Leseprobe: Lukas Vering – „Air“

Auszug 1: Seite 1-16 aus Teil 1 „Rote Lippen, Blaues Licht“ 

Auszug 2: Seite 302-312 aus Zwischenteil 3 „Conrad“ 

Auszug 1: Seite 1-16 aus Teil 1 „Rote Lippen, Blaues Licht“ 

1.

Die Luft ist dünn. Sie hinterlässt den sterilen Geschmack von Plastik auf der Zunge. Jeder Atemzug füllt die Lungen mit synthetischem Sauerstoff, der unablässig in die Straßen der Stadt sickert, sie überflutet und ertränkt und sie schon lange, lange wie ein Ozean unter sich begraben hat; der leicht, kaum merklich, nach Plastik schmeckt.

Ty Redfern427 steht ungeduldig auf der Warteplattform der Metrolinie 5-85. Es ist Nacht, aber nicht wirklich dunkel. Die Abendluft ist warm und klamm und zu dick, als das man sie nicht bei jedem Atemzug schmecken müsste. Sie liegt schwer auf seiner Kleidung, füllt deren Fasern mit einer kaum merklichen Feuchtigkeit auf. „Es wird Zeit, dass der Regen kommt“, denkt Ty und zieht sein Portphone aus der Hosentasche. Das Display erleuchtet und verrät ihm Datum und Uhrzeit. Keins von beidem gefällt ihm. Noch mehr als ein Monat bis zur Regenwoche und viel zu wenig Stunden bis sein Wecker den nächsten Tag einläutet. Er seufzt, weil er nichts dagegen tun kann. Sein Blick wandert weiter, hinüber zu einem Gebäude, dessen zur Leinwand umfunktionierte Fassade einen Werbeclip in Endlosschleife zeigt. Eine lachende Frau mit makelloser Haut und schimmerndem Haar, die einem ähnlich unrealistischem Mann in die Arme fällt. Im Hintergrund große Buchstaben, die daran erinnern, dass jeder zu jeder Zeit den richtigen Partner finden kann – dank LoveMatch. Ehe der Film von vorne losgehen kann, gleitet die Metro fast lautlos in die Station ein. Sie zieht einen barschen Wind hinter sich her, der Ty über den kurzgeschorenen Kopf wirbelt. Doch auch dieser Windzug ist nur warm und schmeckt nur nach Plastik. Ty wartet, bis die Türen vor ihm mit einem hauchenden Zischen offen schwingen, bis der Strom aus Menschen den Wagon verlassen und bis das rote Licht des Türrahmens sich in ein freundliches Grün verwandelt hat. Er betritt das Abteil und lässt sich auf einem der weißen Plastiksitze nieder. Seit die neuste Anti-Beschichtung auf den Markt gekommen ist, bleiben die Metrozüge so weiß, wie der Hersteller sie ersonnen hat. All die Kritzeleien, die kleinen fiesen Sprüche, die obszönen Zeichnungen versickern einfach in dem endlos puren Weiß des Plastiks. Schmunzelnd betrachtet Ty die Rückenlehne seines Vordersitzes. In dicker, schwarzer und unordentlicher Schrift steht dort „Hate Plastic“. Es hat also nicht mal ein halbes Jahr gedauert, bis sie Farbe erfunden haben, die auch auf der allerneusten Anti-Beschichtung hält. Welch glücklicher Zufall, dass schon bald eine noch neuere Anti-Beschichtung auf den Markt kommen wird. Noch blütenweißer, noch tiefenreiner, noch unbezwingbarer. Den Spruch hat Ty im letzten Meeting vorgetragen. Die Kunden schienen zufrieden. Seine Chefin, Carin Asana, hatte sich bedeckt gehalten. Wie immer. Der Gedanke daran lässt das Schmunzeln auf seinen Lippen versterben, zurück bleibt nur ein ausdrucksloser Strich. Seine Augen lösen sich von dem Schriftzug, wandern zu der Scheibe, durch die er nach draußen schauen kann. Vor dem Hintergrund einer verzweifelt versiegenden Dunkelheit hüllt sich die endlose Stadt in Neonlichter. Ein Meer aus Dächern erstreckt sich vor seinen Augen, das weiter reicht, als sein Blick schweifen kann. Irgendwo in der Ferne sieht er eine Ansammlung aus hohen Gebäuden, die sich wie Arme aus Stein Richtung Himmel strecken. Als würden sie ihn stützen und davon abhalten, einfach so auf die wehrlose Stadt hinunter zu krachen. Abertausende von Lichtern glimmen an ihren Fassaden. Er fragt sich, ob die Menschen dort überhaupt mitbekommen, dass es Nacht ist. Ein Blick in den Himmel könnte ihnen verraten, dass dort so etwas wie Dunkelheit herrscht. Aber sehen sie diese auch, durch all die blendenden Lichter?

Die Metro setzt sich in Bewegung. Der Wagon taucht hinab zwischen die Gebäude, schlängelt sich durch eine Schneise zwischen eng beieinanderliegenden Häuserfronten. Sein Ausblick verschwindet für einen Moment. Nun sieht er nur dunkle Wände und hastige Lichtfetzen. Dann verlässt die Metro das Dickicht der Gebäude wieder, steigt zurück über die Dächer der Bauten. Die Sicht auf den Nachthimmel wird wieder frei und Ty lehnt den Kopf zurück, um ihn zu beobachten. Es ist nicht dunkel. Das ist nicht die tiefe, unerbitterliche Schwärze, die sich in seiner Wohnung breit macht, wenn er alle Fenster abdichtet und alle Lichter ausstellt. Es ist nicht einmal dunkel genug, als das man das entfernte Glimmen eines Sternes ausmachen könnte. Immer, wirklich immer, liegt da dieser Film aus zerstreutem Licht über der Stadt. Er schwebt über den Dächern der Häuser, er wabert hinauf zu den Wolken, er nagt an der Dunkelheit, bis sie schließlich aufgibt und verfliegt und der Morgensonne das Feld überlässt. Es ist ein Smog, phosphorgelbschimmernd, vermischt mit einem vagen Grün, der die Stadt fest umschlungen hält. Er besteht aus Straßenlichtern, Scheinwerfern, Fensterleuchten, Videoleinwänden, Displayflimmern, Neon und der immer frischen Plastikluft. Und die Smogglocke wächst. Die Nächte werden immer heller. Der Phosphorschimmer immer strahlender. Und voll des Eifers nähren die Menschen und Maschinen den Smog, bis er eines Tages den gewohnten, sterilen Geschmack der Atemluft übertünchen wird.

