Leseprobe: Helmut Pöll – „Die Krimfahrt”

1

Wilhelm Seidlitz war ein unauffälliger Mensch. Er arbeitete in der Verwaltung seiner Heimatstadt als Hausmeister und fuhr mit der U-Bahn zur Arbeit. Er war unscheinbar. Weder an seinem Äußeren noch an seinem Wesen gab es auf den ersten Blick etwas Auffälliges, und müsste man sich an ihn erinnern, dann mit einem leichten Erstaunen und deshalb, weil es kaum etwas gab, woran sich die Erinnerung festmachen ließ.
Es war, als bemühte man, sich ein Phantom aus dem Dunkel seiner Erinnerungen zu zerren, ein Phantom, das sich dabei vehement wehrte und nur zentimeterweise dem Licht näherte. Wie sah er aus? Normal, nicht dick, nicht dünn, das schüttere Haar des Mittvierzigers sorgsam über die mit Leberflecken übersäte Kopfhaut gezogen.
Hobbys hatte er keine, bis auf das eine, dass er gerne Bücher und Magazine las. Und selbst diese regelmäßige Beschäftigung, die sich manchmal dem Rande der Leidenschaft näherte, hätte man böswillig umdeuten können zu einem Hang zum Verweilen im Theoretischen und Drückebergerei vor dem wirklichen Leben.
Statt die günstigen Gelegenheiten, die sich in bescheidenem Ausmaß auch in seinem Leben boten, beherzt zu ergreifen, statt einmal etwas zu riskieren, bevor Verlauf und Ausgang einer Sache bis ins letzte Detail kalkuliert wären, zauderte er, starrte der Gelegenheit wie gelähmt ins Gesicht, wo sie nahe war, unfähig sie zu ergreifen, ließ sie ungenutzt vorbeiziehen und blickte ihr doch wehmütig hinterher, wenn sie endgültig verschwand wie ein Schiff, das über den Horizont davonsegelt mit anderen Passagieren an Bord.
Der schnelle Entschluss war seine Sache nicht. Eine Gelegenheit hätte bei ihm nicht langsam vorüberziehen dürfen, sie hätte auf Reede gehen und in seinem Hafen überwintern müssen, ehe er überhaupt in Betracht gezogen hätte, sich auf sie einzulassen.
Er überließ die Torheiten den anderen, den Waghalsigen, den Kurzentschlossenen, den Spontanen, die immer die Hälfte vergaßen. Er selber las lieber über diese Torheiten, als an ihnen teilzuhaben, zog sich mit seinen Büchern ins Studierzimmer zurück und ließ sich aus dritter Hand lieber berichten, was andere in ihrem Leben planten, unternahmen und welche Abenteuer rein theoretisch auch auf ihn warten könnten.
So gab es von Seidlitz’ Leben nicht viel zu berichten, außer man wollte es schon als Sensation ansehen, wenn er die Zahl der zu lesenden Seiten, die er sich für das laufende und für jedes Jahr vornahm, schon vorzeitig in einer Novembernacht erreichte, wo Winterwind wild an den Fensterläden rüttelte. Stolz über diesen Triumph stand er dann auf, wippte mit auf dem Rücken verschränkten Armen im Stehen, setzte sein zufriedenstes Gesicht auf und gönnte sich zur Feier des Tages ein Glas des teuren Roten. Jetzt konnte nichts mehr schiefgehen. Das Jahr war gerettet.
Wilhelm Seidlitz liebte die Ordnung und war froh, wenn die Dinge berechenbar blieben. Er mochte keine Kaffeeflecken auf Tischdecken, keine Brotkrumen am Teppich und Blumenvasen, die mit ihrem kalten Porzellankörper direkt auf dem empfindlichen Holz seiner Kommode standen, ohne Deckchen dazwischen, waren für ihn völlig indiskutabel. „Da kann ich mich auch gleich nackt auf die Couch setzen“, sagte er dann außer sich, mit rotem Kopf, und wippte erbost. Seine Kommode hatte schon einen Wasserfleck, links vorne am Eck, und er hatte es nicht verhindern können. Jedes Leben hat dunkle Stunden, das war die von Wilhelm Seidlitz. Den 29. August 79, einen heißen Mittwoch, an dem sich ein Gewitter zusammenbraute und dann doch nicht kam, würde er nie vergessen, sein ganzes Leben nicht, die Vorkommnisse jenes Schicksalstages waren für immer unauslöschlich in seine Erinnerung gebrannt. An diesem Tag entstand der Wasserfleck, der ihn noch heute höhnisch anstarrte, sobald er das Studierzimmer betrat. Er hatte schon alles versucht und in der ersten Zeit weiße Deckchen darübergebreitet, so wie man Verband über eine Wunde legt. Aber genauso wie der Ungeduldige den Verband hebt, um sich zu vergewissern, dass die Heilung Fortschritte machte, zog es Wilhelm Seidlitz immer wieder zu diesem Deckchen, wo er lediglich feststellte, dass der Wasserfleck blieb. Das machte ihn ganz verrückt.
