Leseprobe: Micaela Daschek – „Polareule“

ΑΩ – Prolog

Draußen bellen die Hunde. Stiefel trampeln, Schlüssel klappern. Die Sichtklappe fällt. »Wolkow – in die Ausgangsposition!« Die zweite Klappe fällt. »Dawai! Hast du nicht gehört? In die Ausgangsposition!« Auf dem Gang wird es hektisch; sie laden die Gewehre. »Genosse Oberstleutnant – der Gefangene Wolkow rührt sich nicht.« »Tür öffnen!« »Tür ist geöffnet!« »Wie konnte das passieren?« »Das weiß ich nicht, Genosse Oberstleutnant.« »Was ist dort oben?« »Wo …?« »Da draußen, hinter dem Fenster!« »Genosse Oberstleutnant – dort hockt eine Polareule.« »Verscheuchen!« »Jawohl – Polareule verscheuchen!«, bestätigt der Diensthabende und greift nach dem Gewehr. »Nicht schießen, Sie Idiot, verscheuchen habe ich gesagt!« Mit einem kräftigen Satz nach vorn wirft der Oberstleutnant ein Paar Handschellen ans Gitter. Er trifft; das Glas dahinter zerbirst. Die Polareule hebt ab. Der Oberstleutnant schaut verwundert: Die Schwingen des Vogels wirken beladen, als trügen sie eine Last hinfort.

Α – Jamal (1.Kapitel)

Es gibt Orte, die erfüllen mich mit Schrecken. Dieser nicht. Es ist ein schweigsamer Ort, verschlossen und karg. Nur Schnee und Wind, Kälte und Eis – sonst nichts. Jenseits des Polarkreises flüchtet die Nacht über den zugefrorenen Ob, da erreicht das Luftkissenboot die andere Seite des Flusses und das ohrenbetäubende Dröhnen der Propeller erstickt. Beim Öffnen der Luke klatschen mir Schneeflocken auf die Augenlider. Der Raureif krallt sich harsch in meine Lungenflügel, dass ihnen ein quälend fiepender Ton entweicht. So habe ich mir die Unendlichkeit vorgestellt, leer und unwirtlich … Manch einer wähnte sich hier in der Hölle auf Erden. Ich nicht, ich bin vollkommen ruhig. Vielleicht liegt es an der Färbung des Schnees, die das Kobaltblau des Himmels spiegelt, oder es ist der aufstrebende Morgen am Horizont, der mich an die rosige Haut von Aprikosen erinnert. Über uns kreist einsam eine Polareule. Auf der Jagd nach Lemmingen sinkt das schneeweiß gefiederte Tier tiefer und tiefer. Lautlos nähert es sich der Erde, schlägt in Windeseile seine Beute, schleift sie über den Boden und hebt dann schwer beladen wieder ab. Wunderbar! Die meisten Eulenarten jagen nachts, diese nicht. Sie jagt am Tage, so wie ich. »Dawai!«, brüllt jemand von hinten. Mit voller Wucht rammt er mir seinen Gewehrkolben in den Rücken, doch er trifft mich nicht. Weder Trauer noch Schmerz sind in mir. Alles wurde gelöscht, sogar die Angst. Schmerz und Angst hemmen den Verstand. Aber ich will denken, ich muss denken!
Drei Bewaffnete springen von Bord, dann der Hund, dann ich, dann wieder drei mit Kalaschnikow im Anschlag. Der Sturm treibt uns vor sich her. Wie übriggebliebene Herbstblättchen schaukeln wir über das Eis hinüber ans Festland. Der Hund gebärdet sich wild. »Aus Artijom, aus!«, brüllt der Sergeant. Sein grobschlächtiges Gesicht ist breit und kantig, die Haut, von Nikotin aschgrau gefärbt, knittert wie Pergamentpapier. Unter der platten Nase blinken Goldzähne auf beiden Kauleisten – ein Boxergesicht. Doch der Hund kläfft und kläfft. Ohnmächtig vor Wut zerrt der Unteroffizier an der Leine. Als alles nichts hilft, folgt ein Tritt und das Tier springt jaulend zurück. Es muss wohl an der Einöde liegen, dass der Frost frostiger, das Eis eisiger und die lebenden Kreaturen spröder wirken als anderswo. Die Mienen der Anwesenden gefrieren wie das Wasser des Flusses auf dem sie stehen. So ist die Ankunft im trüben Licht der Hafenanlage nicht allein wegen des Permafrostes schroff und abweisend. »Genosse Oberstleutnant – keine Vorkommnisse während der Überfahrt nach Jamal!«, meldet das Boxergesicht. »Danke, Sergeant!« Ein Wortschwall begleitet ihr vorgeschriebenes Händeschütteln. Ich höre nicht hin. »Wolkow – in die Ausgangsposition! Beine breit, Hände nach oben! Sie kennen sich doch mit dem Rudelkodex aus!« Die Mannschaft grinst. Dass Wolkow, unser Familienname, ausgerechnet auf den Beutegreifer, den Wolf hinweist, ist Zufall – dachte ich immer. Jedenfalls bis zu jenem Tag, da ich in unserer Waldsiedlung entdeckte, dass ich anders bin. Ich, Daniil Stepanowitsch Wolkow, Sohn des Biologen Stephan Stepanowitsch Wolkow, der inmitten der Taiga das Verhalten von Wölfen erforschte. »Hände nach hinten! Na, wird’s bald?« Ihre Griffe sind hart, sie drücken mich auf die Knie nieder. Während jemand meinen Kopf mit dem Stiefel auf die Eisdecke stößt, klicken die Handschellen. Die Stiefelspitze glotzt mich an. Sie hält mich am Boden, sie sagt: Halte die Ordnung aufrecht, befolge die Regeln, respektiere den Kodex! Unter mir höre ich es rauschen. Ich kann ihn riechen, den Fisch. Nicht mehr lange, und die splitterige Eisschicht über dem Fluss bricht auf. Es schmilzt früher als sonst. Viel früher! »Aufstehen! Kopf nach rechts drehen, Mund auf!« Ich belle ihnen meinen stechenden Atem entgegen. Aber sie, sie sehen nichts, sie riechen nichts, sie hören nichts! Sie sind ja so dumm! Sie kennen nur eines: Aufrüsten. Ein Lastkraftwagen schlingert heran. Jetzt sind sie zu elft. Zwei vorn, neun hinten. Allen vorweg der Oberstleutnant in einem nagelneuen Geländewagen mit Allradgetriebe aus Uljanowsk. »Aufsitzen!« Das Boxergesicht prügelt mich auf die Pritsche. Wir scheppern über zugiges Gelände. Auf dem Schnee glänzt eine dünne Eishaut, und der Tatra-Kolos kommt unablässig ins Schleudern. »Idiot!«, schimpft das Boxergesicht, dem durch das ewige Auf und Ab das Feuerzeug abhandengekommen ist. Genervt hangelt er mit den Füßen danach, erreicht es aber nicht. »Durak, elender!«, flucht er. Seine Stimme zischt dabei wie feucht geschlagenes Holz im Kaminfeuer. Missmutig saugt er am Stummel der erloschenen Zigarette, saugt und saugt – ohne Hoffnung auf Erfolg. Sein Nuckeln erinnert mich an das gierige Schlotzen von Jungtieren an prallen Zitzen ihrer Mütter. Ziegen, Schafe, Kälber. Meinen Blick auf sich spürend, stutzt der Sergeant. Plötzlich weiß er nichts mit sich anzufangen und steckt die erloschene Kippe in die Uniformtasche. Gleichwohl umgarnt ihn das teuflische Gefühl von Macht: Auf seiner Seite sitzen sie zu fünft; die Kalaschnikow zwischen den Beinen, jederzeit zum Schlag bereit. Gegenüber, links und rechts von mir je zwei. An der Heckklappe, die Zähne fletschend, knurrt der Hund. All das meint: Kein Entkommen! Meine Augen treffen den Rüden wie ein Blitz. Jaulend duckt sich das Tier und verdeckt seine Schnauze mit den Pfoten; es wagt nicht mehr aufzusehen, nur die Ohren bleiben gespitzt. In Gedanken kraule ich sein stumpfes Fell: Tut mir leid, mein Alter, wirklich, aber Strafe muss sein! Schau nur, wo es uns hingetrieben hat, uns beide! Wir sitzen jetzt im selben Boot. Bis ans Ende unserer Tage – ein ganzes, beschissenes Leben lang. Zum Schutz und Wohl der Staatsmacht. Denn wir, mein Alter, sind Freigeister, du und ich. Wir stellen unsere eigenen Regeln auf. Aber dafür muss man die Angst überwinden. Denn nur wer frei von Angst ist, ist wirklich frei! Diese Lektion habe ich in Viktorino gelernt, von meinem Vater. Stepan Stepanowitsch lehrte sie mich auf seine Weise, da war ich gerade zehn …