Tys Blick verfängt sich an einem Gebäude, das den Lichtfilm mit einem vagen, kaum merklichen Grün zu füttern scheint. Es ist ein hoher, schmaler und zylinderförmiger Turm. Etwa ab der Hälfte verwandelt sich die glatte Oberfläche und wird ersetzt durch unzählige, halb geöffnete Klappen, die wie Schuppen von dem Turm abstehen. Ty muss an das Bild eines sogenannten Tannenzapfens denken, dass er einmal in einem Buch gesehen hat. Aus den Öffnungen glüht sattes Grün hervor. Es ist nicht aufdringlich oder grell, es schimmert gerade so durch die Nacht, doch es verrät die unendliche Produktivität des Synthie-Baums. Unablässig wird der synthetische Sauerstoff durch die Klappen des Turmes in die Atmosphäre gepumpt. Aus diesen Öffnungen sickert und strömt der Geschmack nach Plastik, der sich immerzu auf Tys Zunge breit macht. Ohne die Synthi-Bäume, das hat er schon als Kind gelernt, würde kein Mensch auf der Erde leben. Der Turm mit seinen Schuppen sieht bedrohlich aus, wie er in den halbdunklen Nachthimmel ragt, wie er über der Stadt thront und wie ominös das Grün aus seinem Inneren schimmert, als läge dort ein Geheimnis begraben. Er hat sich schon immer gefragt, ob die echten Bäume damals auch so angsteinflößend wirkten. Ob man sich unter ihren Ästen und Wipfeln auch so klein und unbedeutend vorkam, wie unter den grünglimmenden Blicken der Türme?

Plötzlich spürt er, wie die Metro langsamer wird. Er reißt den Blick von dem Synthie-Baum und für einen Moment kreisen seine Augen hektisch durch das Innere des Metrowagons, bis er die Leuchtschrift findet, die ihm verrät, dass er eine Haltestelle zu weit gefahren ist. „Verdammtes Gerät“, flucht er vor sich hin. Es ist nicht das erste Mal, dass die lautlose Metro ohne seine Kenntnisnahme zum Halten gekommen ist. Jetzt muss er einen Umweg in Kauf nehmen. Oder die Abkürzung durch die engen Gassen des Asox-Viertels.

Sein Portphonedisplay zeigt leuchtende Zahlen, die verkünden, dass es schon viel zu spät ist. Er hätte das verdammte Date schon nach zehn Minuten abbrechen sollen. Die Angaben in ihrem LoveMatch-Profil waren zwar verifiziert, aber ihre schrille, nervtötende Stimme hätte er denen ja auch nicht entnehmen können. Er ist zwei Drinks zu lange geblieben, weil er nicht wollte, dass sie ihm eine schlechte Bewertung gibt. Noch zwei Dates ohne Abschluss und mit nicht mehr als 2 Sternen in der Bewertung und er würde aus dem Beta-Suchalgorithmus fallen. Und das Letzte was er momentan gebrauchen konnte, war noch ein teures Upgrade. Er seufzt, während er den Ziffern auf der digitalen Uhr dabei zusieht, wie sie im Sekundentakt zerfallen und sich neu zusammensetzen. Er weiß, dass er sich mit dieser ganzen LoveMatch-Sache nur endlos im Kreis dreht. Er ahnt auch, dass genau das der Sinn der Sache ist. Aber wem sollte er das erzählen?

Mit schnellen Schritten eilt er die Stufen von der Plattform zur Straße hinab. Wenn er die Abkürzung nimmt, bekommt er immerhin noch gute 5 Stunden Schlaf. Und vielleicht bemerkt Carin Asana seine Augenringe nicht einmal. Hoffentlich. Immerhin ist er nur einen Vortrag über optische Präsenz am Arbeitsplatz davon entfernt, ein firmenfinanziertes Facelift verpasst zu bekommen. Aber vielleicht würde das die elendigen Sommersprossen auf seiner Nase endlich wegradieren.

Am Bordstein bleibt er stehen und wirft einen langen Blick die Straße hinunter. Sie führt in einem ausschweifenden Bogen einmal um das Asox-Viertel herum. Straßenlaternen schießen alle fünf Meter in die Höhe und werfen ihre hellen Lichtkegel auf den Asphalt. E-Autos gleiten summend durch die Betonschneise. Dann wandern seine Augen auf die andere Straßenseite. Ihm gegenüber stehen mehrere hohe, blockartige Häuser, zwischen denen Gassen in ein Labyrinth aus Wegen, Wänden und düstren Ecken führen. Die Abkürzung verläuft einmal quer durch das Asox-Viertel, in dem sich Wohnblock neben Wohnblock reiht. Wohnungen stapeln sich wie Schuhkartons in die Höhe, die Fenster des einen Gebäudes nicht einmal fünf Meter vom nächsten entfernt. Und dazwischen, in den engen Gassen, tummeln sich Gestalten, denen Ty um diese Uhrzeit eigentlich nicht mehr begegnen will. Wohnblockviertel wie das Asox streuen sich überall durch die Stadt. Als die Bevölkerungszahlen immer explosionsartiger anstiegen und man den verfügbaren Platz nicht an die Menschen verschwenden wollte, die nun in diesen Vierteln leben, waren die generellen Mietpreise so dermaßen in die Höhe geschossen, dass vielen nichts anderes übrig blieb, als in einen Wohnblock-Schuhkarton überzusiedeln.