Weit schlimmer noch als der Wasserfleck auf der Kommode, der sich täglich in Erinnerung brachte, aber wog der unersetzliche Verlust des Samoaberichtes, eines großformatigen Bildbandes, den er günstig in einem Antiquariat erworben und der zum Tatzeitpunkt unmittelbar in der Flutzone gelegen hatte. Dieses unersetzliche Sammlerstück wurde fast vollständig zerstört. Anfangs war die Zerstörung kaum sichtbar, nur einer Ecke des Bildbandes wölbte sich das Papier und färbte sich in Nuancen gelb ein. Seidlitz’ groß angelegte Rettungsmaßnahmen führten nicht zum gewünschten Erfolg. Er versuchte es mit dem Naheliegendsten, Trocknen und Pressen, doch das einmal gewellte Papier des Samoabandes erwies sich als von geringer Qualität und als widerspenstig. Auch den anerkannten Restaurator eines hiesigen Museums, eine Koryphäe der Buchrettung, hatte er um Rat gebeten, der zuerst auch Hilfe für das Kunstwerk in Aussicht stellte, beim Anblick von Seidlitz gewelltem Samoaband aber in schallendes Gelächter ausbrach, dann die Museumskollegen herbeirief, die Seidlitz unter Spott und Hohn aus den heiligen Hallen vertrieben. Von da an war Seidlitz bei der Rettung auf sich alleine gestellt. Ein ganzes Jahr hielt der Samoaband durch, dann war er endgültig verschlissen.

2

Auf dem Weg zur Arbeit kam Seidlitz täglich an einem Tabakwarenladen vorbei, vor dem eine Linde wuchs, die der Vater des Tabakwarenhändlers gepflanzt hatte und die dem Sohn jetzt den Eingang beschattete. Seidlitz sagte sich jeden Morgen, dass er bis zu seiner Pensionierung nur noch 20 Jahre hier vorbeigehen würde, und wenn die Linde dereinst einmal ihren Schatten in den dritten Stock werfe, dann müsse er nie wieder das Pförtnerhäuschen der Stadtverwaltung passieren, hinauf in seine Werkstatt und Glühbirnen in verwaisten Gängen wechseln. Ängstlich und eifrig beobachtete er, ob der Baum auch der Pflicht nachkomme und über die Monate und Jahre stetig größer werde, als sei dessen Wachstum untrennbar mit seiner eigenen Pensionierung verknüpft und der Schattenwurf im dritten Stock die Messlatte, bei deren Erreichen er automatisch verabschiedet werde und ein letztes Mal mit den Kollegen beim Umtrunk die Gläser klirren lassen werde.
Er hütete den Baum wie seinen Augapfel, vertrieb entschlossen Vierbeiner samt Herrchen, die sich verdächtig in seiner Nähe herumdrückten und deren Morgenspaziergang sich schicksalhaft mit seinem Arbeitsweg kreuzte. Durch Gefälligkeiten und besondere Aufmerksamkeiten versuchte Seidlitz einmal sogar, seine Beziehungen als Hausmeister im Amt zu nutzen, um eine Umzäunung der Linde zu erreichen – vergebens. Der zuständige Beamte rief ihn zu sich ins Büro, runzelte die Stirne und murmelte „Seidlitz, lassen Sie das!“ Dann hämmerte mit Wucht der schwere Stempel ablehnend auf seine Eingabe.
Seidlitz’ Spleen ging so weit, dass sich die Sorge um diesen Teil seines Arbeitsweges, diesen Baustein seines Schicksals, so tief in ihn fraß, dass er an freien Tagen manchmal das Haus verließ, um die wenigen Straßenzüge abzuwandern und nachzusehen, ob die Linde noch stand und seine Beförderung gesichert war.
Wilhelm Seidlitz’ Frau Erika, eine brünette, herbe Landschönheit, mit der er seit 25 Jahren eine ruhige Ehe führte, bestärkte ihn in seiner Sicht der Welt. Im Grunde war sie über seine geruhsame Art und sein stilles Hobby froh und bei ihm vor Überraschungen sicher. Wenigstens schmutzte Wilhelm nicht wie die vielen furchtbaren Handwerker aus der Nachbarschaft, die nach Feierabend und am Wochenende sägten, hobelten, hämmerten oder sonst eine andere Gelegenheit zum Lärmen fanden. Besonders zu schaffen machte ihr der Spross einer Schreinerdynastie, der vor fünf Jahren die Wohnung im Treppenhaus gegenüber bezogen hatte. Der an und für sich stille Mann, der kein unnötiges Wort von sich gab und einen morgendlichen Gruß nur mit einem scheuen, kaum angedeuteten Kopfnicken erwiderte, ging dafür umso bereitwilliger bei allen anfallenden Zimmererarbeiten im Haus und der näheren Umgebung zur Hand ging und stellte in solchen Notfällen die eigene Wohnung als Werkstatt bereit.
Hatte er sich für einen guten Zweck verdingt, schabte, sägte, feilte und bohrte der Nachbar unermüdlich, als gäbe es kein Morgen und mehr als einmal hatte er die Seidlitz’ um Hilfe herausgeklingelt. Erika, gerne bereit bei häuslichen Engpässen mit Mehl, Zucker oder auch mal mit einem rohen Ei auszuhelfen, hatte bereitwillig geöffnet, fand sich aber ungewollt plötzlich in ganz anderer Rolle, eingeklemmt zwischen Treppengeländer und einem roh gezimmerten Tisch, den der selbstlose Nachbar mit ihr, in Ermangelung anderer helfender Hände, drei Stockwerke tief in den Hof tragen musste. Der Spion in der Türe rettete ihr bei weiteren Rekrutierungsversuchen das Leben.
