Kugel war ein deformierter Federball geworden, an dessen Spitze der Schnabel drohte. Bobbys Pupillen hatten inzwischen die Größe von Stecknadelköpfen angenommen. Vorsichtig bückte sich Leon zu ihm hinunter.»Wie alt ist er?«, fragte er, während Harry, erstaunlich geschickt mit der einen Hand ein volles Tablett jonglierend, mit der anderen den Rollstuhl antreibend, zurückkam. »Keine Ahnung. Mich wird er jedenfalls überleben. Solche Viecher sterben einfach nie. Ich glaube, nur Schildkröten werden noch älter.« Bobby schloss die Federn und zog den Hals ein, so als versuche er jetzt, eine Schildkröte zu imitieren. »Mir machen Papageien Angst. Ich habe immer das Gefühl, sie wissen mehr, als sie uns glauben lassen.« Bobby nickte.
»Kann sein«, antwortete Harry mit geheimnisvollem Unterton. »Deinen Finger solltest du ihm jedenfalls nicht überlassen.«
“It ain’t no sin”, kommentierte Bobby. »Was redet er da immer?«, wollte Leon wissen. Harry feixte. »Das ist eine verrückte Geschichte. ›It ain’t no sin‹ war ein Paramount-Film mit Mae West, Mitte der Dreißiger. Irgendwer kam auf die bescheuerte Idee, 150 Papageien den Titel beizubringen, damit sie später überall dafür werben konnten. Wochenlang haben sie den Viechern Schallplatten vorgespielt, bis alle ihn nachsprechen konnten. Kurz vor der Premiere wurde die Paramount aber durch die Katholische Liga für Sitte und Anstand dazu gezwungen, den Titel zu ändern. Ich glaube, der Film lief dann unter ›I’m no angel‹. Danach hatte keiner mehr Verwendung für die Vögel. Ich nahm Bobby mit. Was aus den anderen wurde, weiß ich nicht.«
»Du machst Witze.«
»Nein. Ich schwöre, es war so.«
Harry schaufelte Unmengen an Zucker in seinen Kaffee und warf Leon dabei einen amüsierten Blick zu. »Übrigens: Glückwunsch zur Tucker-Story! Es kann halt nie schaden, die richtigen Leute zu kennen. Was musstest du abdrücken?«
Leon versuchte, sich seine Überraschung nicht anmerken zu lassen. Wie konnte Harry bereits Bescheid wissen? Die Zeitung wurde doch gerade erst gedruckt. Sein Netzwerk schien noch immer intakt. Vor seinem Unfall musste er eine schillernde Figur gewesen sein. Die Liste der Klienten, die er als Bodyguard betreut hatte, las sich wie ein Who’s who der Filmbranche. Doch das war längst nicht alles, was Harry zur Legende machte. In den Dreißigerjahren, so erzählte man sich, hätte er nahezu jede Hollywood-Karriere ins Schlingern bringen können. Er wusste über alle Bescheid und bekam immer, was er wollte. Die meiste Zeit hing er damals mit Filmstars oder Drehbuchschreibern rum, saß mit ihnen bei Hühnerpastete oder Rindergulasch im Musso & Frank Grill am Hollywood Boulevard. Oder er ging ins Sasha’s Palate, wo man auf Diwans lag, um sich von Kellnerinnen in Togen Fasan oder Babyziegenbraten servieren zu lassen. Zu später Stunde begleitete er seine berühmten Kumpane dann in geheime Bars, private Klubs oder Hotelsuiten und widmete sich den Starlets, die seine Freunde übrig ließen. Was er nicht selbst mitbekam, erfuhr er von Maskenbildnerinnen, Hotelpagen, Telefonistinnen, Umzugsfirmen, Inkassoagenturen, Callgirls, Zimmermädchen und Barkeepern. Bei Harry schienen alle Informationen zusammenzulaufen. Schon bald kam jeder, der in Hollywood eine offene Rechnung begleichen wollte, zu ihm. Darunter Horden frustrierter Partygirls, die ihre Höschen in der Hoffnung auf eine Filmrolle etwas zu schnell ausgezogen hatten. Irgendwem musste Harry in dieser Zeit ein bisschen zu stark auf die Füße getreten sein. Jedenfalls versagten eines Tages die Bremsen seines Chevrolets. Zwei Wochen lag er in Gottes Wartesaal und hoffte vergeblich darauf, hereingerufen zu werden. Stattdessen schob man ihn im Rollstuhl zurück in die Vorhölle namens Hollywood, wo er bei seinen alten Freunden schneller in Vergessenheit geriet, als es dauerte, im Players Club einen Brandy zu bestellen. Sein Glück im Unglück war, dass er bereits damals auf der Gehaltsliste der Polizei von Los Angeles stand. Nach dem Unfall ließen sie ihn nicht fallen. Er rechnete ihnen das hoch an und zahlte es mit Loyalität zurück. Es war nicht viel, was sie für seine Informationen rüberwachsen ließen. Dafür musste er aber meist auch nur ein wenig herumtelefonieren oder in seinem Gedächtnis kramen. »Tja, schade um diesen Tucker«, griff Leon den Faden auf, ohne auf Harrys Frage einzugehen. »Er war nicht gerade das, was ich eine Edelfeder nennen würde. Aber er hatte diesen speziellen Instinkt. Er wusste immer genau, was bei den Lesern ankommt.« Harry wiegte den Kopf bedächtig hin und her, als müsse er erst überlegen, inwieweit er diese Meinung teilen konnte. Mit einer Handbewegung schob er das Thema beiseite.
»Stainer sagt, du bist wegen Bogie hier?«
»Genau.«
»Hat er was ausgefressen?«
»Nein«, antwortete Leon. »Er dreht gerade in Mexiko. Ich soll ihn am Set interviewen. Aber das ist nur ein Vorwand, um an einen anderen Typen ranzukommen.« Harry hob die Augenbrauen und machte eine anerkennende Geste. Offenbar gehörten solche Aufgaben selbst aus seiner Sicht nicht zum Standardprogramm. »Es heißt, er ist kein einfacher Typ und du könntest mir ein paar Tipps geben, wie man ihn am besten bei Laune hält.«
»Ganz einfach: Bier, Scotch und Drambuie«, lachte Harry.
»Jaja, ein paar Tipps geben. Dafür ist der alte Harry noch gut genug.« Seine Reaktion klang nicht beleidigt. Eher wie die eines Familienvaters, dessen Töchter um Taschengeld für neue Schuhe bitten.
»Er ist in Mexiko, sagst du?«
Leon nickte.
»Wer kam denn auf die Idee, in Mexiko zu drehen? Sind uns hier die Kakteen ausgegangen?« Leon zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. John Huston, schätze ich. Er führt jedenfalls Regie.« »O Mann, jetzt leiten schon die Irren die Anstalt.« »Du magst ihn nicht?« »Doch, doch, er ist genial. Ich finde nur, er ist ein wenig … nennen wir es sonderbar.« Leon hob erneut die Achseln. Film war nicht unbedingt sein Spezialgebiet.
Harry griff nach einem Flachmann, schüttete einen Schluck Whiskey in den Kaffee und schlürfte geräuschvoll, bevor er weitersprach.
»Bogie wird sich fragen, warum ihr ihn ausgerechnet in Mexiko interviewen wollt. Er sitzt doch jeden Abend im Romanoff’s.«
»Es ist das erste Mal, dass er im Ausland arbeitet. Deshalb soll alles nach einer Reportage über die Dreharbeiten aussehen«, erklärte Leon. »Tja. Was soll ich sagen?«, kam Harry endlich zur Sache.
»Ich kenne Bogie schon seit 1930. Wir sollten damals am Bahnhof in Pasadena die Garbo und Jack Gilbert abholen. Es war unglaublich heiß an diesem Tag. Endlich kam der Zug an, doch von den beiden keine Spur. Stattdessen stieg dieser Typ aus. Nicht sonderlich kräftig, dafür aber mit einer großen Klappe ausgestattet, mit der er fürs Erste die ganze Pressemeute versorgte. Bogie war einer der wenigen, die schon damals begriffen hatten, dass die Stars die Journaille genauso brauchten wie die Journaille die Stars.«
Leon lehnte sich zurück und machte sich auf einen längeren Monolog gefasst. Es sollte ihm recht sein. »Später bin ich oft mit Bogie um die Häuser gezogen. Meistens war Spencer Tracy dabei, manchmal auch Peter Lorre oder David Niven. Es gab eine Menge Spaß und immer irgendwelchen Ärger. Wochenlang durfte ich meine Getränke auf Bogies Namen anschreiben, damit ich dichthielt. Oft ging er morgens direkt von der Kneipe ins Studio. Bei seiner Visage ist das sowieso egal.« Harrys Blick blieb an ein paar vergilbten Fotos und Zeitungsartikeln hängen, die an der Wand befestigt waren. Seine Gedanken waren auf die Reise gegangen. »Eigentlich ist Bogie ein netter Kerl. Das heißt nicht, dass er nicht ständig sticheln oder jedermann beleidigen würde, wenn er sich langweilt und ein bisschen Action gebrauchen kann. Sein Problem ist halt, dass er nach ein paar Drinks selber glaubt, Humphrey Bogart zu sein. Aber wenn er jemanden mag, tut es ihm hinterher leid und er versucht, alles wieder in Ordnung zu bringen.« Harry rollte zu Bobby hinüber und fütterte ihn mit einem Maiskolben. Als er ihn am Ohr kraulte, gähnte der Vogel. Dann versteckte er den Schnabel in seinem Rückengefieder und schloss die Augen.
»Früher mochte ich keine Tiere«, gab Harry zu. »Meine Exfrau hatte mal so einen hässlichen Yorkshireterrier, der ständig Preise gewann. Es gab bald kein anderes Thema mehr. Nur diese beschissenen Wettbewerbe. Dann hab ich heimlich angefangen, ihn zu füttern. Erst hat sie sich gewundert, warum mich der Köter plötzlich leiden konnte. Später, warum er auf einmal so fett war. Als sie dahinterkam, reichte sie die Scheidung ein. Wegen seelischer Grausamkeit.«
Leon feixte.
»Kennst du die Babynahrung von Mellin’s?“, fragte Harry.
»Kann sein«, antwortete Leon, ohne sich tatsächlich daran erinnern zu können. »Bogie ist das Baby in der Werbung.« Leon verstand nicht ganz. »Seine Mutter war Grafikerin. Als sie damals den Mellin’s-Auftrag bekam, ist ihr nichts Besseres eingefallen, als ihr eigenes Baby zu malen. Bogie war also schon auf Millionen Verpackungen, bevor ihn irgendjemand auf der Leinwand sehen konnte.« »Hat es sie reich gemacht?«, wollte Leon wissen. »Geschadet hat es ihr auf keinen Fall«, antwortete Harry.
»Aber Geld war bei den Bogarts nie das Problem.«
»Lebt sie noch?«
»Nein, sie starb vor acht Jahren. Getrauert hat er damals nicht, soweit ich mich erinnern kann. Wahrscheinlich war er eher froh, dass die alte Hexe endlich in der Hölle schmort, für all das, was sie ihm angetan hat.«
Harry blickte kurz zu Leon, als müsse er sich vergewissern, ob der mehr darüber erfahren wolle, und fuhr fort.
»Bogie hat Peter Lorre mal erzählt, dass seine Mutter ihn früher oft schlug und einsperrte. Als sein Vater für ein paar Jahre als Schiffsarzt zur See fuhr, musste er sogar zu ihr ins Bett steigen. Er war damals höchstens 16 oder 17.« »Du nimmst mich auf den Arm.«
»Nein, es ist wahr. Nur als Einstieg für dein Interview eignet sich das wahrscheinlich nicht«, stellte Harry fest. »Bogie hat es anfangs nicht leicht gehabt. Anfang der 30er bekam er in Hollywood kaum Rollen. Um über die Runden zu kommen, spielte er in Blue Movies, wenn du weißt, was ich meine. Später hat es ihn einen Haufen Geld gekostet, die Filme zurückzukaufen.«
Leon verkniff sich die Frage, die ihm augenblicklich in den Sinn gekommen war. »Vielleicht sollte ich mal ein Buch schreiben, in dem diese ganzen Geschichten drin sind. Aber dann kommt von euch Burschen ja überhaupt keiner mehr vorbei.« Leon lehnte dankend ab. Was Lesestoff anging, war sein Bedarf mehr als gedeckt. Er stellte seine Tasse ab und schaute zur Wanduhr. Harry übersah es geflissentlich. »Hab ich dir mal von Errol Flynns Partys in seinem Haus am Mulholland Drive erzählt? Die reinsten Orgien! Ich habe Bogie ein paar Mal hingefahren. Es kursierten unglaubliche Gerüchte darüber. Ein dicker, ziemlich einflussreicher Diplomat aus Europa hatte davon gehört und wollte unbedingt dabei sein. Er ging Flynn damit mächtig auf die Eier, also lud der ihn eines Abends ein.« Harry beförderte den nächsten Whiskey in seine Tasse. »Als der Tag gekommen war, fuhr der Dicke in einer riesigen Limousine vor. Im Foyer wartete eine tolle Blondine auf ihn. Nichts an, außer High Heels und einer knappen Schürze. Sie bat ihn, ihr ins Entkleidungszimmer zu folgen. Von dort sollte er dann einfach durch die Tür gehen, wo die anderen Gäste schon auf ihn warten würden. Das stimmte auch. Doch als er splitternackt eintrat, saßen alle korrekt gekleidet beim Essen. Der Dicke ergriff die Flucht und die Runde lachte sich halb tot.« Leon lachte. Er kannte die Geschichte bereits, aber ihm würde nichts anderes übrig bleiben, als Harry bei Laune zu halten, bis er Verwertbares lieferte. Ihm fiel ein Satz seines Vaters ein, der davon überzeugt war, dass man einem Menschen hier in „Tinseltown“ kaum eine größere Freude bereiten konnte, als ihm zuzuhören. »Danach ging die Party natürlich erst los. Der Typ hätte wirklich seinen Spaß gehabt. Wusstest du, dass Flynn mit seinem Schwanz Klavier spielen kann? Und wohl gar nicht mal so schlecht. Er trifft zumindest die Töne.« Leon verzog das Gesicht.
»Sprich ihn doch einfach auf sein Boot an«, platzte Harry plötzlich heraus, als hätte er die ganzen anderen Anekdoten nur gebraucht, um sich warmzulaufen. »Es gibt kaum etwas, über das er lieber redet.« »Er hat ein Boot?«, fragte Leon überrascht. »Ja, die Santana. Sie liegt in San Pedro. Bogie hat sie von Dick Powell gekauft. Eine 55-Fuß-Jolle für 55.000 Dollar. Jeder Fuß tausend Dollar. Glaub mir, sie ist es wert. Er verbringt darauf so viel Zeit, wie es nur geht. Immer wenn er dem ganzen Trubel entkommen will.« Segeln war für Leon ein dankbares Thema. Als Jugendlicher hatte er an ein paar Regatten teilgenommen und steckte tief genug in der Materie, um ein wenig darüber fachsimpeln zu können. Für heute, entschied er erleichtert, hatte er genug Informationen gesammelt, um den Bogart-Insider spielen zu können. Harry schien inzwischen selbst Bobby müde gequatscht zu haben. Der Papagei schlummerte friedlich auf seiner Stange. Was Harry allerdings nicht davon abhielt, das nächste Thema anzuschneiden.
»Sag mal, stimmt es, dass du einem dieser Taco-Boxer den Kiefer gebrochen hast?«, fragte Harry. »Nicht den Kiefer. Nur die Nase. Jesús Bautista, ein Weltergewichtler aus Cantamar. Kampfname ›No Mercy‹ aber wenn du mich fragst, sollte er besser ›No Balls‹ heißen. Im Ring schien es immer, als würde er ständig rückwärtslaufen. Seine Tänzelschritte sahen so aus, als hätte er sich in die Hosen gemacht. Ich hab damals noch für die Sportredaktion geschrieben und ihn durch den Kakao gezogen.«
Harry schlug sich auf die Schenkel. »Jesús ›No Balls‹ Bautista, das ist gut, Mann!« Leon grinste. »Jedenfalls können es Mexikaner nicht ausstehen, wenn man sich über sie lustig macht. Also hat er mich eine Woche später gemeinsam mit seinen Jungs am Ausgang in Empfang genommen. Bautista wollte wissen, was mir dreckigem Juden einfallen würde. Doch bevor er mich vermöbeln konnte, schlug ich ihm einfach ins Gesicht. Da wäre er vermutlich nie im Traum draufgekommen.«
Harry hörte amüsiert zu. Storys wie diese waren ganz nach seinem Geschmack. Leon fuhr fort. »Ich hab ihn ganz gut erwischt. Er schaute ungläubig auf das Blut, das durch seine Finger rann, und lief davon. Mir schlotterten zwar die Knie und er hätte mich sicher mit ein bis zwei Schlägen zu Boden gebracht, aber er ließ von mir ab und verschwand.«
»Lief er rückwärts?«, prustete Harry los. »Nein«, lachte Leon. »Diesmal nicht.« »Und seine Männer?«
»Die waren anscheinend der Meinung, es sei eine Sache zwischen ihm und mir. Später wollte keiner mehr mit ihm in Verbindung gebracht werden. Sie hatten wohl Angst, die Schande würde auf sie abfärben.« Harry wurde ernst. »Du solltest dich dennoch in Acht nehmen. Mexikaner haben ein Gedächtnis wie Elefanten.« Leon winkte ab, was so viel wie »ich kenne die Burschen« bedeutete.
»Vielleicht solltest du selber in den Ring steigen, statt nur darüber zu schreiben«, schlug Harry euphorisch vor. »Vergiss es«, antwortete Leon kopfschüttelnd. »Ich bin damals mal mit Orlando Spinoza über drei Runden Sparring gegangen. Danach konnte ich mich eine Woche lang nicht mehr bewegen.«

Wenig später lenkte Harry seinen Rollstuhl zum Ausgang und schüttelte Leons Hand. »Hat mich gefreut, wenn ich dir helfen konnte. Hast du nicht vielleicht noch eine sichere Wette für mich?« Leon dachte nach. »Na ja, ich bin nicht mehr ganz so nah dran wie früher. Aber Conley gegen Hernandez, der dritte Kampf am Freitagabend im Hollywood Legion Stadium – das könnte was werden. Conley ist 7:1 Favorit. Doch er lag die letzte Woche mit einer Grippe im Bett. Außerdem hasst er Rechtsausleger. Die Jungs aus El Monte halten Hernandez für den kommenden Mann. Ich schätze, du kannst ein paar Scheinchen riskieren.« »Gut, ich denk drüber nach«, bedankte sich Harry. Leon lachte. »Wenn du darüber nachdenken musst, solltest du besser nicht wetten.«

Er musste die Augen zusammenkneifen, als er aus dem Bungalow ins Freie trat. Der Vorrat an Sonne war in Kalifornien das ganze Jahr über endlos. Sein Autoradio meldete, dass für Santa Monica 92 Grad Fahrenheit gemessen wurden. Dabei war es gerade mal Anfang Mai. Leon rechnete. 92 minus 32 durch Einskommaacht gleich 33. Obwohl er inzwischen schon seit dreizehn Jahren in der Stadt der Engel lebte, hatte er sich noch immer nicht an die hiesigen Temperaturangaben gewöhnt.

