Leseprobe: Stefan Zett – „Das Magenkomplott”

Kapitel I

Etwas musste Sonjo gestört haben, denn ohne dass er den Wecker gestellt hätte, wurde er eines Morgens vor sechs Uhr wach. Er hatte unruhige Träume gehabt und fand sich in seinem Bett mit Kopfschmerzen und einem ungeheuerlich flauem Gefühl in der Magengegend, gleich links unterhalb des Brustbeins.
„Puh, was ist denn los?“ dachte er, „so übel war mir schon lange nicht mehr.“ Mit geschlossenen Augen versuchte er zu ergründen, was genau er zuletzt geträumt haben mochte, doch es tauchten nur unzusammenhängende Bilder und flüchtige Gestalten auf, derer er nicht habhaft werden konnte. Auch seine Erinnerungen an das, was er am Vortag zu sich genommen hatte, waren äußerst lückenhaft. Ein Milchshake hatte er tagsüber getrunken, wo auch immer. Irgendwann auch einen Tee. Weiter konnte er sich an nichts entsinnen. An gar nichts. In Sonjos Eingeweiden rumorte es indes, als sei dort ein Kampf um die besten Plätze in vollem Gange. Zweifellos war etwas völlig durcheinander geraten. Er öffnete die Augen. Er befand sich in seinem Bett, in seiner Wohnung und dort war alles wie immer. An der weißen Wand die Schattenspiele der Birke im Garten, die die frühe Sonne zu dieser Jahreszeit durch das Dachfenster warf. Sein leerer Schreibtisch, der Stuhl. Stille. Vereinzelt Vogelgezwitscher. Die halboffene Tür zum Badezimmer. Mit einem routinierten Griff lockerte Sonjo Gürtel und Bund seiner schwarzen Anzughose, was die angespannte Situation in seinem Bauch vorübergehend entschärfte. Er atmete tief durch. Ganz offensichtlich hatte er sich in Straßenkleidung schlafen gelegt und nun schmerzte sein Bauch. Das war’s. Ansonsten war alles in Ordnung. Wahrscheinlich war er fürchterlich betrunken gewesen und die Erinnerungen daran waren einfach ausgelöscht. Vielleicht auf ewig. Kein Grund zur Beunruhigung also. Zumindest konnte er sich ganz genau an ein Milchshake erinnern, wie er es durch einen Strohhalm aus einem mit Kondenswasser belegten Glas gesogen hatte. Er befindet sich in der Innenstadt, im Einkaufzentrum Europa wo es mörderisch heiß ist, saugt ein eiskaltes Milchshake, an der Bar des Palmencafés unter der großen Glaskuppel. Es herrscht ein ungewöhnlicher Trubel. Allenthalben Milchbärte. Menschen, die quer durcheinander reden und sich mit den Shakes zuprosten. Wie ist er in dieses Setting hineingeraten? Er stellt sein Glas auf den Tresen, will sich setzen. Zwei Männer mit roten Krawatten tauchen urplötzlich vor ihm auf, sprechen ihn an. Er ist schon auf dem Weg zum Hinterausgang, quer durch die Galerien.
„Sie sehen durstig aus, mein Herr“, sagt der eine, rund, dick, mit südländischem Teint. „Regelrecht ausgetrocknet!“ ergänzt der andere, selber dürr und hager. Die Beiden scheinen eine Antwort zu erwarten. Sonjo zuckt belanglos die Achseln, weiß nicht worauf sie hinaus wollen. Er wendet sich zum gehen. Schon packt ihn der Dicke am Kinn und sprüht ihm eine beißende Flüssigkeit in die Nase. Ihm wird schwarz vor Augen. Er fällt. Rittlings in die fangbereiten Arme des anderen. „Jetzt nur nicht bewusstlos werden“, denkt er noch, während man schon mit langen Fingern ein Stück Stoff tief in seinen wehrlosen Mund schiebt.
Der Friedensprozess im Bauch erlitt einen herben Rückschlag. Spastische Kämpfe mit kurzen, trügerischen Pausen. Er riss die Augen auf, war kurz weggedöst. In den verschiedentlich unklaren Gemengelagen hatten entwurzelte Traumsequenzen und vereinzelte Erinnerungsfetzen zueinander gefunden und sich zu einer absurden Geschichte zusammen gesponnen.
„Völlig unrealistisch, am helllichten Tag mitten im Einkaufszentrum“, versuchte Sonjo sich und seinen davonrasenden Puls zu beruhigen, sah sich aber auch nicht mehr im Stande, den bereits abgelaufenen Handlungsstrang wieder zu entwirren. Vielleicht hatte er noch nicht einmal ein Milchshake getrunken, möglicherweise, schön und gut, aber dass er in der vergangenen Nacht dann so abgrundtief geschlafen haben sollte, dass er keine Ahnung mehr hatte, was er eigentlich wirklich am Vortag getrieben hatte, bezweifelte er doch. Insbesondere, da er die beiden Männer genau vor sich gesehen hatte, in schwarzen Anzügen mit roten Krawatten, nach dem Überfall, als er am Boden des Einkaufszentrums etwas abseits vor einem Lastenaufzug erwachte.
Der kleine Dicke steckte mit schmalen, langen Fingern seine Krawatte hinter die Weste zurück und schmauchte zufrieden in sich hinein, während der andere, ein überaus langer Typ mit rossbraunem Schnurrbart und blasser großer Nase, damit beschäftigt war, ein fleischfarbenes, presswurstförmiges glitschiges Etwas nicht aus seinen Händen zu verlieren. Schließlich gelang es ihm, das widerspenstige Stück in der Faust zusammenzudrücken. Dabei entwich aus einem der beiden Zipfel Luft mit einem Stoßlaut, der so charakteristisch war, dass Sonjo in einer abstrusen und entsetzlichen Vertrautheit erfasste, worum es sich bei dem Ding handelte. Er versuchte zu schreien, aber es drangen nur lautlose Unmengen an heißer Luft aus seinem Hals. Entgeistert und vollständig gelähmt nahm er wahr, wie der kleine Dicke mit einem raschen Doppelklack einen schwarz ledernen Aktenkoffer öffnete und daraus eine Zeitung hervorholte, während der Hagere erfolglos an einigen hartnäckigen letzten Fettzipfeln des Dings herumzupfte. Eigentlich hätte sich Sonjos Magen spätestens in diesem Moment vor Schmerz, Abscheu und Verzweiflung gleich mehrfach umdrehen und ergrimmend krümmen müssen, stattdessen wurde er steif und widerstandslos wie ein toter Fisch in Zeitungspapier eingewickelt und in den krawattenrot ausgekleideten Aktenkoffer verstaut. Dann waren sie weg.