Die schlimmeren Tage, an denen sie vor Gram und als Ausdruck ihres hilflosen Protestes Migräne bekam, waren jene, an denen Spuren von Sägemehl unter dem Türspalt durchkamen, dumpfes Brummen schon am frühen Morgen das Haus erfüllte und die Wucht schwerer Maschinen die Gläser im Schrank stundenweise klirren ließ.
So war Wilhelm nicht. Er blieb am Feierabend wenigstens in seinem Studierzimmer ruhig am Fenster sitzen, ging nicht die ganze Zeit in der Wohnung herum, machte Fingerabdrücke am Wohnzimmerschrank oder zupfte ihre Häkeldeckchen auf den Beistelltischen zurecht.
Nun war es aber nicht so, dass sich das Leben des Ehepaares Seidlitz auf gegenseitige Abgrenzung und Vermeidung des Unangenehmen beschränkte. In der Welt der beiden gab es auch eine Schnittmenge, über die sie sich verständigen konnten. Bei ihren Streifzügen durch diese gemeinsam bewohnte Insel saßen sie dann bis spät in die Nacht auf dem Sofa zusammen. Es war die Welt der Abenteuerromane und bebilderten Abenteuerberichte, die sie mit ungewohnter Leidenschaft debattieren ließ, etwa darüber, welche Länder und Gegenden man theoretisch guten Gewissens bereisen könnte.
Ein gern besprochenes Thema an diesen Abenden war Russland. Vermutlich kannten nicht einmal die Russen ihr Land im Detail so gut wie das Ehepaar Seidlitz. Aber bei näherem Hinsehen, bei wiederholter Betrachtung möglicher Reiserouten entdeckte Seidlitz hinter der Fassade der Postkartenmotive eine andere Wirklichkeit, die ihm die Haare zu Berge stehen ließ. Der russische Winter beispielsweise, dessen watteweiße Landschaften in Verbindung mit Zimtgebäck bei ihm weihnachtliche Rührseligkeit auslöste, war in seiner Vorstellung auch verantwortlich für steifgefrorene Reisende, die sich mit zweifelhaften Mietwagen auf eigene Faust in die klirrende russische Puderzucker-Landschaft aufgemacht hatten.
Und die Inflation? Was war eigentlich mit der Inflation, über die der Finanzminister oft mit strenger Miene sprach, die einen im wirklichen Leben nicht zu interessieren brauchte, die aber auf „Russland“ angewandt plötzlich bedrohlich und unberechenbar schien. Was wären die getauschten Urlaubsgelder morgen wert? Vielleicht nur noch so viel wie ein einziges rohes Ei? Und was machte man dann mit einem einzigen rohen Ei ganz hinten in Sibirien? Wenn das alles nicht gewesen wäre, dann hätte man eventuell in diesem weiten Land schon einen Flecken finden können, wo man hinfahren hätte können. Theoretisch. Darüber waren sich die beiden einig.
Andere Länder und Gegenden wurden von Anfang an aus verschiedenen Gründen als reiseuntauglich oder gar völlig diskussionsunwürdig eingestuft. „Und die Krim mit ihrem milden Klima?“, fragte einmal Anton Griebholz, ein weitläufiger Bekannter, den sie übermütig an ihren Gedankenexperimenten hatten teilnehmen lassen: „Die Krim ist nicht in Russland.“ „Doch Schatz, die Krim ist in Russland“, wagte Frau Seidlitz vorsichtig zu erwähnen. Man hätte eine Stecknadel fallen hören können. „Die Krim?“, fragte Herr Seidlitz und war einen Moment aus dem Konzept, „das weiß ich selber. Ich meine gefühlsmäßig gehört sie doch nicht zu Russland. Russland ist weit und kalt. Auf der Krim aber ist es warm. Krimsekt, und so weiter. Das weiß doch jedes Kind. Ja, die Krim – scheidet völlig aus. Das ist ja schon gar nicht mehr richtig Russisch – das ist ja schon türkisch“, erregte er sich. „Wir reden hier von Russland, mein Herr, von Russland, meine Frau und ich, die ganze Zeit, wollen Sie uns auf den Arm nehmen? Guten Tag.“
Der Besucher kippte hastig den letzten Schluck Roten in sich hinein und verschwand für immer. Wilhelm Seidlitz schimpfte noch den ganzen Abend, welche Unverschämtheit es doch sei, ihm als Urlaubsort die Krim vorzuschlagen. Er steigerte und verstieg sich darüber in wildeste Spekulationen, geriet aber mit seiner Behauptung, dass die zum milden Klima neigende Krim gewissermaßen ein Kuckucksei im russischen Eisnest sei, in eine rhetorische Sackgasse, aus der er keinen Ausweg mehr fand. Am Ende der Gasse hätte er gerne den Rückzug angetreten, aber als er sich umdrehte, stand ihm Erika im Weg.
„Jetzt reg Dich doch nicht immer gleich über alles so auf.“ „Ich rege mich nicht auf“, japste Herr Seidlitz, die Wand im Rücken, und bekam einen roten Kopf, „schon gar nicht über alles. Will der mich auf die Krim schicken in meinem sauer verdienten Urlaub, der Lump.“
Sie zankten sich, schwiegen sich schließlich an und gingen verstimmt ins Bett. Die ganze Nacht wälzte er sich unruhig im Bett und konnte nicht schlafen, so ärgerte er sich, und am Morgen danach hatte er Magendrücken. Beim Frühstück ging sein Feldzug weiter. Er warf seiner Frau vor, wie rücksichtslos es sei, ihm nach einem Abend und einer Nacht wie dieser am Morgen Kaffee vorzusetzen, der seinen strapazierten Magen zusätzlich angriff. Er hätte nach 25 Jahren Ehe schon so viel Feingefühl von ihr erwartet, dass sie zumindest nachfrage, ob ein Kamillentee für ihn in seiner geschwächten Situation nicht angebrachter sei.