Noch ein Blick auf die unaufhaltsamen Display-Ziffern und Tys Entschluss steht fest. Er überquert die Straße und lässt sich von den Häuserwänden verschlingen.

Links und rechts von ihm steigen die grauen Wände empor. Glatter, nichtssagender Beton. Fenster neben Fenster neben Fenster. Einige leuchten, werfen ihren Schein hinaus in die Gasse, aus anderen dringt das kalte, bläuliche Flackern der Televisoren, andere liegen dunkel und verlassen da. Zwischen den Fronten spannen sich Stromleitungen und andere Kabel. In unregelmäßigen Abständen baumeln Lampen von den Oberleitungen, die kalte Lichtkegel in die Gasse werfen. Ty schiebt die Hände in die Jackentaschen und marschiert voran. Geräusche hallen durch die enge Straße. Laute Stimmen vermischen sich mit den hektischen Klängen des Televisorprogramms. Irgendwo glaubt er Schritte zu hören. Oder ist das nur das Echo seiner eigenen Füße? Er biegt ruckartig ab, durchquert eine noch engere Seitengasse, passiert zwei stinkende, überquellende Mülltonnen und betritt eine neue Straße. Einen kurzen Augenblick lang schaut er nach oben, durch die Kabel und Leitungen, die sich wie ein undurchdringbares Netz zwischen den Wänden spannen. Irgendwo sieht er einen Fetzen Nachthimmel, getüncht vom Phosphorgelb des Lichtsmogs. Sein Blick rast weiter, bis er einen anderen Fetzen findet. Doch hier sieht er nur einen der atmenden Türme mit seinem grünen Glimmen. In der nächsten Gasse versperrt ein Fahrzeug die Hälfte des Weges. Der Motor summt, die Scheinwerfer strahlen die Gasse aus. Zögerlich bleibt Ty stehen, stiert das E-Auto nervös an. Durch die Rückscheibe sieht er einen Schemen auf dem Fahrersitz. Er schlägt die andere Richtung ein. Biegt wieder ab. Irgendwo ertönt ein lautes Knallen, das ihn zusammenzucken lässt. Suchend rasen seine Augen durch die Gasse, die Häuserfronten empor, über jedes einzelne Fenster. Es sind zu viele, ihm wird schwindelig, er bricht die Suche ab. Er beschleunigt seine Schritte und verlässt auch diese Gasse, biegt erneut in eine andere Straße ein. Seine Augen linsen nervös auf das Portphone, dass er nur ein Stückchen aus der Hosentasche hervorzuholen wagt. Die Zeitangabe entlockt ihm ein geknurrtes „Verdammt…“. Wäre er doch nur an diesem dämlichen E-Auto vorbei gegangen, dann wäre er jetzt schon fast wieder hier raus. Plötzlich hört er die Schritte ganz deutlich. Ehe er reagieren kann, sieht er zwei Gestalten aus einer Seitengasse auf die Straße treten. Die Kapuzen ihrer Jacken hüllen ihre Gesichter in Schatten. Sie beachten Ty nicht, wenden ihm ihre dürren Rücken zu, deren Schulterblätter sich spitz durch den dünnen, türkisschimmernden Polyesterstoff der Jacken drücken. Sie entfernen sich in die andere Richtung. Ein vages, türkises Leuchten reflektiert sich von ihren Jacken auf die grauen Betonwände der Wohnblockfassaden. Der ölige Schimmer und die subtile Farbe lassen eine Erinnerung hochköcheln. Vor nur knapp einem Monat hat er genau für diese Jacken einen Werbespot konzipiert. Monochrome Farbaufnahme, ein dürr gehungertes Model stolpert über einen weitläufigen Platz aus Marmor, einzig und allein das Türkis des vollrecycelten, ultraleichten Chinz-Polyesters bringt Farbe ins Spiel. Dazu langgezogene, dröhnende Elektrobässe und ein simpler Werbespruch. Im Endeffekt wurde daraus eine knallbunte, ohrenbetäubende, überzogene Partyszene, die laut Carin Asana viel treffsicherer das Zielpublikum traf. Seinen Werbespruch hatten sie trotzdem verwendet.

Die schummernden Lichtbälle verschwinden in der Ferne. Seufzend dreht Ty sich um und geht weiter. Er nähert sich dem Ende des Asox-Viertels. Seine Schritte werden schneller, als könnten seine Füße es gar nicht abwarten, sich endlich wieder auf breiten Straßen zu bewegen. Noch eine letzte Abbiegung und ein kurzer Gang durch eine enge, verwinkelte Gasse und er hat es geschafft. Gerade schreitet er um die Ecke, als er etwas auf dem Boden liegen sieht. Erschrocken zucken die Muskeln seines Körpers zusammen, er macht instinktiv einen Schritt zurück und spürt sofort kalte Betonwand in seinem Rücken. Dort, am Boden der engen Gasse, die hinaus zur offenen Straße führt, sieht Ty ein dunkles Bündel liegen. Abgewetzte Kleidung, viel zu groß für den ausgemergelten Körper, der darin steckt. Ty sieht eine knochige Hand aus einem Ärmel ragen. Eine schmutzige Kapuze umhüllt ein ausdrucksloses Gesicht. Die Augen ohne Glanz, der Mund weit offen, als hätte er noch um einen letzten Atemzug gerungen. Wobei es doch tatsächlich zu viel Luft war, die ihn tötete. Neben der fleischlosen Hand liegt die leergezogene Spraydose, die die Lungen des dürren Körpers zum Bersten gebracht hat. Es muss ein tiefer Zug gewesen sein. Ein wirklich guter, langer, tiefer letzter Zug.