Kapitel II

Sonjo saß am Küchentisch der elterlichen Wohnung im Erdgeschoss und starrte auf das Rührei, das die Großmutter altbewährt mit reichlich Butter für ihn zubereitet hatte. In seinem Bauch waren, noch als er im Bett lag, revolutionäre Unruhen ausgebrochen, über alle Gewebegrenzen hinweg. Fürchterliche Krämpfe durchbohrten ihn von rechts nach links, nach oben nach unten und die Säfte flossen in Strömen. Erst nach einem ausführlichen Gang zur Toilette hatte sich die Lage bis auf weiteres entspannt. Obwohl er nach allem, was er erlebt hatte, keinerlei Hunger verspürte und er zudem nicht umhin kam zu bemerken, dass er da noch immer eine entsetzlich flaue Leere in seiner Magengegend empfand, hatte Sonjo sich fest vorgenommen, die Zähne zusammen zu beißen und viel, kräftig und kompromisslos bis zum letzten Bissen zu frühstücken. Nur so könnte er etwaigen Gründungsmythen einer neuen Republik von vornherein die alles entscheidende Grundlage entziehen. Wären solcherlei falsche Rücksichtnahmen nämlich erst einmal etabliert, würde auch gerne weiterer Unsinn geglaubt.
Der Geruch der gebratenen Eier aber hatte ihn kalt erwischt. Er erinnerte ihn an ein kleines abscheuliches Detail seines wiederkehrenden Albtraums – um nichts anderes konnte es sich schließlich und letztendlich bei diesen unmöglichen Geschehnissen handeln – das ihm bisher entgangen war und nun umso deutlicher hervortrat: Der äußerst unangenehme, aus magenräuberischem Mund hervordringende Geruch nach gammeligen Fleisch, den Sonjo sonst nur von Pansenverfütterungen beim Hund seines Onkels kannte. Entgegen seinen Absichten brachte Sonjo es schließlich nicht über sich, auch nur einen Happen von der gelb glänzenden Speise hinunter zu bringen und er schob den Teller unangetastet zur Seite. Auch die knallroten Erdbeeren, die die Großmutter am Vortag zuvor eigenhändig im Wald gesammelt hatte, verschmähte er.
Die Großmutter schaute mit gespitzter Nase über die Ränder ihre Brille und den Tisch hinweg zu Sonjo rüber. Ob es ihm immer noch schlecht sei, wollte die Großmutter wissen. „Wieso immer noch?“ antwortete Sonjo. „Na, du hattest doch gestern im Einkaufszentrum diesen Kreislaufkollaps.“
„Kreislaufkollaps?“ sagte Sonjo und ahnte Düsteres. “Jetzt sag bloß, du kannst dich an nichts mehr erinnern? Jemand hat dir geholfen und dich im Taxi hierher gebracht. Das war übrigens eine sehr nette junge Dame“, fuhr die Großmutter fort. „Auch wenn sie ziemlich verzottelte Haare hatte.“
Sonjo traute seine Ohren nicht und sagte nichts. An eine junge Dame konnte er sich überhaupt nicht erinnern. Die Großmutter wartete kurz, ob er nicht doch noch etwas äußern würde.
„Du warst ja ganz schön durcheinander. Ist wohl nicht so gut gelaufen, was?“
„Was soll denn gelaufen sein?“ Es war eine Frage, die Sonjo mehr interessierte als ihm Recht sein konnte. „Na das Vorstellungsgespräch. Was denn sonst?“ „Ach“, antwortete Sonjo bloß und ‚Das Vorstellungsgespräch?’ dachte er dabei. ‚Bei diesem merkwürdigen Unternehmen des alten Studienkollegen des Vaters. Wann war das denn eigentlich genau gewesen?’
„Ich hab gleich gewusst, dass das nichts für dich ist, mein Junge. Du bist für etwas Besseres, etwas ganz Großes gemacht“, tröstete die Großmutter. „Wenn sich etwas schon Agentur für digimonetäre Dienstleistungen nennt, da kann doch nichts Gescheites dahinter stecken.“ Und damit wandte sie sich wieder dem Kochbuch zu, das sie an diesem Morgen mit besonderem Interesse zu studieren schien. …
(Es folgen Kapitel III bis IX)

Kapitel X

Im großen Messesaal war die zuvor aufgekratzte Stimmung in der Zwischenzeit fast ins Gegenteil umgeschlagen. Die Messebesucher standen wohlgeordnet in Reihen, schauten erwartungsvoll zur Hauptbühne und verhielten sich ruhig. Die Wolken lagen ein ganzes Stück höher und über der hell erleuchteten Hauptbühne war das Wolkenloch mittlerweile verschwunden. Die plötzliche Disziplin und die große Stille im Saal hatten besonders im Vergleich zum vorherigen Chaos etwas irreales an sich. Sonjo konnte sich mühelos durch die Reihen schlängeln und eilte nach vorne. Als er sich der menschenleeren Bühne auf ungefähr dreißig Meter genähert hatte, erschien dort jemand rechts aus einer kleinen Öffnung in der hohen Rückwand aus Sandstein. Er trug einen weißen, bis oben zugeknöpften Kittel und eine rote Krawatte. Die Beine und auch die Füße waren nackt. Der Melonenbauch war unverkennbar. Melbig. Er ging bis zu der breiten Treppe am vorderen Rand der Bühne und im Saal wurde es komplett dunkel. Nur die Bühne war in einem starken Gelbton erleuchtet und erinnerte stark an einen antiken Tempel. Genau in der Mitte stand noch immer der Altar aus zwei Findlingen mit einer langen Deckplatte aus Schiefer, die mittlerweile mit braunen Schlamm beschichtet war. „Dieses Jahr macht es mir eine besonders große Freude die Zeremonie zu eröffnen, denn heute treffen der längste Schimmer des aufklärerischen Junilichtes und der zarteste Schimmer des uralten Junimondes zusammen“, hallte es laut durch den Saal. Melbig musste irgendwo, vielleicht im Krawattenknoten, ein Mikrofon versteckt haben. „Wir danken dem ewigen  Bürgermeister, dass er vor einigen Jahren das unberechenbare, schwelende Feuchtbiotop in der Mitte der Stadt trocken legen ließ. So konnten wir den Anweisungen des Kultmagens uneingeschränkt Folge leisten und uns im gebührendem Maße auf diesen historischen Moment vorbereiten. In wenigen Augenblicken wird es soweit sein. Dann wird sich zeigen, wie weise und weit vorausschauend der Kultmagen die Pläne für sein neues Zuhause damals angelegt hat. Er wird uns ein neues Zeichen schenken, das uns ermöglicht, das was uns als Menschen ausmacht noch mehr zu sein, indem wir unseren unendlichen Durst noch grenzenloser stillen können. Schauen wir einen schimmernden Zyklus zurück, so verstehen wir erst heute, wie wertvoll damals sein Geheimnis von der freien und radikalen Eusierung für unsere Bewegung gewesen ist. Die Einweihung erfolgte übrigens noch im großen Himmelsaal des Institutes, wie sich doch einige von uns noch erinnern dürften. Wir sind seitdem so zahlenreich geworden, dass wir jetzt selbst hier, besonders an den Enden, kaum noch alle Platz finden. Erst durch die resolute und in diesem Ausmaß eben auch sinnfreie Eusierung konnten wir den Boden unserer magischen Realität noch urbarer und urbaner machen und so die vielen, vielen Bäuche nach und nach überzeugeln. Zudem wurden dadurch auch viele hohe und niedere Mitesser auf ewig ausgedrückt, ein äußerst ästhetischer Prozess, der immer noch zügellos und inzwischen auch weit über alle Grenzen hinaus fortschreitet.“