Aber bitte. Dann war es halt so. Er hatte verstanden. Wenn das so war und sie sich mittlerweile so wenig verstanden, dann könnte man gleich generell getrennter Wege gehen. Seidlitz spielte den Beleidigten, stand vom Frühstückstisch auf, warf die Esszimmertüre theatralisch ins Schloss und sperrte sich in seinem Studierzimmer ein.
Auch auf das verzweifelte Flehen und ergebenste Entschuldigungen von Erika gab er bis zum frühen Abend keine Antwort, ja überhaupt kein Lebenszeichen von sich. Mit Ohrstöpseln hörte er das Hämmern an der Türe nur gedämpft, aber so konnte er den langen und unlängst begonnenen Reisebericht, der sehr engagiert geschrieben war und den er wegen der unqualifizierten Zwischenfragen von Erika nicht zu Ende hatte bringen können, endlich in Ruhe fertig lesen.
Er genoss diesen kleinen Triumph und sah die wenigen Stunden, die er so für seine stille Leidenschaft zusätzlich abzweigen und sich Erikas Forderungen entziehen konnte, als gerechte Strafe für ihre mangelhafte Sensibilität und Unachtsamkeit an. Erst spät, weit nach Mitternacht, überkam ihn die Müdigkeit. Eine Weile blieb er noch, halb vom Vorhang verdeckt, im verdunkelten Arbeitszimmer ans Fenster gelehnt und schaute auf die verlassene, unter Laternenlicht goldfarben schimmernde und ausgestorbene Stadt.
Ein Radfahrer kam entgegen der Fahrtrichtung um eine Straßenbiegung, mit flatterndem Mantel, wackelig und mit sichtlicher Mühe in der enger werdenden Kurve. Einmal kam er fast zu Fall, als er ohne Not und abrupt die Straßenbahnschienen kreuzte. Schlingernd vertrieb er mit wildem Klingeln einen herrenlosen Hund, der noch viel zu weit weg war, um ihm gefährlich zu werden, dann fuhr der Betrunkene ausser Sicht. Nachdem auch noch der Hund ums Hauseck verschwunden war, ging Seidlitz zu Bett. Als er am nächsten Morgen ausgeruht in der Küche erschien, wo ihm eine aufgeräumte Erika seinen Kaffee vorsetzte und es unterließ, ihm die Ereignisse des Vortages lautstark oder mit stummer Verbitterung zum Vorwurf zu machen, hätte er hellhörig sein können. Im ersten Moment, mit der Witterung eines Tieres, hatte er die Veränderung zwar bemerkt, jeden unschönen Gedanken aber sofort mit Griff zu Nusshörnchen und Quittengelee beiseite gewischt.
Ein Beobachter, der das Ehepaar Seidlitz nicht kannte, hätte während der nächsten Tage nichts Besonderes feststellen können und, befragt, lediglich von Alltagsroutine und korrektem Umgang miteinander gesprochen, während hinter den Kulissen tatsächlich von seiner Seite intensive Versuche der Wiederannäherung unternommen wurden. Aber irgendetwas war mit Erika geschehen. Sie, die sich ansonsten so empfänglich zeigte für die kleinste Aufmerksamkeit, blieb kühl, auf eine kalte Art höflich, aber doch seltsam unberührt von allen gut gemeinten und oft hilflos und bemüht wirkenden Gesten der Versöhnung. Sie wirkte mitunter, als wäre ein Zugang, ein Weg in ihr Innerstes, auf dem man sie bislang notfalls immer erreichen konnte, plötzlich durch einen Erdrutsch unwiederbringlich verschüttgegangen.
Vielleicht hatte sie auch nur die Pforte für jenen Boten verschließen wollen, dessen Schmeicheleien und Beredsamkeit ihre Vorsätze immer wieder zum Opfer gefallen waren. Es ist schwer zu beurteilen, ob Erika generalstabsmäßig planend oder unbewusst in dieses Fahrwasser geriet. Irgendwann stand fest: ein Urlaub musste unternommen werden. Eines Tages, als Seidlitz in die Tageszeitung vertieft am Küchentisch saß und Erika Gemüse für einen Eintopf schnitt, ließ sie plötzlich das Messer sinken, setzte sich sichtlich erschöpft zu ihm, und als er aufblickte, sah sie ihn mit steinernem Gesicht aus blauvioletten umringten Augen an:
„Wir fahren jetzt weg“, sagte sie, stand auf und nahm ihre Arbeit wieder auf, als wäre nichts geschehen. Von dieser Forderung würde sich Erika nicht mehr abbringen lassen. Das wusste Seidlitz sofort, und er war selber nicht ganz abgeneigt. Es musste ja nicht gleich ans andere Ende der Welt sein.