Tys Muskeln entspannen sich. Der Schock ist verebbt. Einen Moment lang mustert Ty den Toten. Das Gesicht ist eingefallen, die Haare dünn und licht, aber die Hautfarbe wirkt so seltsam satt und frisch. Sie sagen, dass sei einer der Nebeneffekte. Sie sagen, der Anblick einer so strahlenden Hautfarbe, das muss jedem bewusst sein, sei ein Ausdruck der Krankheit. Neugierig nähert Ty sich einen Schritt, um den Leichnam zu inspizieren. Hat ihn das Air wirklich so krank gemacht?

Ein Geräusch aus Richtung des Asox-Viertels lässt Ty wieder zurückschrecken. Sein Blick rast zur anderen Seite der schmalen Gasse, wo er den Ausweg sehen kann. Die Straßenlichter, die E-Autos, die bunt blinkenden Neonreklamen. Mit einem großen Schritt passiert er den toten Körper und ehe das Geräusch bedrohlicher oder lauter hätte werden können, hat er die breite Hauptstraße schon erreicht und lässt sich von ihrem Lärm und Licht verschlucken.

2.

Sein Hals reagiert mit einem Würgereflex, durch den er beinah am halb zerkauten Instant-Müsli erstickt, als auf seinem Portphone die Nachricht erscheint, dass sein gestriges Date ihn mit zweieinhalb Sternen bewertet hat.

Nachdem er aufgesprungen ist, seinen Mundinhalt in die Spüle gespuckt hat und sich noch einmal versichert hat, dass er richtig gesehen hat, murmelt er ein entnervtes „Dieses Miststück…“ und verflucht sich innerlich dafür, dass er ihr die wohlwollenden drei Sterne gegeben hat. Der ganze Aufriss für so eine Pleite. Er hätte sich das Geld für die Drinks, den Weg durch das Asox-Viertel, die viel zu kurze Nacht und den grauenhaft stechenden Schmerz, den das Geräusch seines Weckers verursacht hatte, sparen können. Doch jetzt hängt er hier, müde und schlaff, an dem ausfahrbaren Tisch in der kleinen Küche. Neben ihm wirft das Lux-Fenster, ein Bildschirm, der ihm vorgaukelt ein echtes Fenster zu sein, falsches Tageslicht in den Raum. Er kann seine Augenringe beinah schon spüren. Sie hängen wie Gewichte an seinen Lidern und sind wahrscheinlich so dunkel, dass er dem Vortrag der Vorgesetzten kaum entgehen wird.

Der Appetit ist ihm vergangen. Er hievt sich von seinem Barhocker, schlurft aus der Küche in den Wohnbereich und tritt missmutig die Tür zur Nasszelle offen. Der Abzug ist schon wieder kaputt und die warme, feuchte Luft seiner morgendlichen Dusche hängt immer noch im Raum. Der Spiegel über dem Waschbecken ist nach wie vor beschlagen. Er nimmt ein Handtuch und wischt darüber. Zum Vorschein kommt ein fahles Gesicht mit leicht olivgefärbter Haut. Die Augen sind blässlich und blau, als würde es ihnen an Kraft fehlen, um richtig zu strahlen. Und dann sind da noch die Sommersprossen auf seiner Nase. Wie kleine, rötlich-braune Splitter, die sich irgendwann einmal in seine Haut geschlagen haben und sich nun weigern von ihr abzulassen. Er hat das Bleach-Peeling probiert, den Skinreaper, sogar das Ex-Face-Erase. Aber die Sommersprossen sind immer wieder gekommen.

Das Portphone in seiner Hosentasche vibriert. Er weiß, was das bedeutet, dazu muss er nicht einmal nachschauen. LoveMatch hat eine Mail geschickt und ihn darüber informiert, dass er auf Grund seines derzeitigen Bewertungsstatus aus dem Beta-Suchalgorithmus fällt. Damit sinkt er in die C-Klasse. Von da ab braucht es nicht mehr viel, bis er wie die hoffnungslosen, unbeachteten D-Geister am Rande des Systems herumlungert und vergeblich darauf hofft, dass sein Profil überhaupt noch irgendeine Beachtung findet. Er weiß, dass er das unmöglich jemandem erzählen kann. Aber was sollen sie auch sagen? Er verlässt die Wohnung, noch bevor das Portphone ihn mit einem hochgestochenen Piepen von Alarm daran erinnern kann, dass es Zeit wird den Weg zur Arbeit anzutreten.

Ty zieht die Wohnungstür hinter sich zu. Das Safelock surrt, dann leuchtet kurz ein rotes Licht auf und er weiß, dass die Tür versperrt ist. Nun befindet er sich auf dem Außenbalkon, der an der Fassade seines Wohnblockes entlang läuft, um die außenliegenden Wohnungen mit dem Treppenhaus im Inneren zu verbinden. Mit einem einzigen großen Schritt überquert er den schmalen Balkon und tritt an die Brüstung. Würde er von der Straße hinauf blicken, müsste er den stecknadelgroßen Punkt, der sein Kopf ist, auf einer Fläche von 12 Stockwerken mit je 12 Wohneinheiten pro Hauswand suchen. Er würde ihn vielleicht, mit viel Glück, irgendwo im zehnten Stock, auf der östlichen Hälfte finden. Stünde nicht sein Name an der Tür, würde er selbst nicht wissen, wo er wohnt.