Melbig machte eine Pause. Es war mäuschenstill im Saal. Dann redete er verständnisvoll weiter. „Wir freuen uns nicht an dem Irrglauben und dem spirituellen Mangel anderer, aber wir freuen uns, dass wir richtig liegen. Deshalb wollen wir jetzt auch, bevor ich unsere Exzellenz aus seiner himmlischen Sphäre zu uns rufe, unser Gedenklamento für alle Ungläubigen einlegen.“ „Ooooooooohhhhhh, die Armen“, bedauerte Melbig inbrünstig mit aufbrausender Stimme und auf seinem Melonenbauch gefalteten Händen und „Aaaooouuuuuuuuuuuuhhhhhh“ bedauerte der ganze Saal so wollüstig, dass Sonjo eine Gänsehaut bekam. Wie aus heiterem Himmel baumelte auf einmal aus der Wolkendecke ein freudig zappelndes Wesen hervor, das Sonjo zunächst für eine rot bemalte Robbe hielt. Es hing an vier weißen Seilen und während es in weiten Kreisbögen über den Köpfen der Zuschauer umherpendelte, senkte es sich langsam weiter nach unten. Ein respektvolles, erfreutes Raunen zog durch den Saal. „Na der kann`s ja diesmal kaum erwarten“, freute sich auch Melbig und verfolgte wie alle anderen gebannt die Schwünge der durch und durch eigentümlichen Kreatur. Schließlich blieb sie in Bauchhöhe über der Treppe, die zur Bühne hinaufführte, hängen. Melbig ging rüber und zerrte das Wesen an einem der Seile zu den zwei Findlingen rüber, wo es sich anscheinend von alleine weiter absenkte. Das Ganze sah dann mehr denn je wie ein urzeitlicher Altar aus. Auf der Deckplatte lag in dem braunen Schlamm ein glänzendes, fleischfarbenes Wesen, das weiter freudig vor sich hin zuckte. Sonjo erkannte die Form des Wesens sofort wieder. Es gab keine Zweifel, dass dies der Kultmagen war, und dass der Kultmagen sehr lebendig war. Er sah genau so halbrund gekrümmt aus, wie Sonjo sich auch an seinen eigenen Magen in den Händen des dünnen Exstirpators erinnerte, nur das der Kultmagen viel größer war, ungefähr die Ausmaße eines Seesacks hatte. Vorne befand sich zudem ein unförmiger Schlitz, der wahrscheinlich so etwas wie sein Mund war. „Ja gleich gibt es etwas Leckeres.“ , sagte Melbig zu dem Kultmagen, während er ihn streichelte und auf den feuchten Rücken klopfte. Der Kultmagen krümmte sich noch ein Stück mehr vor Freude und hopste ein kleines Stück in die Luft. „Ups“, entfuhr es dann Melbig. Das Vieh hatte nach seinem Finger geschnappt, und Melbig gab ihm dafür einen Klaps auf die Stelle, die wahrscheinlich so etwas wie ein Hintern war. „Sie sehen, unser kleiner Racker ist heute mindestens so aufgeregt wie wir und hat einen besonders ausgeprägten Appetit. Deshalb sollten wir ihn jetzt auch nicht länger warten lassen. Er weiß schließlich besser als wir selbst, dass er heute einen besonderen Leckerbissen von uns bekommen wird und ich kann ihnen schon an dieser Stelle verraten, dass es mir gelungen ist, ein wahres Prachtexemplar für ihn aufzutreiben. Doch zunächst wollen nun die Initianten kommen.“ Sonjo bekam auf einen Schlag knallrote Ohren und konnte perverserweise einen gewissen Stolz, das Melbig seinen Magen vor den vielen Zuschauern als Prachtexemplar bezeichnete, nicht unterdrücken. Melbig schaute bei diesen Worten erwartungsvoll zu der kleinen Tür in der Hinterwand der Bühne. Dort trat als erstes etwas zögerlich ein kleines Mädchen hervor. Es trug einen schwarzen Minirock und ein bauchfreies T-Shirt. Melbig begann demonstrativ ermutigend zu klatschen und im Saal taten es ihm viele nach. Es folgte im Gänsemarsch eine ganze Reihe weiterer Kinder unterschiedlichen Alters, die adrett und überwiegend modisch gekleidet waren. Rechts und links wurde dieser niedliche inszenierte Aufmarsch von zwei Herren flankiert. Sie waren wie Melbig barfuß und trugen auch nur einen weißen Kittel und eine rote Krawatte. Erst als der eine von ihnen einen aus der Reihe tanzenden Jungen mit einem übermäßig langen Zeigefinger ermahnte, erkannte Sonjo sie als die Exstirpatoren wieder. Kurz vor dem Altar teilte sich die Kinderschlange zu den Seitenwänden hin auf. Zwei weitere Gruppen kamen auf die Bühne. Es handelte sich um einen Pulk Jugendlicher in unterschiedlichsten Aufmachungen und um eine handvoll Erwachsene in ärmlicher Kleidung. Mit ihnen erschienen drei wiederum weißbekittelte Herren mit wiederum roter Krawatte. Der mittlere von ihnen war der Minibrillenträger Deiters und seine Begleiter Herr Wegerich und Monsieur Le Mett. Auch diese Leute flanierten an dem Kultmagen vorbei und stellten sich dann, wie die Kinder, an einer der beiden Seitenwände in einer bestimmten Reihenfolge auf. Schließlich eilte noch schnell, wie verspätet, ein Heranwachsender im Gammel-Look auf die Bühne und zu guter Letzt ein weiterer barfüßiger Mann, der einen weißen Kittel, aber eine grüne Krawatte trug. Sonjo sah, wie ganz hinten einer von der Initianten- Gruppe unauffällig die Bühne wieder über die Öffnung in der steinernen Rückwand verließ. Die Exstirpatoren waren mittlerweile zu den Seitenabgängen der großen Treppe geschritten und beide hatten sich den jeweiligen schwarzen Gummischlauch, der dort vom Wolkenhimmel herunterbaumelte, an dem Einspritzstutzen geschnappt. Sie mussten kräftig daran ziehen, um damit bis zu dem Altar mit dem Kultmagen in der Mitte der Bühne zu gelangen. Dort waren jetzt alle Männer mit weißen Kitteln versammelt. Melbig und Deiters standen hinter dem Altar und seitlich je ein Exstirpator mit je einem der Begleiter von Deiters. Manfred von Bärenbind überreichte diesen Männern eine Art Waschschüssel aus glänzendem Stahl mit kreisrundem Boden.