Viktorino – Sommer 1974

In den Weiten der südwestlichen Taiga endete der erste Sommerferientag so lau, wie er begonnen hatte. Doch als der Abendwind den süßlich schweren Brombeerduft unter die schlanken Lärchen fächelte, zerknitterte der Horizont und der Himmel hüllte sich in gewitterschwangere Wolken. In aller Eile jagte Vater den jungen Hengst in das frisch umzäunte Gehege. Das ungestüme Pferd scheute, sobald er sich ihm näherte. Ängstlich wieherte der Braungelbe und schlug mit den Hinterhufen aus, bis Vater endlich den Bogen raus hatte, eine Handvoll getrockneter Beeren weit genug auf die Koppel zuwerfen, wohin das Tier nun freudig trabte. Vaters Körper entspannte sich. Erschöpft wischte er sich mit dem Hemdsärmel den Schweiß von der Stirn, bevor er das Gatter schloss. Dann drehte er sich flugs in meine Richtung, fuchtelte aufgeregt mit den Gliedmaßen, als hätte ihn eine Hornisse gestochen. Und obwohl mehr als hundert Meter zwischen uns lagen, drang sein dämonisches Gebrüll herüber, was mir einen eisigen Schauer auf den Rücken legte. »Hu-ah«, schrie Vater und näherte sich dem Blockhaus, vor dem ich hockte, mit Riesenschritten, »diese Nacht, Söhnchen, wird mondlos sein, feucht und dumpf!« Als er den maroden Holzschuppen erreicht hatte, sah ich, wie gespenstisch er die Augäpfel rollte. Noch unheimlicher aber war seine hohle Stimme. »In so einer Nacht, Söhnchen«, drohte er mir mit dem Zeigefinger, während er die Erde von den Stiefeln klopfte und dann polternd die Vortreppe zur Terrasse erklomm, »glaub mir, da kommen sie vom Hügel! Sie kommen, um dich zu holen, hu-ah!«
Sein Monstergeschrei hallte so Furcht erregend zwischen Dielenboden und Altandach, dass ich johlend unter den Kieferntisch floh, den Mama neben einer Menge Küchenkram zum Hausputz nach draußen geschleppt hatte. Prompt steckte sie den Kopf durchs Küchenfenster; das mit Asche bestäubte rote Tuch auf dem aufgelösten Haar war verrutscht, und der Zipfel über ihrem Nacken wippte auf und nieder. »Lass den Quatsch, Stepan Stepanowitsch«, rief sie gut gelaunt, »hilf mir lieber, sonst gibt es heute kein Abendessen, und wir müssen draußen schlafen!« Schwupp, war der Kopf wieder verschwunden. Noch schien sie guter Dinge, aber ihre letzten Worte hatten wie der rostige Bass eines alternden Rittmeisters geklungen. Vater wusste es, genau wie ich es wusste: Sprach Mama ihn in dieser Tonlage mit Vor- und Vatersnamen an, war Dringlichkeit geboten. Und nichts lag ihm ferner, als den Haussegen zu gefährden – nicht schon am allerersten Tag! Beflissen setzte er sich in Bewegung, stoppte jedoch am Tisch, unter dem ich kauerte, und hockte sich zu mir. Der Spott in seinen blitzenden Augen schien zu sagen: Nimm dir die Freiheit, keine Angst zu haben, dann ergreift sie auch keine Macht von dir! Stepan Stepanowitsch hatte gut lachen. Als Biologe stand er mit wilden Tieren auf DU & DU. Ich hingegen war ein Stadtkind, gewöhnt an Metro, Wachmaschine und Kühlschrank. Bei mir floss Milch aus Flaschen oder weißen Plastikschläuchen, und nicht aus Zitzen einer Ziege! Natürlich gab da, wo wir eigentlich zuhause waren, auch Tiere. Katzen und Vögel zumeist, seltener Hunde. Es reicht aber nicht, ihnen nur Fressen zu geben, man muss sie auch ausführen. Doch dafür haben die Leute in Moskau keine Zeit, nicht einmal Großmutter Olja. Hier hingegen, in Viktorino, war alles anders … Aus dem Inneren des Hauses gellte ein Pfiff; Mama war eben dabei, den verrußten Kohleherd aus der Kochnische zu reißen, um ihn einer Generalreinigung zuzuführen. »Stepan Stepanowitsch«, rief sie, »würdest du vielleicht die Güte haben und die Ratten aus meiner Küche entfernen! Gegen wilde Wölfe habe ich nichts einzuwenden, aber diese Viecher, nein, das geht entschieden zu weit, am Ende bekommen sie noch Junge!« Vater lachte auf. »Oui, Madame Wolkowa, wir sind schon unterwegs!« Wieder schaute er mich an und lockte: »Nun komm schon, Daniluschka, Rattenjagd! Wenn deine Mutter der Waldkoller überkommt, sind wir geliefert, und es gibt heute kein anständiges Abendbrot, und dann … vielleicht nie wieder!« Er zwinkerte mir zu; also musste ich mit. Keine halbe Stunde später war es geschafft. Die Wolken hatten sich auf wundersame Weise verzogen, und das spartanische Mobiliar des Vorpächters stapelte sich auf dem ausgeblichenen Dielenboden der Terrasse vor dem Blockhaus der weitgehend menschenleeren Siedlung. Zur Sicherheit wies ein Schild am Fassadenbalken darauf hin, wie dieses Nest am Ende der Welt hieß: VIKTOR_NO. Dem letzten ›I‹ fehlte zwar die schwarze Farbe, aber ich sah die Umrisse des Buchstabes, sodass der Name im Ganzen zu erahnen war: VIKTORINO. Während sich meine Mutter nun zufrieden trällernd ihrer Kochkunst hingab, machte es sich Vater draußen unter dem Vordach auf einem abgewetzten Lehnstuhl bequem, um Bücher zu sortieren. Eigentlich! Tatsächlich vertiefte er sich in ›Schuld und Sühne‹ von Dostojewski.
Es waren immer furchtbar dicke Wälzer, die Vater las. Tschechow, Tolstoi. Auch Verbotenes von Bulgakow oder Verse von Wladimir Majakowski.
Ein Werk von diesem schwermütigen Förstersohn hatte er uns auf der Fahrt hierher vorgelesen. Vorher gab er mir allerdings folgenden Hinweis: »Ein Poem, Daniluschka, kommt ganz ohne metrische Struktur aus!«
Aha!
Eigentlich hätte ich gern gewusst, was überhaupt ein Poem ist. Aber so weit ging die väterliche Aufklärung nicht, und ich wagte nicht zu fragen. Schon den Titel des Werkes ›Wolke in Hosen‹ fand ich eindrucksvoll. In dem Text ging es um einen dunkelhaarigen Hund, der heult, weil seine Pfote von einer Lok platt gefahrenen worden war. Dann kommen nacheinander Sutane, Salome und Iokanaan, die im Haus des Vaters (wessen Vater eigentlich?) Tacheles reden wollen. Sie streiten mit Gott über die Liebe und über das Küssen. Komisch, am Ende landen sie immer irgendwie bei der Liebe, ob nun bei Majakowski oder Lermontow, den Mama so gern las. Ich kannte jedenfalls weder alle Vor-, Vaters- und Familien-namen der Schriftsteller, die meine Eltern lasen, noch erschloss sich mir der Inhalt ihrer Bücher! Kaum hatte ich mich mit Arkadi Gaidars ›Timur und sein Trupp‹ unter den Tisch auf der Terrasse verkrochen, tönte ein mächtiges Geheul vom Hügel herab und zerriss die Ruhe der einsetzenden Dämmerung. »Pst …, der Altwolf!«, flüsterte Vater, legte den Zeigefinger auf den Mund und setzte sich tiefer in den Lehnstuhl. Dann bettete er die Füße salopp auf einen Holzhocker davor und platzierte das aufgeschlagene Buch auf seinem Gesicht; er lauschte dem Geheul des Wolfes, als wäre es Musik. Erschrocken verließ ich meinen Unterschlupf, kauerte mich zu Vater auf die frisch gescheuerten, aber von der Sonne schon wieder erhitzten Dielen, ließ meinen Kopf zwischen die Knie gleiten und umklammerte meine nackten Füße oberhalb der Knöchel. »Wann werden sie kommen?«, fragte ich so leise es ging, wobei meine Stimme wohl ein klitzekleines Bisschen zitterte. »Immer noch Angst?«, murmelte Vater unter seinem Buch. Ich zuckte mit den Schultern, aber mein banger Blick schweifte über seine Schulter hinweg bis hinauf zum Hügel. »Nun sag schon, Papa! Wie viele?« »Kommt darauf an.« »Worauf?« »Ob die Einjährigen noch da sind. Wenn das Futter knapp ist, dann kommt es vor, dass sie früh aus dem Rudel vertrieben werden. Doch dieser Sommer …« »Wie viele, Papuschka?« »Gut, gut! Die beiden Leittiere, also Mutter und Vater, und bis zu sechs Welpen. Die habe ich aber selbst noch nicht gesehen! Dann drei oder vier andere Alttiere und die Einjährigen – schätze ich.« Glaubte er. Ahnte er. Vielleicht! An diesem Abend wusste mein allwissender Vater nicht mehr als sein zehnjähriger Sohn. Irgendwie beruhigte mich das. Die Hände in den Hosentaschen, schlenderte ich hinüber in die Küche, wo es nach Borschtsch und frischem Brot duftete. Mama spürte meinen Blick in ihrem Rücken und wandte mir das verschwitzte Gesicht zu. »Na, Hunger?« Scheinbar lässig in der Tür lungernd, wollte ich das Rätsel lüften, warum sie Angst vor Ratten habe, aber keine vor Wölfen. »Angst?«, meinte Mama überrascht und warf mir einen ofenwarmen Brotlaib zu. »Nein!«, beteuerte sie. »Ich finde sie nur abstoßend, mit ihren nackten Schwänzen, und …«, ihr Mienenspiel verriet den Ekel, den sie empfand, sofern sie auch nur an die Viecher dachte, »… in einer ordentlichen Küche haben die nun wirklich nichts zu suchen! Oder möchtest du morgen gegrillten Rattenschwanz essen?« Wir lachten. In der folgenden Nacht lag ich unruhig auf meinem Bett; vor den fremden Geräuschen schauderte mich. Überall sah ich gelbe Augenpaare. Ringsherum flammten sie auf: da, neben dem Bücherregal! Nein, da – am Bettende! Und dort, hinter dem Fenster! Regelrecht umstellt war ich von listig verschlagenen Augenpaaren. Darunter öffneten sich grimmig fletschende Riesenmäuler mit spitzen weißen Zähnen, die nach meinem Leben trachteten. Ich wälzte mich hin und her, fuhr hoch, als ich irgendwo ein Kratzen zu hören glaubte, starrte in die rabenschwarze Nacht, bis Mama zu mir gekrochen kam, meine Füße wärmte und mich mit ihren starken Armen umschlang. Als endlich der Schlaf über mich kam, erwachte draußen bereits der neue Tag.