Er richtet den Blick gen Horizont. Irgendwo hinter dem trüben Dunst, der über den Häuserdächern schwebt, muss die Sonne verborgen liegen. Der wabernde Smog, dunstig und bleich und gelblich grün, nimmt die Blendkraft der Sonne auf und verteilt sie über das gesamte Himmelsgerüst, so dass jeder Blick in den gleißenden Himmel mit einem Stich in seine Augen begleitet wird. Ty senkt die Augen wieder, lässt sie für einen Moment über die Skyline der Stadt schweben. Nicht weit von hier sieht er die quadratischen Betonklötze des Asox-Viertels. Kalt und karg, die schmalen Gassen, die sich zwischen die Blöcke schneiden, wirken wie dunkle, eckige Adern in einem kubischen Organismus. Daneben sieht er die Metroschiene, eine massive, stählerne Vene, die sich auf Balken gestützt durch die Stadt schlängelt. Sie manifestiert sich aus der verschwommenen Undeutlichkeit am Rande des Horizonts und verschwindet in irgendeiner anderen Ferne. Sie ist nicht allein. Kreuz und quer jagen die Stahlvenen zwischen den Gebäuden her, laufen hier und da in Mündungsbecken ein, wo sie sich vielleicht zweiteilen, aber niemals enden. Tys Blick streift über das endlose Auf und Ab der Dächer. Tausend verschiedene Höhen, tausend verschiedene Formen, tausend verschiedene Ausmaße. Die meisten Gebäude enden in flachen Dächern, andere tragen Glaskonstrukte wie seltsame Hüte, einige besitzen spitze Dächer aus Metallschuppen und dann sind da noch die seltenen, alten Gebäude mit ihren verwitterten Dachziegeln. Aber viele gibt es davon nicht mehr. Kräne und Walzen und Abrissbirnen fressen sie auf, jeden Tag ein bisschen mehr. Dafür schießen an anderer Stelle Gerüste und neue Häuserskelette empor, denen das Fleisch noch wachsen muss. Sie alle zeugen vom endlosen Verfall und Fortschritt. Alles ist immer neu, ständig im Aufbau, ständig im Abriss. Alles ist Fluxus. Nichts bleibt. Die Stadt löst sich ständig auf und setzt sich neu zusammen. Nichts erinnert lange an das, was früher war. Die Stadt hat kein Gedächtnis, ihr Hirn ist wie eine Brausetablette im Wasserglas. Überall zwischen die Gebäude streuen sich die Synthie-Bäume. Hohe Türme, die Klappen der oberen Hälfte immer geöffnet, mit dem grünen Glimmen sickert und strömt auch der synthetische Sauerstoff aus ihrem Inneren und überschwemmt die Stadt, das Land, die Welt. Manchmal fragt Ty sich, ob der Lärm des Tages, der immerzu um die Häuserkanten und Straßenecken spült, in Wirklichkeit das Atemgeräusch der Synthie-Bäume ist. Aber dann erinnert er sich an all die surrenden E-Autos, die klappernden Schuhabsätze, die plappernden Münder, die unzähligen Lungen, die alle gemeinsam in jeder Sekunde Unmengen des künstlichen Sauerstoffs einsaugen – um ihn nur einen Augenblick später wieder seufzend auszupusten.

Seine Sicht wird von den Wolkenkratzern des Zentrums verbaut. Würde er den Außenbalkon entlang spazieren und Richtung Süden, Westen oder Norden schauen, würde sich ihm das gleiche Spektakel immer und immer wieder bieten. Eine endlose Landschaft aus Dächern, Türmen, Straßen und Metroschienen, irgendwo in der Ferne eine Ansammlung noch höherer Gebäude. „Die Arme der Welt“, hat sein Bruder sie einmal genannt. Der Satz ist hängen geblieben. Jedes Mal wenn er die Wolkenkratzer eines der Zentren sieht, blubbert er aus seinem Gedächtnis wieder empor. Er erinnert sich an das Zimmer, das er damals mit dem Bruder geteilt hat. Die Wellenlinien, die sein Körper unter die Bettdecke gezeichnet hat, als er noch in diesem Bett geschlafen hat. Die warme, orangefarbene Sonne, die durch das Fenster schien… Eine Wohnungstür fällt krachend zu. Erschrocken zuckt Ty zusammen, schaut zur Seite. Sechs Türen weiter steht ein Mann, nicht viel älter als er selbst, und wartet auf das rote Leuchtsignal des Safelocks. Es kommt. Er geht. Passiert Ty ohne aufzublicken, das Interesse tief in das Display seines Portphones vergraben. Ty legt die Arme auf das Balkongerüst und schaut wieder in die Ferne. So weit, bis er die Schornsteine und Kühltürme des Industrieviertels sehen kann. Die Rauchsäulen, die sie in die Luft pumpen, verschwimmen nach nur wenigen Metern mit dem diesigen, grauen Brei, der sich hier Himmel nennt. Aber irgendwo dahinter, nach den Fabriken und Kraftwerken, sieht er noch mehr der Arme, die sich bis in die Wolken strecken. Und dahinter noch mehr. Und mehr. Und mehr…

Sein Alarm piept. Es ist Zeit.

Im Fahrstuhl, der ihn all die Stockwerke nach unten transportiert, zückt er sein Portphone. Nicht nur als Ablenkungsmanöver, um keinen Blickkontakt mit den sechs anderen Fahrstuhlinsassen riskieren zu müssen. Das kleine Mailsymbol, dass die Nachricht von LoveMatch anzeigt, ignoriert er gekonnt und öffnet stattdessen ein Suchfenster.