Während die gesamte Bühne ein ganzes Stück abgesenkt wurde, wandte sich Melbig wieder an die Besucher der Messe. „So, wenn wir gleich die Volksnähe erreicht haben, können wir beginnen. Natürlich werden wir wie jedes Jahr die individuellen Noten der Initianten berücksichtigen. Diese wollen sie jetzt kundtun.“
Alle Initianten öffneten ihren Mund und jeder von ihnen sang einen Ton. Vorne bei den kleinen Mädchen klang es hell und glockenrein, mit abnehmender Tonhöhe kamen die Knaben, die Jugendlichen und die Erwachsenen und hinten dann auch einige Heranwachsende im Stimmbruch. Ein schöner Vielklang an Stimmen ließ das Geschehen auf der Bühne ein erstes Mal so ähnlich erscheinen, wie Sonjo sich eine religiöse Zeremonie vorgestellt hatte. Melbig sprach, vom Mikrofon verstärkt, mitten rein. „Ein echter Genuss. Auf geht’s.“ Die Exstirpatoren und ihr jeweiliger Partner preschten los. Der rechte, lange Exstirpator erreichte mit dem widerspenstigen Schlauch als erster das vorderste kleine singende Mädchen, das sogleich kindlich angeekelt die Nase rümpfte. Er steckte ihr den Stutzen in den offenen Mund und Monsieur Le Mett hielt schnell die Schüssel darunter. Das Mädchen wurde unter Hochdruck, der den Schlauch kurz zucken ließ, ähnlich wie eine Gans gefrickt, bis ihr eine weiße Flüssigkeit aus Mundwinkeln und Nase in die Waschschüssel tropfte. Dann sank sie wie bewusstlos in die Knie. Der Exstirpator reichte Le Mett den Schlauch, den dieser umständlich halten musste, beugte hastig den Kopf des Mädchens zurück, bis der immer noch geöffnete Mund zur Decke zeigte und stopfte dann blitzschnell mit den Spinennfingern an seiner linken Hand seine rote Krawatte, die er unten der Länge nach gefaltet hatte, da hinein. Er fingerte hektisch herum, wurde plötzlich ganz ruhig und zog behutsam, als wolle er drinnen irgendetwas nicht verlieren, die Finger und die Krawatte zurück.
Sonjo hielt sich die Hand vor die Augen um nicht mit ansehen zu müssen, was er da jetzt rausholen würde. Er hatte sich vorgenommen, sich während der Zeremonie, die sicherlich grausame Momente haben würde, von gar nichts auch nur irgendwie schockieren zu lassen, um im entscheidenden Moment nicht zu zögern. Und tatsächlich war es ihm auch gelungen, den Anblick der magenförmige Bestie, die auch jetzt noch in ihrem rotbraunen Schlammbett vor sich hin gluckste, fast gänzlich gelassen an sich abperlen zu lassen. „Aha. So sieht ein Kultmagen also aus“, hatte er sich selbst nüchternes Interesse zugeheuchelt und aufkommende Unruhe gleich mit einem „das ist doch nur ein kleiner Racker“ und einem „ein besonders dicker Mops ohne Beine, Augen und Ohren höchstwahrscheinlich“ erfolgreich besänftigt.
Diese Live-Exstirpation an einem Mädchen hatte ihn aber kalt erwischt, besonders weil es sich nur um den Anfang einer öffentlichen oder halböffentlichen Massenexstirpation handelte. All die Mägen würden gar nicht in diese Waschschüssel passen. Eigentlich müsste er da auch irgendwie eingreifen, da waren ja schließlich Kinder die gar nicht wussten worauf sie sich da einließen, aber er musste an seinen eigenen Magen denken und könnte gegen die Übermacht auf der Bühne sowieso nichts ausrichten. Er spreizte vorsichtig seine Finger. Auf beiden Seiten waren die Exstirpatoren bereits mit dem nächsten Mädchen beschäftigt. Einige Kinder hatten aufgehört zu singen und drucksten, während sie den Exstirpatoren zuschauten, unruhig herum aber Melbig und Deiters gingen mit Körben durch die Reihen und verschenkten daraus Teddybären. Das erste Mädchen, das bereits wieder aufgestanden war und tapfer und stolz lächelte, bekam, wie auch ihr Pendant auf der gegenüberliegenden Seite, einen besonders großen in die Hand gedrückt.
Sonjo ging weiter nach vorne und reckte trotzdem seinen Kopf. Er wollte das unangenehme Gefühl an seinem Hals abschütteln und außerdem auch mitkriegen, was die Exstirpatoren, die mittlerweile hinten bei den letzten Initianten zugange waren, da genau rausholten. Diesmal zwang Sonjo sich bis zum Ende zuzuschauen. Sie holten da… sie holten da.. sie holten da gar keinen Magen raus. Da war gar nichts zu sehen, aber sie schienen irgendetwas von der Krawatte oder den Fingern in einen Glaskolben, der aus der Kitteltasche hervorragte, abzustreifen.
Der Schlauch rechts und dann auch links schnellte in die Höhe, pendelte über den Zuschauern und verschwand in den Wolken. Über der Hauptbühne lichteten sich diese daraufhin deutlich und an einigen Stellen taten sich erneut Löcher auf. Beide Gruppen waren fertig und erreichten den Kultmagen fast gleichzeitig. Die Exstirpatoren hielten die Glaskolben demonstrativ in die Höhe. Wegerich und Le Mett trugen noch immer die Waschschüsseln mit den sie die milchige Flüssigkeit, die im Rahmen des Betäubungsaktes aus Mund und Nase getropft war, aufgesammelt hatten. Melbig schaute zu Manfred von Bärenbind herüber, der letzte Inspektionen vornahm und dann sein Einverständnis herübernickte. „Wir wollen Ihm jetzt gemeinsam Sein Mahl bereiten.“ sagte Melbig und erschien dabei sakraler denn je. Die eine Waschschüssel wurde in die andere, die jetzt Deiters genommen hatte, entleert und dann von Bärenbind entsorgt. Es war gar nicht soviel von dieser weißen Milch darin gewesen. Melbig holte aus seiner Kitteltasche ein kleines Bonsaibäumchen, dass er in die verbliebene Schüssel zerpflückte. „Es ist auch für mich noch jedes Jahr immer wieder erstaunlich, wie wenig unsere Exzellenz verbraucht“, kommentierte er durchs Mikrofon verstärkt sein Tun, „das ist ja weniger als nichts, wenn man bedenkt, was da so übers Jahr verteilt für uns alle bei raus kommt.“
Als er fertig war, entnahm er seiner anderen Kitteltasche ein braunes Fläschchen und entleerte es in die Schüssel. „So, dann noch das hier“ sagte er dabei und dann „und jetzt wollen wir zur spirituellen Würze kommen.“ Mit einem Mal war die gesamte Bühne in Dunkelheit getaucht. Nur unmittelbar vor dem Altar lag ein scharf abgegrenzter, ungefähr ein Meter schmaler und vielfach längerer mondsichelförmiger Lichtstrahl am Boden „Na wer sagt’s den“, bemerkte Melbig leise aus dem Dunklen, so, als ob er zu seinem Nebenmann sprach, „auch das Wetter spielt dieses Jahr mit.“