3

Aber wohin fahren, um konkret zu werden? Nach Afrika? Afrika faszinierte ihn, war ihm aber nicht geheuer. Er verweilte zwar oft vor dem rot marmorierten Gebilde in einem seiner Atlanten, fuhr mit dem Finger den Nil hinauf und hinunter, besah sich auch gerne Fotografien bunt bemalter und um Basthütten herumspringender Horden, und beim Anblick von Bildern des weiten Graslandes konnte man warten, bis Herr Seidlitz sagte: „Sieht aus wie die Lüneburger Heide, genauso.“ Aber insgeheim schauderte es ihn, wenn er sich vorstellte, dass er vielleicht einmal im Jeep in diese Szenerie hineinfahren und mit Sonnenhut selber Teil eines solchen Bildes sein könne.
Er sah sich krank darniederliegen, dem Ende nah, in einem stickigen sandfarbenen Zelt, die Stirne schweißtropfend und von Myriaden kampflustiger Fliegen umschwirrt, die er matt abzuwehren suchte. Erika saß stumm neben ihm, fächelte ihm mit einem zerknitterten Merian-Heft Luft zu, während von draußen allerlei bedrohliche Geräusche zu ihnen drangen, Quieken, Schnattern, Zirpen und Flüche in unbekannten Sprachen, die zeigten, dass niemand den Jeep zu reparieren vermochte. Sie würden sich zu Fuß in bewohnte Gebiete aufmachen müssen. Aber dafür war er schon zu schwach. Sollten sie ihn ruhig zurücklassen. Wenn Erika in einem jener Momente mit einer Kanne Tee das Studierzimmer betrat, hatte er vor Rührung Tränen in den Augen.
„Afrika ist zu gefährlich für Dich“, hauchte er mit versagender Stimme, sie blickte kurz auf, unverständig, runzelte die Stirne und verschwand 17 wieder. Afrika schied als Reiseziel völlig aus. Und Amerika? Die Amerikaner mochte er nicht, irgendwie, obwohl er seine ablehnende Haltung nicht genau auf den Punkt bringen konnte und bei Nachfragen in dieser Richtung gereizt reagierte. Er hatte eine diffuse Vorstellung von diesen Amerikanern. Vermutlich wären sie ihm zu überdreht, würde er sie tatsächlich treffen, zu hemdsärmelig und naiv abenteuerlustig, bedenkenlos gleich bei der Sache, wo es doch eigentlich bei jeder Sache – auch der kleinsten – so viel zu bedenken gab. Und das Schlimmste: sie würden ihn gleich mit ihrem „Du“ überfallen und war dieser Damm erst einmal gebrochen, dann hätte nichts mehr Bestand vor der nachfolgenden Flut. Dann würden sie ein Foto machen wollen, mit ihm Arm in Arm, kurzum, man würde sie nicht mehr los, und womöglich kämen Sie dann im nächsten Jahr mit dem Flugzeug zum Gegenbesuch und wollten vier Wochen bei den Seidlitz’ kostenlos wohnen. Sonst noch was!
„Auch in Europa gibt es viele schöne Flecken“, wandte Erika Seidlitz in einer dieser endlosen Diskussionen ein, in denen ihr Mann gegen Amerika wetterte. Seidlitz zeigte sich fassungslos: „Du bist es doch, die immer nach Amerika will.“ „Das habe ich nie gesagt.“ „Aber gedacht. Und Dein Vorschlag Europa“, sagte er, „ist Unsinn. Da kennst Du ein anderes Europa als ich.“ Er bewies ihr, dass es in Europa nichts wirklich Sehenswertes gab, was sich nicht besser, billiger und tiefgründiger durch Merian- Reisehefte kennenlernen ließe. Ein Urlaub in Europa? Dann konnte er gleich daheimbleiben und sich in ihrer Stadt in ein großes Hotel einmieten, wo man 18 ihm die Schuhe putzte und noch ein Frühstücksei brachte, selbst wenn die Frühstückszeit schon vorbei war. Ein Urlaub in Europa war hinausgeworfenes Geld.
Erika war in dieser Hinsicht weit weniger kompliziert als er. Sie war nicht auf ein gewisses Urlaubsziel fixiert, das sie gegen andere Optionen in Schutz genommen und verteidigt hätte. Sie freute sich nur auf einen Urlaub, den sie schon so lange Jahre nicht unternommen hatten, sie sehnte sich nach den Tagen, an denen sie der gewohnten Umgebung ihrer Wohnung und der Stadt eine Weile den Rücken kehren konnte, und ahnte dabei das Ungewisse und Überraschende, das eine solche Reise mit sich bringen würde. Sie wollte dorthin, wo es warm war, und wenn sie dann noch ein wenig im Meer plantschen könnte, wäre sie glücklich.
„Weißt Du noch, wie wir in den Flitterwochen in Italien waren?“, fragte sie jetzt oft. Das wusste er sehr wohl noch, den Stau vor Verona in ihrem Kleinwagen, und die unmenschliche Hitze auf dem Petersplatz, wo sie fünf Stunden an einem glühenden römischen Mittag ausharrten, um zwei Minuten einen stecknadelgroßen Papst anzustarren, der dann auch noch nur Italienisch sprach. Natürlich erinnerte er sich an Italien. Er sagte aber nichts. Vorbei war vorbei.
Seither waren sie nie wieder im Urlaub gewesen. Nach dem Veroneser Desaster hasste Seidlitz das Unbekannte. Am liebsten wäre er überhaupt nicht mehr aus dem Haus gegangen, hätte sich nur noch durch Reiseberichte über die Vorgänge in der Welt informiert und ab und an einem der wenigen Vertrauten seine Meinung per Telefon kundgetan. 19 Erika konnte ja hinausgehen und sich in irgendwelchen Läden und Boutiquen herumtreiben, wenn sie das wollte. Er brauchte das nicht.