Seine Fingerspitzen rasen blitzschnell über die virtuelle Tastatur und tippen eine Frage ein. Er will wissen, was in dem Industriegebiet produziert wird. „Phoenix-Industriekomplex. Warenherstellung und Energieproduktion.“ Er scrollt über die Details hinweg. Schließlich tippt er eine Spezifikation ein: „Luftverschmutzung“. Die Antwort erscheint: „Der Phoenix-Industriekomplex verfügt über 37 Synthie-Bäume und acht SyS-Filter. Die Fabriken und Kraftwerke laufen alle ohne den Ausstoß von Belastungsstoffen. Die letzte Messung der Luftwerte erbrachte ein positives Durchschnittsergebnis von 0,3 Punkten auf der Schadstoffskala.“

Er schiebt das Portphone zurück in die Hosentasche. Er denkt an die Schornsteine, die unermüdlich ihre gräulichen Rauchfontänen in den Himmel schießen und den großen, gierigen Smogteppich weiternähren.

Auszug 2: Seite 302-312 aus Zwischenteil 3 „Conrad“ 

1.

Das rastlose, stetig blinkende Licht. Alle drei Sekunden ein rotes Strahlen. Schummeriges Tageslicht, das sich einen Umweg durch die zugezogenen Vorhänge sucht. Die blanke, weiße Zimmerwand, unverändert, wie jeden Tag. Das Heben und Senken meines Brustkorbes, immer im gleichen Takt wie das zischelnde Saugen und rauschende Pumpen der Maschinen. Dazwischen das vage Geräusch meiner Atmung, das direkt in die Schläuche verschwindet, die mir in Mund und Nase dringen. Und dann ist da noch etwas anderes. Etwas Fremdes. Ich kann es aus dem unteren Stockwerk zu mir hinauf dringen hören. Es sind Schritte, Schubladen, die geöffnet und geschlossen werden und Türen, die bewegt werden. Ich bin nicht allein.

Ich drehe mich auf die Seite, so dass ich zur Zimmertür schauen kann. Sie steht einen Spalt offen, so wie immer. Am Rande meines Blickfeldes kann ich die Maschinen sehen, die unermüdlich daran arbeiten, mich am Leben zu erhalten. Die Schläuche, die dieser Tage wie nach außen wandernde Erweiterungen meiner Lungen funktionieren, münden hier in ein System aus Pumpen und Gasflaschen. Über ihnen schweben Monitore, mit Zahlen, Fakten und Einheiten, die mich schon lange nicht mehr interessieren. Und dann ist da natürlich das unermüdliche, rote Licht, dass mich alle drei Sekunden vergewissert, dass ich immer noch hier bin. Sicher verwahrt in einem Bett, in dem es sich liegt, wie in einem Sarg. Gefangen in einem Leben, dass mir so bequem sitzt, wie ein Leichensack. Wenn Warten denn Leben ist, versteht sich. Aber vermutlich dürfen verurteile und verbannte Feinde der Ordnung nicht mehr vom Leben erwarten.

Inzwischen sind die Schritte von unten so laut und schwer und unbedacht geworden, dass ich mir fast sicher bin, dass der Eindringling bestens über die Lage möglicher Gegenwehr informiert ist. Wozu auch die Eile, ich laufe schon nicht weg. Alles was mir zu tun übrig bleibt, ist mich zu fragen, warum sie gerade jetzt kommen. Worauf haben sie so lange gewartet? Haben sie die Lust an ihrem perversen Spielchen verloren? Da mein ganzes Leben zu einem ihrer perversen Spiele geworden ist, macht es ja nur Sinn, dass sie es loswerden wollen, weil ihnen die Lust daran vergangen ist. Aber so etwas soll ich ja nicht immer behaupten. Sagt Conrad.

Conrad sagt so einiges. Er sagt, dass er froh sei, dass ich noch am Leben sei. Und das er mich liebe und sich um mich sorge und ich deswegen hier wäre. Und nicht, weil sie es so wollten. Ich stelle ihn nicht in Frage. Das hat er nicht auch noch verdient. Aber manchmal frage ich mich, ob die Wahrheit für uns beide nicht doch erträglicher wäre.

Als die ersten Schritte auf Treppenstufen treffen, frage ich mich, ob ihr Sinneswandel nicht doch aus einer anderen Richtung rührt? Haben sie vielleicht doch entschlossen, dass einer ihrer brillantesten Köpfe und hoffnungsvollsten Wissenschaftler selbst auf dem Totenbett, an das sie ihn gezurrt haben, noch eine Gefahr werden könnte? Die Idee schmeichelt mir. Vielleicht kann ich dem Eindringling ja eine Antwort entlocken, wenn er es denn endlich mal die Treppe heraufschafft. Oder ich könnte ihn und mich gemeinsam in die Luft sprengen. Früher hätte ich das riskiert. Früher hätte ich auch mit Lockerheit aus den Utensilien aus dieser Grabeskammer einen kleinen, aber fiesen Sprengsatz basteln können. Wäre meiner Karriere als heimlicher Radikaler nicht so schnell die Luft ausgegangen, hätte ich dieses Talent vielleicht sogar mal richtig austesten können. Aber gut. Wenn ich das heute noch könnte, würde ich hier wohl nicht mehr liegen und sehnsüchtig auf den Auftragsmörder aus dem Erdgeschoss warten. Und könnte Conrad mich lassen, würde ich das wohl auch nicht mehr tun. Ich frage mich so oft, wie es so weit kommen konnte. Und ob es gar nicht anders hatte kommen können.

2.