Drittes Kapitel

Wie die meisten Amerikaner hielt Leon Mexiko für eine Art Niemandsland, das abwechselnd von Revolutionen, Vulkanen, Banditen und ausgedehnten Siestas ruiniert wurde. In seiner Vorstellung trugen die Männer lustige runde Hüte, bunte Umhänge und lange Schnurrbärte. Sie verschlangen Unmengen an Tortillas mit Bohnen und tranken Tequila. Wenn sie nicht gerade auf einem Pferd saßen, schliefen sie – sogar tagsüber und, wenn es sein musste, an eine Wand gelehnt. Oder sie zogen in kitschigen Mariachi-Uniformen durch die Straßen und peinigten jeden, der nicht schnell genug davonkam, mit ihrer Musik. Während der Kriegsjahre hatte Kalifornien viele Mexikaner ins Land geholt, damit die Arbeit auf den Farmen und beim Bau der Eisenbahntrassen weitergehen konnte. Die Braceros arbeiteten nicht schlechter als die Einheimischen, gaben sich aber mit viel weniger Lohn zufrieden. Alles sprach dagegen, sie nach Kriegsende schnell wieder nach Hause zu schicken. Damit begannen die Probleme. So stellte es zumindest die kalifornische Presse dar, laut der die Gastarbeiter jede dritte Straftat zwischen San Bernadino und Malibu verübten.

Stainer hatte Leon einen Pan-Am-Flug spendiert. Es ging von Burbank über Dallas nach Mexiko-Stadt. Dort musste er in einen klapprigen Bus steigen. Die löchrigen Straßen führten vorbei an endlosen Agavenfeldern und langen Reihen von Kakteen, die wie Orgelpfeifen Spalier standen. Mit zunehmender Fahrzeit begann sich die Straße immer stärker zu winden. Leon kam es vor, als säße er in einer Achterbahn. Die steilen Auf- und Abfahrten drückten auf seine Ohren. Das Geräusch des Motors nahm er nur noch wie aus weiter Ferne wahr. Ein paar Fahrgäste übergaben sich in mitgebrachte Tüten. Der Busfahrer nahm davon keine Notiz. Seine Mimik glich der eines Reptils, das aus einer Starre erwacht war und noch nicht sicher sein konnte, ob bereits alle Körperfunktionen Dienst taten. Beim Verlassen der Busstation hatte er sich mit einem Stoßgebet für die Fahrt gerüstet und damit jedwede Verantwortung an eine höhere Instanz weitergereicht. Die Pedale betätigte er ausschließlich mit voller Kraft, ganz gleich ob er Gas gab oder abbremste. Nach jeder Kurve brummte er ein phlegmatisches »Bueno« vor sich hin. Selbst als sich ein schwer bepackter Esel mit einem panischen Sprung vor dem herannahenden Gefährt rettete, dabei den Halt verlor und einen Abhang hinunter in den sicheren Tod stürzte, nötigte ihm das keine Reaktion ab. Was hatte der Esel auch da zu suchen? Leon vermied es von nun an, aus dem Fenster zu sehen.

Gegen Nachmittag erreichte der Bus Zitácuaro. In Leons Kopf hatten Dutzende kleine Bergarbeiter damit begonnen, gegen die Schädelwand zu hämmern, um die Besteigung der 2.000 Höhenmeter zu feiern. Die Luft war heiß, feucht und schwer, als hätte ihr jemand Gewichte aufgelegt. Leon war kaum ausgestiegen, als ihn ein kleiner Junge am Ärmel zog. Mit einer lässigen Bewegung holte er eine Kiste hinter dem Rücken hervor, sank auf die Knie und begann schneller, als Leon «Gracias» sagen konnte, damit, dessen Schuhe zu polieren. Stoisch ließ er die Bürstenattacke über sich ergehen.
«Busco un hotel?», fragte er, ohne davon auszugehen, dass der Junge jemals in seinem Leben eines von innen gesehen hatte. Der Kleine starrte Leon erschrocken an. Seine Augen standen so weit auseinander, dass es schwer fiel, gleichzeitig in beide zu blicken. Vermutlich war er noch nie zuvor von einem Gringo auf Spanisch angesprochen worden. Wortlos deutete er nach Norden, packte eilig seine Sachen zusammen und streckte Leon seine vom Schmutz verklebte Handfläche entgegen. Ohne lange darüber nachzudenken, welche Bezahlung für diese Art von ungefragten Dienstleistungen angemessen sei, warf er dem Jungen ein paar Münzen zu. Dann schnellten seine Finger gewohnheitsmäßig nach vorn, um kurz, wie man das bei Kindern tut, über den lockigen, schwarzen Haarschopf zu strubbeln. Doch im letzten Moment war der Junge darunter hinweggetaucht. Für einen Augenblick schaute ihm Leon verwundert nach. Nicht er, sondern der Kleine war der Berührung ausgewichen.

Eher seinem Bauchgefühl als dem Hinweis des Schuhputzers folgend, schleppte Leon den Koffer in Richtung der nächsten Straßenecke, an der ein paar Händler ihre Stände und Karren aufgebaut hatten. Er war das perfekte Opfer für ihre berüchtigten Tiraden. In hanebüchenem Kauderwelsch versuchten sie, ihn von den Vorzügen ihrer Waren zu überzeugen. Leon beschleunigte seinen Schritt und geriet dabei immer tiefer in das bunte Markttreiben hinein. Aus den Augenwinkeln warf er einen Blick auf die Auslagen: Stoffe, Schmuck, Flachs, Kräuter, Schlangenhäute, Ziegen, Kaffeemühlen, Sättel, Tabak, Uhren, Grammofone, Kerzen, Heiligenbilder, Hausaltäre, Nägel in allen erdenklichen Größen und alles, was man aus Eisen fertigen konnte. Jeder Stand erzählte seine eigene Geschichte. Ein paar Vogelhändler hatten riesige Käfige aufgestellt, in denen schlecht gelaunte Kakadus zeterten. Nebenan brodelte ein riesiger Topf Hühnerbrühe. Vermutlich gingen die Vögel fest davon aus, exakt darin zu landen, wenn sich kein Käufer fand. Ein Truthahn segelte direkt vor Leons Füße und blähte den Hals auf. In respektvollem Abstand stolzierte er an den Vogelkäfigen vorbei, als wolle er daran erinnern, wer hier der Einheimische war. In spanischsprachigen Ländern nannte man ihn »guajolote«, was so viel wie »Gespenst« bedeutete. Leon kannte tatsächlich kein hässlicheres Tier. Zu seinen Füßen bemerkte er eine alte Frau, die hinter einer Decke voller Gemüse saß. Ihre Hände erinnerten an Wurzeln. Sie mochte schon 80 Jahre alt sein, aber dennoch kam sie hierher. Der Markt gab ihr das Gefühl, noch immer dazuzugehören. Hätte Leon ihr angeboten, die ganze Ware mit einem Schlag zu kaufen, hätte sie abgelehnt. Die Freude an dem Treiben um sie herum und die Unterhaltung mit den anderen Frauen würde sie sich von keinem noch so lukrativen Geschäft kaputt machen lassen.
Leons Blick blieb an einem klapprigen Holztisch hängen. Zwei junge Indiofrauen mit bunten Umhängetüchern hatten die unterschiedlichsten Früchte zu kleinen Kunstwerken angeordnet: Pyramiden aus Limonen und Mangos, Türmchen aus Zuckerrohr, verzierte Melonen, Kokosnüsse, Kaktusfrüchte und etliche Sorten, deren Namen Leon nicht kannte. Auf dem Boden klatschte eine Frau mit ihren Händen Maisbrei zu Fladen. Ihre schwarzen Zöpfe tanzten im Takt. Wenige Schritte weiter stritt eine wohlbeleibte Señora mit einem Töpfer darüber, dass sein Geschirr nicht mehr denselben Blauton hatte wie bei ihrem letzten Einkauf. Wie sollte sie nun zerbrochene Teller ersetzen, wenn bald jeder seine eigene Tönung besaß? Leon hatte noch nie darüber nachgedacht, dass es mehr Blau geben könnte als ein dunkles und ein helles. Doch in diesem Festival der Farben schienen Begriffe wie Azur, Indigo oder Ultramarin plötzlich ihre Berechtigung zu erhalten.

Hinter den letzten Marktständen konnte Leon die Reklame eines Hotels erkennen. Neben dem Eingang, vor dem, reglos wie ein Kadaver, ein Hund schlummerte, warb eine Kreidetafel für frisch gefangene Forellen, die man hier auf unterschiedlichste Weise zuzubereiten verstand. Er betrat die Lobby. Die Rezeption war nicht besetzt. Leon betätigte die Klingel auf dem Tresen. Ihr Geräusch war kaum laut genug, um einen Hotelangestellten aus seinem Nachmittagsschläfchen wecken zu können.
»Du musst gegen die Scheibe klopfen.« Leon fuhr herum. Er hätte wetten können, dass sich außer ihm niemand im Raum befand, doch die raue Stimme in seinem Rücken war ganz deutlich zu vernehmen gewesen. Seine Augen tasteten den hinteren Bereich der Lobby ab. Sie lag komplett im Dunkeln.
»An die Scheibe«, ermahnte die Stimme. Leon befolgte den Ratschlag und widmete seine Aufmerksamkeit danach sofort wieder dem unheimlichen Berater. Endlich konnte er die Silhouette eines Mannes erkennen, der, mit weit von sich gestreckten Füßen, in einem Korbstuhl lümmelte. In diesem Moment öffnete sich die Tür hinter der Rezeption. Ein Männchen mit asiatischen Zügen huschte hindurch, baute sich hinter dem Tresen auf und grinste Leon an. Auf dessen Erkundigung hin, ob denn ein Zimmer frei sei, veränderte sich der Blick des Angestellten, als hätte er mit jeder, aber nicht mit dieser Frage gerechnet.
«Horita», entschuldigte sich der Asiate und verschwand auf demselben Weg auf dem er gekommen war. »Das heißt etwa so viel wie ›Augenblick bitte‹. Manchmal dauert der Augenblick aber auch ein Stündchen«, übersetzte der Unbekannte. Leon fuhr abermals herum. Sein fremder Patron war neben ihm so schnell wie ein Schatten am Nachmittag aufgetaucht. Ein Yankee mit buschigen Augenbrauen und Bartstoppeln, die an die Stacheln eines Kaktus erinnerten. Sein Atem roch nach Zwiebeln und Alkohol. »Sie sind wegen des Films hier.« Auch wenn die Betonung am Ende des Satzes wie bei einer Frage nach oben gegangen war, hatte Leon nicht den Eindruck, dass der Fremde daran zweifelte. »In der Regenzeit verirrt sich selten ein Fremder hierher. Doch seit John Huston oben in den Bergen dreht, ist das alles ein bisschen anders. Sind Sie Schauspieler oder so was Ähnliches?«
»Nein, ich bin Reporter.«
Der Amerikaner ließ Leon im Unklaren darüber, was er von dieser Profession hielt. Unterdessen betrat ein weiterer Gast die Lobby. Er trug eine Ledertasche, wie Leon sie manchmal bei seinem Vater gesehen hatte. Diesmal geriet die Tür hinter der Rezeption sofort in Bewegung. Ein schnauzbärtiger Dickwanst mit Augen wie Pingpongbällen stürmte dem Gast entgegen. Er legte ein Tempo vor, das bei seiner Leibesfülle nicht zu erwarten gewesen war. Mit ausgebreiteten Armen lief er dem Gast entgegen, schenkte ihm das strahlendste Lächeln, das Leon je unter einem Schnurrbart gesehen hatte, und zog ihn an seine Brust. Es folgte ein Schwall freundlicher Bemerkungen, in dem im Fünfsekundentakt die Wörter «mi amigo» vorkamen. Dann löste er die Umarmung, um wie wild die rechte Hand des anderen zu schütteln und zeitgleich mit der linken auf dessen Oberarm zu schlagen, als gelte es, den Staub aus seiner Kleidung zu klopfen. Sein Gegenüber schien mit dieser Zeremonie bestens vertraut und tat es ihm gleich. Wie auf Kommando wechselten sie plötzlich den Griff, umfassten gegenseitig die Daumen und schüttelten weiter, um sich kurz darauf erneut zu umarmen. Die Prozedur dauerte bereits eine knappe Minute.
»Sie nennen das abrazo«, erklärte Leons neuer Bekannter. »Wenn sich in Mexiko zwei Männer treffen, demonstrieren sie den anderen gern, was für gute Freunde sie sind. Soll heißen: Seht mal her, gegen uns kommt ihr nicht an. So etwas gibts auch bei Tieren. Schimpansen zum Beispiel ziehen sich gegenseitig an den Hoden.
Leon amüsierte der Vergleich. Inzwischen war er ganz froh, hier einen Landsmann getroffen zu haben. »Sie kennen sich gut aus«, stellte er fest. »Sind Sie schon lange hier?« Der Kaktusbart nickte. »Jedenfalls lange genug, um rauszufinden, dass unsere Nachbarn ein ziemlich sonderbares Völkchen sind.« Dabei zeigte er auf den weit geöffneten Eingang, vor dem es zu regnen begonnen hatte. »Sie lassen zum Beispiel bei Gewitter die Tür offen stehen, damit Jesus eintreten kann.« Sein amüsiertes Lachen ließ auf keine ausgeprägte Religiosität schließen. »Mexikaner sind gläubig. Amerikaner leichtgläubig«, versuchte Leon, einen Witz zu machen. »Mexikaner sind auch Amerikaner«, erwiderte der Fremde. »Sogar Nordamerikaner. Nehmen Sie ihnen das nicht auch noch weg.« «México es otro mundo», versuchte Leon seine Bemerkung zu relativieren. »Mexiko ist eine andere Welt.«
»Oh – Sie sprechen Spanisch!«
»Ein wenig. Ich habe eine Weile in Argentinien gelebt.« Für den Moment waren das genug private Informationen, dachte er sich. Wenn er seinen neuen Bekannten besser kennengelernt hatte, würde er ihm vielleicht noch erzählen, dass seine Eltern mit ihm von Berlin nach Buenos Aires und später nach Los Angeles gezogen waren, da Hitlers Machtergreifung eine Rückkehr nach Deutschland unmöglich gemacht hatte. Leons Vater galt bereits damals als internationale Koryphäe. Also nahm er ein Angebot aus Kalifornien an. Leon war 17 Jahre alt und verliebte sich auf der Stelle in die entspannte, lässige Lebensart seiner neuen Heimat. Vaters stolzes Salär als Chefarzt und das Erbteil aus Großvaters Firma, das man mit viel Glück nach Argentinien und später nach Amerika hatte hinüberretten können, ermöglichten der Familie ein wohlhabendes Leben.
Leons Eltern träumten davon, dass er an der »U.C.L.A.« Medizin studieren würde. Doch er hatte andere Interessen. Die meiste Zeit verbrachte er am Strand, trieb Sport oder saß in den Cafés, Diners oder Eisbuden am Sunset Boulevard. Erst als sein Vater damit drohte, seinen monatlichen Scheck zu sperren, meldete er sich am Journalisten-College an. Schon bald schrieb er Artikel für Zeitungen, meist für die Sportseite, manchmal auch über Partys und über das Leben der Reichen. Polizeireporter war er erst vor einem reichlichen Jahr geworden. Er streckte dem Amerikaner seine Hand entgegen, ohne einen ›abrazo‹ befürchten zu müssen. »Leon Borenstein. Und wie …?«
»Hier fragt man nicht nach dem Namen«, fiel ihm sein Gegenüber ins Wort. »Das gehört sich nicht. Nennen sie mich Frank.« »Okay, Frank.«
»Lust auf ein Spielchen?« Frank deutete auf den Pooltisch im Fond des Raumes. Ein Prachtexemplar aus edlem Mahagoniholz mit kunstvoll geschnitzten Beinen, das in den Antiquitätenläden von Los Angeles ein Vermögen gebracht hätte. Hier stand er vergessen herum und wartete auf bessere Zeiten.
Leon zögerte nicht lange. Der Hotelier hatte ihm mit einem emotionslosen «Momento» signalisiert, dass es noch etwas dauern würde, bis er hier zu einem Zimmer käme. Später würde er es noch zu einem «Momentito» verniedlichen. Billard war eine gute Gelegenheit, um die Zeit totzuschlagen. Vielleicht konnte er seinem auskunftsfreudigen Mitspieler nebenbei noch die eine oder andere Information entlocken. Er klärte Frank darüber auf, dass er ein lausiger Spieler sei, griff sich Queue und Kreide und brachte sich für den ersten Stoß in Position. Frank gab zu, dass er Fremde gern um ein paar Dollar abzockte. Er ließ sie die erste Runde gewinnen und holte sich später den Einsatz doppelt und dreifach zurück. Mit Leon wolle er gar nicht erst um Geld spielen, weil er denke, dass er ein guter Kerl sei. Während der noch darüber nachdachte, welchem Umstand er dieses Urteil zu verdanken habe, versenkte Frank bereits die ersten drei Kugeln. »Schauen Sie sich das gut an, hombre, hier können Sie was lernen«, lobte er sich.