*

Um die Mittagsstunde lugte die Sonne gelbgolden durch die Baumkronen, und unter meinem Fenster wurde es stickig heiß. Ich wankte vom Bett zur Küche hinüber.
»Mamulja, ich habe Durst!«
»Na, du Langschläfer?« Liebevoll strich Mama durch mein zerzaustes Haar und drückte mir ein Glas Milch in die Hand. »Hier nimm, frisch von der Ziege gezapft!« Hm, gezapft. Schon wieder so ein Wort, das ich nicht verstand. Ich schwieg: aus kindlicher Scham darüber, dass ich so vieles nicht wusste, aus Panik, weil wir hier mit wilden Tieren leben mussten und irgendwie aus Dankbarkeit, dass ich schweigen durfte – bei ihr.
»Magst du Bliny mit Fisch oder lieber Borschtsch und Smetana?«, fragte Mama und pustete sich den feuchten Pony aus der Stirn.
Ich wollte beides, erst die Suppe mit einem Kleks saurer Sahne und dann die gefüllten Eierkuchen aus Buchweizenmehl. »Bei so einem Wolfshunger musst du heute aber kräftig helfen, Daniluschka«, sagte sie lächelnd, »sonst wirst du noch dick und rund wie Großmutter Olja!« Mama zeichnete mit den Händen eine deutliche Wölbung vor ihren Bauch. »Nie und nimmer wird er so fett wie deine Mutter, Katja!«, meinte Vater, der durch die Küchentür trat. »Der Junge kommt schließlich nach mir, hat Wolfsblut in den Adern, ist flink und behände!«
»Stiefel aus, du Unhold«, rief Mama, jenen Lappen nach ihm werfend, den sie eben noch zum Putzen benutzt hatte. Papa fing das klatschnasse Küchentuch mit einer Hand. »Sohn, sieh genau hin: Das ist Macht!«, sagte er scheinbar verstimmt und wirbelte den Stoff wie ein Lasso in der Luft, bevor er ihn sich als Turban um den Kopf wickelte. »Es ist nicht wichtig, dass ich im Schweiße meines Angesichts den Zaun ausgebessert habe, der dich und deine Mutter vor räuberischen Tieren beschützen wird. Nein! Es ist auch nicht wichtig, dass Pferd, Ziege und Hühner im Gehege sind und ich reichlich Wasser ins Haus geschleppt habe. Nein, das alles ist unwichtig! Wichtig ist, dass ich meine Stiefel vor dem Haus ausziehe, sonst …«
Mama küsste ihn auf das stopplige Kinn und deutete eine Art Hofknicks an. »Oh Gospodi, mein Herr und Gebieter, darf ich Ihnen zum Ausgleich einen Borschtsch servieren?« »Sie dürfen nicht nur, ma chère épouse, Sie müssen! Dawai, bystro, bystro!«, trieb Vater sie zur Eile an und gab ihr einen Klaps auf den Po.
Beim Essen machte er mir einen Vorschlag: »Daniil, draußen, gleich neben dem Unterstand mit der zweiten Feuerstelle, gibt es eine alte Regenwasserzisterne. Im Augenblick ist sie trocken. Was hältst du davon, wenn du sie auf Schäden überprüfst? Du bist klein genug und schaffst es bestimmt hineinzuklettern. Bis der Regen in einigen Wochen einsetzt, könnten wir sie mit ein paar Brettern als Speisekammer umfunktionieren. Deiner Mutter würde das sicher helfen.« »Oh ja, die Hausfrau ist dafür!«, jubelte Mama. Sonst waren sie sich nie einig, was ich durfte und was nicht. Normalerweise stritten sie stundenlang darüber. Diesmal hatten sie sich offenbar im Vorhinein abgestimmt, damit ich was zu tun bekam.
»Klar«, spielte ich mit. »Wo liegen die Bretter?« »Tja, die meisten müssen wir noch schlagen. Schließlich sind wir hier Selbstversorger!«
»Darf man das denn, Papa …, einfach einen Baum fällen?« »Wer sollte uns das verbieten, Daniluschka?« »Na, zuallererst die Sowjetregierung. Mindestens aber der Revierförster. Der Gemeindebürgermeister, der örtliche Parteisekretär oder der Vorsitzende der Kolchose …« »Schon gut, schon gut!«, unterbrach er mich und feixte. »Nein, niemand hindert uns daran, auf diesem Grundstück einen Baum zu fällen. Das Land mit der Waldstation bis hoch zum Hügel hat das Institut für uns gepachtet. Hier dürfen wir alles. Nur Leute dürfen nicht zu Schaden kommen.«
»Und im Wald?«
»Im Wald kann ich das Verhalten der Tiere erforschen, Pilze und Beeren sammeln. Rein theoretisch ist es mir aber nicht gestattet, dort etwas zu verändern. Wie gesagt, theoretisch!« »Und praktisch«, mischte sich Mama ins Gespräch, »stellt das illegale Abholzen eine große Gefahr für unsere Wälder dar.«
»Sicher, meine Sonne! Aber im Falle des Falles gibt es praktisch niemanden, der mich daran hindern wird. Denn außer dem Revierförster lebt hier weit und breit keiner – nur wir. Alle anderen sind weg. Dazu kommt der sumpfige Boden im Frühjahr, der viele Schnee im Winter. Wer, frage ich euch, wer sollte mich daran hindern, einen Baum zu schlagen?« Vater schaute sich um, als erwarte er, irgendwo im Haus einen Spion zu entdecken. Flüsternd fügte er hinzu: »Das sollen sie mal wagen, die sind doch alle selbst korrupt!« »Stepan Stepanowitsch, nun ist es genug, das versteht der Junge noch gar nicht!«
»Zeit wird’s, Katjuscha, Zeit wird’s!« Vater sprang auf und griff nach seiner Pfeife.
Oho, jetzt geriet der Haussegen doch noch ins Wanken; die Gelegenheit, sich auf den Hof zu verdrücken!
Mit Fernglas und Taschenmesser ausgestattet, machte ich mich daran, besagte Zisterne zu erkunden. Was ich jedoch vorfand, war enttäuschend – ein leeres Erdloch, das man mit einem Deckel verschlossen hatte. Zu diesem Zweck waren einige Bretter aneinander genagelt worden, die wiederum ein großes rundes Ganzes ergaben. Ziemlich primitiv!