Dann traten die Exstirpatoren und Melbig in das Licht vor den Altar. Melbig stand in der Mitte und die Exstirpatoren an den Seiten, an denen sie auch vorher gearbeitet hatten. Als die Exstirpatoren in einer Geste der Würde die Glaskolben weit nach oben hielten, bemerkte Sonjo seltsame milchig glänzende Fäden in der Luft, die in den Glaskolben zusammenliefen. Er schaute genau hin und konnte sie am Rande des Lichtstrahles ein Stückchen in die Richtung der jeweiligen Seitenwände zurückverfolgen. Auch Melbig hielt kurz die Waschschüssel in die Höhe, in die anschließend die Glaskolben entleert wurden. Dabei nuschelte er etwas unverständliches vor sich hin. Die Exstirpatoren traten neben den Altar ins Dunkle. Hinter Melbig war, in eine schwache Lichtreflexion getaucht, der Kultmagen zu sehen, dessen vordere Öffnung sich zu einem breiten Schlitz mit wulstigen Rändern verformt hatte. Die vier weißen Schnüre waren an grau verschwielten Höckern an seinem Rücken mit ihm verwachsen, zwei vorn, zwei hinten, und überall hingen kleine Fettzipfel an ihm herunter. Melbig verbeugte sich tief vor dem Kultmagen. Dann hob er ihn vorn leicht an, drückte die Waschschüssel in den Schlamm genau unter den vorderen Schlitz und entfernte sich äußerst rasch. Das Untier schlabberte die Schüssel in Sekundenschnelle leer und das Gluckern in seinem Inneren war bis zu Sonjo herüber zu hören. Für einen Augenblick meinte Sonjo immer noch die milchigen Fäden sehen zu können, aber im hellen, gelben Licht, das die Bühne gleich wieder schlagartig bestrahlte, konnte er sie nicht mehr erkennen. Alle waren verschwunden, nur Melbig stand noch allein mitten auf der Bühne und wirkte etwas abwesend. Die Initianten saßen mit den Partnern Le Mett und Wegerich rechts und links an den Rändern auf der breiten Treppe. Sonjo starrte mit Abscheu auf den zitternden Kultmagen. Er konnte zusehen, wie seine glänzende Haut abblasste, von fleischrot zu rosa. Es sah so aus, als bereite sich der Kultmagen nach der Vorspeise nun auf das Hauptgericht vor und konzentriere dafür Blut in seinem Zentrum, wo es für die Verdauung benötigt wurde.
Nach allem, was Sonjo bei der Geheimbesprechung der besseren Gesellschaft mitbekommen hatte, sollte Melbig während der Opferzeremonie gestürzt werden. Diesen Moment galt es auch für Sonjo auszunutzen, es sei denn sein Magen würde schon vorher diesem kleinen verfressenen Klops angeboten. Dann müsste er sofort zuschlagen.
„Uns allen steht jetzt ein wahrhaft historischer Moment bevor.“ sprach plötzlich eine ganz andere Stimme als bisher laut in den Saal. Melbig bewegte auch gar nicht seinen Mund. Er stopfte vielmehr noch äußerst sorgfältig irgendetwas an der Brust unter seinem Kittel zurecht. „Ein zwingendes Ereignis unserer fortschreitenden Weiterentwicklung, dass wir vor allem in der gebührenden Ruhe annehmen und genießen wollen.“ sagte die gleiche Stimme, die Sonjo ungemein bekannt vorkam und etwas nervös klang. Melbig ging energisch aber ohne übermäßige Eile zur hinteren linken Ecke der Bühne und verschwand. Rechts kamen durch eine zweite Öffnung Deiters und die Exstirpatoren geschritten. Sie trugen immer noch nur den Kittel und die roten Krawatten und in der rechten Hand jeder von ihnen einen schwarzen Koffer. Mit seiner linken rückte Deiters noch seine Brille zurecht bevor er sich einige Meter rechts neben dem Altar vor den Messebesuchern verbeugte. „Wer füttert der führt, so lautet nicht umsonst ein altes magisches Sprichwort, das heute mehr denn je… “ „Und auch morgen noch“, Melbig war zurückgekehrt und hatte Deiters das Wort kompromisslos abgeschnitten. Auch er sah unverändert aus und hielt in seiner Linken einen schwarzen Koffer, mit den Fingern seiner Rechten drückte er an seiner Nase herum. Er stellte sich ganz vorn in der Mitte der Bühne hin und schaute angespannt in den Saal. Hinten mogelte sich nun auch Manfred von Bärenbind auf die Bühne. Er lächelte verlegen und zückte mit der einen Hand die Pergamentrolle aus der Kitteltasche. In der anderen hielt auch er einen schwarzen Koffer.
„Es wird gut werden.“ , verkündete Melbig laut mit mächtiger Stimme. „Es wird alles gut werden“, wiederholte er dann noch einmal bedeutend leiser, so als woller er vor allem sich selber davon überzeugen. Hinter seinem Rücken war der lange Exstirpator mit zwei großen Schritten zum Altar geschlichen und hatte versucht nach der Schüssel zu greifen. Der Kultmagen schreckte ihn mit einem drohendem Knurren zu seinem Ausgangspunkt zurück. Melbig drehte sich erstaunt zum Kultmagen hin, ging rüber und beruhigte ihn, indem er kräftig an seinen vier Höckern herum massierte und ihm erwas ins Ohr flüsterte oder zumindest dorthin, wo man bei diesem völlig eigenartigen Wesen ein Ohr vermuten würde. Anschließend legte er seinen Koffer auf den Boden, nahm behutsam die silberne Schüssel, an deren Boden etwas Schlamm klebte, und hielt sie wie eine Trophäe in die Höhe. Im gesamten Saal herrschte eine Totenstille, in die dann ein charakteristischer Doppelklack hineinschlug. Sonjo stockte für einen Moment der Atem. Deiters, der sich immer noch ein ganzes Stück rechts auf Höhe des Altars befand hatte seinen Koffer auf die Erde gelegt, kniete selbst dahinter und öffnete ihn gerade.
Sonjo hatte den Moment X etliche Male in Gedanken durchgespielt. Er befand sich in der ersten Zuschauerreihe, nur einige Meter von der Treppe mit den breiten Stufen entfernt. Diese würde er noch in normalen, völlig selbstverständlichen Gang hinaufschreiten, um nicht frühzeitig die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Oben hätte er dann nur wenige Schrecksekunden, um sich den Magen zu schnappen und anschließend einfach davon zu laufen. Wohin, würde er dann schon sehen. Kein genialer Plan, aber stumpf ist Trumpf machte er sich immer wieder Mut. Wie sollte er es auch anders anstellen? Jetzt war es soweit. Fast, denn Deiters hatte den Ersatzmagen, seinen Magen, wahrscheinlich nicht. Sonjo krampfte seine Zehen in den Schuhen zusammen. Deiters holte etwas längliches Silbernes aus dem Koffer, eine Schere, eine Geflügelschere! Sonjo schaute weg. Zu Melbig rüber, der auf Deiters aufmerksam geworden war, seinen eigenen Koffer aufhob und mit neugierig vorgebeugtem Kopf, so als könne er nicht genau sehen was sich dort abspiele, einige fragende Schritte auf Deiters zu ging.