4

Die Wochen vergingen, und die Urlaubszeit rückte näher. Zu Beginn des Jahres war er fest entschlossen gewesen, sich durch nichts in der Welt zu einem längeren Urlaub hinreißen zu lassen und sich eventueller Versuche Erikas mit dem Hinweis auf seine berufliche Unabkömmlichkeit zu entziehen. Ein Tag hier gezielt frei genommen, einer dort, wo man gemeinsam im Park spazieren gehen und im Straßencafé ein Eis essen konnte, dagegen hatte er gar nichts einzuwenden. Mehr musste es aber nicht sein. Es lief anders. Seine Vertretung, Olaf Berger, ein Halbschwede, Junggeselle und seltsamer Mensch, der sich von Fenstertag zu Fenstertag durchs Leben hangelte, hatte früh und vorausschauend begonnen, die Urlaubslisten mit Kreuzchen zu füllen. Hervorragender Stratege, der er war, suchte er sich gegen alle denkbaren Attacken zu wappnen, die seine eigenen Pläne hätten stören können und die vorsahen, dass er sich im Juli und September jeweils für zwei Wochen irgendwo im Süden mit einer Gruppe entwurzelter Bekannter zum Kartenspiel zusammenrottete.
Öfter schlich er um Seidlitz herum, der es zwar bemerkte, aber keine Anstalten zu einem Gespräch machte, bis Berger selber aktiv wurde: „Komm Du mir mit Deinem vielen Resturlaub ja nicht auf die Idee, dass Du Juli oder September freinehmen willst.“ „Nein, nein“, winkte Seidlitz hastig ab, der dunkel schon ahnte, worauf das hinauslaufen könnte. „Da musst Du Dir überhaupt keine Sorgen machen.“ Berger zog ab, glaubte ihm aber nicht, wurde zwei 21 Tage später beim Personalleiter vorstellig, der sich die Akte Seidlitz kommen ließ, kopfschüttelnd durchblätterte und entschied, dass Wilhelm Seidlitz im August einen ganzen Monat Resturlaub abfeiern musste.
Der Sommer kam, bange hörte Seidlitz Schulkinder die verbleibenden wenigen Wochen bis zum Beginn der Schulferien zählen, aus ihrem eigenen Haus verschwanden ganze Familien nach Italien und ließen nur Schlüssel zum Balkongießen zurück. Der August näherte sich, Woche um Woche, Tag für Tag baute er sich wie eine Gewitterfront größer und bedrohlicher vor ihm auf. Auf ein gemeinsames Urlaubsziel hatten sie sich immer noch nicht einigen können, auch wenn Erika bereits demonstrativ die verstaubten Koffer vom Dachboden geholt und zum Durchlüften auf dem Balkon platziert hatte. Je mehr Seidlitz nachdachte und überlegte, umso fragwürdiger wurde ihm die Idee des Verreisens überhaupt. Wegfahren im Urlaub, wer hatte nur als Erster diese Schnapsidee gehabt? Könnte er sich nur vier Wochen auf dem Balkon zurücklehnen, die Füße hochlegen und abends ein Bier trinken. Das wäre ihm Erholung genug.
Dabei war er aber Realist genug einzusehen, dass er diesmal keinen Ausweg mehr finden würde. Er hatte zu spät reagiert. Das zarte Pflänzchen von Erikas Urlaubserwartung, das er lange Jahre geschickt klein zu halten wusste, war, er wusste nicht wie, in kürzester Zeit zum undurchdringlichen Gestrüpp gewuchert, aus dem er keinen Ausweg mehr fand. Hund, Katze oder wertvolle Pflanzen, die die immerwährende Anwesenheit einer vertrauten Hand unbedingt erforderlich gemacht hätten, gab es nicht. Das rächte sich jetzt.
Die Fronten waren festgefahren und verhärteten sich von Tag zu Tag mehr, eine Einigung schien beiden insgeheim schon undenkbar. Tatsächlich spielte Seidlitz manches Mal mit dem Gedanken, die Urlaubspläne seiner Frau in Ermangelung eines gemeinsamen Zieles einfach auszusitzen, bis der abgelaufene August endgültig Fakten schaffte. Alle Vorschläge, die in ihren Gesprächen kurzzeitig eventuell durchführbar schienen, machte er madig. Die Fernreisen, die zur Diskussion standen, erschienen ihm entweder so teuer, dass er seinen endgültigen Ruin befürchtete, bei den billigen schimpfte er, dass er lieber tot umfallen wolle, als um die halbe Welt zu reisen, um sich dann wochenlang und verschwitzt in schmuddeligen Laken zu wälzen. Europa mochte er nicht. Er sah zwar ein, dass er sich mit seiner Behauptung, es gäbe in Europa nichts Sehenswertes, was einem Merian-Hefte nicht billiger und besser näherbringen konnten, ein wenig weit aus dem Fenster gelehnt hatte, wollte seine Aussage aber aus Gründen der Glaubwürdigkeit um nichts abmildern.