Ich schob den aufgeweichten Deckel beiseite und schaute mich um, ob sich in der Nähe eine Leiter finden ließ, die ich hineinstellen konnte. Das Glück war mir hold; unweit der Feuerstelle entdeckte ich ein Tau. Es war mit einem Karabinerhaken versehen, der wiederum an einem Haken in der Hauswand steckte. Wahrscheinlich hatte die Konstruktion schon früher dazu gedient, Eimer oder Menschen herabzulassen. Zur Probe zog ich kräftig an dem lockeren Tauende; schließlich wollte ich mein Dasein nicht unversehens in ‘zig Metern Tiefe fristen.
Das Tau schien zu halten. Ich ließ das Seil in den schwarzen Erdschlund gleiten, wo es schwer gegen die Seitenwände aus Ziegelstein schlug und ein dumpf klopfendes Geräusch von sich gab. Dann stieß das Tauende auf den Boden. Jetzt musste ich nur noch fix Gummistiefel anziehen und die Handschuhe in meinem Koffer finden, dazu eine Taschenlampe.
Das hieße: Zurück ins Haus! Als ich auf leisen Sohlen ins Kämmerchen schlich, zankten sie in der Küche, und ich zog möglichst geräuschlos den Koffer unter meinem Bett hervor.
»Das sind doch alles Idioten, Katja …!«, rief Vater, wobei sich seine Stimme überschlug; offensichtlich hatte ihn die Diskussion mit Mama in Rage gebracht. »Mit dieser Einstellung verhindern die Apparatschiks doch lediglich den Fortschritt, sonst nichts. Sie sichern ihre winzig kleine Macht auf Kosten der Bevölkerung! Ich sage nur: Diktatur des Proletariats! Diktatur wie Tyrannei, wie Gewaltherrschaft, wie Absolutismus!«
Irgendwas splitterte auf dem Küchenboden. »Stepan, lass das Geschirr in Ruhe! Was willst du eigentlich? Sie haben uns doch hergelassen! Hier, mein Lieber, kannst du endlich in Ruhe forschen … und ich, ich auch.« »Du – hier forschen? Ha, du willst wohl die Wolfskinder erziehen, ja? Ich sag dir was: Abgesetzt haben sie uns in diesem Urwald! Ohne Forschungsmittel, ohne geeignete Technik, ohne Kontakt zum Institut. Sollen wir vielleicht nach Moskau trommeln? Weißt du, Katja, wie ich das nenne? Verbannung nenne ich das, jawohl, kalte Verbannung!« »Schrei doch bitte nicht so, Stepan, der Junge muss ja nicht gleich alles mitbekommen, er ist verängstigt genug!« »Ja, ja … – auch so ein gutes Beispiel!« Vater wurde immer wütender. »Wo bitte, frag ich dich«, brüllte er, »wo soll Daniil jetzt zur Schule gehen?« »Ich werde ihn unterrichten.«
»Aha, und wie nennst du das?«
»Selbstversuch; wie in der pädagogischen Forschung der Sowjetunion vorgesehen: Experiment und Beobachtung!« »Na klar, ich seh’s schon vor mir: Unterricht eines Zehnjährigen auf dem Bärenfell – eine pädagogische Abhandlung von Katharina Wolkowa. Pah, ausgerechnet von dir werden sie eine Studie akzeptieren! Nein, sieh es endlich ein, du passt nicht in ihr Denkschema! Duu warst nur der hässlich kleine Appendix des letzten wahren Professors der pädagogischen Wissenschaften, an den sie sich nicht rantrauten in Moskau. Und nach dessen frühen Tod – übrigens habe ich Grund zur Annahme, dass das kein Zufall war – haben sie dich eins, zwei, fix fallen lassen. Wie eine heiße Kartoffel! Wissenschaftlich gesehen bist du tot.«
Tot …, was Vater damit wohl meinte?
Mama schien mir ziemlich lebendig. Sicher hatte es damit zu tun, dass sie nicht als Wissenschaftlerin arbeiten durfte. Weshalb, verstand ich nicht. Es störte mich auch nicht, so hatte sie viel Zeit mit mir und Großmutter Olja im Moskauer Zoo verbracht, war mit uns sogar in den Vergnügungspark gegangen, und abends hatte sie stundenlang vorgelesen. Die Stimmung in der Küche änderte sich von einem Moment auf den anderen.
»Ha, ha … ups«, kicherte Vater plötzlich. »Eher wird sich … ha, ha, Nadeschda Krupskaja im Grab umdrehen! Wobei, die Pädagogik als sowjetische Wissenschaft, hi, hi, hi … muss ja vor allem in die Zukunft gerichtet sein. Und da …, lass das doch, Katja! Da Systemkritiker, wie wir, zukünftig ihre Kinder mit in die Verbannung nehmen werden, wäre dein Werk zum Privatunterricht vielleicht genau das Richtige. Aber nein, was rede ich da: privat! Das ist ja Anarchie! Nein, Selbsterziehung muss es heißen. Denn Achtung, Frau nimm die Hände weg! Ich zitiere jetzt nämlich deinen geliebten Herbart: Man erhalte dem Zöglinge die Kräfte, die er hat. Einen Menschen schaffen oder umschaffen kann der Erzieher nicht; aber manche Gefahren abwenden und sich eigner Misshandlung enthalten, das kann er, und das ist von ihm zu verlangen.« Plötzlich war Ruhe in der Küche. Nur das wohlige Stöhnen meines Vaters war zu vernehmen. Dann forderte er: »Nicht aufhören, weitermach…«, und eine ganze Reihe schmatzender Geräusche folgte.
Verflixt, es wurde Zeit, dass ich die Handschuhe fand! »He – Stepan, weißt du eigentlich, dass die Krupskaja immer unter der Fuchtel ihrer Mutter stand? Elisawjeta Wassiljewna war überall dabei, selbst in der Verbannung mit Lenin in Schuschenskoje! Kannst du dir das vorstellen? Zu dritt! Wann hatten die jemals ungestört Sex?« »Das fehlt mir noch, dass deine Mutter hier auftaucht!«, unterbrach Vater sie und legte seine Schmusebärstimme auf. »Nee du, die dicke Olja lass mal lieber in Moskau, sonst gibt es nie eine kleine Katjuscha, und das wäre doch sehr schade!«
Sie prusteten los.