»Davon bin ich überzeugt«, antwortete Leon. Frank erwies sich als wahre Billardmaschine. Er umkreiste den Tisch in atemberaubender Geschwindigkeit und schickte die Bälle mit Nachdruck in die Taschen, fast so, als gelte es, einen Rekord zu brechen. Sein Blick erfasste alle Kugeln gleichzeitig. Selten benötigt er länger als eine Sekunde, um eine Entscheidung zu fällen. Wenn er den richtigen Platz gefunden hatte, ging er leicht in die Knie, bis er mit seinem Ziel auf Augenhöhe war, und schritt ohne langes Zögern zur Exekution. Meist feierte er seine Stöße mit einem schrillen Juchzen oder fischte nach Komplimenten. Nebenbei philosophierte er über Mexiko und prophezeite Leon, dass er hier, wie er sagte, die reizendsten Herrlichkeiten und die größten Dummheiten auf einem Haufen finden könne. »Das Schönste und das Hässlichste, das Tollste und das Erbärmlichste – hier sehen Sie alles. Sie müssen nicht mal lange suchen. Mexiko schmeißt es Ihnen einfach vor die Füße.« Leon dachte gerade über einen besonders schwierigen Ball nach, den er scharf über die rechte Bande spielen musste, als Frank auf den Film zu sprechen kam. »Ich muss schon sagen, ich bin ziemlich gespannt darauf, was Huston da oben so anstellt. Haben Sie das Buch gelesen?« »Sie meinen ›Der Schatz der Sierra Madre‹?« »Klar. Ich denke, deswegen sind Sie doch hier.« »Um ehrlich zu sein … bisher noch nicht. Mir geht es eigentlich nur um Humphrey Bogart«, behauptete Leon, ganz wie Stainer es von ihm verlangte. »Es ist das erste Mal, dass er im Ausland dreht. Darüber will ich schreiben.« Frank zog die Brauen hoch und nickte dann auf unergründliche Weise. Dann legte er den Queue zur Seite und angelte nach einer bauchigen Flasche, dessen Korken er unter einiger Kraftanstrengung entfernte. Zugleich zauberte er aus einer schweren Holztruhe zwei Gläser hervor, die er bis zum Rand füllte. Nachdem er Leon eines davon gereicht hatte, präsentierte er seine Kurzversion der Geschichte. »Drei Taugenichtse kratzen ihre letzten Kröten zusammen, ziehen hoch in die Sierra und finden tatsächlich Gold. Sie bauen ein kleines Bergwerk auf und schuften rund um die Uhr. Immer das große Geld vor Augen. Nichts scheint sie aufzuhalten. Sie überstehen sogar einen Banditenangriff.«
Leon nippte an seinem Getränk, das sich als starker, würziger Cognac entpuppte. Frank hatte unterdessen bereits wieder ein paar Kugeln vom Tisch befördert, dann erzählte er weiter. »Letztlich scheitern die drei, weil sie zu gierig werden und keiner dem anderen vertraut. Am Ende wird der Goldstaub vom Wind zurück in Richtung Sierra geweht. So als würde sich die Natur zurückholen, was ihr gehört. Tolle Geschichte, wie gesagt. Dieser Huston hat einen guten Riecher.«
Franks Detailkenntnis überraschte Leon. »Haben Sie auch etwas über diesen merkwürdigen Typen gehört, der das Buch geschrieben hat? Er heißt Traven oder so ähnlich.«
Für den Bruchteil einer Sekunde schien es, als sei Frank bei der Erwähnung des Autorennamens zusammengezuckt.
»Was soll mit ihm sein?«, antwortete er betont beiläufig. »Niemand weiß genau, wer dahintersteckt«, versuchte Leon das Thema am Leben zu halten. »Es heißt, der Name sei nur ein Pseudonym.« »Man hört ganz unterschiedliche Dinge«, sagte Frank, während er sorgfältig die Spitze seines Spielgeräts mit Kreide versah. »Er soll ein österreichischer Erzherzog sein, der in Europa Dreck am Stecken hat und sich deshalb seit Jahren in Mexiko versteckt hält.« Leon erweiterte in Gedanken die Liste der möglichen Identitäten Travens um eine weitere Position. »Aber wissen Sie was: Es ist mir gleich, wer er ist. Mir reicht das, was er schreibt.« Der Regen hatte inzwischen aufgehört. Frank beendete das Spiel und verabschiedete sich plötzlich mit dem Hinweis, er habe noch wichtige geschäftliche Dinge zu erledigen.

Unterdessen brachte der asiatische Zwerg Leons Zimmerschlüssel und hielt wie selbstverständlich die Hand für ein Trinkgeld auf. Ohne eine kleine «mordida» ging in Mexiko keine Dienstleistung vonstatten, darauf hatte ihn Frank bereits vorbereitet. Leon zahlte und trug sein Gepäck nach oben. Bei seiner Unterkunft handelte es sich um eine kleine Stube mit einem Bett, dessen Matratze nicht viel dicker war als die Baumwolldecke, die sie bedeckte. Dennoch ließ er sich erleichtert fallen und schlief schnell ein.
Gegen Mitternacht wachte er wieder auf. Auf dem Flur war Musik zu hören, so als hätte sich dort ein ganzes Mariachi-Orchester versammelt. Der Nachtportier 32 schnarchte, während sein Radio in voller Lautstärke dröhnte. Draußen flackerte die defekte Neonreklame. Leon verzichtete auf den Versuch, bei diesem Lärm wieder einzuschlafen. Er kramte in seiner Reisetasche, bis er das Buch fand, das Stainer ihm mitgegeben hatte. »Der Schatz der Sierra Madre«, sprach er laut zu sich selbst und begann zu lesen:

Die Bank, auf der Dobbs saß, war keineswegs gut. Die eine Latte war herausgebrochen, und eine zweite Latte bog sich nach unten durch, darum konnte man recht gut das Sitzen auf dieser Bank als Strafe empfinden. Ob er diese Strafe verdient habe oder ob sie ungerecht über ihn verhängt worden sei, wie die Mehrzahl der Strafen, die verhängt werden, darüber dachte Dobbs in diesem Augenblick gerade nicht nach. Die Gedanken, die Dobbs beschäftigten, waren dieselben, die so viele Menschen beschäftigten. Es war die Frage: Wie komme ich zu Geld?

Leseprobe: Kai Wieland – „Ameehrikah”

Memory can change the shape of a room, it can change the color of a car. And memories can be distorted. They´re just an interpretation, they´re not a record, and they´re irrelevant if you have the facts. – Leonard Shelby, Memento

Tief im Schwäbischen Wald, fernab der Zivilisation selbst solch bescheidener Metropolen wie Backnang und Murrhardt, liegt ein kleines Dorf, in dem kaum noch einer wohnt. Dabei ist es ein Dorf mit einer einstmals passablen Infrastruktur. Auch heute noch gibt es eine Bushaltestelle, eine Schule und sogar ein Freibad, allerdings erfüllen sie alle nicht mehr ihren ursprünglichen Zweck, wie so vieles an diesem Ort. Das alte Schulgebäude zum Beispiel hat schon lange keine Schüler mehr gesehen, es wird lediglich dann und wann für eine der seltenen Begräbnisfeiern genutzt. Selten nicht deshalb, weil hier alle so lange leben, sondern ganz einfach deshalb, weil fast alle schon tot sind. Wahrscheinlich handelt es sich um den Ort mit den meisten Suizidfällen pro eintausend Einwohner Deutschlands, wenngleich hier noch niemals eintausend Menschen zur selben Zeit gelebt haben. Deshalb, oder vielleicht auch, weil hinter dem einen oder anderen Suizid ein Fragezeichen steht, taucht das Dorf in keiner derartigen Statistik auf. Kritische Ausschläge werden eliminiert. Und die Kinder? Kinder werden geboren, aber sie verschwinden, und den Alten wird nicht gesagt, wohin.
An einem Tag, der so beginnt wie alle Tage, nämlich mit Nebel und dem Geschrei der Krähen, kommt ein junger Mensch, ein Chronist, in dieses Dorf und erzählt den Alten von dem Buch, das er schreiben möchte. Er muss an vielen Fensterläden rütteln, bis er einen findet, der nicht glaubt, er wolle nur etwas verkaufen.
Wer durch den Rillingsweg oder den Erlenweg geht, dem fallen zwei Dinge auf. Erstens: Es gibt im Dorf nur diese beiden Straßen. Zwei Straßen und zwanzig Häuser, einige davon leerstehend, machen Rillingsbach zu einem guten Ort für einen Briefträger. Und zu einem schwierigen Ort für den Chronisten. Zweitens: Eine der beiden Straßen ist auch noch eine Sackgasse. Und doch braucht es manchmal nicht mehr, um sich zu verlaufen.
Ansonsten sieht man vor allem rissiges Fachwerk, geschlossene Fensterläden, rostiges Ackergerät, hohes Gras, leere Kaugummiautomaten und, wie der Chronist die Liste mit doppelter Unterstreichung beschließt, jede Menge Tristesse. Die Tatsache, dass es in vergangenen Tagen, als die Menschen noch Urlaub in der Region machten, auch ein Hotel gab, macht den Chronisten neugierig. Was könnte in einer Broschüre für das Naherholungsgebiet Rillingsbach gestanden, womit könnte es geworben haben? Was auch immer es war, aus dem Dreisternehotel wurde bald ein Zweisternehotel, dann ein Restaurant, dann ein Vereinsheim für den örtlichen Kegelclub und schließlich, und so ist es bis heute, eine Kneipe.
Man kann nicht behaupten, dass sich Martha, die alte Boizerin, überarbeiten muss. Wer sich einmal in der Gegend befindet, obwohl sich natürlich die Frage stellt, was außer einem melancholischen Verlangen nach Einsamkeit einen Ortsfremden dorthin verschlagen könnte, der sollte ihr unbedingt einen Besuch abstatten, bevor es zu spät ist. Nicht mehr viele Orte überdauern lange genug, um sich Attribute wie „rustikaler Charme“ oder „uriges Ambiente“ zu verdienen – redlich zu verdienen – aber Marthas Kneipe, der Schippen, gehört dazu. Eine kleine, aber treue Stammkundschaft trägt daran einen maßgeblichen Anteil.
Der Chronist schätzt Menschen, die Schilder um den Hals tragen. Alfred aus dem Erdgeschoss, 83 Jahre alt und trotzdem nie gelernt, den Mund zu halten. Lektionen gab es genug. Hilde, die Wilde. Hilde, die Junge. Frieder, der dem Vater so gleicht. Jeder könnte hier etwas über den anderen sagen, und tut es auch, an diesem Ort, an dem jeder jeden kennt, niemand kommt und keiner jemals geht. Und dann fragt der Chronist, wie es früher war. Misstrauen, Unverständnis, Spott. Sie erzählen schon, aber dieses und jenes, hier etwas dazu, da etwas weg. Geliefert wie bestellt. Die Alten sind vorsichtig geworden.
Der Schippen wurde in den Zwanzigerjahren von Marthas Großvater auf drei Stockwerken errichtet und verfügte anfangs über einen Speisesaal, einen Schankraum und acht identisch ausgestattete Zimmer mit Toilettentisch und Aussicht auf das unstete Wetter. Im Erdgeschoss gab es einen Aufenthaltsraum mit einer kleinen Bücherei, gemütlichen Sitzmöbeln und einem Schallplattenspieler inklusive einer Auswahl an orchestraler Musik. In den Dreißigern feierte das Hotel seine Glanzzeit und erwarb sich in ganz Süddeutschland einen formidablen Ruf, ehe der Krieg den Höhenflug jäh beendete.
Etwas ist natürlich zu berücksichtigen, wenn sich der Chronist an dem hochgeschossenen, kunstvoll gestalteten Hotelgebäude verlustiert. Wenn er das kräftige Schwarz des Fachwerks hervorhebt oder die moderne Einrichtung, auch das junge, frische Publikum und überhaupt alles, was daran ist und vielleicht einmal daran war.
Wenn er die munter flirrenden Stimmen im Gastraum einfängt, sie sorgfältig protokolliert und ausbreitet, dann tut er es stets so, wie ein Blinder ein Bild malt. Jemand beschreibt es ihm, er hört bloße Begriffe, roh, unvollkommen und ohne Zusammenhang. Er sammelt sie zunächst auf seiner Palette, reichert sie dort an mit seinen Erfahrungen, bis sie den Farbton treffen, den seine Fantasie vorgibt, und dann malt er das Bild, so schön er es nur kann. Ein Bild, wohlgemerkt, keine Fotografie.
Heute, knapp sechs Jahrzehnte später, summt bloß noch die Kneipe im Obergeschoss, während die beiden Wohnungen in den Etagen darunter im besten Falle für ein wenig Wäsche auf der Leine im Garten sorgen. Im ersten Stock, in vier exakt gleich großen Zimmern mit einem flauschigen roten Teppichbodenflur dazwischen, wohnt Martha. Sie residiert darin wie ein Gast und ist zugleich ihr eigenes Zimmermädchen. Der Chronist verspürt das dringende Bedürfnis, den Zustand des Badezimmers zu begutachten. Im Erdgeschoss lebt Alfred, einer von Marthas treuesten Stammgästen, und lässt ungern Besuch herein.
Im verwinkelten Gastraum unter der Dachschräge stehen zwei kleine, wackelige Sperrholztische vor jeweils einer modrig riechenden Eckbank. Die gesamte Mitte des Raumes nimmt ein großer, runder Tisch aus dunkler Eiche ein. Acht Personen haben an diesem Platz, es ist ein Stammtisch, ideal zum Gaigeln und, den Kratzern und Kerben nach zu urteilen, auch für andere Formen des Glücksspiels. Den Tresen säumen dreibeinige Barhocker von unterschiedlicher Machart und aus unterschiedlichen Jahrzehnten. Eine Chronik aus Holz.
Voll wird es hier nur nach Beerdigungen und während der Fußballweltmeisterschaft. In der restlichen Zeit fangen vergilbte Fotografien an den Wänden den Staub, und ein zerrupftes, rostrotes Fell unklaren Ursprungs erinnert an ein wilderes Schwabenland. Über dem Tresen schließlich hängt wie die Katarakt eine ausgebleichte amerikanische Flagge, doch ohne Wind wirkt sie beinahe scheu.
Bei aller Schilderung des Verfalls wäre es allerdings falsch anzunehmen, Rillingsbach sei zu irgendeinem Zeitpunkt ein blühendes und anziehendes Zentrum des lokalen gesellschaftlichen Lebens gewesen. Schon immer ein abgelegenes Provinznest, kamen von den wenigen Touristen abgesehen – die sich ohnehin meist außerhalb des Dorfes aufhielten, im Rillingsbacher Weiher badeten oder die endlosen Waldwege entlang wanderten – schon damals kaum Leute in den Ort, die nicht von hier waren. Die Behauptung, das Dorf sei nach und nach verfallen, lässt sich zwar nicht ganz von der Hand weisen. Ebenso berechtigt wäre aber der Schluss, es habe sich lediglich seinen Charakter bewahrt. Mit Martha kann man diese Frage kaum diskutieren, schließlich ist sie immer hier gewesen. Sie würde die Veränderungen nur dann bemerken, wenn sie auf die entsetzlich dumme Idee käme, heute und damals zu vergleichen. Sie wuchs als jüngstes Kind gemeinsam mit ihren Brüdern Heinz und Erhardt in Rillingsbach auf und hat ihr Elternhaus, den Schippen, nie verlassen. Einige im Dorf behaupten sogar, sie habe sich in ihrem ganzen Leben nur ein einziges Mal außerhalb der Markung Rillingsbach aufgehalten, und zwar am Tage ihrer Geburt im Murrhardter Krankenhaus. Sie hat miterlebt, wie aus dem Dreisternehotel ein Zweisternehotel wurde, dann ein Restaurant und ein Vereinsheim. Den letzten, ohnehin nicht mehr allzu großen Schritt hin zu einer Kneipe hat sie selbst vollzogen. Wer sein Leben lang nur den wirtschaftlichen Abstieg kennt und es gewohnt ist, in regelmäßigen Abständen die Ansprüche herunterzuschrauben, der verliert naturgemäß das Vertrauen in den eigenen Riecher und wählt den Weg des geringsten Widerstands. Dieser Weg schrieb Martha vor, unverheiratet und kinderlos zu bleiben und überhaupt Veränderungen nur im Rahmen des absolut Notwendigen zuzulassen. Infolgedessen weiß Martha über sich selbst zunächst nicht viel mehr zu sagen, als dass sie ihr Leben lang Getränke ausschenkte und einer Generation von Rillingsbachern nach der anderen an den Tisch trug. Ob sie dabei wie zu Anfang im Speisesaal eines Dreisternehotels stand oder wie heute in einer Kneipe, scheint auf den ersten Blick höchstens dokumentarische Bedeutung zu haben. Auf den zweiten aber, sofern man gewillt ist, diesen Blick zu tun, vielleicht auch eine Spur von Symbolik, und zwar für den fatalen Lauf der Dinge im Dorf. Dass Martha nicht viel über sich zu sagen hat, bedeutet nämlich keineswegs, dass es nichts zu erzählen gäbe.
Mit einer solchen Erzählung beginnt man normalerweise ganz am Anfang. In diesem Fall ist das kaum möglich, denn woran erkennt man den Anfang einer Erinnerung, die einem gar nicht gehört?
Schon die Gründung Rillingsbachs fällt ins Dunkel der Geschichte. Als gesichert gilt lediglich, dass die Ortschaft nach dem durchfließenden, schmalen Bächlein benannt wurde und nicht etwa umgekehrt. Das muss notwendigerweise so gewesen sein, da der Name Rillingsbach dem nahen Rillingsweiher entliehen wurde, in welchen dieser mündet. Namensgebend für den Weiher wiederum war, offenbar von Linguisten zweifelsfrei nachgewiesen, der Rietling. Der Strom entspringt im Süden, in der Nähe von Schorndorf, und passiert die Region im wenige Kilometer entfernt gelegenen Ort Rietstetten, wo er im Frühjahr häufig Überschwemmungen verursacht. Kurz und gut, die Namensgebung muss vom Rietling, dem großen Strom, über den Rillingsweiher und den Rillingsbach hin zum Namen des Dorfes erfolgt sein.
Das Interesse der Rillingsbacher, und nebenbei gesagt auch das des Chronisten, an derlei Fachgeplänkel hält sich in Grenzen. Alfred oder Hilde kann man damit nicht in Staunen versetzen oder einen Willi aus den Rippen leiern. Außerdem wäre, wenn man sich schon damit beschäftigte, da ja noch immer die Frage nach dem Namensursprung des Rietlings, und wo soll das enden?
Das kollektive Gedächtnis des Dorfes umfasst aufgrund des Mangels an einem Archiv und der Abwesenheit eines ambitionierten, an Fakten orientierten Chronisten nur etwa drei Generationen, alles davor ist Fabel und Sage. Dabei stellt sich die berechtige Frage, wie lückenlos eine solche Erinnerung überhaupt ist, und wie geeignet als Grundlage für die Chronik eines Dorfes. Auf der anderen Seite: Wie lückenlos ist ein Archiv voller Ordner und Blätter, und sei es noch so sorgfältig geführt? Erinnert sich ein Archiv an die bunten Tage im Herbst, als Alfreds neuer Alfa Romeo erstmals in den Erlenweg einbog und die gefallenen Blätter durch die feuchte, schwere Luft wirbelte? Hat ein Archiv noch den kreischenden Gesang der Sirenen im Ohr, und den grauenhaften Lärm, als eine Bombe der Royal Air Force krachend in die Scheune der Familie Winkler einschlug? Kann ein Stammbuch, eine Urkunde oder selbst eine Fotografie diese Dinge begreiflich machen? Kann ein Archiv die Augen schließen und sich noch einmal vorstellen, wie Erhard Tränen über die Wangen kullerten vor Lachen, als Heinz beim Eselreiten in die Büsche galoppierte?
Das jedenfalls sind die Dinge, an die man sich im Schippen erinnert, wenn einer danach fragt, wie es hier früher gewesen ist. Und ob der Esel nun wirklich haselnussbraun war oder doch eher grau, ob Erhard wirklich sechsmal in die Brombeersträucher fiel oder bloß zweimal, was macht es schon? Der Chronist interessiert sich nicht für Details, er sucht Tendenzen und Muster. Er fragt vor allem nach den unschönen Geschichten, den schmutzigen, denen mit Schuss. Da werden sie im Schippen misstrauisch, still und wortkarg, und packen die bunten Geschichten ganz schnell wieder ein. Die Bewohner von Rillingsbach waren es immer selbst, die einander das Leben füllten. Für die meisten ist das Dorf alles, was sie je gekannt haben, und wenn man Martha fragt, so waren sie alle gute Menschen, egal, was passiert ist. Das heißt allerdings nicht, dass man die anderen Geschichten nicht zu hören bekommt. Es heißt nur, dass man anders nach ihnen fragen muss.