Während sie so überlegten und sich die Frage, wohin der Urlaub sie führen sollte, wie ein Wurm in ihre Hirnwindungen fraß, übersah Wilhelm Seidlitz ganz und gar, dass im Parterre ihres Mietshauses der Farbladen seine Pforten schloss und sein Besitzer in Pension ging. Sie hatten Herrn Werner noch kurz im Treppenhaus getroffen: „Machen Sie es gut, ich werde die schöne Zeit hier nie vergessen“, verabschiedete er sich bewegt, „meine Frau und ich, wir gehen jetzt nach Sizilien – für immer.“ „Jaja“, sagte Seidlitz geistesabwesend, „gehen Sie 23 ruhig.“ Obwohl ihn ansonsten jede Veränderung, die im Haus vorging, brennend interessierte, versäumte er zu fragen, was mit dem Laden nach der Abreise der Werners geschehen würde. Vielleicht meinte er insgeheim, dass ein Anderer, ein Jüngerer Werners Farbhandel fortführen werde. Bald darauf wurde das kleine Schaufenster wirklich verhängt, es blieb aber lange ruhig, nur einmal, nach Wochen, waren Handwerker zu hören. Eines Tages, am späten Nachmittag, als Seidlitz nach Feierabend mit einem Bildband am Balkon saß, kam ein Lieferwagen um die Ecke, aus dem Regale und Stühle geladen wurden. Die letzte Juliwoche kam mit ungewöhnlicher Hitze, überall auf den Straßen waren Sprengwagen unterwegs, und sogar in der Seidlitz’schen Wohnung, obwohl nach Norden gelegen, wurde es in den Nachmittagsstunden jetzt unerträglich heiß. Infolge der drückenden Zustände in der Wohnung ließ sich Wilhelm Seidlitz nun öfter nach Feierabend von Erika zu einem ziellosen Stadtbummel verleiten, was ihm mehr gefiel, als er zugeben mochte, weil er andererseits befürchtete, dass Erika seine Neigung zur Bummelei sofort mit Begriffen wie Seebad und Strandpromenade in Verbindung bringen würde. Am letzten Montag im Juli, als sie beide, Erika locker im Arm ihres Gatten eingehängt, nach Hause zurückschlenderten, waren die Schaufenster des ehemaligen Farbladens nicht mehr verhängt, ohne dass man aber gegen die blendende Sonne hätte erkennen können, um welche Art von Gewerbe es sich jetzt handelte. Jedenfalls stand die Türe des Ladens geöffnet und im Rahmen lehnte ein Mann südländischen Aussehens im weißen Sommeranzug. „Windige Gestalt“, war Seidlitz’ erster Gedanke. Erst als sie noch näher kamen, ließen sich die neuen, grünen Schriftzüge quer über dem Schaufenster entziffern. „Puschkin Reisen“ war Nachfolger des kleinen Farbladens geworden. Ein Reisebüro hatte im Parterre ihres Mietshauses eröffnet und bot seine Dienste an. Erika blickte ihren Mann vielsagend von der Seite an, und ihr Blick schien zu sagen, dass mit Eröffnung dieses Ladens, der kein Gemüse und keine Wurst, sondern Reisen anbot, die Vorsehung, eine höhere Instanz, sich jetzt in ihre unvollendeten Pläne mischte, das Wort ergriff und keine Ausflüchte mehr duldete.
„Wenigstens mal ein anständiger Name“, versuchte Seidlitz abzulenken. Aber es wirkte halbherzig, Erika ging nicht auf ihn ein und genoss still ihren Triumph.
Sie waren kaum in Rufweite des Mannes, dessen Alter Seidlitz nur schwer zu schätzen vermochte, als er sie schon taxierte, seine lehnende Haltung und lümmelhafte Gelassenheit aufgab, die Eingangsstufe herunterstieg, sie laut grüßte und beim Näherkommen in ein Gespräch verwickelte. Er machte Erika Komplimente zu ihrer Garderobe, dem schlichten, eleganten Leinenkostüm, den passenden Stiefeletten, ein paar launige Bemerkungen zum Wetter im Allgemeinen und zur Hausgemeinschaft im Besonderen.