Ich verstand kein Wort, trotzdem war alles klar. Man hatte uns nach Viktorino gelassen, damit Vater seine kritischen Schriften über den unzulänglichen Naturschutz in der Sowjetunion weder hier noch anderswo veröffentlichen würde. Stattdessen bot man ihm an, den Feldversuch mit Wölfen in der Taiga durchzuführen – ein lang gehegter Traum! Einzige Bedingung: Er sollte Mama mit ihren verdrehten pädagogischen Ansichten gleich mitnehmen. Vornehmlich, damit er in den folgenden zehn Jahren Gesellschaft hatte. Oder zum Schutz gegen die wilden Tiere. Oder vor wer weiß wem. Jahre später erfuhr ich, wir waren politische Gefangene wie er. Ein Garant, dass Vater keine Verbindung mehr zur Zivilisation aufnehmen konnte und ihn seine Leute auf diese Weise nach und nach vergessen würden. Einziges Ziel des KGB war es, die Starken zu schwächen, bis man sie vernichten oder zu willfährigen Vasallen machen und sie schließlich eingliedern konnte. Es sei denn, die Starken waren vorher eingeknickt und hatten sich auf die eine oder andere Art selbst zerstört. Gelegenheiten dazu gab es ja viele. Endlich, da waren ja die Lederhandschuhe! Vorsichtig raffte ich meine Sachen zusammen und stahl mich aus der Hütte, denn in der Küche war es verdächtig still geworden. Gut, dass draußen auf mich eine Aufgabe wartete! Die Sonne schien gleißend, aber aus dem Erdloch kroch Sumpfkälte. An diesem düsteren Loch verspürte ich auf einmal eine merkwürdige Verlassenheit. Wie vor einem tosenden Meer am Rande einer Klippe. Ehe mich jedoch ein leichtfertiger Schritt zum Absturz führen konnte, griffen meine Hände nach dem Tau. Ein letzter Blick nach unten, dann ging’s Stück für Stück abwärts. Ganz so, wie ich es im Moskauer Kino mit Großmutter Olja gesehen hatte: Hand, Hand, Fuß, Fuß. Den Rücken fest an die Wand gepresst, drückte ich die Stiefelsohlen an die gegenüberliegende Seite und glitt die fünf, sechs Meter vorsichtig hinab. Auf der Hälfte der Distanz verlor sich allmählich das Licht, und trotz des Leders über meinen Händen, brannten die Innenflächen wie Feuer. Die Muskeln in den Oberarmen spielten verrückt, aber ich hielt durch. Der Zisternenboden war muffig und klamm; zum Hinsetzen völlig ungeeignet.
Ich lehnte mich an die Steinmauer und schnaufte. So mussten sich Kolja und Geika in der Gefangenschaft von Kwakins Bande auch gefühlt haben, dachte ich, bis Timur und sein Trupp sie befreiten. In diesem Moment schwor ich, nie mehr Angst zu zeigen. »Nie mehr«, flüsterte ich. »Nie, nie wieder!«
Das Geräusch war wohl bis nach oben gedrungen, denn plötzlich rief Vater: »Daniil, bist du etwa da unten?« »Natürlich, ich muss doch meine Aufgabe erfüllen!« »Oh, Gospodi!«, rief Vater stolz und stierte herab; sein Kopf war nur schemenhaft zu erkennen. »Und, schon wilde Tiere gesichtet?«
»Nein, nur einen verrosteten Dosenöffner und jede Menge Nägel, sonst nichts.«
»Gut, dann komm wieder hoch!« Der Schattenkopf verschwand. »Paapa, Pap…!« Der Kopf tauchte wieder auf. »Ja?« »Gibt es irgendwo eine Leiter? Ähm, mit dem Tau wird’s hinauf ziemlich schwierig.« »Warte, ich glaub, ei… Strickleiter, ich hole sie!« Tatsächlich schleppte er wenig später zwei Seile heran. Links und rechts waren alle halbe Meter Knoten gebunden, die jeweils eine ziemlich marode Holzsprosse aus Buche hielten. Achtsam ließ Vater das Gebilde zu mir hinab. Welche Wohltat, einfach Stufe für Stufe hinauf zu klettern!
»Gratuliere, Söhnchen!«, jubelte Vater, als er mich über den Sims zog. »Und, ab heute keine Angst mehr, ja?!« »Angst, was ist das? Kenn ich nicht!« Ich plusterte mich auf wie unser Hahn Juri, wenn er auf dem Misthaufen kräht, und zeigte meine zuckenden Armmuskeln.
Papa nickte. »Dagegen hilft nur Training. Also, wir holen jetzt Holz zum Abdecken des Zisternenbodens! Liegt ja noch genug rum. Dann kannst du damit schon mal unten die Vorräte aufschichten! Übrigens, Daniluschka: Hiermit ernenne ich dich zum staatlich anerkannten Aufschichter!« Wir lachten. Vaters Bauch schwabbelte dabei ein wenig über dem Hosenbund, während ich meinen absichtlich aufblasen musste, damit er überhaupt zu sehen war. Wir lachten und wieherten, schlugen uns auf die Schenkel, bis wir erschöpft auf die Wiese fielen. Den ganzen restlichen Nachmittag arbeiteten wir Hand in Hand, sprachen wenig, und jeder dachte sich seinen Teil: Ich dachte darüber nach, wie ich es fertigbrachte, keine Angst mehr zu zeigen. Sie zu haben, an einem Ort, wo die Nacht gelbe Augen hat, war gewiss nicht sträflich. Mein Vater dagegen sann wohl darüber nach, wie er aus mir schnellstens einen Mann machte, damit ich in der Wildnis überleben konnte. Wir dachten nach, und nebenbei stapelten wir die herumliegenden Bretter auf; der eine Stoß würde gutes Brennholz abgeben, der andere sollte als Baumaterial für Mamas Speisekammer dienen.
Bis weit nach Einbruch der Dunkelheit schufteten wir ohne Unterlass. Doch irgendwann kam die Erschöpfung, und wir wankten in Mamas Refugium, die Küche, um endlich ein üppiges Mahl zu uns zu nehmen.
Vater schlug auf die Tischplatte. Er rief: »Frau, wir haben hart gearbeitet, bring Fleisch und Bier!« Dabei blinzelte er mir zu, und ich fühlte mich wie ein richtiger Mann. »Ich werd‘ euch – Bier, sauren Kwass könnt ihr haben!« Mama lachte und bewirtete uns mit allem, was die Vorräte hergaben.
Obwohl ich mir sicher war, dass in dieser Nacht bernsteingelbe Augenpaare um mein Bett herumgeisterten, schlief ich ruhig, träumte von ausströmender Milch, die aus einem Messinghahn floss, der unter Mascha, unserer Ziege, angebracht war. Und Juri, der Hahn, hüpfte Sprosse für Sprosse über eine Strickleiter auf Maschas Rücken!