Die Exstirpatoren, die hinter dem Altar gewartet hatten, stellten lautlos ihre Koffer neben dem Altar ab und schlichen sich in langen lautlosen Schritten rücklings an Melbig heran. Sonjo sah die verwaisten Koffer der Exstirpatoren neben dem Altar. In einem von beiden musste sich sein Magen befinden und die Gelegenheit war günstig. Manfred von Bärenbind verweilte immer noch hinten auf der Bühne und drehte sich sogar zur Rückwand um. Sonjos Herz raste bereits los und auch er machte schon eine erste Bewegung, zögerte dann aber doch wieder, da ihm eine Flucht mit zwei Koffern auf einmal zu riskant erschien. Der lange Exstirpator hatte seine Arme ausgebreitet, so als wolle er Melbig, der immer noch nicht zu ahnen schien, dass ihm die Exstirpatoren dicht an den Fersen waren, von hinten umschlingen. Der andere suchte in seinen Kitteltaschen herum, wobei er aufgrund seiner langen Finger die Handteller gar nicht in ihnen versenken musste Dann schlugen sie zu. Der Lange umschlang Melbig direkt unter der Achsel, verschränkte sofort seine Hände an dessen Nacken und konnte so mühelos Melbigs Oberkörper nach vorne beugen, wo sich der kleine dicke Exstirpator bereits mit einem doppelläufigem Nasenspray positioniert hatte. Melbig war von der Attacke dermaßen kalt erwischt worden, dass er bisher noch nicht einmal den Koffer oder wenigstens die Schüssel hatte fallen lassen und bevor er auch nur irgendeine Gegenwehr leisten konnte, wurde ihm schon eine erste Dosis Spray verabreicht. Der kleine Exstirpator wurde dann hektisch. Er packte Melbigs schütteres Haar über der Stirn, zog daran den Kopf nach oben und pumpte noch etliche Ladungen hinterher. Melbig stieß einen beklemmenden Schrei starken Schmerzes aus, ließ den Koffer und die Schüssel los und sank in sich zusammen. Der große Exstirpator befreite seine Arme und sprang zur Seite. Melbig wankte schräg nach vorn und fiel wie ein nasser Sack gegen den Kleineren, der ihn, um sich selbst vor dem schweren Mann zu schützen an den Schultern auffing und mit ihm zurückstolperte, bevor er ihn zu Boden fallen ließ. Dort blieb Melbig auf seinem Melonenbauch regungslos liegen. Der ganze Überfall war blitzschnell über die Bühne gegangen, auf der die Waschschüssel noch immer herumdengelte.
Auch die Zuschauer im Saal reagierten erst jetzt mit einer Mischung aus geiferndem Sensationsgeschrei und brummender Empörung, so dass Deiters, der sich gerade über Melbig hermachen wollte, sich dazu veranlasst sah, aufzustehen und mit abwiegenden Bewegungen seiner Hände – in der einen hielt er dabei noch die Geflügelschere – und einem „Pscht, pscht“ die Ruhe wieder herzustellen. Dann verkündete er: „Keine Sorge. Es handelt sich um etwas Neues und es hat hier oben alles seine Richtigkeit, da sind sich die Experten einig. Es wird alles gut und bald sogar noch besser werden. Immer besser, darin können wir vertrauen.“ Das wirkte. Die Aufregung im Saal verschwand zwar nicht völlig, aber sie legte sich in geordnete Strukturen. Man diskutierte und spekulierte, durchaus auch kritisch, über das was geschehen war und was Deiters dazu gesagt hatte. Blitzlichter flammten auf. Gleich neben Sonjo zuckte jemand mit den Schultern und sagte zu ihm, „Was soll`s. Der Kultmagen will es so.“ Dann machte auch er ein Foto. „Für meine Enkel“, erklärte er dazu. Ein erneutes, einfaches Klackgeräusch ließ Sonjo bis ins Mark zusammenzucken und gleich darauf stand ihm auch der Schweiß auf der Stirn. Der kurze dicke Exstirpator kniete unweit vom Altar vor seinem Koffer und steckte gerade den Schlüssel ins zweite Kofferschloss. Dafür musste er sich umständlich wie ein Büßer zum Koffer hinunter beugen, da die Schnur um seinen Hals, an der der Kofferschlüssel hing, ansonsten nicht lang genug war. Der lange Exstirpator holte die Schüssel, die bis in die hinterste Ecke der Bühne gerollt war.
Es folgte ein tumultöses Geschehen. „So, es geht jetzt ganz konkret um meinen Magen“, war das letzte was Sonjo gedacht hatte, als er noch vor dem zweiten Klack die ersten Stufen der Treppe hinaufging. Auf der Bühne verlor er in einem lähmenden Gefühl jegliche Orientierung und empfand in befremdender Weise, dass er sich zwar immer tiefer in diese Szenerie hineinbohren könne, wie ein Maulwurf in die Erde, aber dass er eigentlich, gerade im Gegenteil, weg von dieser Detailebene müsse, es handele sich hier gar nicht um sein Problem, es sei sein Problem, dass er das denke. Der Koffer sei nur halbrichtig, alle Koffer seien nur halbrichtig und das auch nur deshalb, weil die andere richtige Hälfte überhaupt danach suche.
Dieser seltsame und für diesen Zeitpunkt sicherlich völlig unangebrachte Zweifel schoss Sonjo in Sekundenbruchteilen durch den Kopf. Einen etwas längeren Moment brauchte er, um aus der Tiefe der Empfindung zurückzukehren zur Oberfläche seiner Umgebung. Dabei starrte er Deiters an, der ihm dabei wie ein völlig Unbekannter erschien. Deiters mühte sich noch immer mit verrutschter Minibrille und Leibeskräften den dicken, bewusstlosen Melbig auf den Rücken zu drehen, aber Melbig rollte – offensichtlich aufgrund einer auch am Rücken kugeligen Beschaffenheit, die er ansonsten unter seiner Kleidung geschickt zu verbergen wusste – immer wieder zu weit und blieb dann wieder auf der anderen Seite liegen. Obwohl er mitten auf der Bühne stand, schien niemand Sonjo zu beachten. Der kurze Exstirpator zog gerade den Schlüssel aus dem zweiten Schloss und der lange hatte erst die Schüssel erreicht. Sonjo musste wahnsinnig schnell gelaufen sein. Bärenbind schaute demonstrativ zur Wand, und sah dabei so gänzlich unbeteiligt an allem aus, dass es nicht verwunderlich gewesen wäre, wenn er noch ein kleines Wanderliedchen gepfiffen hätte.