Das erste Mal, dass ich Distrikt 0-E7 betreten habe, war kurz nach meinem vierzehnten Geburtstag. Der Mann und die Frau, die mich aus der Wohnung meiner Mutter abgeholt hatten, warfen sich vielsagende Blicke zu, als wir durch die breiten, von Häusern gesäumten Straßen fuhren. Ich saß auf dem Rücksitz und beobachtete ihren Blickwechsel, mehr, als das ich die wundersam neue Welt um mich herum begutachtete. Natürlich hatte ich nie zuvor Straßen gesehen, die so breit waren. Und die Häuser waren keine riesigen Türme, die in den Himmel hinauf ragten, wie ich sie aus der Stadt kannte. Es waren kleine, kompakte Gebäude, die viel Freiraum zwischen einander ließen. Ich sah sie an mir vorbeiziehen, in immer gleichen, perfekt abgemessenen Abständen, aber was mich wirklich interessierte, war dieser Blickwechsel. Sie schwiegen, während in der Ferne Häusersilhouetten in die Höhe stiegen. Der Mann erklärte knapp, dass dies das Zentrum von 0-E7 war, wo ich lernen, leben und wachsen würde. Der Satz klang grauenhaft einstudiert. Ich versuchte nicht daran zu denken, dass ich dort auch sterben würde.

Jeder weiß, wie es läuft, auch wenn es niemand ausspricht. Sie holen die Kinder mit den besten Noten, bieten der Familie oder den Erziehungsbeauftragten einen blendenden Betrag Geld als Entschädigung an und versprechen, dass ihr Sohn oder ihre Tochter nirgendwo anders eine bessere Zukunft haben könnte. Sie geben uns weg, vergessen unsere Namen über den kurzweiligen Reichtum und machen weiter wie zuvor. Sie hetzen weiter von LoveMatch-Date zu LoveMatch-Date. Nur das sie dabei nun teure Kleider tragen oder mit einem neuen E-Auto vorfahren können.

Das Zentrum kam nur langsam näher. Eine ganze Zeit lang blieb es ein bedrohlicher Ausblick am Ende des Horizonts und alle Vorstellungen, was dort auf mich warten würde, nur blasse Gespenster. Es war einfach sie zu ignorieren, solange ich mich mit meinen Blicken am Nacken des Mannes festhalten konnte. Alles andere wurde dann zu schwammigen Details im Hintergrund.

„Für dich war es eigentlich schon zu spät“, erklärte mir die Frau. „Viel zu alt.“ Ihr brillantes Lächeln reflektierte sich im Rückspiegel. „Aber für die wirklichen Talente haben wir immer einen Platz frei.“ Es dauerte eine ganze Weile, ehe ich richtig verstand, wieso ich eigentlich zu alt für 0-E7 war. Ich war schon zu groß und eigen und geformt, um noch mühelos in die Nischen zu passen, in die man mich pressen wollte. Hätten sie schon damals bemerkt, wie absichtlich ich ständig neben der für mich vorgesehenen Laufbahn wandelte, hätten sie den Wagen vielleicht umgedreht und mich irgendwo im Dickicht der Stadt ausgesetzt. Aber da saßen sie, der Mann und diese Frau, mit ihrem selbstsicheren und siegesbewussten Lächeln, und freuten sich, dass sie ihre Quote doch noch erfüllt hatten. Sie kannten das System. Und sie wussten, dass wenn ich nicht hineinpassen würde, es mich so lange zerbrechen würde, bis ich mich anstandslos einreihen würde. Sie hätten den Wagen umdrehen sollen.

3.

„Howard?“

Am Anfang habe ich nie darauf reagiert, wenn sie mich mit diesem Namen ansprachen. Mal davon abgesehen, dass es mich die meiste Zeit auch nicht interessierte, wenn sie mich ansprechen wollten. Ich verbrachte meine Zeit lieber damit, die kleinen Details um mich herum zu bewundern. Da waren fast unsichtbare Fingerabdrücke auf Glastik-Scheiben, falsch zusammengebundene Schnürsenkel, dunkle Schmutzränder unter Fingernägeln, wild gewachsene Haarstoppeln im Nacken meines Sitznachbarn. All die Dinge, die mich daran erinnerten, dass es ein Leben abseits der sterilen und gefühllosen Klassenzimmer und Sozialräume gab.

„Howard! Ich habe dich etwas gefragt.“

In ihrem System gab es nicht viel Platz für Freiräume. Der Stundenplan unserer Ausbildung war dicht und lang. Die endlose Reihe an Tagen, die eine Woche bildeten, verbrachten wir an schmalen Tischen mit eingelassenen Sync-Boards, in hellen Räumen ohne viele Details. Vielleicht war es ihre Abwesenheit, die mich umso verzweifelter nach den kleinen Unperfektheiten suchen ließ.

Die Abende verbrachten wir in unseren zugewiesenen Sozialräumen. Aufenthalt, Schlaf, Weiterbildung. Es gab kaum Gründe, den Gebäudekomplex zu verlassen, in den sie uns eingepfercht hatten. Draußen gab es sowieso nur Beton und Stahl und Glastik. Nicht viel anders, als in der Stadt, aus der wir alle gekommen waren, aber endlos perfekter und gerader und sauberer und bedrückender. Ohne Details und Unperfektheiten wirkte einfach alles tot. Selbst die Menschen hier wirkten tot, mit ihren akkurat frisierten Haaren und makellos korrigierten Gesichtszügen. Kein Wunder also, dass ich mich im unsauber ausrasierten Nacken meines Sitznachbarn verlor, während die Dozentin auf mich einredete.

„Howard! Hörst du mir überhaupt zu?!“

Der Junge neben mir wandte sein Gesicht in meine Richtung, um mich mit großen Augen anzuglotzen. Ich verlor den Ausblick in seinen Nacken und ärgerte mich darüber. Ich schoss wütende Blicke in Richtung der Dozentin, die nicht viel freundlicher zurückstarrte.