Ankunft im Straflager Nr. 18 – Polareule

Der Lastkraftwagen bremst ohne Vorwarnung. Wir stürzen von den Bänken. Der Hund jault auf; wahrscheinlich ist ihm jemand auf den Schwanz getreten. »K tschortu!«, wünscht das Boxergesicht jemanden wütend zum Teufel. Sie sind konfus, sie sind gereizt. Mit dem Gewehr im Rücken hetzen sie mich runter in den Schnee. »Na los, mach schon – in die Ausgangsposition!« Auf vereisten Wegen treiben sie mich: »Marsch, Marsch!«, an fünf Sperrzäunen vorbei bis in die Strafanstalt. Aber irgendetwas irritiert sie. »Sergeant Koslow …!« »Zu Befehl, Genosse Oberstleutnant!« »Nachschauen, was mit den Hunden ist!« »Jawohl – nachschauen, was mit den Hunden ist!« Das Boxergesicht greift nach der Hundeleine, zerrt den aufsässigen Rüden hinter sich her und begibt sich hinüber zu den Käfigen.
Ich bin mir sicher: Die Hunde liegen im Schnee, sie heben nicht einmal ihre Köpfe. Das Boxergesicht kommt ohne Hund zurück. »Genosse Oberstleutnant – die Hunde … Sie liegen im Schnee.« »Wie, im Schnee?« »Sie liegen nur so da.« »Sind sie tot?« »Nein, Genosse Oberstleutnant – sie liegen nur.« Der Oberstleutnant fixiert mich mit grimmigen Augen. Grundgütiger, er hat eine Vorahnung! Aber er kann es sich nicht erklären. Noch nicht. Und er ist viel zu schlau, um darüber zu reden. Nicht hier! »Darum kümmern wir uns später!«, bestimmt der Oberstleutnant. »Sergeant Koslow …!«
»Zu Befehl, Genosse Oberstleutnant!« »Führen Sie den Gefangenen Wolkow in die Zelle!« »Jawohl – den Gefangenen Wolkow in die Zelle führen!« Es geht los!
Vorbei an ‘zig Wachtürmen schinden sie meinen Körper im Laufschritt durch den Sicherheitskorridor: Vom Gatter aus nach links, den schneebedeckten Trampelpfad entlang, dann die Treppenstufen hoch … Mintgrüne Fassaden? Hm, auch eine Form der psychologischen Kriegsführung. Es geht weiter!
Im Laufschritt hinein in das zweistöckige Gebäude. Links, rechts, links. Ein Labyrinth aus Gängen, und am Ende Türen, nichts als Türen! Türgitter, gepanzerte Türen, Türen aus Eisen oder Stahl, Türen mit Vorhängeschlössern, Türen mit Riegeln, blaulackierte Tü… Sie führen mich im Kreis. Drei-, nein viermal kommen wir am selben Wachmann vorbei. Sie wissen, dass ich es weiß. Sie haben Angst. Darum! Jetzt wird sie übermächtig, ihre Angst. Sie verbinden mir die Augen. Ein schwarzer Gang; und nichts ist, wie es aussieht! Menschliche Gerüche werden von Rattenpisse überdeckt: die schweißige Beklommenheit der Wachleute, das Dahinsiechen der Insassen, selbst der frische Kreideschlamm an den Wänden …
(Ende der Leseprobe 1. Kapitel)

Γ– HOFGANG (3. KAPITEL)