Kapitel 1

Das vorige Jahr war immer besser. – Schwäbisches Sprichwort

„Eine Erinnerung“, so liest es der Chronist auf Wikipedia, „ist das mentale Wiedererleben früherer Erlebnisse und Erfahrungen und entspringt dem episodischen Gedächtnis.“ Der kanadische Psychologe Endel Tulving fasste es folgendermaßen zusammen: „Das episodische Gedächtnis ermöglicht also den Abruf vergangener Erfahrungen, die in einer bestimmten Situation zu einem bestimmten Zeitpunkt gebildet wurden. Es ist zur mentalen Zeitreise sowohl in die Vergangenheit als auch in die Zukunft fähig.“
Eine Zeitreise sowohl in die Vergangenheit als auch in die Zukunft.
Ein neuer Versuch. Wo beginnt man die Geschichte einer Dorferinnerung, wenn man kein Teil derselben ist? Vielleicht bei der Brücke, bei den Menschen, die den Zugang gewähren. Zum Beispiel bei Martha. Heute dünnes, graues Haar, aufgesteckt zu einem Dutt, trotz ihres Alters noch gute Augen, jeden Tag ein Kreuzworträtsel, ein aufrechter Gang, da rutscht nichts vom Tablett, eine feine, aber immer etwas zu leise Stimme, insgesamt dreimal in Lebensgefahr. Das erste Mal am Tag ihrer Geburt, als sie ihrer Mutter, der Anna, so große Mühe bereitete. Bald darauf musste Anna dann auch gehen, so viel Kraft hatte dieses quere Kind sie gekostet. Und da fällt der Groschen, warum Martha nicht auch noch einen Ehemann in ihrem Leben brauchte, wo es doch schon drei Männer gab, die sie ganz allein versorgen musste. Das zweite Mal an jenem Tag, an dem Teile der Winklerscheune mit Getöse durch die Winternacht stieben und auf das Dorf niederregneten. Nicht Hunde und Katzen, aber Holz und Blut und Rindfleisch und Bomben hagelte es. Die Lebensgefahr hatte Martha aber nicht exklusiv, alle zitterten damals gleichermaßen in ihren Kellern, während sie den Schlägen auf den Dächern lauschten.
Beim dritten Mal ging es um Erwin. Um den kommt man nicht herum, wenn man im Schippen über die Vergangenheit spricht. Je nachdem, wen man fragt, war der ein Unmensch oder ein Psychopath. In beiden Fällen hätte man ihn wohl nicht unbedingt mit einem Kind allein lassen sollen. Wenn er möglicherweise schon vor dem Krieg ein wenig eigen war und zum Jähzorn neigte, Charakterzüge, die er allerdings mit vielen Rillingsbachern teilte, so kam er vollends durchgeknallt aus der Kriegsgefangenschaft zurück. Was genau er in den Jahren zuvor erlebt hatte, wusste man nicht, schon weil keiner danach fragte. Anders als sein besonnener Bruder Hans hatte Erwin auch niemals Briefe geschrieben, sodass selbst seine Eltern nicht wussten, wo er kämpfte und ob er überhaupt noch lebte.
Andererseits ist die Idee, der Krieg könnte ihn zu einem unberechenbaren Gewaltmenschen gemacht haben, nur eine Theorie. Es ist durchaus möglich, dass diese Entwicklung von Anfang an unvermeidlich gewesen war, ganz gleich, unter welchen Umständen. Er hatte etwas in seinem Kopf, dass da nicht hingehörte, aber nach und nach aufging und sich an die Oberfläche arbeitete wie ein Kartoffeltrieb, der zum Licht strebt und, sofern welches da ist, es auch findet. Schon seit der Kindheit war er seinen Mitmenschen nicht geheuer, das galt sogar für Mutter und Vater. Er tat Dinge, für die an einem Ort wie Rillingsbach kein Platz war. Die Freude seiner Eltern, als endlich einer der beiden Söhne aus dem Krieg zurückkehrte, war verhalten. Es war kein Geheimnis, dass sie lieber Hans in die Arme geschlossen hätten, und wenn sie nicht schon am Tag von Erwins Rückkehr so dachten, dann war es einige Tage später mit Sicherheit der Fall.
Während der ersten Wochen in der Heimat machte Erwin den Menschen so viel Ärger wie ein verregneter Sommer. Er stahl Hühner und Werkzeuge, ersäufte Hundewelpen und zündelte, bis es den Leuten irgendwann mulmig wurde, zu Bett zu gehen. Jemand hielt es für eine gute Idee, ihn zum Kopfschlächter auszubilden. Mit diesem Beruf, den mehr oder weniger die Hälfte der männlichen Dorfbewohner ausübte, hoffte man ihm eine Arbeit gegeben zu haben, bei der er seine Verrücktheiten ausleben und die restliche Zeit ein wenigstens halbwegs erträgliches Gemeindemitglied sein konnte. Diese Rechnung ging nur teilweise auf.
Unter all den Kopfschlächtern war er nämlich der einzige, der seine Messer mit in den Schippen brachte und zu den unmöglichsten Gelegenheiten vorzeigte. Er führte sie so selbstverständlich mit sich, als seien es angeborene Gliedmaßen. Während er in der einen Sekunde noch vollkommen ruhig und regungslos am Stammtisch saß und Karten spielte, konnte er schon im nächsten Moment seinen Ausbeiner hervorziehen und ihn vor Martha in den Tisch rammen, wenn sie ihm sein Daumenschorle hinstellte, ohne dabei ihren Daumen wie von ihm gefordert ins Glas zu tunken. Eine filmreife Vorstellung war auch, wie Erwin am Sonntagmorgen vor der Kirche saß und die Messer wetzte, dabei leise ein Kinderliedchen summte und Pfarrer Holzknecht sein breitestes Grinsen schenkte. Eine Zeit lang rätselten die Leute, wen er damit wohl verärgern oder herausfordern wollte. Aber zuletzt fand man sich damit ab, dass es eben diese Art von Wahnsinn war, die Erwin ausmachte, und in gewisser Weise musste man wohl auch dafür Gott dankbar sein. Von innen gesehen hat Erwin die Kirche allerdings nie.
Später, als sie es sich trauen konnte, behauptete seine Gattin Maria, dass er vor dem Schlafengehen sogar ein Messer unter die Matratze geschoben habe. Und manchmal, wenn sie nachts aufwachte, konnte sie dann hören, wie er an den Bettpfosten schnitzte.
„Erwin, was hast du denn da am Bettpfosten zu schaffen?“, fragte sie ihn dann ängstlich, woraufhin er meistens nicht antwortete. Manchmal aber antwortete er doch und murmelte etwas wie: „Was fragst du so blöd. So blöd haben sie auch mal den Heinrich gefragt. Frag nur weiter so blöd, wie die Anna und die Katharina, so blöd haben die auch gefragt“, oder: „Ich hab am Sonntag wieder den Teufel gesehen, der ist hier im Dorf unterwegs, sitzt vor der Kirche und lacht wie ein verrücktes Rind. Kannst den ja mal fragen nach seinem Werk, vielleicht weiß der dir Antwort, wenn du es dann noch wissen willst.“ Wenn er solche Dinge sagte, ließ man ihn besser weiter schnitzen.
Maria hatte er aus Cornwall mitgebracht. Sie war die Tochter eines emigrierten deutschen Arztes und einer Engländerin, und warum sie sich ausgerechnet auf Erwin eingelassen hatte, dieses schöne, grünäugige Kind, ist Stoff für Legenden. Vielleicht war sie einfach nur eine Art Beute. Seine persönliche Garantie dafür, dass dieser Krieg nicht ganz vergebens gewesen war, obwohl ihn die Politik und das Leben im Grunde gar nicht besonders zu beschäftigen schien. Nach allem, was man wusste, kannte er kein Bedauern.
Erwins Eltern starben beide im Dezember 1946, nur wenige Monate nach seiner Heimkehr. Zu Weihnachten in jenem Jahr besaßen Maria und er plötzlich einen eigenen Hof, acht Rinder, einige Schweine, einen Stall Hühner, vierzig Ar Ackerland und einen viertel Hektar mit Streuobstwiesen, sowie jede Menge Platz, um eine glückliche Familie zu gründen. Das sind Hildes Worte.
Eine glückliche Familie zu gründen.
Drei Punkte im Raum. Poster, Martha, Regen am Fenster. Der Chronist verzichtet darauf, es zu dokumentieren, man würde es für einen Scherz halten.
Es zwickt die Rillingsbacher, man kann es spüren. Es zwickt sie, wenn sie versuchen zu verstehen, wie ein durch und durch schlechter Mensch wie Erwin so unverdient viel Glück haben und doch so undankbar wenig daraus machen konnte. Hätte man Erwin gefragt, ob diese Dinge für ihn Glück bedeuteten, wäre die Antwort möglicherweise eine andere gewesen. Des einen Glück, des andern Strick. Aber daran hatten sich die Menschen gewöhnt. Er sagte nur sehr selten etwas, mit dem man vorbehaltlos einverstanden sein konnte, ohne sich wenigstens im Stillen seinen Teil dazu zu denken. Außer Maria hielt es keiner lange bei ihm aus, und selbst sie schien immer ein bisschen auf der Flucht zu sein.
Sogar Männer, die etwas darstellten im Dorf, Männer wie Gottlob und Wilhelm, wahrten vorsichtshalber Abstand. Ein einziges Mal geriet Wilhelm mit ihm aneinander, genau hier, im Schankraum des Schippen. Jeder erinnert sich, selbst jene, die gar nicht dabei waren. Damals saßen sie am Tresen, so wie heute der Chronist, nur die Stühle waren weniger fleckig und keine Radiomusik zu hören. Erwin hockte dort, wo Hilde nun sitzt, und Wilhelm dort, wo Frieder sitzt. Ein Bild, keine Fotografie. Hotelgäste waren, wie so oft in jenen Tagen, keine zugegen, nur die Kopfschlächter tranken in dieser Nacht, und so kam es dazu, dass Wilhelm sang. Gottlob hatte ihn nämlich einmal darum gebeten, das bleiben zu lassen, solange Gäste da waren. Jetzt aber stimmte Wilhelm, der es gewohnt war, dass man ihn hörte, mit feierlicher Stimme an: „Ob´s stürmt oder schneit, ob die Sonne uns lacht.“ Schnell war der Chor auf fünf, sechs, sieben Männerstimmen angeschwollen, da schrie Erwin, der etwas abseits am anderen Ende der Theke saß, lauter als aller Sänger Gesang zusammen:
„Linzner!“
Da war aber Ruhe. Wilhelm, groß und mit Bauch, schätzte es gar nicht, wenn man ihn unterbrach, noch dazu so unziemlich beim kameradschaftlichen Gesang. Lange hatte das keiner gewagt. Aber Erwin war selbst Soldat, deshalb wollte Wilhelm ausnahmsweise fünf gerade sein lassen. Nur, dass Erwin noch gar nicht fertig war.
„Wo hat´s denn gestürmt, Linzner? Und geschneit? In der Scheune, auf dem Heuboden? Oder in der Sonne-Post unten in Murrhardt, beim Schorle saufen und Kameraden bespitzeln, hat es da vielleicht geschneit?“
Und plötzlich war die Ruhe wieder davon, gewissermaßen von der Unruhe vertrieben. Nervöse Blicke nach links und rechts, keiner hatte Lust auf das, was nun zwangsläufig folgen musste. Niemand mag Unruhestifter, am wenigsten dann, wenn es gerade gemütlich zugeht. Um der Ruhe Willen kann man doch auch einmal zurückstecken, kann jemanden mal ein bisschen Unsinn quasseln lassen, es geht doch vorbei und am Ende bleibt alles beim Alten. Nicht in fünfzehn Jahren hatte jemand so etwas zu Wilhelm gesagt, nicht immer nur um des Friedens willen, aber unter anderem. Erwin brauchte man mit so einem Argument freilich gar nicht erst zu kommen, denn Ruhe war für den kein Wert. Wilhelm war zunächst sprachlos, sammelte sich dann aber und setzte zur Predigt an.
„Hör mir jetzt mal gut zu, Junge. Du warst an der Front, schön und gut. Aber vergiss mal nicht, die SS…“ Da schlug Erwin mit der Faust auf den Tresen, das hundert Gläser schwankten und wackelten, und das Klirren ließ Gottlob Böses ahnen. Er sah schicksalsergeben nach oben zur Vitrine, in Erwartung eines Scherbenregens. Aber das war der Teil des Abends, an dem sie alle Glück hatten.
„Willst du mir von der Schissstaffel erzählen, Linzner? Willst du mir was vom Krieg erzählen? Willst mir hier ein Liedchen trällern? Der Gottlob darf mir was erzählen, der war wenigstens an der Front. Aber was hat dein Verein denn gemacht? Hinter der Ostfront Dörfer angezündet und Weiber erschossen, im besten Fall. Dir muss doch zuerst mal einer beibringen, was Krieg bedeutet. Ich kann dir erklären, was das ist. Ich kann´s dir auch zeigen, gleich hier, gleich draußen vor der Tür. Komm nur mit, dann schlag ich deine Zähne einzeln in den Maibaum, gleich unter die Ami-Flagge. Schöne Helden seid ihr gewesen, drei Wochen hat sie gehängt, bis der Gottlob sie runter genommen hat. Und aus welchem Grund? Komm du mir nochmal mit Schnee und Sturm, dann schneid ich dir den Meckel rund, Herr Oberscharführer.“ So war Erwin, explosiv wie ein Minenfeld und ebenso unberechenbar. Wilhelm jedenfalls sang danach keine Lieder mehr im Schippen, und Gottlob räumte die Gläser in eine Vitrine in Bodennähe.
Erwins Anwesenheit war in der Regel mit Ärger verbunden. Was zum Teufel tat Martha also allein mit ihm im Schlachtraum? Sie weiß es nicht mehr und kann es sich auch nicht erklären. Sie mochte ihn eigentlich nicht besonders, wie sie mit einem scheuen Seitenblick auf Hilde zugibt, vor allem wegen der armen Hundewelpen. Vielleicht lag es daran, dass es so ein heißer Tag war, denn im Schlachtraum war es kühl. Sie lag an solchen Tagen gerne auf den kalten, weißen Kacheln und blätterte durch ein Bilderbuch oder spielte mit der Puppe, die ihr Anna hinterlassen hatte.
An diesem Tag auch? Falls ja, ist die Erinnerung daran verblasst gegenüber dem, was danach geschah. Immer, wenn sie sich zu erinnern versucht, ist Erwin schon da. Hinter ihr, über sie gebeugt, sein warmer Atem in ihrem Nacken, stoßweise und schnaubend wie der eines Stiers. Wie er sie anstarrte, als sie sich umdrehte. Er war kein hässlicher Mann. Bei dieser Bemerkung gluckst Hilde leise auf. Unbeirrt fährt Martha fort. Nein, überhaupt kein hässlicher Mann. Groß, stark, dunkles Haar und schwarze Augen. Narben an den Handgelenken. Als er aber von ihr verlangte, ihr Kleidchen auszuziehen, weigerte sie sich. Nicht aus Empörung oder Entsetzen, sondern einfach, weil sie keine Lust dazu hatte. Erwin stand vor ihr wie ein unbezwingbarer Berg, ein Berg mit braunen Hosenträgern, die ihm links und rechts von der Hüfte baumelten. Mit seiner riesigen Pranke, wieder bemerkte sie die Narben, strich er ihr über das Haar, hob einen der Zöpfe an und betrachtete ihn nachdenklich. Mit Nachdruck und in seiner ihm eigenen Art zu sprechen, schleppend, sich beinahe verschluckend, wiederholte er seine Aufforderung. Er kam näher, roch nach Arbeit, roch nach dem Blut unschuldiger Tiere, nach nassen Hundewelpen. Sie wich zurück, spürte aber sogleich die kalten Kacheln an ihren nackten Waden. Erwin streckte wieder die Hand aus, wieder zu ihren Haaren, wieder zu ihren Zöpfen. Martha zuckte nach links, zuckte nach rechts, zuckte nach links, und die langen Flechtzöpfe flogen ihr dabei um das Köpfchen. Da packte Erwin ebenjenes mit einer ruckartigen Bewegung, als fange er eine Stubenfliege, und schloss es zwischen seine rauen Händen ein wie in einen Schraubstock. Vor Wut oder Anstrengung zitternd, begann er langsam zuzudrücken. Ein unvorstellbarer Druck verdrängte alle Gedanken aus Marthas Kopf. Beinahe konnte sie hören, wie ihre Wangenknochen ächzten, sie klirrten wie vibrierendes Glas, und Martha schaffte es vor lauter Panik nicht, ihre Augen zu schließen. Wild wie ein Eber sah Erwin aus und presste geifernd und spuckend abgehackte Worte hervor:
„I…schneid dir…d´Nas…und…d´Ohra…vom Schädel…und schmeiß dich in…dr Weiher…wie an Welp!“
Und in diesem Moment, mitten hinein in die zitternde Stille ihrer entsetzten Gedankenlosigkeit, rief jemand laut und scharf Erwins Namen. Er verhallte dumpf in ihrem Schädel, der im Bersten begriffen schien, und sie erkannte vage die Stimme ihres Vaters. Augenblicklich lockerte Erwin seinen Griff, ließ Martha aber nicht los. Noch immer im Wahn, starrte er sie mit seinen weit aufgerissenen Augen an, während sich seine verzerrte Fratze langsam entspannte und einem dümmlichen Grinsen wich. Endlich gab er ihren Kopf frei und drehte sich zu Gottlob um, den Martha nun in der Tür stehen sah.
„Gottlob“, meinte er dann ruhig und richtete sich auf, „deine Martha, auf die würde ich besser aufpassen. So schöne, lange Zöpfe, wie die hat. Die sieht ja aus wie die Anna.“ Der runde, haarlose Kopf des Vaters glühte rot wie ein Glasklumpen an der Pfeife. Langsam trat er aus der Tür in den Schlachtraum und machte so den Weg frei für den großen, steifen Kopfschlächter. Der verstand und stapfte langsam über die blütenweißen Kacheln hinüber zur Tür. Vor dem Vater baute er sich auf, das breite Kreuz durchgedrückt, und richtete sich die Hosenträger. Er hätte dem kleinen, zehn Jahre älteren Gottlob auf den Kopf spucken oder noch ganz andere Sachen mit ihm machen können, das wussten sie alle beide. Trotzdem giftete Gottlob drauf los, zischte Worte, die Martha nicht verstand. Erwin ließ es regungslos über sich ergehen und sah stumm auf den Boden. Als Gottlob endlich fertig war, verharrten sie einen Moment lang schweigend und starrten einander an. Da lachte Erwin laut auf, klopfte dem Kleinen auf die Schulter und verschwand nach oben in den Gastraum, auf einen starken Klaren.
Gottlob atmete tief durch. Das weinende Töchterchen ratlos anblickend, überlegte er, was nun zu tun war. Zuerst einmal hob er die Puppe auf, die mit dem Gesicht nach unten auf dem kalten Boden des Schlachtraums lag. Dann nahm er das zitternde Kind auf den Arm, reichte ihr das Stoffspielzeug und versuchte sich als Tröster. Doch was sollte er ihr sagen? Etwa, dass Erwin ihr nie wieder weh tun würde? Das konnte er wohl kaum versprechen.
Spät am Abend, der Sturm rüttelte noch immer an den Fensterläden, fand Martha ihren Vater in der Werkstatt, wo er seine Flinte reinigte, wie er es von Zeit zu Zeit tat. Mit einer Schürze bekleidet stand er im Licht der Petroleumlampe an seiner Werkbank, das Laufbündel vorsichtig in den Schraubstock gespannt, und führte die kleine Nylonbürste ein. Still sah sie ihm zu, war gerührt von seinen liebevollen Berührungen mit dem kalten Metall, von der Sorgfalt, mit der er das Öl und das Fett abwischte. Überhaupt, so fand sie, ist ein Gewehr ein sehr aufregender Gegenstand. Ob er sie wohl einmal damit schießen ließe? Natürlich nicht auf ein Tier, sondern einfach nur so, zum Vergnügen.
„Warum reinigst du schon wieder die Büchse?“, fragte sie schließlich. „Das hast du doch erst gestern getan. Hast du heute etwas geschossen?“ Mit prüfendem Blick den gefetteten Vorderschaft einsetzend, antwortete er, ohne sie anzusehen: „Ja, ich musste einen Fuchs erschießen, er hing in der Falle. Der Lauf war gebrochen.“
Martha nickte verständnisvoll, obwohl sie solche Dinge erschütterten. Ihr Vater sprach davon, als sei es ganz normal. Als habe er dem Fuchs damit einen Gefallen getan. Eigentlich wollte sie ihn aber etwas anderes fragen, den ganzen Tag schon. Es ging um eine Sache, die Erwin gesagt hatte und die ihr seitdem nicht aus dem Kopf ging. Und zwar um Anna. Erwin hatte nämlich gemeint, dass sie, Martha, genauso aussehe wie die Anna. Ob das wohl stimmte? Zuvor hatte sie lange gezögert, der Vater sprach nicht gern über Anna, wurde dann erst wortkarg und schließlich ekelhaft. „Alle Kinder sehen aus wie ihre Eltern“, meinte er nur. Martha wusste, das stimmte nicht, wollte aber nicht widersprechen. „Also sehe ich so aus wie Mama?“ Da legte Gottlob den fettigen Lumpen zur Seite und sah sie über seine Brillengläser hinweg an. Er sah ulkig aus mit den Schweißperlen auf der Glatze und den Ölflecken im Gesicht. „Deine Mutter hatte blaue Augen und strohblondes Haar. Du hast meine braunen Augen, und dein Haar ist dunkelblond, fast braun.“
Martha verstand, was das bedeutete. Erwin hatte nur geredet. Sie alle redeten nur, hier im Dorf, immer und immerzu. Sagten Dinge zu sich, die nicht stimmten, nur um einander weh zu tun. Sie würde so etwas nie machen, das schwor sie sich. Niemals.
„Dein Näschen allerdings“, fuhr der Vater mit einem ungewohnten schelmischen Grinsen fort, während er sie an der Nase packte, „dein Näschen und dein Mund, und überhaupt dein Gesicht, und auch die glänzenden, langen Zöpfchen. Da denke ich manchmal, ich sehe die Anna. So schön wie sie bist du allemal. Und wenn du groß bist und nach Murrhardt ins Krankenhaus fährst, um ein Kindchen zu bekommen, dann werden die Ärzte denken: „Na, gibt es denn das, schon wieder die Anna. Die Anna mit ihrem Vierten!“
Es war gut gemeint, aber nicht sehr geschickt. Von Anna und dem Kinderkriegen zu sprechen, das beschwor keine schönen Bilder. Bis dahin hatte Martha sich nie Gedanken darüber gemacht, dass auch sie selbst eines Tages auf der Krankenbahre liegen, Schmerzen haben und vielleicht sterben musste. Nun allerdings kroch eine diffuse Angst davor in ihre jungen Glieder. Sie gab Gottlob einen flüchtigen Gutenachtkuss, stieg eilig die Treppen hinauf in ihr Zimmer und legte sich ins Bett zu ihrer Puppe, wo sie an diesem Abend noch lange wach lag und ungewohnten Gedanken nachhing, die um Anna, Babys, Gewehre, Füchse mit gebrochenem Lauf und Kopfschlächter kreisten. Auch Gottlob konnte noch nicht schlafen. Nachdem er die Büchse zusammengesetzt und sich gewaschen hatte, stellte er sich in die Küche, sah aus dem Fenster in die unnatürlich gefräßige, horizontlose Finsternis einer Nacht, die auf einen durchlittenen Tag folgt, und begann zu trinken.
Der nächste Morgen brachte Schneeregen, eisige Kälte und einen Schrei. Dieser entsprang einem kleinen Schuppen abseits des Dorfes, von wo er sich einen schlammigen, glitschigen Pfad hinaus aus dem Dunkel des Hochwaldes suchte und auch fand. Dann erklimmte er den grasigen Hang hinauf zu der Sackgasse im Erlenweg, dem er folgte, bis er schließlich im Rillingsweg angelangte, wo er lange und klirrend verharrte, als sei er eingefroren. Dem Schrei auf dem Fuße folgte Maria, weitere Schreie ausstoßend, die sich mit dem Urschrei vermengten. „Die späteren Schreie klangen kraftlos,“ ergänzt Alfred. „Blödsinn“, erwidert Hilde.
Natürlich war es einer dieser Tage, über die später jeder etwas zu sagen weiß, an denen jeder ein Chronist ist, was dem Experten seine Aufgabe empfindlich erschwert. Jeder erinnert sich noch genau, wo er war und was er getan hat, und jeder hat ein persönliches Detail zu der umfassenden Erhabenheit der Tragödie beizusteuern. Über Rillingsbach lag eine flirrende Atmosphäre, welche die Menschen zur Teilnahme am Drama dieses Tages zwang, und man hörte es knistern.
Auf dem Fensterbrett seiner Dachgeschosswohnung im Rillingsweg stand der arbeitslose Mangelhardt und glotzte sich die Augen aus dem Kopf. Ob er nun wirklich springen wollte oder nicht, und auch das war Thema, denn der zeitgleiche Ablauf mehrerer außergewöhnlicher Ereignisse, die Synchronität derselben, zeichnet solche Tage aus – in jedem Fall hätte der Schreck beinahe das Übrige besorgt. Wie er sich weit aus dem Fenster lehnte, sah er die kreischende Maria die Straße heraufstürzen. „Was schreist du denn so, Maria? Why do you yelling?“ Da wurden ihre Schreie noch lauter und spitzer. „Wie auf Bestellung“, fügt Frieder hinzu. Hilde schüttelt wortlos den Kopf. Maria versuchte verzweifelt, sich verständlich zu machen, doch was immer sie sagte, es ging unter im Gewirr der Schreie ihrer sich überschlagenden Stimme. „Nun beruhige dich doch, Mädchen“, rief Alfreds burschikose Mutter Elsa, die mittlerweile ebenfalls aufgeschreckt und an ihr Küchenfenster getreten war, um die Ereignisse auf der Straße zu verfolgen. Auch an den Nachbarhäusern öffneten sich nach und nach die Fenster. „Erzähl uns einfach, was passiert ist!“ „Erwin!“, schrie Maria endlich, und ein Raunen war zu vernehmen, obwohl ohnehin kaum jemand bezweifelt haben dürfte, dass Erwin in irgendeiner Weise der Verursacher dieser Schreie war.
„Im Schuppen!“, fügte Maria schließlich kraftlos hinzu und sank weinend auf den nassen Schotter nieder. Einige Männer, darunter auch Gottlob, stolperten bereits hinaus auf die Straße, streiften sich im Laufen ihre Regenmäntel über oder schlüpften, auf einem Bein springend, noch in den zweiten Gummistiefel. Sie rannten den Rillingsweg und den Erlenweg hinab zum kleinen Pfad, auf dem sie der Reihe nach ausrutschten und im kalten Schlamm landeten. Am Schuppen verlangsamten sie ihre Schritte. „Was glaubst du, was hat der Idiot diesmal angestellt?“, fragte Wilhelm, der als inoffizieller Bürgermeister Rillingsbachs galt und in prekären Situationen meist die Hosen anhatte. Bisweilen wurde er sogar als solcher angesprochen. Einen offiziellen Bürgermeister gab es nicht, denn obwohl es niemand gerne zugab, gehörte Rillingsbach genau genommen zur Gemeinde Murrhardt.
Gottlob schwieg und bedeutete den anderen zu warten. Dann riefen sie Erwins Namen. Mehrere Minuten verstrichen, in denen die Männer unentschlossenen vor dem Schuppen warteten, schrien und lauschten. Schließlich war es Gottlob, der sich vorsichtig hinein tastete, eine Petroleumlampe in der einen und das Gewehr in der anderen Hand. Eine weitere Minute verging, doch noch immer drückte sie die Stille. Da begannen die Männer vor dem Schuppen nach Gottlob zu rufen. Als sie auch von ihm nichts mehr hörten, beschloss Wilhelm, seinem Freund zu folgen.
Er spürte Gottlob schon, bevor er ihn sah, denn dieser war nur wenige Schritte weit in Schuppen hineingegangen und stand nun regungslos im Dunkeln. Wilhelm hatte nicht an eine Lampe gedacht, doch im Lichtkegel von jener Gottlobs konnte er den Grund für dessen Schweigen erkennen. Dort, auf den Holzplanken ausgestreckt, lag Erwin, statt des Schandmauls ein fleischiges Loch im Gesicht. Wenn man nicht genau hinschaute, sah er milde überrascht und ein wenig belustigt aus, wie ein erprobter Schachspieler, der wegen einer Unaufmerksamkeit von einem Anfänger matt gesetzt wird. Die langen Stelzen ausgestreckt, einen Arm merkwürdig hinter dem Rücken abgewinkelt, starrten seine schwarzen Augen durch die Finsternis des kleinen Holzschuppens zur Decke hinauf, der letzten Barriere vor den allmählich verblassenden Sternen. Wilhelm schüttelte traurig den Kopf.
„Überall auf der Welt hätte er fallen können, und dann pustet er sich im Holzschuppen die Lichter aus.“ Neben ihm lag sein Gewehr, eine lange Büchse, und hinter ihm das, was Gottlob für das Gehirn hielt. Suizid. Mit Fragezeichen?
Das kann man wohl sagen. Es war schlechterdings unmöglich, dass Erwin sich mit dieser Büchse selbst in den Mund geschossen hatte. Der Mann war ein Hüne, schön und gut, aber so lange Arme hatte kein Mensch, zumal der Schuss, da waren sich alle einig, aus mindestens einem Meter Entfernung abgegeben worden war. Die Männer wandten sich ab und trotteten durch die Stille des Waldes langsam zurück ins Dorf, Erwins Körper ließen sie in der Dunkelheit und Eiseskälte des Holzschuppens zurück. Selbst jetzt wollte keiner allein mit ihm sein. Mittlerweile stand halb Rillingsbach auf der Straße, um das Geschehene zu diskutieren. Der alte Mangelhardt war besonders gefragt, obwohl auch er nicht mehr gesehen hatte, als alle anderen, und Elsa kümmerte sich mit Tee und guten Worten um Maria. Die zeigte sich bereits sichtlich erholt und gab sich nur wenig Mühe, ihre Erleichterung zu verbergen. Verständnislos betrachtete sie das Treiben auf der Straße. Beinahe machte sie den Eindruck, als erwarte sie Gratulationen anstelle der Kondolenzen.
An diesem Punkt wird die Erzählung durch das ungläubige Schnauben Hildes unterbrochen. Nach einem kurzen Seitenblick beißt sich Martha auf die Unterlippe, mit welchem Gefühl, kann der Chronist nicht erkennen. Dann aber fährt sie zögerlich fort.
Zurück im Schippen, eilte Gottlob zum Telefon an der Hotelrezeption und verständigte die Polizei. Es folgte eine mehrere Stunden währende Warterei, eine bizarre Situation, in der man stumm auf der Straße stand und an den zerschossenen Leib unten im Holzschuppen dachte, und auch daran, dass Erwin derartige Schuppen immer gerne angezündet hatte. Martha lernte an diesem Tag, und sie vergaß es nie mehr, dass das Schweigen der Vielen vom Einzelnen ausgeht.
Die Beamten erschienen erst am späten Vormittag in Person von Kriminalhauptmeister Hufnagel und zwei sehr jungen Kollegen in Uniform. Die Polizeiarbeit, so weiß der Chronist, wurde in jenen Jahren von den Besatzungsmächten dezentralisiert und die Zuständigkeit auf die einzelnen Länder übertragen, weshalb, gelinde gesagt, ein gewisses Maß an Chaos herrschte. Weder Hufnagel noch seine beiden Assistenten hatten je einen Mordfall untersucht, und die Aussicht, sich mit den Dorfgeschichten dieser Eigenbrötler herumzuschlagen, schien ihnen wenig erquicklich. Natürlich sah sich Hufnagel pflichtbewusst im Schuppen um, bemerkte das Holzbeil auf dem Boden neben dem Spaltblock und einige Scheite, die von der Beige gefallen sein mussten, beachtete – 25 – Kai Wieland „Ameehrikah“, Leseprobe daneben den ungesund gekrümmten Arm hinter Erwins Rücken, schaute hier, blinzelte dort, rutschte auch auf den blutigen Dielen aus. Schließlich aber trat er ins Freie und diktierte einem jungen Beamten mit dicker Hornbrille auf der Nase:
„Suizid.“
Niemand im Dorf widersprach diesem Ermittlungsergebnis, obwohl jeder so seine Zweifel daran hatte. Letztendlich aber, und das sprachen die ehrlichsten auch aus, waren sie alle in dieser Nacht ein Problem losgeworden. Nur einen Menschen gab es, den diese Nachlässigkeit erzürnte. Dieser Mensch war jedoch noch nicht geboren, hatte weder Herz noch Hirn noch einen Mund, mit dem er sich hätte zu Wort melden können, sondern reifte in Marias Uterus erst heran.