„Zu früh, eigentlich doch noch zu früh losgelaufen“, dachte Sonjo, denn in welchem der drei Koffer sich sein Magen tatsächlich befand, könnte er erst wissen, wenn er ihn sehen würde. Es war keinesfalls ausgeschlossen, dass er sich in Melbigs Koffer befand, denn auch wenn der mit diesem Überfall mitten auf der Bühne vor tausenden an Zeugen sicher nicht gerechnet hatte, irgendetwas hatte er wohl doch geahnt. Da sah er ihn aber auch schon, fleischfarben, in den Händen des kleinen Exstirpators, der den Magen merkwürdig entgeistert anstarrte. Während Sonjo die paar Meter zu ihm rüber hastete formten sich seine Finger zu starren Harken, die er notfalls überall reinrammen würde, aber der Exstirpator leistete gar keine Widerwehr. Er bemerkte Sonjo überhaupt erst, als dieser sich den Magen bereits krallte, wobei er weit weniger zimperlich mit dem ihm so kostbar gewordenen Stück Fleisch umging als ihm lieb sein konnte. Sonjo fiel sofort auf, dass sein Magen bedeutend schwerer war, als er erwartet hatte. Er presste ihn an die Brust, und rannte damit wie ein Footballer in Richtung Touchdown zum Hinterausgang der Bühne. Hinter ihm rief der kleine Exstirpator aufgeregt herum. Kurz bevor Sonjo den Ausgang erreichte, drehte er sich ein erstes Mal um. Er wurde gar nicht verfolgt. Der lange Exstirpator, der ihm den Weg vielleicht hätte abschneiden können, eilte vielmehr nach vorn, zu seinem Kollegen und Bärenbind nestelte am Bühnenboden herum, so als würde er dort einen Fleck untersuchen. Sonjo verlangsamte seine Schritte und ging dann rückwärts in Richtung Ausgang, um die Exstirpatoren im Auge behalten zu können. Die beachteten ihn aber gar nicht weiter. Der lange Exstirpator riss sich mit einem Ruck einen Schlüssel vom Hals und sperrte nun seinen Koffer auf. Ein herzhafter Geruch nach Geräucherten drang in Sonjos Nase. Das konnte doch unmöglich so schnell vom Koffer zu ihm herübergezogen sein. Unwillkürlich hob Sonjo seinen Magen zur Nase.
Vorne kullerten unterdessen mehrere Rollen Toilettenpapier über die Bühne und hinterließen büttenweiße Linien. Der lange Exstirpator warf den Koffer, aus dem sie gefallen waren, wütend zur Seite und ging mit rücksichtslosen Schritten auf Bärenbind zu. Der war auf einmal enorm engagiert und konnte gar nicht schnell genug seinen Koffer dem Exstirpator über den glatten Holzboden der Bühne entgegenschleudern. Er selbst robbte auf den Knien rückwärts in die entgegengesetzte Richtung.
Sonjo wollte es nicht glauben. Sein eigener Magen war es, der so stark nach Geräuchertem roch und es war auch gar nicht wirklich sein Magen, sondern ein großes Stück dunkelroter Hinterschinken, wie Sonjo nach eindringlicher Untersuchung verzweifelt aber auch enorm erleichtert feststellte. Sein eigener, echter Magen musste sich in Melbigs Koffer befinden, aber den hatte sich der kleine Exstirpator längst geschnappt und sich ein Stück weit rechts vor dem Altar damit niedergelassen. Auch er hatte sich mit einem Ruck seinen Schlüssel vom Hals gerissen und versuchte erfolglos den Koffer zu öffnen.
Im Zuschauerraum war mittlerweile tosender Jubel ausgebrochen oder ein heilloses Getöse, Sonjo vermochte das nicht zu unterscheiden und war von den Scheinwerfern auch derart geblendet, dass er nicht sehen konnte, was sich dort abspielte. Dann fiel ihm auf, dass es Deiters schließlich doch gelungen war, Melbig auf den Rücken zu lagern und dass er bereits mit der Geflügelschere an dessen Brust zu Gange war, was aber offenbar bisher nicht zum gewünschten Erfolg geführt hatte. Deiters erhob sich, setzte die geöffnete Schere fast senkrecht an und stemmte sich mit seiner eigenen Brust auf sie. Ein erster Stoß, ein resoluter zweiter, und dann ein langanhaltender dritter, mit aller Leibeskraft, hochrotem Kopf und einem ehrgeizigen, oval verzerrten Mund aus dem zunächst Speichel und dann ein verzweifeltes, ehrgeiziges Keuchen drang. Vom Mikrofon verstärkt war es so durchdringend, dass es den Lärm im Zuschauerraum kurz vollständig niederdrückte. Einmal mehr hatte Sonjo eigentlich gar nicht weiter zuschauen wollen, aber was sich dort abspielte war so ungeheuerlich und einzigartig, dass er seinen Blick denn doch nicht abwenden konnte. Melbigs zäher, strammer Körper hatte nur kurz vom dritten Stoß gewackelt, dann war die Schere abgerutscht und Deiters der Länge nach auf Melbig gefallen, was etwas unanständig aussah, fast so als wollte er ihn küssen.
Auch der kleine Exstirpator war auf Deiters aufmerksam geworden.
„Schere!“ brüllte er in Deiters Richtung, und hielt Deiters die Hand fordernd, wie bei einer echten Operation, entgegen.
„Neiiiin!“ kreischte Deiters und stocherte erfolglos auf Melbigs Brust ein. Sein Mikrofon war noch immer eingeschaltet und es gab eine ohrenbetäubende Rückkopplung, in deren Folge der Lärm aus dem Zuschauerbereich vorübergehend vollständig verebbte.
„Du gibst jetzt die Schere her, kapiert, sonst… “, drohte der Exstirpator und zwar in einem dunklen Ton, der so barsch war, dass selbst Sonjo den Impuls verspürte, ihm sofort eine Schere auszuhändigen.
Auch Deiters hatte jetzt keine Sekunde mehr gezögert, dem äußerst erregten Exstirpator, noch bevor dieser den Satz beendet hatte, die Geflügelschere – ähnlich wie Bärenbind gerade noch den Koffer – über den Bühnenboden hinweg entgegen zu schleudern.
Sonjo wollte jetzt sofort hin zu Melbigs Koffer, aber was hätte er mit seiner einzigen Waffe, dem Schinken, gegen die Geflügelschere ausrichten können? Da war aber etwas, was neue Hoffnung in ihm genährt hatte. Und zwar das sonst. „Aber was sonst?… sonst?… sonst?“ überlegte Sonjo. Noch stand er auf der linken hinteren Seite der Bühne. Vorne hatte gerade der große Exstirpator den Koffer von Bärenbind ausgeschüttelt, aus dem lauter bunte Papierschnippsel in der Größe von Geldscheinen herausflatterten. Bärenbind wirkte erleichtert, aber noch nicht erlöst. „Verfluchter Mist“ , brüllte vorn der andere Exstirpator in Sonjos Gedankengang hinein und schlug verzweifelt mit der Spitze der Schere auf Melbigs Koffer ein, „das ist ja ein getarnter Stahlmantelkoffer.“
Sonjo hatte unterdessen den Quell seiner eigenen Hoffnung entdeckt. „Sonst war ein Umorientierungsprozeß fällig, bei dem er unter Garantie aus dem Schneider wäre… unter absoluter Garantie.“
Er lief zu Deiters hin, der dem mit starren Augen daliegenden Melbig gerade eine weitere Ladung Betäubungsspray in die Nase gepumpt hatte, und tippte ihm von hinten auf die Schulter. Deiters drehte sich erschrocken um und war dann, als er nur Sonjo vor sich sah, so erleichtert und perplex, dass er reflexartig in die ihm dargebotene Hand von Sonjo einschlug.