… an irgendeinem Tag
Jetzt habe ich nicht aufgepasst! Das Boxergesicht brabbelt etwas von: »Aufruhr im Außenkäfig«, in sein Funkgerät; ein deutsches Fabrikat. Wasserdicht, drei vorprogrammierbare Kanäle … Im Moskauer Gefängnis hatten sie dasselbe. Seit der deutsch deutschen Wiedervereinigung ist ja alles möglich: Feinde werden zu Freunden, Waffengegner zu Waffenbrüdern und umgekehrt. Während die arme DDR früher nichts zu bieten hatte, brennt das fette Deutschland nun darauf, seinen Einfluss im Osten zu erweitern. Schließlich wollen Ölfelder und Erzvorkommen erschlossen werden. Joint Venture heißt das Zauberwort in allen Branchen. Warum also nicht auch mit deutscher Technik in russischen Gefängnissen? Unsere Blicke treffen sich durch das Gitter im ausgekotzten Blaugrau des Himmels. Das Boxergesicht fixiert mich und grient. Die Eisenstäbe in der Hand, starre ich hoch. Jetzt haben sie einen Grund. Nicht, dass sie Gründe bräuchten, das nicht! Aber muss man sie ihnen liefern? Stiefel trampeln, Schlüssel klappern – sie kommen! »Gefangener Wolkow – in die Ausgangsposition!« Ich kralle mich an den Eisenstäben fest und summe: »Der Morgen dämmert leise, schickt mir die Vögel übers Meer – anderswo erwartet niemand meine Wiederkehr …« Ein Schlagstock drischt auf das Gitter; die Knochen bersten, sie gleiten von den Stäben. Mein Gott, war das einfach! »Wohl von Mut geträumt – Wolkow, oder haste ’nen Zellenkoller?« Ha, sie bieten mir eine Ausrede! »Hände vor, dawai! Nun los Mann …, keine Faxen, Wolkow! Ziehst sowieso den Kürzeren!« Sie bringen mich in den Zellenblock. Einer links, ein Zweiter rechts von mir. Die drahtigen Soldatenhände fest unter meine Achseln geklemmt, schleifen sie mich zum Verhör. Der Oberstleutnant sitzt am Schreibtisch; ein schönes Stück mit Intarsien aus Perlmutt in der Randverzierung aus Trauben und Blättern. Die Soldaten sperren mich in die zweimal ein Meter große Gitterzelle an der Wand. Die Tür kracht, das Vorhängeschloss schnappt zu. »Genosse Oberstleutnant, der Gefangene Wolkow ist zum Verhör bereit.« »Danke, abtreten!« Die Soldaten verschwinden. Der Oberstleutnant schweigt eine Weile und poliert mit einer Feile seine Fingernägel. Sein Gesicht wirkt vollkommen entspannt. »Wolkow«, sagt er irgendwann und blickt auf. »Sie werden beschuldigt, einen Ausbruchsversuch unternommen zu haben. Was sagen Sie dazu?« Scheinbar bedauernd wiegt er leicht den Kopf hin und her. »Das war kein Ausbruchsversuch!« »Sondern?« »Eine Schutzhandlung.« »Interessant, eine Schutzhandlung also.« »Ja, laut Gefängnisverordnung bin ich verpflichtet, mich gesund zu erhalten.«
»Laut Gefängnisverordnung sind Sie auch verpflichtet, den Anweisungen des Diensthabenden Folge zu leisten!« »Steht das da?« »Das steht da. Haben Sie diese Passage nicht gelesen?« »So weit bin ich nicht gekommen.« »Hm, das steht auf Seite eins, Wolkow. Wohlgemerkt, auf der ersten von zwei Seiten!« »Seite eins?« Vor Staunen reiße ich die Augen weit auf. »Also, ich beginne mit dem Lesen immer von hinten.« »Ach, sind Sie Araber? Nein? Dann Jude oder was? Ansonsten haben Sie eine verdammt gefährliche Zunge, Wolkwow! Passen Sie auf, dass Sie die nicht verlieren! Was ist denn mit Ihren Händen passiert?« »Eine Verletzung.« »Aha, dann haben Sie also gleich gegen zwei Direktiven der Haftanstalt Polareule verstoßen: gegen die, zur Gesunderhaltung des eigenen Körpers und gegen die, zum Gehorsam!« Der Oberstleutnant kratzt sich nachdenklich das Kinn; irgendetwas beschäftigt ihn. »Haben Sie schon mal versucht, einem Wasserfall zu entkommen?«, frage ich mit kehliger Stimme und versuche, meine Hände auf den Oberschenkeln abzulegen. Der Schmerz ist ungeheuerlich. »Wie?« »Nun, wenn beispielsweise die Kaskaden vom Talkowny-Wasserfall im Putorana-Gebirge aus 482 Metern Höhe auf Sie niederprasseln, ist Ihre Angst zu ertrinken dann real?« »Hm, wahrscheinlich.« »Intuitiv suchen Sie Halt, nicht wahr?« »Kann schon sein, aber was hat das mit Ihrer Verletzung zu tun?«, zankt er. »Nun, aus irgendeinem Grund trifft mich beim Hofgang regelmäßig ein gelblicher Wasserfall, wenn Sie verstehen, was ich meine. Da ich nicht ausweichen kann, ist die Angst vor dem Ertrinken also real, und ich suche Schutz.« »So, so, ein Wasserfall. Nun gut, Wolkow. Unterhalten wir uns über was anderes. Wie geht das?« »Was?« »Das mit den Hunden. Nehmen wir den stinknormalen Haushund, nicht solche speziell abgerichteten, wie wir sie hier haben. – Also, der Haushund wird doch so abgerichtet, dass er Haus, Hof und Besitz verteidigen soll. Dazu gehört, dass er durch lautes Bellen vermeintliche Eindringlinge anzeigt, den Eigentümer also warnt. Klar?« »Klar!« »Nun weiß man, dass sich Diebe häufig Zugang verschaffen, indem sie durch Zuführen von Leckereien das Vertrauen des Hundes erlangen. Die Frage, die ich mir stelle, ist nun, wie es dem Dieb ohne Leckereien gelingen kann, das Zutrauen des Hundes zu gewinnen, sodass dieser nicht anschlägt, wenn der Dieb das Grundstück betritt.« »Das ist keine Frage des Vertrauens, Genosse Oberstleutnant – hier geht es um Respekt.« »Verstehe, aber vor seinem Herrn hat der Hund doch auch Respekt, nicht wahr. Warum gehorcht er dann dem Dieb, und nicht ihm?« »Viele Besitzer, Genosse Oberstleutnant, verwechseln Respekt mit Angst. Sie richten ihre Tiere nicht mit Würde ab, sondern nutzen deren Furcht vor Gängelung, um sie an sich zu binden.«