Leseprobe: Stefan Zett – „Das Magenkomplott”

Kapitel I

Etwas musste Sonjo gestört haben, denn ohne dass er den Wecker gestellt hätte, wurde er eines Morgens vor sechs Uhr wach. Er hatte unruhige Träume gehabt und fand sich in seinem Bett mit Kopfschmerzen und einem ungeheuerlich flauem Gefühl in der Magengegend, gleich links unterhalb des Brustbeins.
„Puh, was ist denn los?“ dachte er, „so übel war mir schon lange nicht mehr.“ Mit geschlossenen Augen versuchte er zu ergründen, was genau er zuletzt geträumt haben mochte, doch es tauchten nur unzusammenhängende Bilder und flüchtige Gestalten auf, derer er nicht habhaft werden konnte. Auch seine Erinnerungen an das, was er am Vortag zu sich genommen hatte, waren äußerst lückenhaft. Ein Milchshake hatte er tagsüber getrunken, wo auch immer. Irgendwann auch einen Tee. Weiter konnte er sich an nichts entsinnen. An gar nichts. In Sonjos Eingeweiden rumorte es indes, als sei dort ein Kampf um die besten Plätze in vollem Gange. Zweifellos war etwas völlig durcheinander geraten. Er öffnete die Augen. Er befand sich in seinem Bett, in seiner Wohnung und dort war alles wie immer. An der weißen Wand die Schattenspiele der Birke im Garten, die die frühe Sonne zu dieser Jahreszeit durch das Dachfenster warf. Sein leerer Schreibtisch, der Stuhl. Stille. Vereinzelt Vogelgezwitscher. Die halboffene Tür zum Badezimmer. Mit einem routinierten Griff lockerte Sonjo Gürtel und Bund seiner schwarzen Anzughose, was die angespannte Situation in seinem Bauch vorübergehend entschärfte. Er atmete tief durch. Ganz offensichtlich hatte er sich in Straßenkleidung schlafen gelegt und nun schmerzte sein Bauch. Das war’s. Ansonsten war alles in Ordnung. Wahrscheinlich war er fürchterlich betrunken gewesen und die Erinnerungen daran waren einfach ausgelöscht. Vielleicht auf ewig. Kein Grund zur Beunruhigung also. Zumindest konnte er sich ganz genau an ein Milchshake erinnern, wie er es durch einen Strohhalm aus einem mit Kondenswasser belegten Glas gesogen hatte. Er befindet sich in der Innenstadt, im Einkaufzentrum Europa wo es mörderisch heiß ist, saugt ein eiskaltes Milchshake, an der Bar des Palmencafés unter der großen Glaskuppel. Es herrscht ein ungewöhnlicher Trubel. Allenthalben Milchbärte. Menschen, die quer durcheinander reden und sich mit den Shakes zuprosten. Wie ist er in dieses Setting hineingeraten? Er stellt sein Glas auf den Tresen, will sich setzen. Zwei Männer mit roten Krawatten tauchen urplötzlich vor ihm auf, sprechen ihn an. Er ist schon auf dem Weg zum Hinterausgang, quer durch die Galerien.
„Sie sehen durstig aus, mein Herr“, sagt der eine, rund, dick, mit südländischem Teint. „Regelrecht ausgetrocknet!“ ergänzt der andere, selber dürr und hager. Die Beiden scheinen eine Antwort zu erwarten. Sonjo zuckt belanglos die Achseln, weiß nicht worauf sie hinaus wollen. Er wendet sich zum gehen. Schon packt ihn der Dicke am Kinn und sprüht ihm eine beißende Flüssigkeit in die Nase. Ihm wird schwarz vor Augen. Er fällt. Rittlings in die fangbereiten Arme des anderen. „Jetzt nur nicht bewusstlos werden“, denkt er noch, während man schon mit langen Fingern ein Stück Stoff tief in seinen wehrlosen Mund schiebt.
Der Friedensprozess im Bauch erlitt einen herben Rückschlag. Spastische Kämpfe mit kurzen, trügerischen Pausen. Er riss die Augen auf, war kurz weggedöst. In den verschiedentlich unklaren Gemengelagen hatten entwurzelte Traumsequenzen und vereinzelte Erinnerungsfetzen zueinander gefunden und sich zu einer absurden Geschichte zusammen gesponnen.
„Völlig unrealistisch, am helllichten Tag mitten im Einkaufszentrum“, versuchte Sonjo sich und seinen davonrasenden Puls zu beruhigen, sah sich aber auch nicht mehr im Stande, den bereits abgelaufenen Handlungsstrang wieder zu entwirren. Vielleicht hatte er noch nicht einmal ein Milchshake getrunken, möglicherweise, schön und gut, aber dass er in der vergangenen Nacht dann so abgrundtief geschlafen haben sollte, dass er keine Ahnung mehr hatte, was er eigentlich wirklich am Vortag getrieben hatte, bezweifelte er doch. Insbesondere, da er die beiden Männer genau vor sich gesehen hatte, in schwarzen Anzügen mit roten Krawatten, nach dem Überfall, als er am Boden des Einkaufszentrums etwas abseits vor einem Lastenaufzug erwachte.
Der kleine Dicke steckte mit schmalen, langen Fingern seine Krawatte hinter die Weste zurück und schmauchte zufrieden in sich hinein, während der andere, ein überaus langer Typ mit rossbraunem Schnurrbart und blasser großer Nase, damit beschäftigt war, ein fleischfarbenes, presswurstförmiges glitschiges Etwas nicht aus seinen Händen zu verlieren. Schließlich gelang es ihm, das widerspenstige Stück in der Faust zusammenzudrücken. Dabei entwich aus einem der beiden Zipfel Luft mit einem Stoßlaut, der so charakteristisch war, dass Sonjo in einer abstrusen und entsetzlichen Vertrautheit erfasste, worum es sich bei dem Ding handelte. Er versuchte zu schreien, aber es drangen nur lautlose Unmengen an heißer Luft aus seinem Hals. Entgeistert und vollständig gelähmt nahm er wahr, wie der kleine Dicke mit einem raschen Doppelklack einen schwarz ledernen Aktenkoffer öffnete und daraus eine Zeitung hervorholte, während der Hagere erfolglos an einigen hartnäckigen letzten Fettzipfeln des Dings herumzupfte. Eigentlich hätte sich Sonjos Magen spätestens in diesem Moment vor Schmerz, Abscheu und Verzweiflung gleich mehrfach umdrehen und ergrimmend krümmen müssen, stattdessen wurde er steif und widerstandslos wie ein toter Fisch in Zeitungspapier eingewickelt und in den krawattenrot ausgekleideten Aktenkoffer verstaut. Dann waren sie weg.

Kapitel II

Sonjo saß am Küchentisch der elterlichen Wohnung im Erdgeschoss und starrte auf das Rührei, das die Großmutter altbewährt mit reichlich Butter für ihn zubereitet hatte. In seinem Bauch waren, noch als er im Bett lag, revolutionäre Unruhen ausgebrochen, über alle Gewebegrenzen hinweg. Fürchterliche Krämpfe durchbohrten ihn von rechts nach links, nach oben nach unten und die Säfte flossen in Strömen. Erst nach einem ausführlichen Gang zur Toilette hatte sich die Lage bis auf weiteres entspannt. Obwohl er nach allem, was er erlebt hatte, keinerlei Hunger verspürte und er zudem nicht umhin kam zu bemerken, dass er da noch immer eine entsetzlich flaue Leere in seiner Magengegend empfand, hatte Sonjo sich fest vorgenommen, die Zähne zusammen zu beißen und viel, kräftig und kompromisslos bis zum letzten Bissen zu frühstücken. Nur so könnte er etwaigen Gründungsmythen einer neuen Republik von vornherein die alles entscheidende Grundlage entziehen. Wären solcherlei falsche Rücksichtnahmen nämlich erst einmal etabliert, würde auch gerne weiterer Unsinn geglaubt.
Der Geruch der gebratenen Eier aber hatte ihn kalt erwischt. Er erinnerte ihn an ein kleines abscheuliches Detail seines wiederkehrenden Albtraums – um nichts anderes konnte es sich schließlich und letztendlich bei diesen unmöglichen Geschehnissen handeln – das ihm bisher entgangen war und nun umso deutlicher hervortrat: Der äußerst unangenehme, aus magenräuberischem Mund hervordringende Geruch nach gammeligen Fleisch, den Sonjo sonst nur von Pansenverfütterungen beim Hund seines Onkels kannte. Entgegen seinen Absichten brachte Sonjo es schließlich nicht über sich, auch nur einen Happen von der gelb glänzenden Speise hinunter zu bringen und er schob den Teller unangetastet zur Seite. Auch die knallroten Erdbeeren, die die Großmutter am Vortag zuvor eigenhändig im Wald gesammelt hatte, verschmähte er.
Die Großmutter schaute mit gespitzter Nase über die Ränder ihre Brille und den Tisch hinweg zu Sonjo rüber. Ob es ihm immer noch schlecht sei, wollte die Großmutter wissen. „Wieso immer noch?“ antwortete Sonjo. „Na, du hattest doch gestern im Einkaufszentrum diesen Kreislaufkollaps.“
„Kreislaufkollaps?“ sagte Sonjo und ahnte Düsteres. “Jetzt sag bloß, du kannst dich an nichts mehr erinnern? Jemand hat dir geholfen und dich im Taxi hierher gebracht. Das war übrigens eine sehr nette junge Dame“, fuhr die Großmutter fort. „Auch wenn sie ziemlich verzottelte Haare hatte.“
Sonjo traute seine Ohren nicht und sagte nichts. An eine junge Dame konnte er sich überhaupt nicht erinnern. Die Großmutter wartete kurz, ob er nicht doch noch etwas äußern würde.
„Du warst ja ganz schön durcheinander. Ist wohl nicht so gut gelaufen, was?“
„Was soll denn gelaufen sein?“ Es war eine Frage, die Sonjo mehr interessierte als ihm Recht sein konnte. „Na das Vorstellungsgespräch. Was denn sonst?“ „Ach“, antwortete Sonjo bloß und ‚Das Vorstellungsgespräch?’ dachte er dabei. ‚Bei diesem merkwürdigen Unternehmen des alten Studienkollegen des Vaters. Wann war das denn eigentlich genau gewesen?’
„Ich hab gleich gewusst, dass das nichts für dich ist, mein Junge. Du bist für etwas Besseres, etwas ganz Großes gemacht“, tröstete die Großmutter. „Wenn sich etwas schon Agentur für digimonetäre Dienstleistungen nennt, da kann doch nichts Gescheites dahinter stecken.“ Und damit wandte sie sich wieder dem Kochbuch zu, das sie an diesem Morgen mit besonderem Interesse zu studieren schien. …
(Es folgen Kapitel III bis IX)