„Das ist ein schöner Zufall. Sie mit ihrem Reisebüro“, nutzte Erika die Gunst der Stunde, „wir wollen nämlich nächste Woche in Urlaub fahren, wissen aber noch gar nicht wohin es gehen soll. Nicht wahr, Wilhelm?“ Seidlitz bebte. „Denkst Du nie?“, zischte er, „jetzt werden wir den Bluthund bestimmt nicht mehr los.“ Wieder ließ Erika die Beschuldigung unerwidert und ihren Gatten zappeln und um sich schlagen wie einen gefangenen Fisch, dem an Deck doch früher oder später die Kraft ausgehen werde. Wie schön die Gegend sei, lobte der Fremde, und insbesondere das Haus, was für ein Glück für ihn, mit so freundlichen Menschen wie den Seidlitz unter einem Dach leben zu dürfen. „Woher weiß der Kerl unseren Namen?“, schoss es Seidlitz, vor Misstrauen in äußerster Wachsamkeit, durch den Kopf. Er setzte schon zu dieser Frage an, stellte in der unerträglichen Nachmittagshitze Worte wie Armeen auf, noch verborgen im Wald seiner Gedanken. Aber Seidlitz’ Kopf war merkwürdig träge, und der Fremde, der ihn aus den Augenwinkeln ständig im Blick behielt, schien den bevorstehenden Angriff zu ahnen und überrumpelte ihn mit seiner Spontaneität. Mit „Angenehm, Zifferblatt“ ergriff er Seidlitz’ Hand und lud an den Verhandlungstisch. „Herr Seidlitz, Frau Seidlitz. Kommen Sie doch kurz herein. Es wäre mir eine Ehre. Wir haben wirklich schöne Sachen.“ Das war ganz und gar gegen Wilhelm Seidlitz’ Geschmack. Er bevorzugte die offene Feldschlacht, in Gesprächen auf gleicher Augenhöhe, die womöglich noch auf einen faulen Kompromiss hinausliefen, fühlte er sich immer unwohl, ja unterlegen. Der Entwurf seiner Gegenwehr an diesem glühenden Sommernachmittag war aber zu groß, zu schwerfällig, er suchte vielleicht eine Lösung, die er auch in 100 Jahren noch guten Gewissens hätte abnicken können, hatte aber damit gegen die geradlinige Entschlossenheit der anderen Seite nur ein unzureichendes Mittel zur Hand. „Ich bin sehr gespannt“, lachte Erika und noch ehe ihr Mann alle Kräfte gesammelt und wortgewaltig alles zunichtegemacht hätte, wurde der Feldherr mit Spontaneität überrumpelt, und nach kurzem Hin und Her fand man sich im Inneren des Reisebüros auf zwei Stühlen und studierte einen Prospekt über Bahnreisen auf die Krim. Das Reisebüro wirkte auf Seidlitz wie zufällig und schnell zusammengeschustert, die billige Kulisse eines Schmierentheaters. Hätte er es als langjähriger Bewohner des Hauses nicht besser gewusst, er wäre sicher gewesen, hinter der Türe zum Nebenraum nur Zigaretten rauchende, jugendliche Komparsen in Napoleonkostümen und hölzerne Stützpfeiler für die Pappwände vorzufinden. „Sie müssen entschuldigen. Es wirkt noch sehr provisorisch. Der Rest kommt in den nächsten Tagen“, sagte Zifferblatt, der Gedanken lesen zu können schien. Schnell verschwand er im hinteren Teil des Ladens und kam mit einer Flasche Wein und drei Gläsern zurück.
Wie ihre eigene Wohnung war auch der Laden nach Süden gelegen und – neu eröffnet – der Sonne noch völlig schutzlos ausgeliefert. Für die neue Markise, im gleichen Grün wie der Schriftzug, gab es Lieferprobleme. Erst in etwa einer Woche werde sie aus Hamburg kommen, dann selbstverständlich sofort montiert und den urlaubshungrigen Besuchern erlauben, mögliche Reiseziele bei angenehmen Temperaturen gegeneinander abzuwägen. Jetzt saßen sie in der Hölle, einer wüstenartig ausgedörrten Umgebung, in der Schmeißfliegen spiralförmig durch die glühende Luft taumelten und jede Bewegung, jeder Gedanke eine Anstrengung war. Von der Hitze gelähmt, starrte Seidlitz auf vereinzelte Strahlenfinger, in denen Staubflocken wirbelten. „Lassen Sie uns auf Ihren Urlaub anstoßen. So, hier bitte.“ „Worauf?“, schrak Wilhelm Seidlitz auf und nahm automatisch das Glas, das man ihm hinstreckte. „Was? Nein. Ich nicht. Kein Wein“, wehrte er sich zaghaft, aber ehe er sich erfolgreich zur Wehr setzen konnte oder gar aufgesprungen wäre und die Flucht ergriffen hätte, war die Flasche entkorkt. Ihm wurde eingeschenkt und als ihm der Duft des Weines in die Nase stieg, spürte er seine aufgequollene, klebrige Zunge, die gesprungenen Lippen und eine ausgedörrte, kratzende Kehle, und ohne zu überlegen kippte er wie ein Verdurstender das ganze Glas Wein in großen kräftigen Schlucken hinunter. Zifferblatt goss sofort nach. Fast augenblicklich überkam Wilhelm Seidlitz eine angenehme Schläfrigkeit, die ihn alle Urlaubspläne in milderem Licht sehen ließ. Hinlegen wollte er sich. Schlafen! Wie durch dichten Nebel gedämpft hörte er, wie Zifferblatt – konnte man so überhaupt heißen? – mit schmeichelnder Stimme die Vorzüge der Krim pries. „Warum muss es ausgerechnet die Krim sein?“, war Seidlitz’ einziger und matt vorgetragener Einwand. Es gab so viele andere Orte. Er wunderte sich. Seine Widerstandkraft war fast gänzlich zusammengebrochen. Obwohl an den Wänden und auch auf dem Verkaufstresen Prospekte für Reisen in alle erdenklichen Länder auslagen, kümmerte sie nur der eine abgegriffene, den Zifferblatt ihnen gleich beim Eintreten in die Hände gedrückt hatte: Bahnreisen auf die Krim. War es die Hitze, war es Seidlitz’ plötzliche Erschöpfung nach einem mehrstündigen sommerlichen Stadtbummel, war es der schläfrig 28 machende Wein? Als jedenfalls Erika ihn mit großen Katzenaugen anblickte, sammelte er zunächst zwar alle Kräfte, um sich ihr matt entgegenzustellen, aber dann schwebte Erikas Kopf mit riesigen violetten Augenrändern als Luftballon vor seinem inneren Auge vorbei und er konnte auf ihr „Mit dem Zug auf die Krim, nur wir beide, das wäre doch schön, Wilhelm!“, das mehrfach in seinem Kopf widerhallte, nur noch ein mattes „Ja“ hinaushauchen.

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