»Und was wirkt nachhaltiger?«
»Ist das eine Frage?«
»Natürlich ist das eine Frage!«, ruft der Oberstleutnant und wirft mir einen giftigen Blick zu. »Nun, wenn man Respekt vor jemandem hat, ordnet man sich freiwillig unter, andernfalls …« »Andernfalls?« Ich schweige. Der Herr des Straflagers kennt die Antwort so gut wie ich. Warum soll ich ihm sagen, was er schon weiß? Es ist eine Machtfrage. Und der Mächtige entscheidet sie so oder so für sich. Der Oberstleutnant nagt auf dem Radiergummi seines Bleistifts, lässt seinen Blick stumm über mich gleiten, kritzelt dann etwas auf einen Block und ruft nach Sergeant Koslow. Der tritt ein und stutzt: Ich sitze in derselben Position wie vorhin. Unbehelligt! Ganz ruhig hocke ich auf dem Holzschemel in der blaulackierten Gitterzelle. Das ist neu für ihn. Der Oberstleutnant lehnt sich im Sessel zurück, grinst anzüglich und deutet mit dem Kopf in meine Richtung. »Bringen Sie den Gefangenen Wolkow in die Krankenstation, Sergeant!« »Zu Befehl – den Gefangenen Wolkow in die Krankenstation bringen!« Das Boxergesicht nestelt an dem Vorhängeschloss der Gittertür, das mit einem Zahlencode zu öffnen ist. »Ach, Wolkow!«, nimmt der Oberstleutnant das Gespräch wieder auf. »Wie ist das mit den Wölfen, lassen die sich zähmen?« »Natürlich, aber die Frage ist: Wozu? Der oberste Vorsatz eines erwachsenen Wolfes ist doch, Ärger zu vermeiden.«
»Man braucht also kein Wasser, um ihn zu bändigen?«
»Wasser? Nein, Wasser braucht man nicht.«
»Gehört, Sergeant Koslow?« Das Boxergesicht lässt das Schloss aufschnappen und klappt dann die Hacken aneinander. »Zu Befehl – Genosse Oberstleutnant, Wasser braucht man nicht!« »Allerdings«, schränke ich ein. Der Oberstleutnant zieht die Augenbrauen hoch. »Ja?« »Erweist sich der Mensch oft als des Menschen Wolf.« »Und?« »Im Innenbereich wäre Wasser zur Gesunderhaltung durchaus hilfreich, Genosse Oberstleutnant. Zumal …« Ich strecke meine gebrochenen Hände durch das Gitter. »Was meinen Sie, Wolkow?« »Die Wasserspülung, Genosse Oberstleutnant, sie geht nicht. Man muss das Wasser nach der Verrichtung gewisser Dinge mit dem Eimer ins Klosett schütten.« »Sergeant Koslow, wussten wir davon?« »Nein, Genosse Oberstleutnant.« »Sehen Sie Wolkow«, deutet der Oberstleutnant süffisant auf das Boxergesicht, »was wir nicht wissen, können wir auch nicht ändern, nicht wahr!?« An das Boxergesicht gewandt, fordert er zackig: »Abführen, Sergeant!« »Zu Befehl – abführen!« Das Boxergesicht zerrt mich durch die schmale Gittertür hinaus auf den Flur. »An die Wand!«, knurrt er. Die Handschellen auf meinem Rücken klickten. Jetzt nur nicht ohnmächtig werden, bloß nicht fallen! Die Soldaten grabschen nach meinen Armen. Sie pressen ihre Hände fester als sonst in mein Fleisch. Sie fühlen sich verraten. Darum! Zur Krankenstation geht es über den Hof. Sie zerren mich über nicht geräumte Wege. Das tun sie extra! Sie schubsen, keifen, treten. »Das wirst du büßen – Wolkow«, zischt das Boxergesicht, als wir den Gang zur Krankenstation betreten. Er greift nach meinen Händen und drückt zu. Mir wird schwarz vor Augen. »Verzeihung!«, sagt er später, als ich wieder zur Besinnung komme und mich erbreche. Zufrieden hebt der Sergeant die Augenbrauen. »Alles klar, Wolkow?« Er steht breitbeinig vor mir und grient. Ich nicke schwerfällig. – Klar, ist alles klar, Schattenmann! Sie schieben mich durch eine Tür. Eine robuste Schwester behandelt mich. Alles an ihr ist dick und abstoßend. Aber sie hat diese Augen, dunkle Augen mit dem Bernsteinkranz! – Anastasias Augen!

Viktorino – ein Sommer im nächsten Jahrtausend

Angetrieben von ihren märchenhaften Vorstellungen über die abenteuerliche Taiga, kamen zur Jahrtausendwende all die Raissas, Ludmillas und Julias nach Viktorino. Etliche Artikel in der Presse führten sie her. Berichte, die es nur gab, weil ich unbedingt Geld zum Unterhalt der Forschungsstation brauchte …
(Ende der Leseprobe 3. Kapitel)

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