Kapitel X

Im großen Messesaal war die zuvor aufgekratzte Stimmung in der Zwischenzeit fast ins Gegenteil umgeschlagen. Die Messebesucher standen wohlgeordnet in Reihen, schauten erwartungsvoll zur Hauptbühne und verhielten sich ruhig. Die Wolken lagen ein ganzes Stück höher und über der hell erleuchteten Hauptbühne war das Wolkenloch mittlerweile verschwunden. Die plötzliche Disziplin und die große Stille im Saal hatten besonders im Vergleich zum vorherigen Chaos etwas irreales an sich. Sonjo konnte sich mühelos durch die Reihen schlängeln und eilte nach vorne. Als er sich der menschenleeren Bühne auf ungefähr dreißig Meter genähert hatte, erschien dort jemand rechts aus einer kleinen Öffnung in der hohen Rückwand aus Sandstein. Er trug einen weißen, bis oben zugeknöpften Kittel und eine rote Krawatte. Die Beine und auch die Füße waren nackt. Der Melonenbauch war unverkennbar. Melbig. Er ging bis zu der breiten Treppe am vorderen Rand der Bühne und im Saal wurde es komplett dunkel. Nur die Bühne war in einem starken Gelbton erleuchtet und erinnerte stark an einen antiken Tempel. Genau in der Mitte stand noch immer der Altar aus zwei Findlingen mit einer langen Deckplatte aus Schiefer, die mittlerweile mit braunen Schlamm beschichtet war. „Dieses Jahr macht es mir eine besonders große Freude die Zeremonie zu eröffnen, denn heute treffen der längste Schimmer des aufklärerischen Junilichtes und der zarteste Schimmer des uralten Junimondes zusammen“, hallte es laut durch den Saal. Melbig musste irgendwo, vielleicht im Krawattenknoten, ein Mikrofon versteckt haben. „Wir danken dem ewigen  Bürgermeister, dass er vor einigen Jahren das unberechenbare, schwelende Feuchtbiotop in der Mitte der Stadt trocken legen ließ. So konnten wir den Anweisungen des Kultmagens uneingeschränkt Folge leisten und uns im gebührendem Maße auf diesen historischen Moment vorbereiten. In wenigen Augenblicken wird es soweit sein. Dann wird sich zeigen, wie weise und weit vorausschauend der Kultmagen die Pläne für sein neues Zuhause damals angelegt hat. Er wird uns ein neues Zeichen schenken, das uns ermöglicht, das was uns als Menschen ausmacht noch mehr zu sein, indem wir unseren unendlichen Durst noch grenzenloser stillen können. Schauen wir einen schimmernden Zyklus zurück, so verstehen wir erst heute, wie wertvoll damals sein Geheimnis von der freien und radikalen Eusierung für unsere Bewegung gewesen ist. Die Einweihung erfolgte übrigens noch im großen Himmelsaal des Institutes, wie sich doch einige von uns noch erinnern dürften. Wir sind seitdem so zahlenreich geworden, dass wir jetzt selbst hier, besonders an den Enden, kaum noch alle Platz finden. Erst durch die resolute und in diesem Ausmaß eben auch sinnfreie Eusierung konnten wir den Boden unserer magischen Realität noch urbarer und urbaner machen und so die vielen, vielen Bäuche nach und nach überzeugeln. Zudem wurden dadurch auch viele hohe und niedere Mitesser auf ewig ausgedrückt, ein äußerst ästhetischer Prozess, der immer noch zügellos und inzwischen auch weit über alle Grenzen hinaus fortschreitet.“
Melbig machte eine Pause. Es war mäuschenstill im Saal. Dann redete er verständnisvoll weiter. „Wir freuen uns nicht an dem Irrglauben und dem spirituellen Mangel anderer, aber wir freuen uns, dass wir richtig liegen. Deshalb wollen wir jetzt auch, bevor ich unsere Exzellenz aus seiner himmlischen Sphäre zu uns rufe, unser Gedenklamento für alle Ungläubigen einlegen.“ „Ooooooooohhhhhh, die Armen“, bedauerte Melbig inbrünstig mit aufbrausender Stimme und auf seinem Melonenbauch gefalteten Händen und „Aaaooouuuuuuuuuuuuhhhhhh“ bedauerte der ganze Saal so wollüstig, dass Sonjo eine Gänsehaut bekam. Wie aus heiterem Himmel baumelte auf einmal aus der Wolkendecke ein freudig zappelndes Wesen hervor, das Sonjo zunächst für eine rot bemalte Robbe hielt. Es hing an vier weißen Seilen und während es in weiten Kreisbögen über den Köpfen der Zuschauer umherpendelte, senkte es sich langsam weiter nach unten. Ein respektvolles, erfreutes Raunen zog durch den Saal. „Na der kann`s ja diesmal kaum erwarten“, freute sich auch Melbig und verfolgte wie alle anderen gebannt die Schwünge der durch und durch eigentümlichen Kreatur. Schließlich blieb sie in Bauchhöhe über der Treppe, die zur Bühne hinaufführte, hängen. Melbig ging rüber und zerrte das Wesen an einem der Seile zu den zwei Findlingen rüber, wo es sich anscheinend von alleine weiter absenkte. Das Ganze sah dann mehr denn je wie ein urzeitlicher Altar aus. Auf der Deckplatte lag in dem braunen Schlamm ein glänzendes, fleischfarbenes Wesen, das weiter freudig vor sich hin zuckte. Sonjo erkannte die Form des Wesens sofort wieder. Es gab keine Zweifel, dass dies der Kultmagen war, und dass der Kultmagen sehr lebendig war. Er sah genau so halbrund gekrümmt aus, wie Sonjo sich auch an seinen eigenen Magen in den Händen des dünnen Exstirpators erinnerte, nur das der Kultmagen viel größer war, ungefähr die Ausmaße eines Seesacks hatte. Vorne befand sich zudem ein unförmiger Schlitz, der wahrscheinlich so etwas wie sein Mund war. „Ja gleich gibt es etwas Leckeres.“ , sagte Melbig zu dem Kultmagen, während er ihn streichelte und auf den feuchten Rücken klopfte. Der Kultmagen krümmte sich noch ein Stück mehr vor Freude und hopste ein kleines Stück in die Luft. „Ups“, entfuhr es dann Melbig. Das Vieh hatte nach seinem Finger geschnappt, und Melbig gab ihm dafür einen Klaps auf die Stelle, die wahrscheinlich so etwas wie ein Hintern war. „Sie sehen, unser kleiner Racker ist heute mindestens so aufgeregt wie wir und hat einen besonders ausgeprägten Appetit. Deshalb sollten wir ihn jetzt auch nicht länger warten lassen. Er weiß schließlich besser als wir selbst, dass er heute einen besonderen Leckerbissen von uns bekommen wird und ich kann ihnen schon an dieser Stelle verraten, dass es mir gelungen ist, ein wahres Prachtexemplar für ihn aufzutreiben. Doch zunächst wollen nun die Initianten kommen.“ Sonjo bekam auf einen Schlag knallrote Ohren und konnte perverserweise einen gewissen Stolz, das Melbig seinen Magen vor den vielen Zuschauern als Prachtexemplar bezeichnete, nicht unterdrücken. Melbig schaute bei diesen Worten erwartungsvoll zu der kleinen Tür in der Hinterwand der Bühne. Dort trat als erstes etwas zögerlich ein kleines Mädchen hervor. Es trug einen schwarzen Minirock und ein bauchfreies T-Shirt. Melbig begann demonstrativ ermutigend zu klatschen und im Saal taten es ihm viele nach. Es folgte im Gänsemarsch eine ganze Reihe weiterer Kinder unterschiedlichen Alters, die adrett und überwiegend modisch gekleidet waren. Rechts und links wurde dieser niedliche inszenierte Aufmarsch von zwei Herren flankiert. Sie waren wie Melbig barfuß und trugen auch nur einen weißen Kittel und eine rote Krawatte. Erst als der eine von ihnen einen aus der Reihe tanzenden Jungen mit einem übermäßig langen Zeigefinger ermahnte, erkannte Sonjo sie als die Exstirpatoren wieder. Kurz vor dem Altar teilte sich die Kinderschlange zu den Seitenwänden hin auf. Zwei weitere Gruppen kamen auf die Bühne. Es handelte sich um einen Pulk Jugendlicher in unterschiedlichsten Aufmachungen und um eine handvoll Erwachsene in ärmlicher Kleidung. Mit ihnen erschienen drei wiederum weißbekittelte Herren mit wiederum roter Krawatte. Der mittlere von ihnen war der Minibrillenträger Deiters und seine Begleiter Herr Wegerich und Monsieur Le Mett. Auch diese Leute flanierten an dem Kultmagen vorbei und stellten sich dann, wie die Kinder, an einer der beiden Seitenwände in einer bestimmten Reihenfolge auf. Schließlich eilte noch schnell, wie verspätet, ein Heranwachsender im Gammel-Look auf die Bühne und zu guter Letzt ein weiterer barfüßiger Mann, der einen weißen Kittel, aber eine grüne Krawatte trug. Sonjo sah, wie ganz hinten einer von der Initianten- Gruppe unauffällig die Bühne wieder über die Öffnung in der steinernen Rückwand verließ. Die Exstirpatoren waren mittlerweile zu den Seitenabgängen der großen Treppe geschritten und beide hatten sich den jeweiligen schwarzen Gummischlauch, der dort vom Wolkenhimmel herunterbaumelte, an dem Einspritzstutzen geschnappt. Sie mussten kräftig daran ziehen, um damit bis zu dem Altar mit dem Kultmagen in der Mitte der Bühne zu gelangen. Dort waren jetzt alle Männer mit weißen Kitteln versammelt. Melbig und Deiters standen hinter dem Altar und seitlich je ein Exstirpator mit je einem der Begleiter von Deiters. Manfred von Bärenbind überreichte diesen Männern eine Art Waschschüssel aus glänzendem Stahl mit kreisrundem Boden.
Während die gesamte Bühne ein ganzes Stück abgesenkt wurde, wandte sich Melbig wieder an die Besucher der Messe. „So, wenn wir gleich die Volksnähe erreicht haben, können wir beginnen. Natürlich werden wir wie jedes Jahr die individuellen Noten der Initianten berücksichtigen. Diese wollen sie jetzt kundtun.“
Alle Initianten öffneten ihren Mund und jeder von ihnen sang einen Ton. Vorne bei den kleinen Mädchen klang es hell und glockenrein, mit abnehmender Tonhöhe kamen die Knaben, die Jugendlichen und die Erwachsenen und hinten dann auch einige Heranwachsende im Stimmbruch. Ein schöner Vielklang an Stimmen ließ das Geschehen auf der Bühne ein erstes Mal so ähnlich erscheinen, wie Sonjo sich eine religiöse Zeremonie vorgestellt hatte. Melbig sprach, vom Mikrofon verstärkt, mitten rein. „Ein echter Genuss. Auf geht’s.“ Die Exstirpatoren und ihr jeweiliger Partner preschten los. Der rechte, lange Exstirpator erreichte mit dem widerspenstigen Schlauch als erster das vorderste kleine singende Mädchen, das sogleich kindlich angeekelt die Nase rümpfte. Er steckte ihr den Stutzen in den offenen Mund und Monsieur Le Mett hielt schnell die Schüssel darunter. Das Mädchen wurde unter Hochdruck, der den Schlauch kurz zucken ließ, ähnlich wie eine Gans gefrickt, bis ihr eine weiße Flüssigkeit aus Mundwinkeln und Nase in die Waschschüssel tropfte. Dann sank sie wie bewusstlos in die Knie. Der Exstirpator reichte Le Mett den Schlauch, den dieser umständlich halten musste, beugte hastig den Kopf des Mädchens zurück, bis der immer noch geöffnete Mund zur Decke zeigte und stopfte dann blitzschnell mit den Spinennfingern an seiner linken Hand seine rote Krawatte, die er unten der Länge nach gefaltet hatte, da hinein. Er fingerte hektisch herum, wurde plötzlich ganz ruhig und zog behutsam, als wolle er drinnen irgendetwas nicht verlieren, die Finger und die Krawatte zurück.
Sonjo hielt sich die Hand vor die Augen um nicht mit ansehen zu müssen, was er da jetzt rausholen würde. Er hatte sich vorgenommen, sich während der Zeremonie, die sicherlich grausame Momente haben würde, von gar nichts auch nur irgendwie schockieren zu lassen, um im entscheidenden Moment nicht zu zögern. Und tatsächlich war es ihm auch gelungen, den Anblick der magenförmige Bestie, die auch jetzt noch in ihrem rotbraunen Schlammbett vor sich hin gluckste, fast gänzlich gelassen an sich abperlen zu lassen. „Aha. So sieht ein Kultmagen also aus“, hatte er sich selbst nüchternes Interesse zugeheuchelt und aufkommende Unruhe gleich mit einem „das ist doch nur ein kleiner Racker“ und einem „ein besonders dicker Mops ohne Beine, Augen und Ohren höchstwahrscheinlich“ erfolgreich besänftigt.
Diese Live-Exstirpation an einem Mädchen hatte ihn aber kalt erwischt, besonders weil es sich nur um den Anfang einer öffentlichen oder halböffentlichen Massenexstirpation handelte. All die Mägen würden gar nicht in diese Waschschüssel passen. Eigentlich müsste er da auch irgendwie eingreifen, da waren ja schließlich Kinder die gar nicht wussten worauf sie sich da einließen, aber er musste an seinen eigenen Magen denken und könnte gegen die Übermacht auf der Bühne sowieso nichts ausrichten. Er spreizte vorsichtig seine Finger. Auf beiden Seiten waren die Exstirpatoren bereits mit dem nächsten Mädchen beschäftigt. Einige Kinder hatten aufgehört zu singen und drucksten, während sie den Exstirpatoren zuschauten, unruhig herum aber Melbig und Deiters gingen mit Körben durch die Reihen und verschenkten daraus Teddybären. Das erste Mädchen, das bereits wieder aufgestanden war und tapfer und stolz lächelte, bekam, wie auch ihr Pendant auf der gegenüberliegenden Seite, einen besonders großen in die Hand gedrückt.
Sonjo ging weiter nach vorne und reckte trotzdem seinen Kopf. Er wollte das unangenehme Gefühl an seinem Hals abschütteln und außerdem auch mitkriegen, was die Exstirpatoren, die mittlerweile hinten bei den letzten Initianten zugange waren, da genau rausholten. Diesmal zwang Sonjo sich bis zum Ende zuzuschauen. Sie holten da… sie holten da.. sie holten da gar keinen Magen raus. Da war gar nichts zu sehen, aber sie schienen irgendetwas von der Krawatte oder den Fingern in einen Glaskolben, der aus der Kitteltasche hervorragte, abzustreifen.
Der Schlauch rechts und dann auch links schnellte in die Höhe, pendelte über den Zuschauern und verschwand in den Wolken. Über der Hauptbühne lichteten sich diese daraufhin deutlich und an einigen Stellen taten sich erneut Löcher auf. Beide Gruppen waren fertig und erreichten den Kultmagen fast gleichzeitig. Die Exstirpatoren hielten die Glaskolben demonstrativ in die Höhe. Wegerich und Le Mett trugen noch immer die Waschschüsseln mit den sie die milchige Flüssigkeit, die im Rahmen des Betäubungsaktes aus Mund und Nase getropft war, aufgesammelt hatten. Melbig schaute zu Manfred von Bärenbind herüber, der letzte Inspektionen vornahm und dann sein Einverständnis herübernickte. „Wir wollen Ihm jetzt gemeinsam Sein Mahl bereiten.“ sagte Melbig und erschien dabei sakraler denn je. Die eine Waschschüssel wurde in die andere, die jetzt Deiters genommen hatte, entleert und dann von Bärenbind entsorgt. Es war gar nicht soviel von dieser weißen Milch darin gewesen. Melbig holte aus seiner Kitteltasche ein kleines Bonsaibäumchen, dass er in die verbliebene Schüssel zerpflückte. „Es ist auch für mich noch jedes Jahr immer wieder erstaunlich, wie wenig unsere Exzellenz verbraucht“, kommentierte er durchs Mikrofon verstärkt sein Tun, „das ist ja weniger als nichts, wenn man bedenkt, was da so übers Jahr verteilt für uns alle bei raus kommt.“
Als er fertig war, entnahm er seiner anderen Kitteltasche ein braunes Fläschchen und entleerte es in die Schüssel. „So, dann noch das hier“ sagte er dabei und dann „und jetzt wollen wir zur spirituellen Würze kommen.“ Mit einem Mal war die gesamte Bühne in Dunkelheit getaucht. Nur unmittelbar vor dem Altar lag ein scharf abgegrenzter, ungefähr ein Meter schmaler und vielfach längerer mondsichelförmiger Lichtstrahl am Boden „Na wer sagt’s den“, bemerkte Melbig leise aus dem Dunklen, so, als ob er zu seinem Nebenmann sprach, „auch das Wetter spielt dieses Jahr mit.“
Dann traten die Exstirpatoren und Melbig in das Licht vor den Altar. Melbig stand in der Mitte und die Exstirpatoren an den Seiten, an denen sie auch vorher gearbeitet hatten. Als die Exstirpatoren in einer Geste der Würde die Glaskolben weit nach oben hielten, bemerkte Sonjo seltsame milchig glänzende Fäden in der Luft, die in den Glaskolben zusammenliefen. Er schaute genau hin und konnte sie am Rande des Lichtstrahles ein Stückchen in die Richtung der jeweiligen Seitenwände zurückverfolgen. Auch Melbig hielt kurz die Waschschüssel in die Höhe, in die anschließend die Glaskolben entleert wurden. Dabei nuschelte er etwas unverständliches vor sich hin. Die Exstirpatoren traten neben den Altar ins Dunkle. Hinter Melbig war, in eine schwache Lichtreflexion getaucht, der Kultmagen zu sehen, dessen vordere Öffnung sich zu einem breiten Schlitz mit wulstigen Rändern verformt hatte. Die vier weißen Schnüre waren an grau verschwielten Höckern an seinem Rücken mit ihm verwachsen, zwei vorn, zwei hinten, und überall hingen kleine Fettzipfel an ihm herunter. Melbig verbeugte sich tief vor dem Kultmagen. Dann hob er ihn vorn leicht an, drückte die Waschschüssel in den Schlamm genau unter den vorderen Schlitz und entfernte sich äußerst rasch. Das Untier schlabberte die Schüssel in Sekundenschnelle leer und das Gluckern in seinem Inneren war bis zu Sonjo herüber zu hören. Für einen Augenblick meinte Sonjo immer noch die milchigen Fäden sehen zu können, aber im hellen, gelben Licht, das die Bühne gleich wieder schlagartig bestrahlte, konnte er sie nicht mehr erkennen. Alle waren verschwunden, nur Melbig stand noch allein mitten auf der Bühne und wirkte etwas abwesend. Die Initianten saßen mit den Partnern Le Mett und Wegerich rechts und links an den Rändern auf der breiten Treppe. Sonjo starrte mit Abscheu auf den zitternden Kultmagen. Er konnte zusehen, wie seine glänzende Haut abblasste, von fleischrot zu rosa. Es sah so aus, als bereite sich der Kultmagen nach der Vorspeise nun auf das Hauptgericht vor und konzentriere dafür Blut in seinem Zentrum, wo es für die Verdauung benötigt wurde.
Nach allem, was Sonjo bei der Geheimbesprechung der besseren Gesellschaft mitbekommen hatte, sollte Melbig während der Opferzeremonie gestürzt werden. Diesen Moment galt es auch für Sonjo auszunutzen, es sei denn sein Magen würde schon vorher diesem kleinen verfressenen Klops angeboten. Dann müsste er sofort zuschlagen.
„Uns allen steht jetzt ein wahrhaft historischer Moment bevor.“ sprach plötzlich eine ganz andere Stimme als bisher laut in den Saal. Melbig bewegte auch gar nicht seinen Mund. Er stopfte vielmehr noch äußerst sorgfältig irgendetwas an der Brust unter seinem Kittel zurecht. „Ein zwingendes Ereignis unserer fortschreitenden Weiterentwicklung, dass wir vor allem in der gebührenden Ruhe annehmen und genießen wollen.“ sagte die gleiche Stimme, die Sonjo ungemein bekannt vorkam und etwas nervös klang. Melbig ging energisch aber ohne übermäßige Eile zur hinteren linken Ecke der Bühne und verschwand. Rechts kamen durch eine zweite Öffnung Deiters und die Exstirpatoren geschritten. Sie trugen immer noch nur den Kittel und die roten Krawatten und in der rechten Hand jeder von ihnen einen schwarzen Koffer. Mit seiner linken rückte Deiters noch seine Brille zurecht bevor er sich einige Meter rechts neben dem Altar vor den Messebesuchern verbeugte. „Wer füttert der führt, so lautet nicht umsonst ein altes magisches Sprichwort, das heute mehr denn je… “ „Und auch morgen noch“, Melbig war zurückgekehrt und hatte Deiters das Wort kompromisslos abgeschnitten. Auch er sah unverändert aus und hielt in seiner Linken einen schwarzen Koffer, mit den Fingern seiner Rechten drückte er an seiner Nase herum. Er stellte sich ganz vorn in der Mitte der Bühne hin und schaute angespannt in den Saal. Hinten mogelte sich nun auch Manfred von Bärenbind auf die Bühne. Er lächelte verlegen und zückte mit der einen Hand die Pergamentrolle aus der Kitteltasche. In der anderen hielt auch er einen schwarzen Koffer.
„Es wird gut werden.“ , verkündete Melbig laut mit mächtiger Stimme. „Es wird alles gut werden“, wiederholte er dann noch einmal bedeutend leiser, so als woller er vor allem sich selber davon überzeugen. Hinter seinem Rücken war der lange Exstirpator mit zwei großen Schritten zum Altar geschlichen und hatte versucht nach der Schüssel zu greifen. Der Kultmagen schreckte ihn mit einem drohendem Knurren zu seinem Ausgangspunkt zurück. Melbig drehte sich erstaunt zum Kultmagen hin, ging rüber und beruhigte ihn, indem er kräftig an seinen vier Höckern herum massierte und ihm erwas ins Ohr flüsterte oder zumindest dorthin, wo man bei diesem völlig eigenartigen Wesen ein Ohr vermuten würde. Anschließend legte er seinen Koffer auf den Boden, nahm behutsam die silberne Schüssel, an deren Boden etwas Schlamm klebte, und hielt sie wie eine Trophäe in die Höhe. Im gesamten Saal herrschte eine Totenstille, in die dann ein charakteristischer Doppelklack hineinschlug. Sonjo stockte für einen Moment der Atem. Deiters, der sich immer noch ein ganzes Stück rechts auf Höhe des Altars befand hatte seinen Koffer auf die Erde gelegt, kniete selbst dahinter und öffnete ihn gerade.
Sonjo hatte den Moment X etliche Male in Gedanken durchgespielt. Er befand sich in der ersten Zuschauerreihe, nur einige Meter von der Treppe mit den breiten Stufen entfernt. Diese würde er noch in normalen, völlig selbstverständlichen Gang hinaufschreiten, um nicht frühzeitig die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Oben hätte er dann nur wenige Schrecksekunden, um sich den Magen zu schnappen und anschließend einfach davon zu laufen. Wohin, würde er dann schon sehen. Kein genialer Plan, aber stumpf ist Trumpf machte er sich immer wieder Mut. Wie sollte er es auch anders anstellen? Jetzt war es soweit. Fast, denn Deiters hatte den Ersatzmagen, seinen Magen, wahrscheinlich nicht. Sonjo krampfte seine Zehen in den Schuhen zusammen. Deiters holte etwas längliches Silbernes aus dem Koffer, eine Schere, eine Geflügelschere! Sonjo schaute weg. Zu Melbig rüber, der auf Deiters aufmerksam geworden war, seinen eigenen Koffer aufhob und mit neugierig vorgebeugtem Kopf, so als könne er nicht genau sehen was sich dort abspiele, einige fragende Schritte auf Deiters zu ging.
Die Exstirpatoren, die hinter dem Altar gewartet hatten, stellten lautlos ihre Koffer neben dem Altar ab und schlichen sich in langen lautlosen Schritten rücklings an Melbig heran. Sonjo sah die verwaisten Koffer der Exstirpatoren neben dem Altar. In einem von beiden musste sich sein Magen befinden und die Gelegenheit war günstig. Manfred von Bärenbind verweilte immer noch hinten auf der Bühne und drehte sich sogar zur Rückwand um. Sonjos Herz raste bereits los und auch er machte schon eine erste Bewegung, zögerte dann aber doch wieder, da ihm eine Flucht mit zwei Koffern auf einmal zu riskant erschien. Der lange Exstirpator hatte seine Arme ausgebreitet, so als wolle er Melbig, der immer noch nicht zu ahnen schien, dass ihm die Exstirpatoren dicht an den Fersen waren, von hinten umschlingen. Der andere suchte in seinen Kitteltaschen herum, wobei er aufgrund seiner langen Finger die Handteller gar nicht in ihnen versenken musste Dann schlugen sie zu. Der Lange umschlang Melbig direkt unter der Achsel, verschränkte sofort seine Hände an dessen Nacken und konnte so mühelos Melbigs Oberkörper nach vorne beugen, wo sich der kleine dicke Exstirpator bereits mit einem doppelläufigem Nasenspray positioniert hatte. Melbig war von der Attacke dermaßen kalt erwischt worden, dass er bisher noch nicht einmal den Koffer oder wenigstens die Schüssel hatte fallen lassen und bevor er auch nur irgendeine Gegenwehr leisten konnte, wurde ihm schon eine erste Dosis Spray verabreicht. Der kleine Exstirpator wurde dann hektisch. Er packte Melbigs schütteres Haar über der Stirn, zog daran den Kopf nach oben und pumpte noch etliche Ladungen hinterher. Melbig stieß einen beklemmenden Schrei starken Schmerzes aus, ließ den Koffer und die Schüssel los und sank in sich zusammen. Der große Exstirpator befreite seine Arme und sprang zur Seite. Melbig wankte schräg nach vorn und fiel wie ein nasser Sack gegen den Kleineren, der ihn, um sich selbst vor dem schweren Mann zu schützen an den Schultern auffing und mit ihm zurückstolperte, bevor er ihn zu Boden fallen ließ. Dort blieb Melbig auf seinem Melonenbauch regungslos liegen. Der ganze Überfall war blitzschnell über die Bühne gegangen, auf der die Waschschüssel noch immer herumdengelte.
Auch die Zuschauer im Saal reagierten erst jetzt mit einer Mischung aus geiferndem Sensationsgeschrei und brummender Empörung, so dass Deiters, der sich gerade über Melbig hermachen wollte, sich dazu veranlasst sah, aufzustehen und mit abwiegenden Bewegungen seiner Hände – in der einen hielt er dabei noch die Geflügelschere – und einem „Pscht, pscht“ die Ruhe wieder herzustellen. Dann verkündete er: „Keine Sorge. Es handelt sich um etwas Neues und es hat hier oben alles seine Richtigkeit, da sind sich die Experten einig. Es wird alles gut und bald sogar noch besser werden. Immer besser, darin können wir vertrauen.“ Das wirkte. Die Aufregung im Saal verschwand zwar nicht völlig, aber sie legte sich in geordnete Strukturen. Man diskutierte und spekulierte, durchaus auch kritisch, über das was geschehen war und was Deiters dazu gesagt hatte. Blitzlichter flammten auf. Gleich neben Sonjo zuckte jemand mit den Schultern und sagte zu ihm, „Was soll`s. Der Kultmagen will es so.“ Dann machte auch er ein Foto. „Für meine Enkel“, erklärte er dazu. Ein erneutes, einfaches Klackgeräusch ließ Sonjo bis ins Mark zusammenzucken und gleich darauf stand ihm auch der Schweiß auf der Stirn. Der kurze dicke Exstirpator kniete unweit vom Altar vor seinem Koffer und steckte gerade den Schlüssel ins zweite Kofferschloss. Dafür musste er sich umständlich wie ein Büßer zum Koffer hinunter beugen, da die Schnur um seinen Hals, an der der Kofferschlüssel hing, ansonsten nicht lang genug war. Der lange Exstirpator holte die Schüssel, die bis in die hinterste Ecke der Bühne gerollt war.
Es folgte ein tumultöses Geschehen. „So, es geht jetzt ganz konkret um meinen Magen“, war das letzte was Sonjo gedacht hatte, als er noch vor dem zweiten Klack die ersten Stufen der Treppe hinaufging. Auf der Bühne verlor er in einem lähmenden Gefühl jegliche Orientierung und empfand in befremdender Weise, dass er sich zwar immer tiefer in diese Szenerie hineinbohren könne, wie ein Maulwurf in die Erde, aber dass er eigentlich, gerade im Gegenteil, weg von dieser Detailebene müsse, es handele sich hier gar nicht um sein Problem, es sei sein Problem, dass er das denke. Der Koffer sei nur halbrichtig, alle Koffer seien nur halbrichtig und das auch nur deshalb, weil die andere richtige Hälfte überhaupt danach suche.
Dieser seltsame und für diesen Zeitpunkt sicherlich völlig unangebrachte Zweifel schoss Sonjo in Sekundenbruchteilen durch den Kopf. Einen etwas längeren Moment brauchte er, um aus der Tiefe der Empfindung zurückzukehren zur Oberfläche seiner Umgebung. Dabei starrte er Deiters an, der ihm dabei wie ein völlig Unbekannter erschien. Deiters mühte sich noch immer mit verrutschter Minibrille und Leibeskräften den dicken, bewusstlosen Melbig auf den Rücken zu drehen, aber Melbig rollte – offensichtlich aufgrund einer auch am Rücken kugeligen Beschaffenheit, die er ansonsten unter seiner Kleidung geschickt zu verbergen wusste – immer wieder zu weit und blieb dann wieder auf der anderen Seite liegen. Obwohl er mitten auf der Bühne stand, schien niemand Sonjo zu beachten. Der kurze Exstirpator zog gerade den Schlüssel aus dem zweiten Schloss und der lange hatte erst die Schüssel erreicht. Sonjo musste wahnsinnig schnell gelaufen sein. Bärenbind schaute demonstrativ zur Wand, und sah dabei so gänzlich unbeteiligt an allem aus, dass es nicht verwunderlich gewesen wäre, wenn er noch ein kleines Wanderliedchen gepfiffen hätte.
„Zu früh, eigentlich doch noch zu früh losgelaufen“, dachte Sonjo, denn in welchem der drei Koffer sich sein Magen tatsächlich befand, könnte er erst wissen, wenn er ihn sehen würde. Es war keinesfalls ausgeschlossen, dass er sich in Melbigs Koffer befand, denn auch wenn der mit diesem Überfall mitten auf der Bühne vor tausenden an Zeugen sicher nicht gerechnet hatte, irgendetwas hatte er wohl doch geahnt. Da sah er ihn aber auch schon, fleischfarben, in den Händen des kleinen Exstirpators, der den Magen merkwürdig entgeistert anstarrte. Während Sonjo die paar Meter zu ihm rüber hastete formten sich seine Finger zu starren Harken, die er notfalls überall reinrammen würde, aber der Exstirpator leistete gar keine Widerwehr. Er bemerkte Sonjo überhaupt erst, als dieser sich den Magen bereits krallte, wobei er weit weniger zimperlich mit dem ihm so kostbar gewordenen Stück Fleisch umging als ihm lieb sein konnte. Sonjo fiel sofort auf, dass sein Magen bedeutend schwerer war, als er erwartet hatte. Er presste ihn an die Brust, und rannte damit wie ein Footballer in Richtung Touchdown zum Hinterausgang der Bühne. Hinter ihm rief der kleine Exstirpator aufgeregt herum. Kurz bevor Sonjo den Ausgang erreichte, drehte er sich ein erstes Mal um. Er wurde gar nicht verfolgt. Der lange Exstirpator, der ihm den Weg vielleicht hätte abschneiden können, eilte vielmehr nach vorn, zu seinem Kollegen und Bärenbind nestelte am Bühnenboden herum, so als würde er dort einen Fleck untersuchen. Sonjo verlangsamte seine Schritte und ging dann rückwärts in Richtung Ausgang, um die Exstirpatoren im Auge behalten zu können. Die beachteten ihn aber gar nicht weiter. Der lange Exstirpator riss sich mit einem Ruck einen Schlüssel vom Hals und sperrte nun seinen Koffer auf. Ein herzhafter Geruch nach Geräucherten drang in Sonjos Nase. Das konnte doch unmöglich so schnell vom Koffer zu ihm herübergezogen sein. Unwillkürlich hob Sonjo seinen Magen zur Nase.
Vorne kullerten unterdessen mehrere Rollen Toilettenpapier über die Bühne und hinterließen büttenweiße Linien. Der lange Exstirpator warf den Koffer, aus dem sie gefallen waren, wütend zur Seite und ging mit rücksichtslosen Schritten auf Bärenbind zu. Der war auf einmal enorm engagiert und konnte gar nicht schnell genug seinen Koffer dem Exstirpator über den glatten Holzboden der Bühne entgegenschleudern. Er selbst robbte auf den Knien rückwärts in die entgegengesetzte Richtung.
Sonjo wollte es nicht glauben. Sein eigener Magen war es, der so stark nach Geräuchertem roch und es war auch gar nicht wirklich sein Magen, sondern ein großes Stück dunkelroter Hinterschinken, wie Sonjo nach eindringlicher Untersuchung verzweifelt aber auch enorm erleichtert feststellte. Sein eigener, echter Magen musste sich in Melbigs Koffer befinden, aber den hatte sich der kleine Exstirpator längst geschnappt und sich ein Stück weit rechts vor dem Altar damit niedergelassen. Auch er hatte sich mit einem Ruck seinen Schlüssel vom Hals gerissen und versuchte erfolglos den Koffer zu öffnen.
Im Zuschauerraum war mittlerweile tosender Jubel ausgebrochen oder ein heilloses Getöse, Sonjo vermochte das nicht zu unterscheiden und war von den Scheinwerfern auch derart geblendet, dass er nicht sehen konnte, was sich dort abspielte. Dann fiel ihm auf, dass es Deiters schließlich doch gelungen war, Melbig auf den Rücken zu lagern und dass er bereits mit der Geflügelschere an dessen Brust zu Gange war, was aber offenbar bisher nicht zum gewünschten Erfolg geführt hatte. Deiters erhob sich, setzte die geöffnete Schere fast senkrecht an und stemmte sich mit seiner eigenen Brust auf sie. Ein erster Stoß, ein resoluter zweiter, und dann ein langanhaltender dritter, mit aller Leibeskraft, hochrotem Kopf und einem ehrgeizigen, oval verzerrten Mund aus dem zunächst Speichel und dann ein verzweifeltes, ehrgeiziges Keuchen drang. Vom Mikrofon verstärkt war es so durchdringend, dass es den Lärm im Zuschauerraum kurz vollständig niederdrückte. Einmal mehr hatte Sonjo eigentlich gar nicht weiter zuschauen wollen, aber was sich dort abspielte war so ungeheuerlich und einzigartig, dass er seinen Blick denn doch nicht abwenden konnte. Melbigs zäher, strammer Körper hatte nur kurz vom dritten Stoß gewackelt, dann war die Schere abgerutscht und Deiters der Länge nach auf Melbig gefallen, was etwas unanständig aussah, fast so als wollte er ihn küssen.
Auch der kleine Exstirpator war auf Deiters aufmerksam geworden.
„Schere!“ brüllte er in Deiters Richtung, und hielt Deiters die Hand fordernd, wie bei einer echten Operation, entgegen.
„Neiiiin!“ kreischte Deiters und stocherte erfolglos auf Melbigs Brust ein. Sein Mikrofon war noch immer eingeschaltet und es gab eine ohrenbetäubende Rückkopplung, in deren Folge der Lärm aus dem Zuschauerbereich vorübergehend vollständig verebbte.
„Du gibst jetzt die Schere her, kapiert, sonst… “, drohte der Exstirpator und zwar in einem dunklen Ton, der so barsch war, dass selbst Sonjo den Impuls verspürte, ihm sofort eine Schere auszuhändigen.
Auch Deiters hatte jetzt keine Sekunde mehr gezögert, dem äußerst erregten Exstirpator, noch bevor dieser den Satz beendet hatte, die Geflügelschere – ähnlich wie Bärenbind gerade noch den Koffer – über den Bühnenboden hinweg entgegen zu schleudern.
Sonjo wollte jetzt sofort hin zu Melbigs Koffer, aber was hätte er mit seiner einzigen Waffe, dem Schinken, gegen die Geflügelschere ausrichten können? Da war aber etwas, was neue Hoffnung in ihm genährt hatte. Und zwar das sonst. „Aber was sonst?… sonst?… sonst?“ überlegte Sonjo. Noch stand er auf der linken hinteren Seite der Bühne. Vorne hatte gerade der große Exstirpator den Koffer von Bärenbind ausgeschüttelt, aus dem lauter bunte Papierschnippsel in der Größe von Geldscheinen herausflatterten. Bärenbind wirkte erleichtert, aber noch nicht erlöst. „Verfluchter Mist“ , brüllte vorn der andere Exstirpator in Sonjos Gedankengang hinein und schlug verzweifelt mit der Spitze der Schere auf Melbigs Koffer ein, „das ist ja ein getarnter Stahlmantelkoffer.“
Sonjo hatte unterdessen den Quell seiner eigenen Hoffnung entdeckt. „Sonst war ein Umorientierungsprozeß fällig, bei dem er unter Garantie aus dem Schneider wäre… unter absoluter Garantie.“
Er lief zu Deiters hin, der dem mit starren Augen daliegenden Melbig gerade eine weitere Ladung Betäubungsspray in die Nase gepumpt hatte, und tippte ihm von hinten auf die Schulter. Deiters drehte sich erschrocken um und war dann, als er nur Sonjo vor sich sah, so erleichtert und perplex, dass er reflexartig in die ihm dargebotene Hand von Sonjo einschlug.
„Danke Doktor Doktor Deiters.“ sagte Sonjo dabei völlig übertrieben laut und reichte ihm noch den Schinken, den der entgeisterte Deiters ebenfalls entgegennahm. „Professor Melbig hatte tatsächlich entsprechende Vorkehrungen wegen des geheimen Ersatzmagens getroffen. Wie sie sehen habe ich ansonsten aber dicht gehalten.“ Deiters runzelte die Stirn bis tief zu den Augen runter. Er hatte noch nicht verstanden worauf Sonjo hinauswollte, fand es aber vielleicht sogar nett, dass ihm jemand Hilfe anbot.
„Was reden sie da Herr Sonjo?“ fragte er, was verstärkt durchs Mikrofon im ganzen Saal zu hören war. Sonjo schielte kurz zu dem langen Exstirpator rüber und Deiters folgte seinem Blick. Daraufhin riss er sofort seine Hand zurück, die Sonjo bis dahin gehalten hatte. Aber es war bereits zu spät. Der lange Exstirpator kam in noch längeren Schritten auf ihn zu. „Ach, das ist ja höchst interessant. Erst hast du uns den Scheiß von der Anthropogastrophagie erzählt und jetzt noch dafür gesorgt, dass der Ersatzmagen verschwunden ist, damit wir dir nicht doch noch in die Quere kommen können. Von wegen enterokardiale Partnerschaft, hä?“ Und schon hatte er den knienden Deiters am roten Krawattenknoten nach oben gezogen, in Richtung Altar geschleift und seinen Kopf wie einen Scheibenwischer auf Stufe drei hin und her geschüttelt. Das Mikrofon ging dabei mit einer knirschenden Übertragung seiner eigenen Zerquetschung zu Grunde. Sonjo war etliche Meter zurückgewichen und wartete. Erst als Deiters schon nasal betäubt zu Boden gesunken war – er hatte gar nichts mehr zu seiner Verteidigung sagen können – und der lange Exstirpator bereits seine eigene rote Krawatte vorsichtig der Länge nach faltete, kam auch der zweite Exstirpator hinzu und mahnte zur Eile. Melbigs Koffer hatte er ungeöffnet vorne rechts auf der Bühne liegen lassen. Sonjo triumphierte in sich hinein. Er hatte subversiv und erfolgreich die Kontrolle auf der Bühne übernommen und der Umorientierungsprozeß war genau in seinem Sinne abgelaufen. Jetzt würde er einfach zum Koffer hingehen und ihn mitnehmen. Trotz der Umorientierung hielt Sonjo es für ratsam, das Gesichtsfeld der Exstirpatoren nicht zu kreuzen. Obwohl er etwas länger war, wählte er den Weg zwischen dem starr am Boden liegenden Melbig und dem schlaff am Boden liegenden Deiters, vor dem die Exstirpatoren knieten und Sonjo den Rücken zukehrten. Die transorale digitale Exstirpation bei Deiters war in vollem Gange, als mit einem Schlag zum zweiten Mal während der völlig durcheinandergeratenen Zeremonie jegliches Licht im Saal erlosch. Lediglich das schmale, scharf abgegrenzte Mondlicht erhellte wie schon bei der ersten Dunkelheit einen kleinen sichelförmigen Ausschnitt in der Mitte der Bühne. Im Zentrum der Bühne stand der Altar. Dieses mal fiel der schmale Lichtstrahl genau auf die Deckplatte. Dort, im Bauch der uralten Mondsichel, und nun erneut im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, lag, mit vier weißen Schnüren länglich und halb gekrümmt wie ein Embryo, der Kultmagen im Schlamm. Zunächst pendelte seine Kopfpartie mit einem leichten Wippen nach rechts und links, so als suche er die Schüssel. Der Mund schnappte dabei ab und an in rudimentärer Halbherzigkeit ins Leere, ein Verhalten, dass an einen überschießenden animalischen Reflex erinnerte. Anschließend begann der Kultmagen am ganzen Leib immer mehr zu zittern, bis er fast vibrierte. Dann krümmte er sich plötzlich krampfhaft zusammen. Dabei verspritzte er aus einigen nebeneinanderliegenden Öffnungen, ähnlich wie bei einer Rasensprengerleiste, ein weißliches Sekret, das den Schlamm auf der Deckplatte besprenkelte. Dieser Vorgang wiederholte sich einige Male in rascher Folge. Zwischen Schlamm und Sekret kam es zu einer chemischen Reaktion. Sie nahm unter vermehrter Schaumbildung und Ausbreitung stetig zu und drohte, den Kultmagen zu erreichen. Mit einer Behändigkeit, die man diesem plumpen Wesen niemals zugetraut hätte, hüpfte der Kultmagen weit über die Hinterkante des Altars hinaus und fiel mit einem dumpfen Geräusch zu Boden. Im ganzen Saal herrschte betroffene Stille. Von verschiedenen Richtungen huschten Gestalten durch die Dunkelheit auf der Bühne. Aus dem Zuschauerraum war mittlerweile jemand mit einer Taschenlampe zur Bühne vorgedrungen. Der kleine Lichtkegel suchte vor dem Altar, ungefähr dort, wo Melbigs Koffer gelegen hatte, herum und erfasste dann eine umfangreiche Figur, die sich eng an der rechten Bühnenwand entlang nach hinten verdünnisierte. Der Lichtkegel nahm die Verfolgung auf und verschwand durch das Eingangsloch in der Rückwand. Auf dem Altar hatten die Reaktionen exponentiell zugenommen. Die schiefersteinerne Deckplatte war vollkommen mit einem weißen, feinblasigen Schaum bedeckt und knirschte beträchtlich. Der Schlamm hatte sich bereits unter gelblicher Qualmbildung weitestgehend aufgelöst. Mit einem Mal brach dann auch die Deckplatte entzwei. Die beiden Fragmente klappten zu Boden und zerbröckelten dabei wie ein Mürbteigboden. Einige Sekunden später waren auch die verbliebenen Krümel verpufft. Die beiden Findlinge blieben unbeschadet und durchschnitten mittig und senkrecht den Sichelschein des Mondes, der wie der Rücken eines ovalrunden E aussah. Der Kultmagen musste gleich daneben im Dunkeln liegen.