„Ich habe dich gefragt, ob du…“

„20,95 Prozent“, beantwortete ich ihre Frage. Sie schaute mich verdutzt an. Als sie bemerkte, wie dumm sie dabei aussehen musste, versteifte sich ihr Körper und ihre Miene wurde ausdruckslos, abgesehen von einem feindseligen Blitzen in ihren Augen. „Wunderbar, Howard“, sagte sie, ohne das sich ihr Gesichtsausdruck dabei verändert hätte. Während sie sich wieder dem Unterricht widmete, suchte mein Blick wieder einen Weg in den Nacken des Sitznachbarn. Ich hatte schon länger bemerkt, dass es nicht nur die wilden Stoppeln waren, die mich interessierten, sondern auch die Sehnen und Muskeln, die aus seinem Nacken liefen und die Schultern formten. Und die kleinen Erhebungen, die die Wirbelsäule in seinen Rücken beulte. Es gab so viel zu entdecken, auf diesen wenigen Zentimetern.

Das war die Zeit, in der ich meine Haare absichtlich lang wachsen ließ. Ich sah das als eine Art stillen Protests an. Gegen die ganze Konformität. Gegen glatten Beton und ständig geputzte Glastikscheiben. Außerdem mochte ich es, wie mir die Haarspitzen über die Augenbrauen fielen und ich das Gefühl hatte, sie würden meine Augen vor den Anderen verbergen. Einmal hatte sich ein Junge darüber lustig gemacht, hatte mich Wischmob und dreckig genannt, aber er hatte schnell einsehen müssen, dass er sich das falsche Opfer gesucht hatte. Ein Part des Umstandes, dass es eigentlich zu spät für mich gewesen war, hier her zu kommen, war der Fakt, dass ich älter und größer gewachsen war, als der Rest meines Jahrganges. Ich ließ ihn meine körperliche Überlegenheit spüren.

Nun, nach meiner versuchten Machtdemonstration gegenüber der Dozentin für SyS-Technik, war ich an der Reihe, Überlegenheit zu spüren zu bekommen. Sie bat mich nach dem Ende der Unterrichtseinheit an ihrem Pult zu warten. Als der Raum sich geleert hatte, schloss sie die Tür.

„Howard, ich fürchte du hast einige Aufmerksamkeitsprobleme. Kann das sein?“

Ich zuckte mit der Schulter. „Weiß nicht.“

Sie stellte sich vor mich, so nah, dass ich den Kopf heben und zu ihr aufblicken musste. Mein Blick fiel durch einen Vorhang aus Haarspitzen und ich fühlte mich sicher vor ihrem selbstgefälligen Schmunzeln.

„Oder kann es sein, dass du Probleme mit Autorität hast?“

Ich gab ihr noch ein kühles Schulterzucken.

„Howard!“, zischte sie streng und knallte die Hand gegen die Wand. Das plötzliche Geräusch ließ mich aufschrecken. „Ich habe das Gefühl, du willst dich gar nicht anstrengen, um etwas zu lernen. Du verschließt dich vor der Gruppe. Kann das sein?“ Ihre Sätze klangen herausfordernd und wütend. Wie eine Steilvorlage, in die ich eine Blutgrätsche abfeuern müsste. Ich biss mir auf die Zunge und schwieg.

„Du weißt doch, dass wir alle nur das Beste für dich wollen. Oder?“ Plötzlich war ihr Ton durchtränkt von Fürsorge und Mitleid. „Das ist unser Ziel hier. Wir wollen, dass ihr die besten Chancen habt. Chancen, die ihr da draußen niemals gehabt hättet. Du bist hier, weil wir an dich glauben.“ Es war nicht erst das zweite Mal, dass man mich mit derartigen, einstudierten Sätzen volldröhnte. Dieser Ton war mir nur allzu gut bekannt. Und je öfter ich ihn hörte, desto offensichtlicher wurde es mir, wie hohl und klanglos er im Nichts verhallte.

„Was machen wir nur mit dir…?“

„Mit mir ist alles in Ordnung.“

Sie ging in die Knie, legte die Hände auf meine Schultern und vergrub ihre Fingernägel in meiner Haut. Das Lächeln auf ihren Lippen sagte „Wenn hier nicht in jedem Winkel eine Kamera hängen würde, würde ich dich zerfleischen und ausweiden, du Abscheulichkeit“, aber sie wahrte ihre Maske.

„Vielleicht hilft es dir, wenn wir dir ein kleines Make-Over verpassen, mh? Damit du nicht so fürchterlich hervorstichst.“ Sie ließ ihre Krallen von Fingernägeln durch meine Haare gleiten. Ich spürte sie über meine Kopfhaut schrappen. Dann brachte sie mich höchstpersönlich zur Pflegestation und ließ mir den Kopf scheren. Das Brummen des elektrischen Rasierers fraß sich so tief in mein Gedächtnis, wie die Abscheu vor dieser Frau.

4.

Meine Haare blieben kurz. All die Jahre lang rasierte ich sie ab, ehe sie länger als einen halben Finger waren. Das brummende und summende Geräusch des Rasierapparates erinnerte mich immer daran, dass ich einige meiner Gedanken lieber für mich behalten sollte. Es funktionierte gut. Immer wenn ich wütend oder frustriert oder verzweifelt war, oder mich wie in eine ausweglose Sackgasse gedrängt fühlte, fing ich nicht an zu schreien oder um mich zu schlagen, sondern rasierte mir in stiller Wut die Haare ab. Ich lernte, meine Schreie herunterzuschlucken. Spätestens nach dem zehnten Vorfall, der dem Aufeinanderprallen mit der SyS-Technik-Lehrerin ähnelte, wusste ich, wie man sich zurückhielt. Von dem ganzen Zähne zusammenbeißen, dass ich dazu benötigte, wurden meine Lippen mit der Zeit schmaler. Bei jeder Rasur sah ich auch die Falten an den Ausläufern meiner Augen deutlicher werden. Aber ich glitt durch die Raster des Apparates, wie ein Geist. Ich ließ sie nicht sehen, was in mir brodelte und kochte. Es dauerte lange, bis ich feststellte, dass ich nicht das einzige Gespenst im System war.

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