„Danke Doktor Doktor Deiters.“ sagte Sonjo dabei völlig übertrieben laut und reichte ihm noch den Schinken, den der entgeisterte Deiters ebenfalls entgegennahm. „Professor Melbig hatte tatsächlich entsprechende Vorkehrungen wegen des geheimen Ersatzmagens getroffen. Wie sie sehen habe ich ansonsten aber dicht gehalten.“ Deiters runzelte die Stirn bis tief zu den Augen runter. Er hatte noch nicht verstanden worauf Sonjo hinauswollte, fand es aber vielleicht sogar nett, dass ihm jemand Hilfe anbot.
„Was reden sie da Herr Sonjo?“ fragte er, was verstärkt durchs Mikrofon im ganzen Saal zu hören war. Sonjo schielte kurz zu dem langen Exstirpator rüber und Deiters folgte seinem Blick. Daraufhin riss er sofort seine Hand zurück, die Sonjo bis dahin gehalten hatte. Aber es war bereits zu spät. Der lange Exstirpator kam in noch längeren Schritten auf ihn zu. „Ach, das ist ja höchst interessant. Erst hast du uns den Scheiß von der Anthropogastrophagie erzählt und jetzt noch dafür gesorgt, dass der Ersatzmagen verschwunden ist, damit wir dir nicht doch noch in die Quere kommen können. Von wegen enterokardiale Partnerschaft, hä?“ Und schon hatte er den knienden Deiters am roten Krawattenknoten nach oben gezogen, in Richtung Altar geschleift und seinen Kopf wie einen Scheibenwischer auf Stufe drei hin und her geschüttelt. Das Mikrofon ging dabei mit einer knirschenden Übertragung seiner eigenen Zerquetschung zu Grunde. Sonjo war etliche Meter zurückgewichen und wartete. Erst als Deiters schon nasal betäubt zu Boden gesunken war – er hatte gar nichts mehr zu seiner Verteidigung sagen können – und der lange Exstirpator bereits seine eigene rote Krawatte vorsichtig der Länge nach faltete, kam auch der zweite Exstirpator hinzu und mahnte zur Eile. Melbigs Koffer hatte er ungeöffnet vorne rechts auf der Bühne liegen lassen. Sonjo triumphierte in sich hinein. Er hatte subversiv und erfolgreich die Kontrolle auf der Bühne übernommen und der Umorientierungsprozeß war genau in seinem Sinne abgelaufen. Jetzt würde er einfach zum Koffer hingehen und ihn mitnehmen. Trotz der Umorientierung hielt Sonjo es für ratsam, das Gesichtsfeld der Exstirpatoren nicht zu kreuzen. Obwohl er etwas länger war, wählte er den Weg zwischen dem starr am Boden liegenden Melbig und dem schlaff am Boden liegenden Deiters, vor dem die Exstirpatoren knieten und Sonjo den Rücken zukehrten. Die transorale digitale Exstirpation bei Deiters war in vollem Gange, als mit einem Schlag zum zweiten Mal während der völlig durcheinandergeratenen Zeremonie jegliches Licht im Saal erlosch. Lediglich das schmale, scharf abgegrenzte Mondlicht erhellte wie schon bei der ersten Dunkelheit einen kleinen sichelförmigen Ausschnitt in der Mitte der Bühne. Im Zentrum der Bühne stand der Altar. Dieses mal fiel der schmale Lichtstrahl genau auf die Deckplatte. Dort, im Bauch der uralten Mondsichel, und nun erneut im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, lag, mit vier weißen Schnüren länglich und halb gekrümmt wie ein Embryo, der Kultmagen im Schlamm. Zunächst pendelte seine Kopfpartie mit einem leichten Wippen nach rechts und links, so als suche er die Schüssel. Der Mund schnappte dabei ab und an in rudimentärer Halbherzigkeit ins Leere, ein Verhalten, dass an einen überschießenden animalischen Reflex erinnerte. Anschließend begann der Kultmagen am ganzen Leib immer mehr zu zittern, bis er fast vibrierte. Dann krümmte er sich plötzlich krampfhaft zusammen. Dabei verspritzte er aus einigen nebeneinanderliegenden Öffnungen, ähnlich wie bei einer Rasensprengerleiste, ein weißliches Sekret, das den Schlamm auf der Deckplatte besprenkelte. Dieser Vorgang wiederholte sich einige Male in rascher Folge. Zwischen Schlamm und Sekret kam es zu einer chemischen Reaktion. Sie nahm unter vermehrter Schaumbildung und Ausbreitung stetig zu und drohte, den Kultmagen zu erreichen. Mit einer Behändigkeit, die man diesem plumpen Wesen niemals zugetraut hätte, hüpfte der Kultmagen weit über die Hinterkante des Altars hinaus und fiel mit einem dumpfen Geräusch zu Boden. Im ganzen Saal herrschte betroffene Stille. Von verschiedenen Richtungen huschten Gestalten durch die Dunkelheit auf der Bühne. Aus dem Zuschauerraum war mittlerweile jemand mit einer Taschenlampe zur Bühne vorgedrungen. Der kleine Lichtkegel suchte vor dem Altar, ungefähr dort, wo Melbigs Koffer gelegen hatte, herum und erfasste dann eine umfangreiche Figur, die sich eng an der rechten Bühnenwand entlang nach hinten verdünnisierte. Der Lichtkegel nahm die Verfolgung auf und verschwand durch das Eingangsloch in der Rückwand. Auf dem Altar hatten die Reaktionen exponentiell zugenommen. Die schiefersteinerne Deckplatte war vollkommen mit einem weißen, feinblasigen Schaum bedeckt und knirschte beträchtlich. Der Schlamm hatte sich bereits unter gelblicher Qualmbildung weitestgehend aufgelöst. Mit einem Mal brach dann auch die Deckplatte entzwei. Die beiden Fragmente klappten zu Boden und zerbröckelten dabei wie ein Mürbteigboden. Einige Sekunden später waren auch die verbliebenen Krümel verpufft. Die beiden Findlinge blieben unbeschadet und durchschnitten mittig und senkrecht den Sichelschein des Mondes, der wie der Rücken eines ovalrunden E aussah. Der Kultmagen musste gleich daneben im Dunkeln liegen.

1 Kommentare

  1. Liest sich super. Der kafkaeske Zug bringt mal wieder Absurdes in die Literatur. Schöne, aber nicht zu viele nebensächliche Beschreibungen.
    Wenn dieses Buch gewinnt, hat es schon den ersten Leser!

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert